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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-03-23 08:21:03 -0700 |
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Die Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind +stillschweigend korrigiert worden. + +Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~. + +======================================================================= + + + [Illustration] + + + + + Vom köstlichen + Humor + + + Eine Auslese aus der + humoristischen Literatur + alter und neuer Zeit + + + Herausgegeben von + Ludwig Fürstenwerth + + [Illustration] + + Leipzig + Hesse & Becker Verlag + + + + + + Inhalt. + + + Seite + + Über Verfasser und Inhalt 7 + + ~Carl Beyer~, Stanislaus Wetterwetzer 9 + + --"--, Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten 46 + + ~Ilse Frapan~, Dat Undeert 65 + + ~Balduin Groller~, Die Tante und der Onkel 145 + + --"--, Eine Entlarvung 214 + + ~Wolfgang Lenburg~, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer + Müller« 227 + + ~Johannes Trojan~, Wie man einen Weinreisenden + los wird 253 + + --"--, Kleine Leiden auf einer Landpartie 260 + + --"--, Drei Gedichte: + + Männertreue und Weiberkrieg 275 + + Der Glückstag 276 + + Der Oberamtsrichter von Neckarsulm 280 + + + + + Über Verfasser und Inhalt. + + +Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen +Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach +vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im +Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche +Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit, +deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an +den Rhein und die Donau erstreckt. + +Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters +Fußstapfen zu treten. ~Carl Beyer~, der Pfarrer a. D., der in +Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus +nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist +historische Stoffe behandelt -- Reuters Geist und Humor steckt in dem +Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden +sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes +Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer +aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen +Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück +auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze, +begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang +leicht ergeben. -- + +~Ilse Frapans~ »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und +zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher +Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen +wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne +aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter +glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den +Kinderszenen -- am Schlusse »kriegen« sie sich. -- + +Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners ~Balduin +Groller~ in der noch nicht in Buchform erschienenen humoristischen +Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der +alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf +dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine +knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema, +den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme +gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll +etwas leichtes Gepäck nicht fehlen. + +Dazu gehört auch ~Wolfgang Lenburgs~ Skizzensammlung »Oberlehrer +Müller« -- unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner +Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen --, aus der hier eine +Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße +27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer +Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die +leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht, +der Oberlehrerton ist echt. + +~Johannes Trojan~, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der +auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen +Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung +des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan, +und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des +Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und +andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie +man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den +Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch +bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die +Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der +Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch +solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen. + + + + + Carl Beyer, + + Stanislaus Wetterwetzer. + + Aus Wilhelm Pickhingsts + Kriegsfahrten. + + + Mit Genehmigung des Verlages Fr. ~Bahn~ in ~Schwerin~ i. + Meckl. aus »~C. Beyer, Stane und Stine~«, gbd. M. 1.--, und aus + »~Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten~«, kart. M. 1.--. + + + + + Stanislaus Wetterwetzer. + + +»Guten Tag, Herr Pastor! -- Da bin ich, Herr Pastor!« + +Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war +und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden +zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell +noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem +Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte +also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch +wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken +auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären +sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen +echten Landstreicher vor sich hatte. + +»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich +und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur +darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?« + +»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze +wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick +von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie +noch, Herr Pastor? -- In Altstädt, Herr Pastor? -- Weihnachten, Herr +Pastor? -- Da bin ich, Herr Pastor.« + +Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem +Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften +Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die +Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich +gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und +leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen, +wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen +erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer +Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los +und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt +aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich +auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern +andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem +Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige +Gesichter war die Bewegung wie plötzliches Blitzezucken gegangen, die +meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten +die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm +stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher +Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm +beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren +seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der +die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten, +war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere +dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm. + +Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten +glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die +Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich, +Herr Pastor, bitt' schön. -- Auf mich selbst kann ich mich gar nicht +verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen, +er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte +inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um +den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam +merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein. + +Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn +offenbar hatte der Rock kein Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,« +sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff +nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte +er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin. + +»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das +heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der +Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?« + +»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr +Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.« + +Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos -- gelernt beim Vater als +Kaufmann im Materialgeschäft -- nach dessen Tode hier und dort +beschäftigt, endlich dienstpflichtig -- gerade noch so eben das Maß +-- allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren -- stets Störung +einer tadellosen Front -- Strafen mit Nachexerzieren, -- schlecht +schießen, weil das Gewehr zu schwer -- Kugel suchen, Tornister mit +Steinen tragen -- »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht +gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.« + +»Das heißt, Sie desertierten.« + +»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher +meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin +auf ein Dorf, und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen +hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei, +Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ +ich mir nicht gefallen und ging wieder weg -- nein, Herr Pastor, +nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug +vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete +beim Bauern Schafe -- zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und +Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen +Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite -- »als das +vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer +Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den +Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub, +verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann +weg. Nach drei Tagen eingefangen. -- Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor! +Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler +eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde +eingesteckt -- dreimal -- Herr Pastor, Herr Pastor -- ~nur +dreimal~ in vier Jahren -- sonst kam ich immer durch -- und etwas +Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen +Gerichten herumfragen, Herr Pastor.« + +»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der +Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf +später verschob. + +»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat -- das +ist nichts geworden, Herr Pastor, -- und nun komme ich um Rat, Herr +Pastor, bitt' schön.« + +»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?« + +»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann, +indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog. +Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich +in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife +bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte. + +Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen. +Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und +Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb +er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten +seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen +erfordere. + +»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock +vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de +sall di hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen, +dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi +mi.« Mit diesen Worten ging er davon. + +Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war, +tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich +plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang +der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in +der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig +und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten +etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen +die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht +aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie +ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen +Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende +Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die +Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie +ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten +ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an. + +Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und +dabei von Gestalt fein und zart wie ein Knabe, in allen Bewegungen +unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle +Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine +lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige +Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah, +entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo +heißt du denn, min Jung?« + +»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen. + +»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der +Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne +schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden +Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit. + +»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.« + +»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di +'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den +Stall. Un mak de Dör achter di tau.« + +Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen +Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das +Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof +noch mit leichtem, federndem Gang), fand er seine muntere Stimmung +wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als +müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die +Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und -- wupp stülpte er ihn +sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der +Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine +Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper +bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden. +Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und +überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine +sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen +in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und +ging wieder an die Arbeit. + +»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter +vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu +und schlug alsbald den Haken ein. + +Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem +Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung +allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen. + +»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte sie verwundert. »Du +fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.« + +Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher +die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr +er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,« +versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine +Hände und zog mit Leibeskräften. + +Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken +Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und +dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter. + +Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine +beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb +soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld +ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle +verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich +wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine +Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern +ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über +den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf +stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß +auf Socken -- die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen -- in +die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall. +Uns' Jung will uns dod bliewen.« + +Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in +Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen. + +»Ick kiek mi üm -- dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete +Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein +Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.« + +Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt +hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse +Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten +wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den +Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an, +hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust, +schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte +sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht. + +»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min +Sofa rupdrägen.« + +»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst +awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...« + +»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt +abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.« + +»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit +auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit +raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und +Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als +sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit +federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre +Brust gelehnt. + +Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und +bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang -- ligg ganz +stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm +sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n +Dokter verluren gahn. -- Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im +Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa. + +Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber +vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit +Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand -- nicht etwa wieder +auf die Brust, sondern etwas tiefer. + +»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald +verständnisvoll. Ihm antwortete Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie +doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben +Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein +Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten +Sie mich für einen Bettler genommen.« + +»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer +eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte. + +»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von +dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der +Mettwurst?« + +»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein +Lieblingsessen.« + +»Am Verhungern -- und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn +gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf. + +»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf +keinen Kummer kommen lassen.« + +»Ja, das ist es ja gerade. -- Und dabei seit zwei Tagen nichts +gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf. + +Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der +Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür. + +»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst. + +»Dort hinten -- hängt sie -- an der Wand.« Sie flüsterte es mit +absterbender Stimme. + +»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! -- Verhungert und verdurstet +bei meiner Arbeit!« + +»Ja doch -- um Gottes willen ja --« Sie trat in die Küche zurück und +füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn +in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke. + +»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen +Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und +schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige +Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei. + +Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war, +kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um +zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen +schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz +kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.« + +»Was ist denn geschehen?« + +»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je +davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie +hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den +Fall, da kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und +die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen +usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er +Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz +umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit +Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt +neben uns verhungern. -- Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen +versinken, so schlingt der Mensch.« + +Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer +Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt: +»Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir +nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er +behält ihn sicherlich während der Nacht hier.« + +Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte +allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als +er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab, +freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das +Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch +aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein, +schlich zur Tür. + +»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,« +lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich +bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.« + +Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder, +denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber +können Sie auf dem Kirchhofe graben?« + +»Gruft graben, Herr Pastor? -- Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den +Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten. + +»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so, +daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen +Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein, +jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die +Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.« + +Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor, +wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze, +die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür +zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an +das Werk zu gehen. + +Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst +aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich. +»Satt sind Sie, wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun +schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit +frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast +folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf +der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann +rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne +Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit +gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh, +daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand +schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer +rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich +habe eben aus dem Fenster gesehen -- an der Dachrinne kann ich jeden +Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.« + +Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh +aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging +in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten +ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer +schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und +als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie +aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte. »Ick stah hüt +morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben +an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal +verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt +hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹ +seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi +so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett +hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob +ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft +an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat +nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.« + +»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd. + +»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen +sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone +gnäterswarte Hor.« + +»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.« + +»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch? +Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat +runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür +hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die +Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren Manns-Spaten in den +Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof +brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er +seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder +auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm +seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte, +war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt +machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die +mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein +wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf +dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken +Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem +Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie +den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten. + +»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen +bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen. + +»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und +dazu gehört Geduld.« + +»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld +beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe -- wie -- ein Regenwurm, +Herr Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich +werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.« + +»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt +haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige +zu zerhacken, das ist etwas für Sie.« + +»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch +halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein +leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da +sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und +ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De +unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief +sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht, +immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei +Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die +Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab. + +»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und +versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der +Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr +Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles +ersetzt, Herr Pastor.« + +»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n +Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube, +Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir +krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.« + +Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie +schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt +ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und +verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war +Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht +nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder, +einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange, +der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust +jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde +den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten +ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß +im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp -- +hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau +Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ +und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand zeigte, »ganz rein! ganz +rein! Hopp hopp -- hü hott!« + +An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern, +da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er +sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war +große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen +Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit +kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel, +das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der +Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur +Nachbarstadt? -- Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon +in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch +Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte +der kleine Mann dann ab. + +Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte, +um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin +krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich +selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend, +von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um +Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war längst vorbei, da kam +der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke +nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte +es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht +lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und +drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half +sofort. »Herr Pastor -- mit meinen Beinen -- gar nicht tot zu kriegen! +Das kommt vom Wandern. -- Nur die Arme -- Regenwürmer -- mürbe --« da +taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr +Pastor -- armes Luderchen --, Herr Pastor -- ich will -- ich kann --« +Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett. + +Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all +wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen +lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei +sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei +schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus +und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der +Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem +Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her +vergnügt und vertrauensvoll an, und vor solcher Art von Beredsamkeit +verstummte sie errötend. + +Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde +gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner +umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem +Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns +stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu +überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon +ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine +Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang +bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen +Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus +und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz +mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken. +Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern +befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft +und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam +ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder +allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und +der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich +und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu +erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift +mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße +Papier gelaufen wäre. + +Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der +Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei +zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert, +Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar +Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war +der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt, +Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof +gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich +Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den +Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die +Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem +diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich +nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel +auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den +Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der +Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich +mit Steinen nach ihnen. + +»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine, +die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete. + +»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei +Wäldag.« + +»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich +flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.« + +Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu +angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur +die geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er +mitgenommen. + +Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und +besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer +Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen +solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach. +Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut +und freundlich, wie sie gewesen war. + +Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter +trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines +Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des +Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte +ihn hinter den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von +ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür +und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab +ich eins. -- Nun hab ich eins, Herr Pastor, -- ein so Kleines -- so -- +so -- so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf +Handlänge. + +»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse +Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.« + +Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge +fast bis an die Decke. »Herr Pastor -- Herr Pastor -- Herr Pastor!« + +»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt +zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.« + +Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,« +sagte er langgezogen. + +»Natürlich wird es verkauft.« + +»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.« +Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor, +mein Fleisch und Blut ...« + +Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich +schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte +dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck seine +glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck +in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe +er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie +ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte +sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf +den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte. + +»Ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor. -- Ich bitt' schön, Sie +müssen's mal sehen, Herr Pastor, -- o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr +Pastor, -- und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« -- Er lief +schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. -- Ich +hab' eins, ich hab' eins. -- Gemolken habe ich, Herr Pastor -- ein so +Kleines -- ein so Kleines -- Stine hat's mir in den letzten Wochen +gezeigt, Herr Pastor, ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor -- und +alle haben sie zu fressen -- Frau Pastorin und die Kinder -- -- --.« +Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen +die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte, +als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse +nachahmen. + +Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald +bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus +sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht, +voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam +letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem +ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und +auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens +zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was +sein Herz füllte. + +Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung, +Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf +ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.« + +Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie +erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als +Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie +dann ihre Herrschaften eintreten. + +»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er +gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so +die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen +Sie nur die Hände -- wie eine Haselnuß -- Frau Pastorin, die Füße -- da +-- da -- da -- akkurat wie ein Frosch -- und hier die Haare, oh, lang +wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater, +das bin ich nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr +Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr +zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn +nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden +einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht, +Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich +Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.« + +»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine +inzwischen dem Seelsorger zu. + +Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung +seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im +Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen +können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb -- er war sogar des +Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin. + +Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht +befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf +einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt +hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen. + +»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich, +indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich +gaud?« + +»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich +rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen +könnte.« + +»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,« +sagte sie harmlos. + +Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine +Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause +anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen --« + +»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern +bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick +gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.« + +»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an +seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte. + +»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern +laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di +doch nich friegt.« + +»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?« + +»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen +Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und +erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch +Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt heww? du süst mi nich up +de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du +all orig 'n Knick weg.« + +»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir +ernähren lassen? Das soll ich, Stine? -- Soll ich das, Stine?« Er fuhr +einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte +ihn nur wütender. + +»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht +de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte +sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich +im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im +nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei +Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er +mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner +Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen +und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte +ich mit ihm um die Wette lutschen? -- Was soll ich, Stine? Mich vor +meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern +auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht +erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! -- Zu Hause +bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?« + +Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch +schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die +anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und +fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen. + +»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick +bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh +jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« -- die große Frau +schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so +dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer, +stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam +allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und +endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren +Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei +alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese +doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine +hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater, +sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die +Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern +schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück. + +Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich nicht, aber er wurde +blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel. +Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen -- nein, er sagte +bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren. +Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie +aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim +Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn +geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch +nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut +erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden +dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht +am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das +Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das +Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer, +und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände. +Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang +vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die +Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es +ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum +fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor nur beim +Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau +dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden +Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben +und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen +behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen. + +So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor +»Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine +wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes +»Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen. + +Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen +Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor +allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei +Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn +Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und +schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen +will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter +aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine +lacht, dann aber fällt der Bau auseinander. + + + + + Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten. + + +Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die +Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade +auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber +nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich +getan. + +Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die +Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen +die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an +Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen. +Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter +abgewiesen. Nun denn -- um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit +einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm +Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich +wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not. +Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der +durch zwei Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde. +Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich +und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein +Griff -- und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine +Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein +Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung +sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem +Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man +sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich +durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke. + +Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem +Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen +mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles +still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich +gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da +öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten +sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das +Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern. +Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier +beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu erschnappen +sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr +wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst +drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren +Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit +die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen +ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in +tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht +ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag +ich das Pech damit dauernd los geworden sein.« + +Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er +allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde, +denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen +fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit +Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein +Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres +anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille +vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen +auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als +bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine +Barrikade oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug +erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang. + +Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu +rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis +weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen +französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still +auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die +übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte +auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern +Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um +Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß +es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald +da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst +vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu. +In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der +Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat +am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er +einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher +rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den +Rückzug. »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade. +Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas +näher -- und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist, +gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit +dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn +der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind +sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die +Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben. + +Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten +Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte, +sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam +schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser +laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen +Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle +beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter +dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast +einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl, +sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu +verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn, +und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind +dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit -- der Kürassier war ein +baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen -- sollte er ihn niederschießen? +Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle -- doch nein, so +von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte, +Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt, +Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte +ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte +der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er +den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser +auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte +einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken +der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und +stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber +zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab +es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die +langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der +Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall. + +Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm +doch erobert, ein Blick, oh, sie hatten eine wunderbare Größe! Und +die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen +früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert! +Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr +auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte +ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der +Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang +auf seinen Socken, als wollte er sagen: »Ätsch, ich bin doch noch +davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß +ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und +beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn +er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen +schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den +Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder +und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner +früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich +drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er +ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der +Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen +wollte, und der Deutsche winkte ihm, er sollte nur kommen. Der +Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf +den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob +sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der +Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem +Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte, +daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe. +Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene +Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt +hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er +auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die +Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide +waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren +gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene +Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie +aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der +Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf -- +nun -- Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen +Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus +kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar, daß +er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in +seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten. +Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das +Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute +kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle +riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit +einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und +dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und +gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen +regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte +Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr +höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber, +der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen +Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh, +Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß +sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete +und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also +fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr, +duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder +Haut, hob ihn mit seiner Bärenkraft, und hup -- da machte er ihm +einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den +Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen +auffallend schnell auf die Beine brachte. + +»+Ah, grand respect! -- Une main vigoureuse! Dans le monde entier +on ne trouve pas son pareil+«[1], sagte er würdevoll grüßend, +nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie +staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete: +»Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte +der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich +wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls +dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der +genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er +versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte +mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch. +Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht +geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie ++Cognac+ klang und sicher so wie +boire+. Wilhelm Pickhingst +spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken +besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein +Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und +trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer +Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang +er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie +dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn +erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust +klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab +und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen +Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die +Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als +das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig; +Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte +es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich +gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über +zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches +Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte, +daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum +Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig; verlegen sah er auf +die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt +faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er +sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude +für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup, +da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten +Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und +flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine +Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an! +»+Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur! +Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?+«[2] +und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit +seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das +eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich +hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »+Eh bien, allons, camerade, +vous êtes mon prisonnier.+«[3] Der Franzose zog die Schuhe wieder +an, und so wanderten beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man +sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie +ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt -- gleich +darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon +lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber +aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten +Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen +nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen, +umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und +schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den +Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um +sich. + +St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als +Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts +sein Bataillon auftauchen. -- »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin +Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr +wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er +lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is, +kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« -- Abermals ein +Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile fort, alle wollten +Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe +nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße, +sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem +Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die +Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen, +und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die +allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein +Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte +sein werden. + +Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich +verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst +kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im +Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen +Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die +Freiheit. + +Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft, +offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen +der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete, +nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien +flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand, +aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es an dem einen Wagen laut. +Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus +und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm +Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres +ertönte hinter ihm -- es kümmerte ihn nicht -- »Halt!« unmittelbar +darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen +heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage, +vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem +Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den +Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. -- +Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er +ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell +rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich +ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen +Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das +Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und +lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht +von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet +war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung +zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn +der Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die +Kürbisflasche -- da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm +Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund +fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er +trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit +einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an +Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn +beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere +steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft, +die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und +winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern +schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte +ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte +gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen +schmutzigen Fetzen Papier und rief: »+Votre nom, votre nom, mon brave +camerade!+«[4] Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und +Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging +hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon. + +Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr +aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten, +auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er +phantasierte. + +Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er +endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden +konnte. -- In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so +durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken +seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich +alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still +und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche +und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben +Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück +ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im +Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte +es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na, +Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?« + +Er sah den Mann an und sah um sich -- es war am Markte, und viele +Menschen standen in der Nähe -- am liebsten hätte er ihn durch das +Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben. »Du Hans +Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine +langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran +gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.« +-- Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so +nach Hause. + +Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch +ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er, +schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst +eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über +England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der +ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher +nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne +Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten. +Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es +und zerdrückte eine Träne in seinem Auge. + +Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht +glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch +heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen). +Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß +noch etwas von dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap +zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun -- man frage sich selbst, wie man +es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben. + + + + + Ilse Frapan, + + Dat Undeert. + + +Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~ +aus ~Ilse Frapan~ »~Zu Wasser und zu Lande.~« + + Geb. M. 5.50. + + + + + Dat Undeert. + + +»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit! +Un nu mal op engelsch: +hep! hep! hep! hurrah!+« + +»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar +Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten +fröhlichen Haufen. + +Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es +nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch: +ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken, +Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei, +hurra!« + +Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von +sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt +und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die +Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen +Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die +Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den +Blankeneser Strand, und unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel +standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen, +festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg. + +»Und noch einmal! Und noch einmal!« + +Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen +schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es +galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden +Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen +und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene +Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur +einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann, +mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich +der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet, +das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke, +allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende +Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und +sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen, +wat?« + +»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und +Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die +Kleinen können das je sonst nich.« + +»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.« + +»Nee! da war sie je man fünfviertel!« + +»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, -- sünst sünd ji an' Enn' +hesch[5], wenn't an't Klappen kummt! Wanneer[6] schall Vadder denn +opkamen?« + +»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide[7].« + +»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen +und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen +Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe[8] in +den dicken rotmarmorierten Ärmchen. + +»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.« + +»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff +nach dem Arm der Kleinen. + +»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man +leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich +hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und +drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er +ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei --« + +»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge habt ihr 'n büschen zu früh +aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!« + +All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich +palmengleich elastisch hin und her bog. + +»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die +Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die +Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst +mitgebracht.« + +Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen, +wir haben alle neue Stiefel an.« + +»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester. + +Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer +so'n Unsinn, -- nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund +von Feuerland, wo die Lehmänner[9] wohnen!« + +»Mama steckt reine Gardinen auf.« + +»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat +denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen +denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.« + +»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein +Schiff, lütt Jung?« + +»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige Chor, sogar +Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas +undeutlich herauskam. + +Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun +zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz +und mit Hand!« + +»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt[10], sei doch +'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.« + +Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen +Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die +Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen, +daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?« + +»Tante Manga, kommst du zu uns?« + +»Nein, ich will den Schirm tragen.« + +»Und ich trag' die Tasche, nich?« + +»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!« + +»Papa und Onkel Hartig!« + +»Heute Nachmittag oder morgen früh!« + +»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.« + +»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich +'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander. + +Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche +Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das +ganz rot übergossen aussah. + +»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit +eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus, +während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam +der Gartentreppe zuschob. + +Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es +für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand +hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den +Garten. + +»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief +Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen +Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten +Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte +hinunter. + +»Ach Gott nein, wieso denn?« + +Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich +wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage +heraus kommen, aber jetzt -- und nun haben Sie gedacht -- o wie dumm +von mir.« + +Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der +Dampfergesellschaft seh', krieg' ich's immer mit der Angst, und weil +Ihr Vater doch nu der Inspektor is -- das geht uns Seemannsfrauen allen +so, 'n büschen bange is man doch immer.« + +Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der +Schwelle wollte sie nicht weiter. + +»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt -- sehn Sie, Frau Tönnies, darum +wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte +ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche +dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher. + +»Ja, mein Mann kommt heute.« + +»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.« + +»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona, +nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus +und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die +Leiter bestieg. + +»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich +muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was +glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn +Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis +auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat +noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt -- na überhaupt, so +neun, das is 'ne kleine Horde!« + +Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben +Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören +das gewesen? Ich mein' die Tappsen[11] da bei der Tür und beim Sofa; +können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu +alles rein --« + +»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen +auf. + +Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch +gehn und Stuben fäulen[12]!« + +»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe +eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen[13] und +Fäuel[14] zurück. + +Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die +entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt +beendete. + +»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten +-- bloß, weil mein Mann kommt --« + +»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden +Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf. + +»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen is immer schön, wenn man +das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.« + +Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große +Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre +rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden +hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll +das junge Mädchen, »ich hol' sie!« + +»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird +zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her. + +Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen[15] klärte, war nicht +sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam. +»Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het +all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de +Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder +schall ick Gören möten[16]?« fragte sie mürrisch. + +»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga +gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann +auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!« + +»~Was~ sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund +dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die +neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als +Kathrin Gewalt anwendete. + +»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her, +wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon +spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau +Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden +Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und +versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten +erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran +und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das +alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn +Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da +Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus +Antwerpen gekriegt?« + +Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten +zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, -- es wäre rücksichtslos -- +wo Sie sich so lange nicht gesehen haben --« + +»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder. + +Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß +ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen +sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn +'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei +Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa +sein Schoß?« + +Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben +riefen einfach: »Ich!« + +Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!« + +Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!« + +Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das -- noch +andere!« + +»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!« + +Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen. +Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn +sitzen?« + +Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel +Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.« + +Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es: +»Mit mein' Onkel Hartig kann man überhaupt viel besser spielen, mit +dem kann man 'n büschen albern!« + +»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die +Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des +Kindes niedersah, aber keine Antwort gab. + +»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er +ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.« + +»Ich weiß wohl -- und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht +gewußt -- wenn ich ihn 'mal gesehen habe -- er kam ja öfter zu Papa, +denn hat er immer so ernst ausgesehen --« + +»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa, +das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein +Bruder nu komisch -- sich annögeln[17] oder gute Worte geben, das kann +er nich, das kann ich auch nich.« + +»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung. + +»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau +Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen +haben[18], wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt +immer gleich: meinst', ich will einem da um zu Füßen fallen? ich werd' +noch früh genug Kap'tän, -- besorg' du mir man 'n kleine nette Frau, +denn da kann ich mich nich mit abgeben.« + +Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter +der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über +die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete +Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog. + +»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als +Schiffsjunge gedient hat.« + +»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell, +-- »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.« + +»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen +Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar +nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien +Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem. + +Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen; +freilich -- gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll +Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit +kommt erst, wenn Papa da ist! + +Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem +frugalen Mittagbrot einzuladen, aber gerade, als Fräulein Dehn den +Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen +zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens -- die +Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies +faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge -- sie konnte +sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben, +und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen. +Sonderbar! + +»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die +Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da +is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er +jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon +'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber +wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr[19] je nu +all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte +die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch +'n orrendlichen Klacks[20],« riefen die anderen. Klatsch, klatsch, +klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine +leer war. + +»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga Dehn, der es bei der +Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse, +daß ich so lange geblieben bin.« + +»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man +noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.« + +Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen +Filethandschuhe wieder in die Tasche. + +»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich +am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?« + +Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit +ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her +geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne. + +»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria +nich hier sein, -- das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je +noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis +mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht, +neun werden.« + +»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz +ab.« + +»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, -- +ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können +Sie sich das denken?« + +Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen +Schein; sie nickte eifrig. + +»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar +nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu +hiddelig[21], was soll ich denn im Bett tun.« + +»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich, +als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie +wieder prüfend an. + +»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.« + +Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen +Sie?« -- »Bitte, Frau Tönnies, kann ~ich~ nich heute aufwaschen?« +bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom +Klären wegzugehn.« + +Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na, +freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten +kann.« + +»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama +noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht; +Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze Woche kein +Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.« + +»Na, Sie werden doch nicht weinen?« + +Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine +resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind, +der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen +vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an. + +»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer +sich drehn[22], sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee +machen.« + +Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf +und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe. +Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das +schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, -- ist da woll am Ende 'n +Passagier mit, der -- --.« + +Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was +um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst +da wäre, nicht?« + +Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune +Krebsschale vor das Fräulein hin. + +»Kiek, du, das 'n Tasch[23], die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst +du ihm, Tante Manga?« + +»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der +Kleine aufmerksam betrachtete. + +»Aber du hest Geld ~in~ de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus, +»das' noch besser.« + +»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!« + +Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich, +und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.« + +Frau Tönnies wurde blutrot. + +»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?« + +»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut, +hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine +weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick +der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte, +faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, -- +lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.« + +Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse +auf und stellte sich in die Ecke. + +»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der +Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm +nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück. + +»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies +blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig +soweit, aber -- wenn man kein Wort sprechen kann -- ohne daß die Gören +--« + +»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga, +und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am +Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt. +Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den +Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es +wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.« + +»Komm, Hinrich, sei artig! Du -- wenn du es doch so gut gehört hast -- +was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich +heran. + +»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte +unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst. + +Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten Lächeln an; plötzlich nahm +sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die +glatte Stirn zwischen den Augen. + +»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr +böse.« + +Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?« +brummte er, sich über die Stirn wischend. + +»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus +an 'n Strand, wir kommen alle nach.« + +Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh +war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen. +Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn +die Tassen ineinander stellte. + +»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon; +haben Sie nicht eine Arbeit für mich?« + +»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine +Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf +der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die +muß ich befestigen.« + +Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe +gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die +Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub, +Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, -- alles +duftete durcheinander, so stark es konnte. + +»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün +umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte +immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das +heraus war. + +»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste +Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte +sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen, +wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken -- +-- und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch! +Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, -- drinnen +auf 'n Vorplatz, denn '~raus~kommen darf ich nich, nee -- das mag +er nich, -- denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und +so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer +neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n +Ruff[24] wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er +sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹« + +Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre +kleine feste Hand zitterte. + +»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut. + +»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er +sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen, +aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach +Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich +denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen +könntest, das wär' 'mal nett.« + +»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge +Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab. + +Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn. + +»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, -- ich glaube, es is bloß, +weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich +da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib' +ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu +Füßen gefallen.‹« + +Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig +aus. + +»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause gehn. Ich glaube, die Ewer +drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe +aus der Tasche. + +Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen +Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, -- ach, bleiben Sie man, bis +das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!« + +Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das +Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen +die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden +auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem +schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war +hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge +angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit +Recht: Kirschenland.« + +Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr +sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung +stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und +Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen. + +»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!« + +»Und tüchtig wedeln!« + +»Ob Papa woll'n +blue-light+ abbrennt, wenn er vorbei kommt?« + +»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.« + +»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn +geht es nich, denn wird sie zu voll!« + +»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper. + +»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die +›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug, +die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!« + +Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber +sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit +zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen +weiter ins Fahrwasser hinaus. + +»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies +lächelte wohlgefällig. + +»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot +leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all +wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.« + +Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes +lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück. + +»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt! Unser Stack[25] liegt +schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater +jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran +gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper, +hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig +aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, -- Schlick, der weiter drunten +im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser +ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer, +als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und +aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die +Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag +hin und her. + +»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der +da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die +Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie +auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die +Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen +hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in +sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem Wasser +zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher, +durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach. + +Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne +es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das +Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt, +so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich +verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe +erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes +Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott +sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, -- der Himmel war klar +geworden. + +»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter, +das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei +schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell! +Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich +geworden. + +Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter? +Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat! +Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure +Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch +einmal -- -- und noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn, +wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck! +Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra! +hurra! hurra!« + +Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz +und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller +Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der +Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen +der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den +kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten, +hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur +mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch +auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen +Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende +Kind. + +Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff +heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon +ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der +hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der +Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß +die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie Silber glänzten, nun +verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die +ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald +alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und +nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile +im Osten, wie es vorher im Westen gestanden. + +»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch +einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink, +Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen +aufsetzen -- in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.« +Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um. +»Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?« + +Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp +weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte +ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd +an. + +»Frau Tönnies, ich bin auch so -- so recht glücklich. Sie haben solchen +guten Mann, Frau Tönnies.« + +»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und +lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von +Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte +Zentral«[26]. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n +liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge -- haben Sie meinen +Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.« + +»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu +wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und +wenn Sie allein sind« -- Manga blickte blinzelnd zu Boden -- »denn +komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und +streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein, +nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat +noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir +'n andermal holen.« + +Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer +Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde +Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das +sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch +einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der +Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der +sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte. + +»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau +Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in +Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen +mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn +sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!« + +Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet -- der Fisch war +butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt +der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche +Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein +prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje +auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die +»kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und +durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch +einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten +nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme +war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den +Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen, +braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie +ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar +etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt, +die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein, +daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht, +daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte, +um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste +Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor +allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten +fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem +Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine +Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«. + +»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner +Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›+Smartness+‹ +hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll +auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen +wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man +halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum +Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum +wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«, +wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre +Verwandten zu besuchen. + +»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck warst und immer so +patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, -- Junge, sag' ich zu +mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige +Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten +Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder +lachen wie die richtigen Grienaapen[27], -- du, solche hätt' ich +nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens +Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum +die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und +Schlarren[28] auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar +wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff +zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! -- Bloß 'n +büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar +nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen +abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im +Kartenzimmer --« + +»Wie du die Sonne genommen hattest[29],« fiel Frau Tönnies glücklich +ein. + +»Ja, daß du da immer 'reinkamst -- wo du nichts verloren hattest, und +denn gleich weggeguckt, wenn ~ich~ die Tür aufmachte -- schwubb +den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch +gesehen.« + +Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem +Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage +vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit +ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht +vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen +und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue +Anmusterungen zu besorgen, -- endlich mußte das Schiff ins Dock +gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war. + +»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr +durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen, +der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt +uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du, +Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein +weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung +zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum: +»+All right+, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?« + +»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?« + +Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit. +Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein, +ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem +Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber +sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen +beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer +Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein +Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen +ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es +kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und +nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er +uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm; +ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf +versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den +Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der +Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem +Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen +schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen +ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte sie mit großer +Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes +neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so +hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«. + +Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf +einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand +vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und +Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem +weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes +M. D.+ glänzte. + +»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag +in dem Ausruf. + +Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab. +»Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört +Fräulein Dehn zu.« + +Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine +Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen. + +»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen +Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter +seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu +kommen. + +»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf der vierten +Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in +den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte. + +»Na, Stine, min Deern?« + +»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie +ihn am Ende -- du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.« + +Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat +geiht mi dat an?« + +»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?« + +Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so +mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen, +Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren +Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies +lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen. + +»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel', +und du gibst ihn bloß ab?« + +Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick +mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und +goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie +zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!« + +Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf +den Zehenspitzen auf und ab. + +Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein +und strich an ihrem seidenen Kleide herum. + +»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.« + +Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein[30], +Stine?« + +»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.« + +»Er hat ja drei Stück, Deern.« + +»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies +sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen +dumpfen fernen Klang bekam. + +Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor +sich hin. + +»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in +ein heftiges gezwungenes Lachen aus. + +»Wat du klok[31] büst.« + +»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen +können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen +Hals gelegt hätte, -- aber sich mit seinem Bruder handgemein machen, +das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug +von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar Schritte +treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na, +heb' den Schirm man gut auf -- wenn die Gören bei den Schrank gehn --« + +Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen +Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.« + +Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich +sicher steht -- --« + +»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig +wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus +Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu +zerbrechlich aussah, -- das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche +weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau +Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte +hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote +Wolke zog über seine ungebräunte Stirn. + +»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje +nüdliche Dings ganz entzwei?« + +Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es +und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt' +ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene +sah, der den Kopf hängen ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren, +richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm, +mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in +der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor. + +Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick +wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die +Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je +nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das +verhängnisvolle Paket in seine Kammer. + +»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein +war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'? +Sie hat mich da all immer um gebeten.« + +Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger, +da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche +Deern, das bringt Glück an Bord.« + +Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden +täte, Tönnies?« + +Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal, +Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.« + +»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung. +Sie wollte es durchaus nicht zugeben. »Er hat da woll man seine +Putzen[32] mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das +sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.« + +Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar +nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir +sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie +gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.« + +»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte +unruhig näher. + +»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen +Dwarsdriever[33], de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr +von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da +noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die +Gatten lachten um die Wette. + +»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst, +denn such' dir man 'n ander Paar aus -- din Broder hett all sin +Bekummst[34],« meinte Tönnies. + +»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat' er nich,« sagte Stine +zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.« + +»Denn ward he woll sitten blieben, -- he hett dulle Küren[35].« Mit +einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. -- -- + +Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen +Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn +abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr +früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an +der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd +entgegenschrien. + +»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und +nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir +mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei +Dinger fahren wir heute, Tante Manga!« + +»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge. + +»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper +mit bedächtigem Händefalten. + +»Jasper Dickwust[36]!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um +den drolligen Kleinen herum. + +Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht +viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und +ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr +graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen. +Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein +seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden +Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war +frei. + +»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte +Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung +fehlte, Stine war nicht impulsiv. + +»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie +etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule, +und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll +lachen.« + +Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön +soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne +Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.« + +Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund +für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies +auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid. + +»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für +das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten +Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott[37]!« + +Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe +Begegnung in Aussicht, und dazu -- einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn +übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, -- »und nun noch den +Sonnenschirm!« + +Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,« +platzte sie heraus, »weil --« + +Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten! +Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah +durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu +bekommen. + +»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der +Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch +dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren +Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte. + +Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten +Kindern, die fünf anderen im Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie +endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut +zogen. + +»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«, +flüsterte Anna. + +»Rohmtorten[38]«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles +Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper, +Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.« + +Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort +an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in +Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin -- auf der Straße und +vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen +unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene +Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner +Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich +mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich, +daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach +Hause.« + +Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten; +sie saßen schon auf den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit +der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig +mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies' +glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des +kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das +gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen +Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er +nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge, +das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken +zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß. + +»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß[39], die möcht' ich +woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst +so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das +Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein +voran -- Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur +mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin; +oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir +müssen wohl 'n bißchen warten.« + +»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer +sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.« + +»Die kleinen Kinder --« begann das Fräulein und sah sich abermals um. + +»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, +go +ahead, go ahead+!« Er machte eine seiner kurzen energischen +Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen +gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen, +dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den +vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die +Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu +zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen, +die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und +Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum +Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte +der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit +festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene +der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich +auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen +geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf +den eisernen Schlagbetten, -- en anständiger Kasten, was?« + +Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich +leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen +aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb +auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie +gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen +Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit +Herausforderung fester unter den seinen schob. + +Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich +woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser +gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte, +-- sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor +Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der +Augenblick weh tue. + +»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst, +guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen +sie.« + +Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um +den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die +muschelartigen feingerippten Zapfen, die den Kupferboden des Schiffes +bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen +Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren +Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern. + +»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.« + +Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren +Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut. + +»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die +Löckchen um ihre Stirn bebten. + +»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen +Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?« + +»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er +die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein +hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg +zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der +Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje, +Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem +Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und +klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre. +Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und freudewinselnd der +kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika +mitgebracht hatten. + +»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen +eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.« + +»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem +Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm, +»nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward +kann ihn auf'n Teller legen.« + +Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte +spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n +Zwickel[40]?« sagte er halblaut zu ihm. + +Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er +dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen +bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen +Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete. + +Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte, +was sind denn das für Gewächse, Herr -- Herr Holert?« + +Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht erhellte sich. +»+Sweet potatoes+[41], Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über +die Schulter weg. + +Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie +aus ~diesen~ Knollen?« + +Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus, +und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich +nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen +Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in +die Augen, prüfend, vorsichtig. + +Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken. +»Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts +weismachen, he lüggt[42].« + +Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen. +Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine +Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat. + +»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von +Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.« + +Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich. +»Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag', +Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und die Zunge im +Mund hält, -- denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den +Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.« + +Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden +jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten +vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem +unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen, +ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen +Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen +schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je. + +Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein +Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner +Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«, +damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. -- + +»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich +erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen, +ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich +muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft. + +»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er +öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah +das Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz +mit Photographien bepflastert. + +»So sahst du damals aus, Stine.« + +»So sah ich damals aus.« + +»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider +allein machen mußte.« + +»Und da bist du als Bräutigam.« + +Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der +Kinder mit sich, die hineingewollt hatten. + +»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.« + +Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war +Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der +Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und +ab, und Stine verglich es mit der Photographie. + +Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte +alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen +Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier +gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten, +-- zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder +zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit +zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste, stolperte Anna herein +und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit +desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer +hinter sich, -- den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna +betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf, +und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, -- ich weiß aber woll warum!« +setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu. + +Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut[43].« + +»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch! +Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig +herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben +wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran +gearbeitet wurde. + +»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind +entgegen, »soll ich es 'mal sagen?« + +»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund +zugehalten ward. »Weil du all den Rohm[44] in deine Tasse gegossen +hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«, +rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen. Aber nun setzte es einen +Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, -- -- +weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die +wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten. + +»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte +ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den +Unsinn ein. + +»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über +den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal +mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte. + +»O, Herr Holert --« sie legte die Hände zusammen. + +»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach -- aber das kennen Sie +ja alles! Na, schad't nix -- sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt, +fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee +oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht +Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er +lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann +schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als +Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen +Mund aufmachen.« + +»O darum --« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und +verwirrend. + +»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und +bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn --« + +»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der +is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an, +der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann +zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch, +jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen +was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier +Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch +auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von --« + +»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend. + +Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst +keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut, +tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.« + +»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen. + +»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester. + +»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem +Taschenbuch!« reizte der Kapitän. + +Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er +versuchte zu lachen. + +»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein. + +»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick +nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach +dem Werftplatz, als gehe ~sie~ nicht im geringsten an, was hier +gesprochen wurde. + +»Dat muchst du woll, -- ward aber nix ut!« + +»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen +wendete sich halb gegen sie. + +»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine +Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt +Papa früher als ich zu Tisch.« + +»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll --« begann Stine +niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch +fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum +Aufbruch. + +Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch +ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob +ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-, +zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich den Hut auf den Kopf und +stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn +sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte +sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen +inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies +sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen +brannten zwei hochrote Flecken. + +»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre +forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson +verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr +Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch +die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon +allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn +vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen, +sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer +hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt +es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr +zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen +bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als +alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt, aber +da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die +gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb +hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er +würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am +Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender +oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen +hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen +hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den +ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich +immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte« +-- hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß +auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß +der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit +einen vertieften Reiz verlieh. + +Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben +sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich +dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen -- + +»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von +dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig +geblieben?« Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein, +bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch +ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar +in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem +Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der +Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans +Schlüsselloch, dann auch das Auge. + +»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel +steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie, +glücklich über ihre Schlauheit. + +»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder +vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun +hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem +niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er +mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er +in Lebensgefahr gewesen, -- mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte +er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu +kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender +See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos. + +»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot, +sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller +beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß +still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz +allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies +zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen +Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren, +aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist +denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer +eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich +in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, -- dann ging +die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu +einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der +Kapitän wurde »quirrig[45]« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert +besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, -- warum konnte er nicht dort +wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht, +weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die +Gärten beinahe aneinander stießen? Es war nur gut, daß Stine so wenig +Zeit zum Grübeln hatte, -- die bevorstehende Abreise hielt sie in +Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen +Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des +Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich -- zumal, da die Tropen +täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte +sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in +augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem +aus der Waschbalje[46] der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das +füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und +brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht +zu sehen, -- der ~Kisten~, denn der guten Schwester erschien es +selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal +eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder, +wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn +zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß +Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie +ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb +scherzenden Anschuldigungen seines Schwagers sogleich reinigen können, +aber -- und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung -- wenn man einem +Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit. +Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt +eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war -- +Fräulein Dehn -- und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich +Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres +Mannes von der Zeugleine nahm -- stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf +der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und +freundlich an. + +»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer +Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!« + +Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu +helfen. + +»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?« + +Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber +ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre +Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte. +»Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der +Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.« + +Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das der Beutel für die +Kneifen[47], Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn +das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.« + +Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere +Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig +befühlte. + +»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie +nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester. +Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und +in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n +ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf +Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er +ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen +da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da +waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch +so'n Ärger --« + +Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite +musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt +hatte. + +»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?« + +»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut +-- ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.« + +»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?« + +»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem +Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu -- nich mit +Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er +die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was +'reinkommen soll, und sprechen tut er nich ~so~viel.« Die Frau tat +einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man +hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die +Augen. + +»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit +sanftem Vorwurf. + +Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie +haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll +das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all +die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder +mit getan.« + +»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte +ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu +ihr auf: »Gestern abend -- in vier Tagen wollen sie weg -- kommt +mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste +Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du +sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein +dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un +ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹« + +»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein. +Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert. + +»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie +so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen +sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich +zu plätten --« + +»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester +anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen +Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen --« sie errötete und spielte +mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau +Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.« + +»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen +kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll +liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen +sehen, daß ich es ganz gut machen werde. Wenn ich will, kann ich den +ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna +sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes +Kleid und eine große Schürze -- ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit +eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich +sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch' +ich den Rock«, sagte sie endlich. + +Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten +verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den +Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte +sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.« + +Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte +sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, -- Gott, es hätt' +ja doch angehen können -- und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen +gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.« + +Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand +sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und +bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden +Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche +Vorrichtung die dicken Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau +Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe +Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte +sie. + +Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir, +Ihr Bruder soll es nicht wissen! -- Ist er schon öffentlich verlobt, +Frau Tönnies?« + +»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die +ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n +großen Slöpendriwer[48].« + +Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor. + +»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm +'raus.« + +»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau. + +»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin +eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?« + +Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich +verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die +Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es war am Ende gar +kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende, +langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm, +und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei +nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von +Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen. + +Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief. +Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte +er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß. +Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den +Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich +kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg +sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom, +der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen. +Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen, +und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor +Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra +schreien, -- aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen. +Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von +der glitzernden Fläche, die so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig +weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer. + +Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, -- das waren keine +Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen +waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die +Ritze. Ach so, der Briefträger war's, -- sie hörte ihn ans Fenster der +Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die +Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend. + +»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach +der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen! +Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich +Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.« + +»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar +Stunden hier an den Ärmeln zu tun.« + +»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte +aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk' +ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu +sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das +nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus +sagen soll, -- ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders, +wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung +verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.« + +Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie +die gute Frau noch gar nicht gesehen. + +»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm. + +»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, -- es is +ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren[49], und der +Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.« + +Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach +dem Abendbrot, -- ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so +zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen +nach der Arbeit«, lachte sie. + +»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch +nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau +Tönnies davon, um sich anzukleiden. + +Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin +Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu +sich hereingucken. + +»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen Sommer hab' ich +dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich +man nich die Zeit lang werden, -- mein Bruder is das gar nich wert, daß +--« + +»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin +wieder allein. + +Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach +Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen. +Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die +Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub +bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine +Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die +Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen +hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom +Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling: +die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus +einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie +zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte +dabei. -- -- + +»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen +oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und +stand auf den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber +führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen +Kopf da drinnen gezeigt. + +Das Mädchen stand sprachlos, -- das blaue Tuchgebäude war ihren Händen +entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr +in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen +betroffen worden. + +»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am +Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit +belegter Stimme. + +Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«, +stotterte sie. + +»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein +unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die +hervorbrach. + +»Stine ist aus.« + +»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!« + +»Sie müssen das Un-, -- den Südwester ja doch haben --« + +»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot +und bestürzt, »Sie sind bei ~meinem~ Rock zu Gange?« + +Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte zu Boden, und der +Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er +der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht, +daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin. + +»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte +Antwort. + +»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte +waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr +schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der +Waschbalje, hinter der sie stand. + +»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!« + +»Ach, Sie waren bei uns?« + +»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal -- allmählich 'mal -- Ihren +Sonnenschirm wiederbringen -- sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe +gewesen,« -- er errötete wie ein Knabe -- »ich mocht' immer nich +'reinkommen.« + +»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht. + +Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge. + +»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,« +platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das +Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn +müssen Sie das nich für ungut nehmen, denn kann das leicht geändert +werden, -- das is all zum Abschrauben.« + +»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem +schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und +stürmte mit einem Seufzer davon. + +Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, -- richtig, da +war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber +was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes +M+ +und +H+? Überrascht wiederholte sie laut: »+M. H.+? +M. +H.+?« + +Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin -- die andere +Krücke. + +»Hier ist das andere -- wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte +Stimme. Sie nahm es -- aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten +Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit +einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen ++M. H.+ zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende +Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre +Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh +und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie +hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit +stürmisch festzuhalten. Das Mädchen richtete sich zuerst auf. »Nun muß +ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest. + +»Das Beste weißt du noch nich.« + +»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn. + +»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger +Zeit.« + +»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt. + +»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja +auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja +nicht wissen -- das kann ja sein -- vielleicht hab' ich Glück, daß sie +mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie +sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem +Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich +mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm +die Augen naß wurden, ermannte sie sich. + +»Ich muß wohl ins Haus jetzt --« sie blickte an sich nieder -- »ich +will mich schnell umziehen.« + +»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.« + +Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein +kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.« +Neben einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis +sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere +Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten. +Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter +Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und +grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte +das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem +First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen +rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach, +aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.« + +Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande +die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend. +Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks, +das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende, +verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit +den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten +Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller +Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und +staunte hinunter und drückte sich fester die Hände. + +»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend, +nachdenklich -- »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« -- -- +-- -- + +Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine +war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt, +die Kinder bejubelten die neue Tante -- nur Kapitän Tönnies zeigte +sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja +schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein +Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.« + +Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte +beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte: +»Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.« + +Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein +bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein +war. + +»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte +sie befangen. + +»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar +nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog +sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine +Weile ging er mit großen Schritten hin und her und ließ sie weinen. +Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die +Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter +anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse, +ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum +zurück. + +»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was +Unrechtes is es nich.« + +Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht, +wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt. +Es könnte sie nur ~glücklich~ machen, wenn sie's sähe, dies +freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in +heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen -- +aber der Kapitän zeigt's nicht -- er ist eben noch nie jemandem, auch +seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen. + + + + + Balduin Groller, + + Die Tante und der Onkel. + + Eine Entlarvung. + + + + + Die Tante und der Onkel. + + + I. + +»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine +Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch +die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich +auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen, +und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner +ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich +stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas. +Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen +Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche +Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet +um einige beruhigende Zeilen + + Dein alter treuer + Fridolin.« + +Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war +ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, +Dr.+ +Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von +Gerolstein seine guten Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf +die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit +Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die +Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren, +sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die +auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen +unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte. + ++Dr.+ Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort +hin, um es zu beantworten -- Zeit hatte er ja. Er schrieb: + + »Mein lieber Junge! + +Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei, +vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht +erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast. +Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis +eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als +Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre +ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes +antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe +Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs +Beobachtungszimmer. -- Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und +hoffe noch auf eine gute Besserung. + +Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also +~nicht~ ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm! +Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen +Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist +der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben. ++Solamen miseris socios habuisse malorum.+ Ich weiß, man kann +statt +miseris+ auch +miserum+ sagen; Du siehst also, ich +bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich +›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den +Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner +Verhältnisse ist er gerade großartig genug. + +Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ -- +das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich +aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von +Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit +zu Zeit ein paar ~Ärzte~ Hungers stürben, so käme die Statistik +gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das +Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit +stelle. + +Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres +erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre, +wegzusterben wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst +auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist +auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch +nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir +müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die +Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu +machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu +verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen +Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das +heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein +geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine +Vorbedingungen -- dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man +sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit -- nun, wir +wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! -- aber Glück hast Du +entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden +also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden +und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind +sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen. + ++Quae cum ita sint+ -- komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein +würdiger Freund, und es fehlt mir nicht an Argumenten, eine große +Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf +weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst, +und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir +wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu +arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und +kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem +Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten +soll. + ++Ad vocem+ Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht +gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in +Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß +sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen +können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter +erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze +Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in +Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf +eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger, +Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit +einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen +Gefechtes von der Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit +einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse +erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe +massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit +hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht +dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich +habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen. + +Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig +mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten +Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen +zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also +die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie! + + Dein schiefgewickelter Freund + + Arnold.« + +Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte: + +»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden +dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach +Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet. + + Dein F.« + +Die umgehende Antwort lautete: + +»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse +Menschen, die von ihren Rechten einen unbescheidenen Gebrauch zu +machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser +~einen~ großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht +ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt +etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch +weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür +wäre ich sonst + + Dein Freund A.« + +Darauf kam noch eine Erwiderung: + +»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade +gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist +zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt +wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist? + + Auf Wiedersehen! + + Dein F.« + +Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen: + +»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und +Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir +wohl mündlich auseinandersetzen. + + Ich drücke dich an meinen Busen! + + Dein A.« + + + + + II. + ++Cherchez la femme!+ hatte sich Arnold gedacht, als er, nach +den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem +Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen: + ++Dr.+ Friedrich Bruckner -- von seinen Freunden immer nur Fridolin +genannt -- hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital +abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen +Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem +Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen +großen Nichtstun bestehen. Fridolin -- wir zählen zu seinen Freunden +und haben das Recht, ihn so zu nennen, -- Fridolin hatte sich für eine +Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen. + +Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den +Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung +Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte +aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht, +das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort +irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur +schon ein bißchen lange her. + +Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf +auszuschreiten, hatte er nicht; denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm +ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen +Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem +Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es +sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck, +von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen +lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße, +die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins +Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles +Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu +erblicken. + +Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen +Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken. +Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und +sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es +Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr +verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land +ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr +gegen sich. + +Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes: +in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im +nächsten Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn +herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte. +Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und +so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief: + +»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf +die Bäuche!« + +Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem +Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn. + +»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um -- schützen Sie -- +ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank +ins Gras; sie war ohnmächtig. + +Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo +er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein +weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als +alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und +ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte +sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute +hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht. + +»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug. +»Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen Kognak aus meiner Feldflasche. So +ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.« + +»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge +Dame mit matter Stimme. + +»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein +Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können +-- ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon +abgerissen.« + +»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war +nur so fürchterlich erschrocken.« + +»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die +Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich +denn für einen Mörder gehalten?« + +»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken +bin, sondern was vorhergegangen ist -- es war entsetzlich!« + +»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In +der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den +Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin +endlich auch ich da, -- mein Name ist +Dr.+ Friedrich Bruckner -- +und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen. +Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie +zu sterben, vollkommen überflüssig sind. Denn ich sehe -- leider! -- +keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.« + +»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins +Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie +wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß +nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten -- +ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus +meiner Tante geworden?« + +»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante +sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine +Blicke nach allen Richtungen hin schweifen. + +»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine +Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.« + +Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem +Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das. + +»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er. +»Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt +müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie +sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr +heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und +vielleicht auch noch morgen quälen werden, während die Sache ganz +bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt +genügend ausruhen.« + +»Aber meine Tante --.« + +»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen, +daß Sie sich krank machen.« + +»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!« + +»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen +über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern +sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die +Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie +sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben. + +»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle, +sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder +aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu +befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön +sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?« + +»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.« + +»Das sehe ich. Ihr Aussehen -- alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt +kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum +Glück ist man nicht nur Arzt -- +homo sum+!« + +»So heißt ein Roman von Ebers.« + +»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein +Roman hier ist mir lieber!« + +»Wenn nur die Tante --« + +»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie +retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man +kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und +ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.« + +»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben. +Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie +sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar --« + +»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.« + +»Richtig; und ein Fenster hat sie auch --« + +»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter +mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.« + +»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!« + +»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt. + +»Die war so -- ach Gott, wenn nur die Tante --!« + +»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!« + +»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie ßen wollte, da trugen +die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß +es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er +ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit, +sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.« + +»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?« + +»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.« + +»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?« + +»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, -- ach, du meine +Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!« + +»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! -- Was geschah da?« + +»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes +Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger +transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes +Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen, +denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen +konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht +wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so +mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an uns vorüberziehen zu +lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der +Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen +Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr. +Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen +konnte, -- wie weit und wie lang, das weiß ich nicht -- und ich kam +erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.« + +»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die +Patientinnen in den Schoß fallen.« + +»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte +Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir +jetzt die Tante suchen.« + +»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission +beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und -- +jetzt wollen wir die Tante suchen!« + +Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft +darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in +die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo +seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des +Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven +Regun gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige +medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war, +drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes, +liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt +hatte. + +Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine +Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte +einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte +nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit +kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die +richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu +keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht +aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie +es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das +Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber +auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle +Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende +Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu. + +Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein +unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe +schwanken können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß +er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es. + +Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische +Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache +Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts +zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher +Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also +kombinieren. + +Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff +wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als +bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von +fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen, +daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden +wird. + +Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente +vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf +auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die +Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ, +so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war +immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal +separat aufgerechnete Echo, das seine zärtlichen Rufe »Tante, teuerste +Tante!« beantwortete. + +Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der +Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte +sein können, aber -- der Genius der Menschheit wird ersucht, hier +sein Antlitz zu verhüllen, -- Fridolin erklärte dagegen auf das +bestimmteste, daß zur ~Rechten~ etwas durch die Zweige geschimmert +habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe. +Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein +Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in +Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante. + +So sind die Männer! Und so ist die Welt! + +Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen +war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer +Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin +sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der +von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun +zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte +die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles +in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein geholt +werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im +Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen +begegnete -- es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin, +alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war --, zu fragen, ob sie +keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und +bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu +wollen. + +So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht +gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin +tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war +bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem +langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe +nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer +freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das +wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut +beraten, was nun weiter zu geschehen habe. + +»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich +habe nicht einen Pfennig bei mir!« + +»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie +werden mir zusehen!« + +Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden Sie mir aber doch auch +geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!« + +»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.« + +»Die Tante wird Ihnen dann schon alles --« + +»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden +zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen +darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!« + +Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und +die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken, +mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im +Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe. + +»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf +einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt +Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?« + +»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist +klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres +Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre +gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die +p. t.+ +Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.« + +»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie +schneiden herunter!« + +Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden +hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die +Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der +Nacht nichts geschieht.« + +»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«, +meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont +aufsteigenden Mond deutend. + +»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe. +Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für +prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.« + +Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs +Herz. + +»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich +weiß nicht, was mit mir geschehen soll.« + +»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante +heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.« + +»Glauben Sie wirklich?« + +»Ich möchte sagen, ich ~weiß~ es. Um diese Zeit werden Tanten +nicht mehr gefunden.« + +»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt. + +»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?« + +»Das ist ja nur um so schlimmer!« + +»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich +höflichst zu empfehlen!« + +»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!« + +»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!« + +»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank +verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein --« + +»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein +desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins +klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen +sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer +Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie +heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!« + +»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem +Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante +gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen. + +»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?« + +»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum verbeugen Sie sich denn? +Da ist doch nichts so Großes dabei!« + +»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag +zurück in die Pension?« + +»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist +zugesperrt.« + +»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie +abholte?« + +»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.« + +»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz; +zurück nach Gerolstein?« + +»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach +Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und +schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.« + +»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich +Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache +ist nicht so einfach!« + +Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu +ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen. + +»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe +ich sofort auf und davon! Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier +in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?« + +»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten +heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.« + +»Sie wissen nicht, wo?« + +»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt, +und ich hatte nach nichts gefragt.« + +»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?« + +»Jawohl!« + +»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?« + +»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu +kümmern; ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.« + +Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen +sollte. + +»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das +Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund +der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige +Vermutung kommen, was ~sie~ nun wohl anfangen wird. Was glauben +Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?« + +»Ängstigen wird sie sich!« + +»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung wird nicht ausreichen, +uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun. +Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr +die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach +Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja +etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos +und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind, +und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man +es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist +oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen +sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben +und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte +ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube +vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte +zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher, +als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin +zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind. +Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß +wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹ +übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet ist, wird sich +dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.« + +Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so +wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach +Dresden brachte. + +»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden +zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom +Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich +entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen. + +»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin, +»für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein. +Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl +nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein +reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich +immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber +morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob +sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.« + +»Ich habe keine Eltern mehr.« + +»Aber ein Heim haben Sie doch dort?« + +»Ja, bei meinem Onkel.« + +»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?« + +»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.« + +»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie +sogar nur noch mich als Beschützer!« + +»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor. +Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren +so lieb zu mir -- wie soll ich Ihnen nur danken?« + +»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!« + +»Sie? Wofür denn?« + +»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der +Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist +eigentlich alles gesagt.« + +»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!« + +»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute. +Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken +haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn +Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir +verbracht zu haben?« + +»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur +so!« + +»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach +Gerolstein oder, wenn es gut geht, nach Wien, nach Frankreich, -- Gott +weiß, wohin noch? -- mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen +Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie +wiedersehen!« + +»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über +ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht +bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen, +durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den +Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit +stiller Freude. + +»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer +Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst +vergessen haben.« + +»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt. + +»Sie werden!« + +»Gewiß nicht!« + +»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf +Nimmerwiedersehen auseinander sollen?« + +»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge +Käthe. + +»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit +sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die +Idee blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde +als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung +geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer +Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer +Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren, +daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es +für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit +einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch +den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde, +und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu +verkümmern. + +»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit +einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere +Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen +gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz +andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem +eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in +Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die +letzte Erinnerung an mich verwischt sein!« + +»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß +nicht!« + +»Oh, ich weiß das besser!« + +»Das können Sie nicht besser wissen!« + +»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das +Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!« + +»Jetzt bedauern Sie es auch noch!« + +»Habe ich nicht alle Ursache dazu?« + +»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das +Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue +mich an dem, was ist und was wirklich war.« + +»Fräulein Käthe?« + +»Herr Doktor?« + +»Ich möchte Ihnen etwas sagen.« + +»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.« + +»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?« + +»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.« + +»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja +gleich unter Menschen! -- Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen +voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so +gar nichts angehen.« + +»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir --« sagte Käthe +nun ängstlich stockend. + +»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte: +Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher +vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!« + +»Nein, das ist noch nicht unritterlich.« + +»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?« + +»Herr Doktor!« + +»Ist es unritterlich?« + +»N--ein -- ich glaube, -- es ist nicht unritterlich.« + +»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig -- ein ganz klein bißchen -- +gut sein können?« + +»Herr Doktor, -- ich bitte Sie --« + +»Ist es unritterlich?« + +»Ich weiß nicht, ob --« + +»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen +gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!« + +»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!« + +Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen +Abschiedskuß. + +»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste. + +»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen +Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch. +Käthe!« + +»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd +still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem +ihrigen nahebrachte. + +»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er +leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!« + +Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er +dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch +unritterlich, sondern einfach natürlich. -- + +»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob +du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?« + +»Vielleicht!« + +»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen +sollen?« + +»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen -- und mich finden!« + +Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante +schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen. + + + III. + +So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß +begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel +war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen herabgesandt. +Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch -- +von wegen der Tante! -- nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren +voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder +zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen +die Formel gefunden: Du wirst mich suchen -- und mich finden! + +Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des +berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe +seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich +einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren +sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein. +Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen +Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund +des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen +Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte +er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen +Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte. + +Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand +es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren, +da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine +Begegnung mit Käthe bringen. Gerolstein war nicht so groß, daß ein +schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird +Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes +ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen +würde. + +In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall +sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte, +sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm +allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine +ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit, +die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem +gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen. + +Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine +herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter +Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um +ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der +Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den +offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber +der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde +Arnold. Das Schreiben lautete: + +»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen +großartigen Kriminalfall vertieft. Zur vollständigen Vernichtung des +Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. -- Der Geh. +Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist +glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als +eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in +Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit +schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn +Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten. + + Dein wohlaffektionierter F.« + +Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu +später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte +darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den +Rechtsanwalt +Dr.+ Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im +Bette empfing. + +Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker +der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt +und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle +Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich -- er hatte solche +Schmerzen in der Seite -- eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer +schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im +Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs +war eine stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle +Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und +das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch +Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und +wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen +immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben +Tage bei einem ~Früh~schoppen begehen konnten. Solche Bosheiten +begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der +Zivilisation erfreut. + +Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen: +den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den +»Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt +war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen +»Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der +Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des +Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das +heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine +oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben +verbitterte. + +Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten? +»Gerolsteiner Radfahrerklub ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum +»Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten +sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König +Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im +Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst +gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, -- +es steckte eine große Bosheit dahinter. + +Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht +beliebt -- das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind +bei der Opposition niemals beliebt -- und sie setzte ihm zu mit +Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit +Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt« +so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere +Numa +Pompilius+, der zweite König Roms, und so oft +Numa Pompilius+ +im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt +war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle +Maßen wütend. Denn unter +Numa Pompilius+ war immer ~er~ +gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen +aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre +Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß +eine hohe Behörde ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu +niederträchtig. + ++Numa Pompilius+ wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man +hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen, +um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr +um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. +Egeria+ +war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und +man wußte, daß auch der Gerolsteiner +Numa Pompilius+ von einer +Gerolsteiner +Egeria+ beraten wurde. + +Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim +war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung +neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe +hatte es ihm angetan. + +Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht, +wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden +wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie +eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man; +das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte +und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil +eine weise +Egeria+ da war, wurde ~er~ +Numa Pompilius+ +genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal +aufgekommen war, da tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie +schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen +Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines +etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten, +glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie +aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein +nur so gegangen wäre! + +Jetzt war die Analogie mit +Numa Pompilius+ und +Egeria+ erst +recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres +Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier« +auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit +Numa +Pompilius+ nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch +durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe +Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des +Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die +seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten +bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso +streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die +wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen +Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer +Befriedigung voraussetzten -- und da war dann eigentlich nichts mehr +zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner +unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die +»Numidier« nun als eine Art Leibgarde für +Numa Pompilius+ +aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man +sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer +der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose +zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und +ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem +auch noch grob anfuhr. + +Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern +nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren +in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein +unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das +erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war +alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden. +Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte +auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war +verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum +er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte +an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine +Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war +polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte +nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war +ganz in der rechten Stimmung dazu. + +So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten +berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und +Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die +Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches +Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung +eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden +Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das +ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden. +Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es +war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald +einsah, daß er als Doktor +juris+ hier nicht zu dem gewünschten +Resultate gelangen werde. + +»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein +Medicinae+ Doktor +her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.« + +»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende +Ministerpräsident. + +»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier +nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen +Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein +niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend +rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine ++Dr.+ Bruckner?« + +Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch +und fertigte das Schreiben an Fridolin ab. + +Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen. + +»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im +klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene +Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?« + +»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz +gewaltig!« + +»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz +haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße +für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig +zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz -- es ist nur +natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was +aber sagte der Attentäter?« + +»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte +genau so wie ich, nur viel gröber.« + +»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie +lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?« + +»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr +geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen, +auch noch verhöhnt!« + +»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns +nicht gefallen zu lassen.« + +»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er +liege auch nicht auf Rosen.« + +»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?« + +»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht +auf die Gasse gehen!« + +»Das ist stark!« + +»Und dann -- sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das +eigentlich, ein Pneumatik?« + +»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten +Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.« + +»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich, +das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine +Laterne an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint, +da ich doch keinen Pneumatik habe?« + +»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten -- ich glaube, der Mensch hatte +die Vermessenheit, auf das -- das Embonpoint Ew. Exzellenz +anzuspielen!« + +»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den +Bauch hängen soll?« + +»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.« + +»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!« + +»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben +werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon +sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen +schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose +Ew. Exzellenz als +Corpus delicti+ produzieren, und +Dr.+ +Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über +welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.« + +In diesem Moment meldete der Lakai, daß +Dr.+ Friedrich Bruckner +um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden. + +»Ach, +lucus in fabula+!« sagte der Exzellenzherr, er sagte +wirklich »+lucus+«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend +hinzu. + +Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und +seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er +verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da +richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine +Wort: + +»Hinaus!« + +Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert: + +»Der Mann mit dem Pneumatik!« + +Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort +eine junge Dame mit der Frage bestürmte: + +»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?« + +Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die +junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse -- es +war Käthe. + +»Käthe! Du -- Sie -- gnädiges Fräulein -- hier?« + +»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen. + +»Und der da drin ist dein -- Ihr -- unser Onkel?« + +»Natürlich!« + +»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!« + +»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.« + +»Und die Tante?« + +»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort. + +»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin +ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!« + +Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation +ein vorzeitiges Ende. + + + IV. + +»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime +steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte. +»So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum +Velozipedfahren?« + +»Ich bitte dich -- in Gerolstein!« + +»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!« + +»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich +bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich +allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an +dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.« + +»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!« + +»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze +der lieben Straßenjugend von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel +darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen +ausgesucht.« + +»Was gedenkst du nun zu tun?« + +»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!« + +»Mensch, bist du verrückt?!« + +»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich +bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß +dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der +Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht +hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar +noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu +werfen.« + +»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der +Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen +bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer +Radfahrer!« + +»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer +Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den +miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse, +und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im +Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig +tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat. +Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens +auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die +Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.« + +Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf +zusammen. + +»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!« + +»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen +›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen +gefallen!« + +»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.« + +»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹ +begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.« + +»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß +auf den Hals!« + +»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.« + +»Fridolin, man wird dich einsperren!« + +»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt! +Übrigens -- die beste Art der Verteidigung ist -- anzugreifen. Ich +werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann --« + +»Und dann?« + +»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!« + +»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum -- +Gerolstein?!« + +»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.« + +»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und +verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!« + +»Eins schließt doch das andere nicht aus!« + +»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!« + +»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel +nicht einen Schafskopf heißen!« + +»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade, +daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen +Sensationsprozeß daraus gemacht!« + +»Das kannst du ja noch, -- nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für +mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt +angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen +zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden, +du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu +einer imposanten Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht +schaden.« + +»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!« + +»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch +nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen +aufgelesen hast!« + +»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen +Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es +sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu +prozessieren als für ihn.« + +»Ich könnte« -- fuhr der Rechtsanwalt fort -- »nun ganz gut das mir von +ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung +übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt +hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt +werde und sich in Wohlgefallen auflöse.« + +»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.« + +»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig +entschuldigen.« -- + + + V. + +So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn +gedacht hatte. Herr Besenbeck, der gebietende Staatsmann, wollte +von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich +verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins +Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen +können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche +gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug +zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu +fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn +kennen lernen. + +Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins +geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein +abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der +kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung +zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen +Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh, +meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt +riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte +Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich +selbst. + +Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht +zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt. + +Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold doch für rätlich, die +Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben. + +»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des +Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich +umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade +der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei. + +»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich +schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen +gibt es keine Einwendungen.« + +»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben +versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht +retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse +--« + +»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen +Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse +stattgefunden hat?« + +»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir +gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.« + +»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon? +Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die +Schleiermachergasse nicht genannt werden.« + +»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige +Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben +an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als +naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung +in der Schleiermachergasse --« + +»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen +nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand +noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des +Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich +beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu +bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand +und an meine Instruktion zu halten.« + +»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.« + +Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte +sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit +den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines +Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich +mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In +der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria, +-- die schöne Baronin Waltersheim wohnte in der Schleiermachergasse! +Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin +nicht mehr schlimm werden. + +»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach +einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß +von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus +geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch +manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen, +und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache +vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß -- die +Opposition zerschmettert haben!« + +Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem +eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch +sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte +geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war. + +»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht +wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele. +Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen +doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben +sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern und +das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der +Lohn für unsere Mühe sein!« + +Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des +Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm +verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in +zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch +einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh +tun wollte. + +Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der +»Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt +geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr +ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches +Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der +Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst +überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte. + +Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner +letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau. +Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem +Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich +noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder +»regieren« gehen müsse. + +»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten +das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze! +Unsere Sache steht ausgezeichnet!« + +Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das +Schriftstück vorzulesen, und Arnold las: + + »~Gerolsteiner Radfahrerklub + ›Die Numidier‹.~ + + An Se. Hochwohlgeboren Herrn +Dr.+ Arnold Winter, + + Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias + Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums + Gerolstein + + in Gerolstein. + + Hochgeehrter Herr! + +Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis +erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz +der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und +Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es +hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten, +ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre +Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein +einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen +vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem +Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie +Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen +Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.« + +»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las +weiter: + +»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir +begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied +~preisgeben~, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig +ist, dem ~Strafverfahren anschließen~!« + +»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon +haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!« + +»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig +lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las: + +»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses, +daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft +werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung +des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf +der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn ~ein~ +Radfahrer schuldig ist, es doch nicht ~alle~ sind; wir wollen +zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame Sache +machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu +zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere +Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der +nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur +gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich +nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich +dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger +Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der +Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu +umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve +die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission +in die ~Schleiermachergasse~ entsendet werden, damit sie den +Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12 +in der ~Schleiermachergasse~.« + +»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. -- In dem Hause +Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. -- Der junge +Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter: + +»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden, +des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an +die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern, sich der +Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur +festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die +Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln. +--« + +»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12 +veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem +Ingrimm. -- Arnold las weiter: + +»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht +warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung +zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf, +Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich +in die ~Schleiermachergasse~! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.« + +Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft. + +»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag +soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren +Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt, +kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel +führen: ›~Die Katastrophe in der Schleiermachergasse~‹ -- denn +eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer +müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit +Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es soll ihnen gesagt werden, daß +jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe, +nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten +nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren +Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie +Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die +Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte +er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des +Staates erwägend -- und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher +sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren +Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz +auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen, +den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung +hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu +wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht +einschlafen zu lassen. + + Mit sportlichem All Heil! + + +Dr.+ A. ~Wohlrab~, Präsident. + +Dr.+ Fr. ~Bruckner~, dzt. Schriftführer.« + +»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der +Schriftführer heißt +Dr.+ Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe, +der --« + +»Es scheint.« + +»Das ist stark!« + +»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst +den Stab über sich bricht.« + +Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl +etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des +Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das +nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein. + +Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als +ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge +beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr +leutselig: + +»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu +verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen +Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen +nachzugehen.« + +Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das +Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte +»abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, -- die Sache sei es +ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn +für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei; +er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich +daran doch gar nicht erinnern! + +Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer +weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der +gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt +werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident, +die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für +wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit +dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität. +Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die +entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine +hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets +eine nachdrückliche Förderung erfahren solle. + +»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man +Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank +und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die +Leidenschaften zu entfesseln.« + +Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende +und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm +nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene +gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen +müsse. + +Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr. +Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die +»Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls, +nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber +der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft +zu bringen. + +»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt. + +»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!« + +»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.« + +»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.« + +»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.« + +»Damit will er sich nicht mehr begnügen.« + +»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?« + +»Das würde er für ungesetzlich halten.« + +»Ja, was in aller Welt will er sonst?« + +»Er will seinen Prozeß.« + +»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug +und berittenen Bannerträgern vielleicht?!« + +»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein +Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.« + +»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten +keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis, +hören Sie -- um jeden Preis?!« + +»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich +wage nicht --« + +»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!« + +»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich +kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die +Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich +höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur +von einem Familienmitgliede gefallen lassen.« + +»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und +mir herzaubern!« + +»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies +doch möglich wäre.« + +»Das ist ja ein kompletter Narr!« + +»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt -- +sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. -- +Dr.+ +Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von +ihr wiedergeliebt.« + +Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann +wieder von sich wie ein Blasebalg. Die mächtige Präsidentenglocke +wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet, +daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe. +Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl. + +»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen +Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn +wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?« + +»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«, +erwiderte Käthe. + +»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!« + +»Den würde ich allerdings nicht nehmen!« + +»Nicht?! Warum nicht?« + +»Weil ich keinen Prinzen will.« + +»So -- das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun +aber kein Prinz wäre -- aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe, +-- wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, -- kennst du einen +Herrn +Dr.+ Friedrich Bruckner?« + +Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja! + +»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?« + +»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die +Staatsräson da verlangen sollte --« + +Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund +aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an +die Brust. + +»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie +ihn küßte. + +Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold +hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte: + +»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und +so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen +Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde +werden würden!« + + + + + Eine Entlarvung. + + +Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend +Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten +pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein +industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren, +um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter -- seine +einzige Tochter -- hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise +angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren +einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem +entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind, +im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles +Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles +natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst +selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde. + +Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden +exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte +Carlo auftauchen. Er machte sich also schleunig auf und kam und +sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten +Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen +noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer +unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit +herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte +er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch +zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt +wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das +er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den +»Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt +der Hinauswurf erfolgen. + +Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in +der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten +Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die +beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen +Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und +starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem +Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit +gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen, +mit wunder hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger +Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von +der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und +machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken. +Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen. + +»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.« + +»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte +aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den +gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe. + +»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften +lassen kann.« + +»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich +mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu +wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei +raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!« + +Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er +dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen +Zündhölzchenbehälter mit Feuer. + +»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.« + +»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht. +Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!« + +»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.« + +»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind, +beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich +lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters +zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat +manchmal so seine kleinen Launen!« + +»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von +Ihrem hohen Roß herabzusteigen.« + +»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.« + +»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg +in Mähren.« + +»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in +Abrede zu stellen.« + +»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben, +achtundzwanzig.« + +»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir +die achtundzwanzig geglaubt hat.« + +»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie +zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!« + +»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf Jahre habe ich aus +meinem Leben gestrichen, -- bleiben genau achtundzwanzig. Ich war +berechtigt dazu. Denn -- sagen Sie selbst, Herr Rodebach -- so ein +Leben in den Gefängnissen -- ist denn das wirklich ein Leben?!« + +»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem +Zimmer zu jagen!« + +»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang, +und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie +also durchaus wollen -- bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen +abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das +wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal +die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine +bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, -- und +Nervenschocks sind nicht billig!« + +»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der +Verstand stehen!« + +»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf +den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich +gewählt haben. Ich fühle mich -- Sie wissen sehr wohl, aus welchen +zarten Rücksichten --« + +»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort ~davon~ zu sprechen.« + +»-- verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer +tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was +Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen, +europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben +als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, -- +ich beschönige nichts -- die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern +der Name Ihres Hauses -- reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu +ungleich zu Ihren Ungunsten.« + +»Darin haben Sie allerdings recht!« + +»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und +korrekt zu handeln.« + +»Der edle Stolz eines Gauners!« + +»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß +Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich +~Ihr~ Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als +Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser +für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge +ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen +Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja, +es spricht sich besser, wenn --« + +»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre. Das Vergnügen, einen +philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße +genossen sein.« + +»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre +Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie +mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel +eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in +Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer +noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern +sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch +einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach. +Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden +Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich +damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt -- ich werde keinen unedlen +Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen, +vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven. +Aber ich bitte -- entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es +doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte +Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter +verlobt!« + +»Das ist erlogen!« + +»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten. +Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der +angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von +schriftlichen Beweisen vorzulegen. -- Hat sich mit meiner Tochter +verlobt, hat sie geküßt --« + +»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!« + +»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern. +Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche +Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und +meiner nicht minder hochverehrten Braut.« + +Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte +Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur +Besonnenheit. + +»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren +nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position +als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen +beweisen, daß Sie selbst ~mir~ die Mittel an die Hand gegeben +haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen +hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer +gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin. +Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment +der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten Ehrenbeleidigung +erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es +gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes +Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der +Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.« + +»Auf alle Gefahr hin -- Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter +Schurke!« + +»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere +Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so +würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern +sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber +hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da +würden Sie heilig eingehen.« + +»Ich würde es darauf ankommen lassen.« + +»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der +Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie +irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten +Angehörigen viel zu hoch.« + +»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!« + +»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht +ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich -- ich habe das Herz Ihrer +Tochter gewonnen!« + +»Reden Sie nichts davon!« + +»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar +werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine +Heilige. Sie hat mich liebgewonnen -- ich stelle es unter Beweis! --, +und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht +sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste +Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem +Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie +nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und +ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden +ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben -- was weiß +ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, -- da kann sie, wenn +sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich +haben ...« + +»Ein Vorurteil -- gegen einen Betrüger?!« + +»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht, +daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung +den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf +ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der +Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den -- Minder klugen. +Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht +anders im Kampf ums Dasein.« + +»Wie bereits erwähnt -- ein philosophischer Gauner!« + +»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und +darum -- es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach --, trete ich zurück und +gebe meine Ansprüche auf.« + +»Reden wir deutlich. Was kostet das?« + +»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt. +Ferne sei es von mir --« + +»Keine Redensarten! Was kostet's?« + +»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft --« + +»Der Hochstapelei!« + +»Die Hochstapelei -- war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu +hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche +Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube +ich das Auslangen finden zu können.« + +»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.« + +»Mit zweitausend Mark monatlich --« + +»Monatlich?!« + +»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen +Ansprüchen mein Leben fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr +Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen +und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen +Preis.« + +»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!« + +»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen. +Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt +erhalte.« + +»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie +in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort +verlautbaren lassen!« + +»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn +ich diese Bedingung nicht einhalte.« + +»Wünschen Sie etwas Schriftliches?« + +»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe +bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste +Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.« + +»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen +werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen +sofort ab.« + +»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch anstandshalber eine kleine +Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, -- ich bin +momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht +erlauben --« + +»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken. +Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs -- Sie haben nicht schlecht +gelebt, Hofmann!« + +»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich -- auf +Ferien war.« + +»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!« + +Eine Verbeugung -- und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen +weniger auf der Welt. + + * * * * * + +Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein -- +esprit d'escalier+! +Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben +gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und +Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst -- zu +spät -- erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache +übertragen hätte -- er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er +war's auch so zufrieden. + + + + + Wolfgang Lenburg, + + »Straße 27«. + + Aus »Oberlehrer Müller«. + + + Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~ + aus ~W. Lenburg~ »~Oberlehrer Müller~«. + Gbd. M. 3.-- + + + + + »Straße 27«. + +Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit +dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der +Beschämung. + +Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen +können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn +wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe +des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber +war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch +hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie +erster Stock.« + +Wer Berlin +W+, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu +schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die +Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar +zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete, +Rückkompanie und Kulturmangel. + +»Straße 27!« + +Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen Balkons zum +Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und +darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten +Nasen. + +Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein +Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im +Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung +nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes +Einkommen und manche Nebeneinnahmen!« + +Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch +meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem +Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft! + +Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in +der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich +sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen. + +Welch törichter Aberglaube! + +Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe +der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der +Menschen zu roden. + +Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie hören, daß ich jetzt in +der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist +wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!« + +Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad, +fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur +stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen +auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher +ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« -- Rückzahlung bis 1930 +ausgeschlossen -- zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich +noch nie von Rönne losgekommen. + +Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, -- aber +es ist gar nicht so schlimm!« + +Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch +nicht »da hinten«, sondern in Berlin +W+. Ja, ~wirklich~, in +Berlin +W+, und dicht am Kurfürstendamm. + +Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen +Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen +Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd +aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die +Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite. + +»Holla, siebenundzwanzig -- vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der +Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie +steht's?« + +Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit +meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter +Dr.+ Scherbe, ebenso +überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich +den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34 +mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne. + ++Dr.+ Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend +die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen +Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie +wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen. +Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so +wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht +passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: ~bisher~. +~Jetzt~ aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.« + +»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen +Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›+nick-names+‹.« + +»Na, Verehrtester,« erwiderte +Dr.+ Scherbe mit beschwichtigender +Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders +denn als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen +›Scherbengericht‹ zu danken? -- Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch +als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich +und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher +Nummer.« + +»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen. + +»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein +Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten +Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens +beantragt und durchgesetzt.« + +»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht +fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.« + +»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber +ein anderer, ~ganz~ neuer Beiname für Sie gewählt worden, und +zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von ~mir~.« + +Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in +finsteren Haß zu verwandeln. + +»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem +Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine +merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre +Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die +von den sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug +ich für Sie den Namen ›~Der Taxameter~‹ vor.« + +»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit +unverhohlenem Mißbehagen. + +»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd, +»die Kerls haben ja ~so~ gelacht!« -- -- -- + + + + + Straße 27 erhält endlich einen Namen. + +Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch +bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald +nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major +hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen, +doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit +hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium +niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen. + +Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel, +Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier +von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär +a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen. + +Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern +aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten +und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso +bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an +sich geringfügigen Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man +solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen +Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück. +Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein +müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und +Schusters nicht die schuldige Ehre an, »~Hans~-Sachs-Straße« +aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn +Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen +Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten, +die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den +Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die +Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem +bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die +Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt +werden. + +Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen +eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts +gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er +nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch +die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle, +den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum +Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er +selber müsse offen bekennen, daß er von der Mar~litt~ wohl schon, +aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört +hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch. + +Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja +»einen Komponist schließen« und die Straße »~Marlitt~straße« +nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein +Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob +die ~Marlitt~ eine Schuster~tochter~ war, so sympathisch +ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf +»Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde. + +Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar +manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer +vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände +nur verwechselt hätten, und ~der Marlo~ und ~die Marlitt~ +möglicherweise ~eine~ Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen +gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein +Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer +Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl +er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht +fassen, daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft +aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so +sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller +und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine +Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte +unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel, +dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten +Mamsell«. + +Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja, +es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe +aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden +irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer +Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten. + +Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner ~sämtlicher~ +Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe +~noch~ Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und +jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest. + +So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und +der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin +durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil +schon recht fidelen Buchstaben namens der versammelten Bewohner der +Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »~Marlittstraße~« zu +benamsen, besonders »~in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine +Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte +unserer Dichtkunst zu verdanken haben~«. + +Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht +selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber +Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den +ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt. + +Wie der ~eigentliche~ und endgültige Schlußakkord jenes Abends +geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist +nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn +noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und +Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben. + +Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst +am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich +auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel +widerspiegelte. -- + +Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die +Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des +alten Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist +er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine +Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, -- ihm +ist ein Söhnlein geboren. + +Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem +braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig +in der Marlittstraße wohnen muß. + +Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen +Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen, +und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat +von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen +versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische +Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt. + +Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung: +~Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße~. + + + + + Wir müssen ziehen. + +Schade! + +Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist! + +Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden +würde. + +Aber schade ist's doch! + +Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer +Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark +mehr zahlen, -- das geht beim besten Willen nicht. + +»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen +Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen +zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches +Eheleben begonnen haben.« + +Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und +weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. -- + +Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu +können, das heißt -- noch bei ~Leb~zeiten. + +Ach, wir modernen Nomaden! + +Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem +Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch +einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht. + +Wo sie ihr Nest wohl hat? -- Sicher nicht an unserem Hause! + +Großstadt und Schwalbennest! + +Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja, +~da~ war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem +grünumrankten Vaterhause. + +Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater, +der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich, +wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, ~der~ hatte +ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen +gehörte! + +Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die +vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft +der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der +Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und +gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser +schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher +gefiederter Sängerchor! + +Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche +Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und +Gebieter hauste. + +Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde! + +Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht +mein Herz in Sehnsucht schwellen. + +Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden +und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die +Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem +Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie +sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten, +während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle +Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der +scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt. + +Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu +werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine +Wünsche ruhiger und immer ruhiger, -- bis sie ihn hinaustrugen aus dem +Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft +hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. -- -- + +Und ~mich~ hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich +sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem +sonnigen Garten meiner Kindheit. + +Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem +Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und +ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's +jetzt noch recht kämpfen. + +Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe +Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein +Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet +hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt. + +Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. -- + +Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen +Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend +entgegenhält. + +Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh +hinausgeschaut in den linden Septembertag? + +»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben +hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's nicht +aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das +Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« -- + +Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen +nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden +von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend +und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als +wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten. + +Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken +nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt +»unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte +zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch +empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte. + +»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie +wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz +unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr +Haupt an der Brust des Mannes barg?« + +»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr +wohl.« + +»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint +ihnen so hell wie uns eitel Lust und Freude aus den Augen des kleinen +Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder +zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten +hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? -- +Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?« + +Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren +Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an +meiner Brust verborgen und antwortet nicht. + +Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen +und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse +andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein +dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den +Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen. + +»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau +oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und +haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen +Wohnungswechsel freue! + +~Gewiß~ freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie +ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und +~das~ fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn wir +eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich +Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie. + +Wie schön, und welche Ersparnis! + +Oder wenn's nicht ~so~ ist, dann doch immerhin ~Aussicht~ auf +Bäume und Gärten. Oder wenn's auch ~das~ nicht ist, so könnten +wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und +meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen. +Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch +unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist +denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel +meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus. + +Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in +der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben ~zur +großen Müdigkeit~, die ~erworben~ werden muß, um köstlich zu +erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen +darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.« + +»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche +Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner +literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du da froh und +glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des +täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern, +deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!« + +»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich +so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht +mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte +Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt. +~Doch, doch~, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es +gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft +zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.« + +»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich +anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar, +ach, ~wenn's~ doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst +gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach, +und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde? +Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und +Macht gelangen. -- Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung, +die dich niederdrückt?« + +»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren, seit welchen ich mich +mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher +entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann +nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja, +~fühlen~ kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir +auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns +entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich, +~darstellend schaffen~ -- Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich +wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige +sind auserwählt. Und ~doch~ sollen einmal meine Lieder erklingen. +Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme +vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften +Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen +Glanz des Nachruhms hin. + +Und Geld?! + +Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein +kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! -- Sieh, wenn wir +uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser +Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles ~irdische~ Gold +entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig +voran!« -- + + * * * * * + +Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung, +um unseren Nachfolgern Platz zu machen. + +Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen +ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! -- -- + +Da klingelt es. + +Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall +aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen +Räumen uns umgibt? + +Soso, nur der Postbote ist's. + +Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt +er mir? + +»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen, +der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück. +Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man +~kann~ doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!« + +»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine +ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung. + +Nein, -- es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist +verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie +nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte. + +Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz +blaß aus. + +Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt +hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß +von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur +über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den +Transport verlohnen würden. + +»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen, +Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734 +vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören ~uns~ nun. +~Uns!!~ Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben +reden!« + +»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen +Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern, +»Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen +auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle +Kulturaufgabe der Schule sein!« + +»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für +mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer +alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's +eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches +Denkmal setzte und über ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein +Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?« + +»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern +legend, »ach, dann wirst du ~doch~ vielleicht noch berühmt.« + +»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon +zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.« + +»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so +überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte, +»das Publikum ~wird~ dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich +an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu: + + »Schon ~mir~ zuliebe.« + + + + + Johannes Trojan, + + Wie man einen Weinreisenden los wird. + + Kleine Leiden auf einer Landpartie. + + Drei Gedichte. + + +Mit Genehmigung der ~J. G. Cotta~schen Buchhandlung Nachfolger +in ~Stuttgart~ und ~Berlin~: »Wie man einen Weinreisenden +los wird« und »Kleine Leiden auf einer Landpartie« aus »~Johannes +Trojan~, ~Das Wustrower Königsschießen~ u. a. Humoresken«. +Gbd. M. 3,--. + +»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag« aus »~Johannes +Trojan~, ~Gedichte~«. »Der Oberamtsrichter von Neckarsulm« aus +»~Johannes Trojan~, ~Scherzgedichte~«. Gbd. M. 3,50. + + + + + Wie man einen Weinreisenden los wird. + + +Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß +es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht +unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die +Firma ~J. G. Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich +wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde, +bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger +Spannung erwartete ich den jungen Mann. + +Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck +lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief +ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!« +Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl +denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung +setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten +Hauses ~Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere +edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...« + +»Halt!« fiel ich ihm ins Wort -- »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?« + +»Jawohl«, erwiderte er. + +»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter +denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen +Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten! +Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den +Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten +Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im +Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im +Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum, +geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an +Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in +den Rhein zu stürzen.« + +Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte +einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein +Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein +Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er +eben das Wort ergreifen wollte, zuvor. + +»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?« + +»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...« + +»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich +gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?« + +»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg & Comp., in dessen Auftrag +...« + +»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie +selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen +anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den +Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der +Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter. +Ich selbst -- Sie wissen, daß ich Käfersammler bin -- möchte manchmal +mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier +tauschen.« + +Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen +Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie +mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma +Pfropfenberg & Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...« + +Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf +an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich +fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?« + +»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen. + +»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?« + +»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit. + +»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich. + +»~Meyer~ -- ~A. H. Meyer~!« + +»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald +siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap +führten, dort einen Herrn ~Meyer~ kennen, dem Sie sehr ähnlich +sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt +sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in +keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend, +besonders da auch der Name zutrifft. Dieser ~Meyer~ war +Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine -- +warten Sie einmal -- richtig! eine geborene ~Kloppfleisch~. Ein +prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen +ist er auch natürlich älter geworden.« + +Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den +eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir --« +begann er noch einmal. + +»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?« + +»Ja!« stöhnte er. + +»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches +Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich +mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?« + +Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« -- rief er +mit vor Ärger halb erstickter Stimme -- »ich muß mich Ihnen empfehlen. +Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...« + +»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein +anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus +rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr +vorstellte.« + +»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit. +Wenn Sie einen Auftrag ...« + +»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt +wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir +uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule +oder ...« + +Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das +Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich +in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße +hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...« + +Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten +Halteplatz für Droschken zu. + +Ob er wohl wiederkommen wird? + + + + + Kleine Leiden auf einer Landpartie. + + +Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn +die Rede auf Landpartien kam -- nein! über diese Vergnügungen bin +ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter +Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von +Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang +in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen +und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige +Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen. + +Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige +Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe. + +Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen +Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und +versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann +sie so nicht stehen, also sagen Sie mir schnell: was soll geschehen? +Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt, +die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine +einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen +Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von +jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle +auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich +führen. Ein grausamer Barbar endlich -- ich verschweige seinen Namen, +obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle -- gab den +Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie +werde schon von selbst nachgehüpft kommen! + +Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte +meiner letzten Landpartie erzählen. + +Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius. +Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna +und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom +Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein +Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war +ich und der neunte -- doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es +war beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren, +hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend +ausbreiten sollte. + +Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann +auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen +absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten« +angetreten. + +In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr +romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen. +Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot +sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine +große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich +seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem +Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes +saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über +der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten +unten fand folgendes Wechselgespräch statt. + +»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte. + +»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es +von oben. + +»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen +Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.« + +»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker +herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume? +Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine +wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es +mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld +auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück +gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß +man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom +Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?« + +Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten, +um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der +an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei, +betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er +ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er +entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen. + +Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn +nicht der Steuerrat und der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen +und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen +Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der +zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es +denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen +»draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat. +Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen +hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der +Gesellschaft anzuschließen. + +Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht +unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem +eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich +den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der +lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte, +vollständig ausgedacht und erlogen war. + +Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie +einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß +was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören. +Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag +machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß +zu nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der +Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie +die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit +er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte. + +Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains +vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und +spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen +die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings +recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns +öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die +gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und +anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst. +Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits +waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu +Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem +Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf +das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife +Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches +hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem +alten Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum +großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende +Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen +Richtungen hin gepriesen wurde. + +Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben, +als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach +Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen +wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen +Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über +Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...« + +»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit +sein.« + +»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie -- bis +Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen +höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig. +Das macht zusammen noch keine Stunde.« + +»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat. + +»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will +ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest +ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender der in +hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.« + +Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen +wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen. + +Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist, +sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn +es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so +war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich +erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten, +einen steglosen Bach -- den die Damen auf hineingelegten Steinen +überschreiten mußten -- und einen Bruchacker zu passieren hatten. +Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen +Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der +Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte +er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über +Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.« + +»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir +noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an +der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.« + +Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer +menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain +fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner, +und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte +Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag. + +Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte +und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder +Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe +Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker +fragend an. + +»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas +mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch +oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch +das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen +Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine +sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits +Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.« + +Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt +erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als +noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten. + +»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts +abbiegen.« + +Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort +ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige +Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir +in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo +sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten +versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese. +Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen +kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten +Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging +voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb. +Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß. + +»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er. +»Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.« + +»Ei, zum --« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte +ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß +derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf mein +Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie! +helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!« + +Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten +Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein +Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der +einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte +eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und +anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief +der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben +wir endlich den Spitzbuben gefangen!« + +»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen. + +Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb +gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich +festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den +Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt +werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke +die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es +war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht +der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um +mich nach der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete, +das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens +Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß +er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem +Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der +Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war. +Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher +inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns +vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen +Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich +nachher bestätigt. + +Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich +nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der +Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte, +bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus +dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach +dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde. + +Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich +mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem +Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das Jammern und +Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt +waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden +Fuhrmannsschenke, anlangten. + +Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen, +dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich +der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu +finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit +nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?« +sagte der Steuerrat. + +»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte +Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.« + +»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das +Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.« + +Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch +Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach. + +»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen. + +»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker +zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet! +Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun +sollen!« + +Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die +Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich +öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten +Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde. +Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt, +von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert. + +»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde. + +»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte. + +Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich +durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß +er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte. +Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals +über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen +geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte +das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben +zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«, +schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als +hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht, +ob es der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich +ihn auf keinem meiner beiden Arme.« + +»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich +wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem +strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich +möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.« + +Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein +wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine +Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns +auf den Weg nach der Bahnstation. + +Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns +hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte +die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun +eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so +oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken. + +Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen +Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit +ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir +zu Hause an. + +Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen ging ich am Stock, ein +ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß. + +Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese +Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie +werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines. +Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den +Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer -- lassen Sie +ihn doch ja in der Kiefer sitzen! + + + + + Männertreue und Weiberkrieg. + + +Veronica chamaedrys+ und +Ononis spinosa+. + + + ~Die Frau spricht~: + + Es ist ein Kräutlein, heißt Männertreu, + In jedem Frühling blüht es aufs neu. + Am Waldrand steht es und auf der Au + Und Blumen trägt es, anmutig blau. + Doch pflückst davon du dir einen Strauß, + Nicht eine Blume bringst du nach Haus. + Herunter fallen sie gar geschwind, + Schon unterwegs weht sie ab der Wind. + Des Kräutleins Name, der ist nicht schlecht, + Und seinen Namen trägt es mit Recht. + Den Männern sag' ich es ins Gesicht: + ~So sind sie alle -- nur meiner nicht!~ + + + + + ~Der Mann spricht~: + + Ein Kräutlein ist Weiberkrieg genannt, + Das wächst auf Anger und Heideland. + Da siehst du blühen es weit und breit + Schön weiß und rot um die Sommerszeit. + Doch will ich raten dir: Laß es stehn! + Mit hundert Häkchen ist es versehn, + Verletzt die Hände dir, hemmt den Schritt, + Viel Ärger hast du und Not damit. + Das ist so recht ja der Weiber Art, + Ob sie auch lieblich sonst sind und zart, + Sie sind ein Kräutlein, das kratzt und sticht. + ~So sind sie alle -- nur meines nicht!~ + + + + + Der Glückstag. + + + Ich war am Morgen + So frohen Mutes, + Als müßt' begegnen + Mir etwas Gutes. + Wohlan, es komme + Das Glück gegangen! + Bereit hier sitz' ich, + Es zu empfangen. + + Da kam ein Brief, + Den die Post mir brachte, + + Ich brach ihn auf, sah + Hinein und lachte. + Logierbesuch will + Ins Haus mir kommen: + Sei er mit Jubel + Denn aufgenommen! + + Drauf kam ein Mann, um + Von mir zu borgen, + Obwohl ich selbst war + Bedrängt von Sorgen. + Daß er auf mich sein + Vertrauen setzte, + Rührt' mich, ich gab ihm + Sorglos das Letzte. + + Nun eine Zeitung + Nahm in die Hand ich, + Darin auf mich was + Geschrieben fand ich, + Was Böses, Arges. + Wie das mich freute! + Seht, so beachten mich + Doch die Leute! + + Ich war noch immer + Bei frohem Mute, + + Als müßte kommen + Noch andres Gute. + Um mehr des Glückes + Noch zu empfangen, + Bin aus dem Haus ich + Hinausgegangen. + + Da überfiel mich + Mit Donnerschlägen, + Mich Unbeschirmten, + Ein heft'ger Regen. + Dem Himmel dankt' ich, + Daß er uns schenkte + Willkommenes Naß + Und die Saaten tränkte. + + Von einem Fenster- + Brett fiel ein bunter + Tontopf mit Nelken + Auf mich herunter. + Doch meinen Hut nur + Hat er zertrümmert, + Heil blieb ich selber + Und unbekümmert. + + Nach Hause eilt' ich, + Da sah ich jagen + + Scharf um die Ecke + 'nen Schlächterwagen. + Zu Boden riß er + Mich freilich nieder, + Doch kaum verletzt sprang + Empor ich wieder. + + Allmählich wurde + Der Himmel heller; + Nach Hause hinkt' ich, + Stieg in den Keller, + Holt' eine Flasche + Mit gutem Weine. + Wohl mir, ich hatte + Just noch die eine. + + Zusammen rief ich + Darauf die Meinen, + Mit mir im Jubel + Sich zu vereinen. + Kommt her und trinket, + Seid frohen Mutes! + Mir ist begegnet heut + So viel Gutes. + + + + + Der Oberamtsrichter von Neckarsulm. + +(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren +verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer +bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.) + + + Das war ein kernfest tüchtiger Mann, + Von dem man Bestes melden kann, + Von Gliedern stark, an Geist gesund, + Was Zier des Manns ist, war ihm kund. + In mancher Kunst war er geübt, + Und ob's noch solche Zecher gibt, + Wie er war -- zweifelhaft ist das! + Er saß so fest beim Römerglas, + Er war von echter deutscher Art, + So mild und doch wie Stahl so hart, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~. + + Einst kam er wandernd an den Rhein, + Der war beglänzt von hellem Schein, + Von untergehnder Sonne Glut. + »Fürwahr, ein Bad wär' gar zu gut! + Es kann ja gar so schlimm nicht sein, + Heut noch zu schwimmen durch den Rhein + Und wieder hier ans Land zurück -- + Das nenn' ich noch kein Wagestück!« + Die Kleider wirft er ab sogleich + + Und birgt sie unter dem Gesträuch, + Drauf in den Strom wirft er sich kühn, + Der faßt mit starken Armen ihn. + Er regt die Glieder frisch und keck, + Kommt anfangs auch recht gut vom Fleck; + Doch mählich wächst des Stromes Kraft, + Gewaltig wird er, riesenhaft, + Kämpft mit dem Mann und reißt ihn mit, + Hinunter wohl manch hundert Schritt; + Der wehrt sich auch, so gut er kann: + So kämpfen beide, Strom und Mann, + Und miteinander ringen sie, + Bis daß zuletzt mit vieler Müh' + Das andre Ufer er erreicht, + Der Mann. »Das war, bei Gott, nicht leicht! + Ich traf den Rhein nicht häufig so.« + Er spricht es, seiner Landung froh, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~. + + Da steht er nun am Uferrand, + Die Gegend ist ihm nicht bekannt. + Schon dunkel ist's, er nackt und bloß! + Traun, die Verlegenheit ist groß. + Zurück zu schwimmen durch den Rhein, + Darauf lass' sich ein andrer ein! + Er spürt, er weiß, das wär' nicht gut, + Ob's ihm auch sonst nicht fehlt an Mut. + + Die Kleider drüben und der Fluß + Dazwischen -- o welch ein Verdruß! + Wohin jetzt lenkt er seinen Lauf? + Wer nimmt den neuen Adam auf? + Da sieht ein Licht er gar nicht weit, + Schleicht unterm Schirm der Dunkelheit + Hinan sich. »Ha, ein Wirtshaus! Dort + Helf' ich mir jetzt schon weiter fort.« + Er lauscht. »Horch! Heller Gläserklang! + Jetzt unverzagt! Jetzt nur nicht bang!« + Ein wenig öffnet er die Tür + Und ruft: »Ein Mann in Not ist hier! + Reicht, Freunde, mir, ich bitt' euch sehr, + Ein Bettuch oder Tischtuch her! + Das reicht zu meiner Rettung hin. + Habt keine Furcht vor mir, ich bin + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.« + + Das Linnen wird ihm hingereicht, + Er hüllt sich ein darin -- nun gleicht + Er einem alten Römer fast. + Ins Zimmer tritt der werte Gast: + »Ihr Herrn, die ihr da sitzt beim Wein, + Verzeiht, daß ich so spät erschein' + Und in so seltsamem Kostüm! + Das macht des Rheines Ungestüm, + Der her mich ließ, doch nicht zurück. + + Ein Licht erblickt' ich hier zum Glück + Und lenkte zu ihm meinen Schritt. + Wenn ihr's erlaubt, zech' ich jetzt mit. + Mich hat das Schwimmen müd' gemacht, + Mich überkam dabei die Nacht, + Nun schaudert mich bis tief ins Mark. + Wein her! Wein her! Mein Durst ist stark.« + Da stehn sie all ehrfürchtig auf, + Platz machend ihm. Der Wirt darauf + Bringt ihm den Wein und füllt sein Glas: + »Trinkt, lieber Herr! Wohl tu' Euch das!« + Er hebt das Glas und leert's und spricht: + »Der Rhein meint's doch so übel nicht, + Daß er mich warf an diesen Strand! + Hier fühl' ich mich in guter Hand; + Der Ort gefällt mir und der Wein.« + Er spricht's und schenkt sich fröhlich ein, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~. + + Da fiel beim Trunk manches gutes Wort, + Denn wackere Zecher saßen dort. + Der Wirt bedient mit allem Fleiß, + Daß von der Stirn ihm troff der Schweiß. + Sein Amt ihm harte Arbeit schuf, + Denn unaufhörlich scholl der Ruf + Von irgendeiner Seite her: + »Wein her! Wein her! Ich hab' nichts mehr.« + + Als spät es ward, nach alter Sitt' + Man zu den bessern Sorten schritt, + Von Jahrgang sich zu Jahrgang schwang + Bis zu dem Wein von erstem Rang. + Da funkeln Augen, Wangen glühn, + Weinrosen purpurrot erblühn. + Nun sitzt erst da voll Herrlichkeit + Der Mann im weißen Römerkleid. + Vor sich die Flaschenburg erbaut, + Stolz er das Ganze überschaut + Und spricht mit Kraft und trinkt und trinkt. + Wie wohlgemut das Glas er schwingt, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~! + + Und wie es spät und später wird, + Die Eule schon zu Neste schwirrt, + Da wird doch manch ein Zecher still; + Die Hand nicht mehr gehorchen will, + Und wie ein Mohnhaupt regenschwer + Zur Seite sinkt, so hält nicht mehr + Sich aufrecht, von der Last gebeugt, + Manch Haupt, vom Weine schwer; es neigt + Sich auf den Tisch und ruht da fest, + Und ungetrunken bleibt ein Rest. + Die Hähne krähn, der Morgen graut, + Der Tag fahl in die Fenster schaut. + Da sitzt noch einer ganz allein, + + Der Weißumhüllte, wach beim Wein. + Er füllt sein Glas und trinkt es leer -- + »Will denn kein andrer trinken mehr? + Hat alles schon so früh versagt, + Da es ja doch erst eben tagt, + Und noch des Weins da ist genug?« + Er sprach's und tat manch tiefen Zug, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~. + + Hell in die Fenster scheint der Tag, + Sich schier darob verwundern mag, + Was in der Gaststub' er erblickt. + Da schlafen, übern Tisch gebückt, + Alle bis auf einen -- dieser spricht: + »Jetzt duldet's mich hier länger nicht. + Kein Mensch ist da, der mit mir trinkt, + Das Schnarchen mir unlieblich klingt, + Des Weines find' ich auch nichts mehr; + Den Wirt zu wecken, scheint mir schwer, + Drum will ich gehn. Die hier ihr ruht, + Ihr Schläfer all, bekomm's euch gut!« + Er spricht's, von seinem Platze steht + Er auf und ohne Schwanken geht + Er hin zur Tür und tritt hinaus. + Wie sieht die Welt seltsamlich aus! + In Glut getaucht sind Wald und Bühl, + Und doch weht es ihn an so kühl -- + + Zum Ufer schreitet er sodann, + Da steht bei seinem Kahn ein Mann. + »Hier find' ich, was mir eben not, + Schau' einen Fährmann und ein Boot! + Freund, fahrt Ihr mich wohl übern Rhein?« + Der staunt, doch sagt er: »Steigt nur ein!« + Vollendet glücklich ist die Fahrt; + Die Kleider hat der Strauch bewahrt. + Sie anzulegen wird ihm leicht, + Das Lailach er dem Schiffer reicht. + »Bringt dies zurück dem Wirt im Stern, + Grüßt ihn und grüßt die guten Herrn, + Die ich dort antraf, jung und alt. + Dem Wirte sagt, ich käme bald + Ihm zu bezahlen meine Schuld -- + Ein wenig wohl hätt' er Geduld. + Und dies hier ist für dich, mein Sohn!« + Er gibt dem Mann gar guten Lohn + Und geht davon aufrecht und stolz + Durch Feld und Flur, durchs duft'ge Holz + Grad' aus auf eine gute Stadt. + Welch einen tücht'gen Schritt er hat, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~! + + Er zecht nicht mehr vom vollen Faß, + Er schwingt nicht mehr das Römerglas, + Er atmet nicht mehr goldne Luft, + + Längst ruht er schon in kühler Gruft. + Doch wo vereint beim goldnen Wein + Sitzt eine Zecherschar am Rhein, + Da wird um manche Mitternacht + In Ehren seiner noch gedacht. + Da heißt's: Klingt mit den Gläsern an! + Ihm gilt's! Das war ein wackrer Mann, + ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~! + + + Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig. + + + + +Fußnoten: + +[1] »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt findet +man nicht ihresgleichen.« + +[2] »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum mir diese +Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?« + +[3] »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.« + +[4] »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!« + +[5] heiser. + +[6] wann. + +[7] Flut. + +[8] Lumpenpuppe. + +[9] Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe. + +[10] Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr. + +[11] Fußspuren. + +[12] naßwischen. + +[13] Bürste. + +[14] Lumpen. + +[15] Kessel. + +[16] steuern. + +[17] anschmeicheln. + +[18] Kapitän sein. + +[19] ihnen. + +[20] Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen. + +[21] unruhig. + +[22] Zeichen, daß die Flut eintritt. + +[23] Taschenkrebs. + +[24] Übereilen. + +[25] kleiner Damm. + +[26] Mittelamerika. + +[27] Affen. + +[28] Pantoffeln. + +[29] d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest. + +[30] Wer. + +[31] klug. + +[32] Scherz. + +[33] Der quer durch den Strom schifft. + +[34] Teil. + +[35] Launen. + +[36] Dicker. + +[37] Ruß. + +[38] Rahmtorten. + +[39] mit Petroleummotor. + +[40] Wie siehst du aus? + +[41] Bataten. + +[42] lügt. + +[43] Naseweis. + +[44] Rahm. + +[45] verdrießlich. + +[46] Trog. + +[47] Zeugklammern. + +[48] Spaßmacher. + +[49] schwärmen, herumlaufen. + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 *** diff --git a/75693-h/75693-h.htm b/75693-h/75693-h.htm new file mode 100644 index 0000000..449d458 --- /dev/null +++ b/75693-h/75693-h.htm @@ -0,0 +1,7551 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Vom Köstlichen Humor | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%;} + + h1,h2,h3 { + text-align: center; + clear: both; + font-weight: normal;} + +h1 { font-size: 210%} +h2, .s2 { font-size: 140%} +.s3 { font-size: 125%} +.s5 { font-size: 90%} + +h1 {page-break-before: always; } + + +h2 { padding-top: 0; + page-break-before: avoid} + +h2.nobreak { padding-top: 3em; + margin-bottom: 1.5em; + text-align: center;} + +p { text-indent: 1em; + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em;} + +.p0 {text-indent: 0em;} +.p2 {margin-top: 2em;} +.p4 {margin-top: 4em;} + +.mleft3 {margin-left: 3em;} + +.padtop3 {padding-top: 3em;} +.padbot5 {padding-bottom: 5em;} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } + +hr.full {width: 95%; + margin-left: 2.5%; + margin-right: 2.5%; + border-top: black solid; } + +hr.r5 {width: 5%; + margin-top: 1em; + margin-bottom: 1em; + margin-left: 47.5%; + margin-right: 47.5%; + border-top: thin black solid; } + +div.chapter {page-break-before: always;} +h2.nobreak {page-break-before: avoid;} + +table { + margin-left: auto; + margin-right: auto;} + +.tdl {text-align: left;} +.tdr {text-align: right;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0;} + +.center {text-align: center;} + +.r5 {text-align: right; margin-right: 5%;} +.r15 {text-align: right; margin-right: 15%;} + +.gesperrt { letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +em.gesperrt { font-style: normal;} + +img { + max-width: 100%; + height: auto;} + +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + +/* Footnotes */ +.footnotes {border: 1px dashed; + background-color: #e6e6e6; + color: black; + margin-top: 1.5em;} + +.footnote {margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + font-size: 0.9em;} + +.footnote .label {position: absolute; + right: 84%; + text-align: right;} + +.fnanchor { vertical-align: super; + font-size: .8em; + text-decoration: none; } + +/* Poetry */ +/* uncomment the next line for centered poetry */ + .poetry-container {display: flex; justify-content: center;} +.poetry-container {text-align: center;} +.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;} +.poetry .stanza {margin: 1em auto;} +.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;} + +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif; } + +/* Poetry indents */ +.poetry .indent2 {text-indent: -2em;} + +/* Illustration classes */ + + +.illowe3 {width: 3em;} +.illowp44 {width: 44%;} +.illowp46 {width: 46%;} + +.x-ebookmaker .illowp44 {width: 100%;} +.x-ebookmaker .illowp46 {width: 100%;} + +.x-ebookmaker .illowe3 {width: 6%;margin: auto 47%; } + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Die Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind +stillschweigend korrigiert worden.</p> +<p class="p0">Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +</div> + +<figure class="figcenter illowp46 padbot5" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +</figure> + +<h1>Vom köstlichen Humor</h1><br> + +<p class="center">* *<br> + * * *<br> + * *<br> + *</p><br> + +<figure class="figcenter illowe3 padtop3 padbot5" id="signet"> + <img class="w100" src="images/signet.jpg" alt="signet"> +</figure> + +<figure class="figcenter illowp44" id="illu-003" style="max-width: 62.5em;"> + <img class="w100" src="images/illu-003.jpg" alt="Deckblatt"> +</figure> + +<div class="chapter"> +<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt.</h2></div> + +<table> +<tr> +<td class="tdl"></td> +<td class="tdr">Seite</td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl">Über Verfasser und Inhalt</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_7">7</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"><em class="gesperrt">Carl Beyer</em>, Stanislaus Wetterwetzer</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_9">9</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> --"--,  Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_46">46</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"><em class="gesperrt">Ilse Frapan</em>, Dat Undeert</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_65">65</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"><em class="gesperrt">Balduin Groller</em>, Die Tante und der Onkel</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_145">145</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> --"--,  Eine Entlarvung</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_214">214</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"><em class="gesperrt">Wolfgang Lenburg</em>, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer Müller«</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_227">227</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"><em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, Wie man einen Weinreisenden los wird</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_253">253</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> --"--,  Kleine Leiden auf einer Landpartie</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_260">260</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> --"--,  Drei Gedichte:</td> +<td class="tdr"> </td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> +<div class="mleft3"> Männertreue und Weiberkrieg</div> +</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_275">275</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> +<div class="mleft3"> Der Glückstag</div> +</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_276">276</a></td> +</tr> +<tr> +<td class="tdl"> +<div class="mleft3"> Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</div> +</td> +<td class="tdr"><a href="#Seite_280">280</a></td> +</tr> +</table> + +<hr class="full"> +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p> +</div> + +<h2 class="p2">Über Verfasser und Inhalt.</h2> + +<p>Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen +Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach +vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im +Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche +Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit, +deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an +den Rhein und die Donau erstreckt.</p> + +<p>Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters +Fußstapfen zu treten. <em class="gesperrt">Carl Beyer</em>, der Pfarrer a. D., der in +Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus +nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist +historische Stoffe behandelt — Reuters Geist und Humor steckt in dem +Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden +sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes +Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer +aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen +Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück +auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze, +begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang +leicht ergeben. —</p> + +<p><em class="gesperrt">Ilse Frapans</em> »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und +zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher +Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen +wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne +aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter +glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den +Kinderszenen — am Schlusse »kriegen« sie sich. —</p> + +<p>Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners <em class="gesperrt">Balduin +Groller</em> in der noch nicht in Buchform<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> erschienenen humoristischen +Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der +alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf +dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine +knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema, +den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme +gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll +etwas leichtes Gepäck nicht fehlen.</p> + +<p>Dazu gehört auch <em class="gesperrt">Wolfgang Lenburgs</em> Skizzensammlung »Oberlehrer +Müller« — unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner +Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen —, aus der hier eine +Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße +27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer +Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die +leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht, +der Oberlehrerton ist echt.</p> + +<p><em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der +auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen +Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung +des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan, +und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des +Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und +andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie +man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den +Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch +bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die +Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der +Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch +solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen.</p> + +<hr class="full"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p> + +<div class="chapter"> +<p class="s3 p4 center"><b>Carl Beyer</b>,</p><br> +<p class="s2 center">Stanislaus Wetterwetzer.</p> +<p class="s2 center">Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.</p><br> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<p class="p0 center">Mit Genehmigung des Verlages <em class="gesperrt">Fr. Bahn</em> in <em class="gesperrt">Schwerin</em><br> +i. Meckl. aus »<em class="gesperrt">C. Beyer, Stane und Stine</em>«, gbd.<br> +M. 1.—, und aus »<em class="gesperrt">Wilhelm Pickhingsts Kriegs-<br> +fahrten</em>«, kart. M. 1.—.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p> + +<h2>Stanislaus Wetterwetzer.</h2> + +<p>»Guten Tag, Herr Pastor! — Da bin ich, Herr Pastor!«</p> + +<p>Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war +und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden +zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell +noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem +Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte +also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch +wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken +auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären +sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen +echten Landstreicher vor sich hatte.</p> + +<p>»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich +und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur +darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span></p> + +<p>»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze +wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick +von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie +noch, Herr Pastor? — In Altstädt, Herr Pastor? — Weihnachten, Herr +Pastor? — Da bin ich, Herr Pastor.«</p> + +<p>Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem +Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften +Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die +Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich +gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und +leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen, +wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen +erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer +Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los +und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt +aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich +auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern +andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem +Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige +Gesichter war die Bewegung wie plötzliches<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> Blitzezucken gegangen, die +meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten +die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm +stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher +Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm +beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren +seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der +die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten, +war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere +dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm.</p> + +<p>Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten +glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die +Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich, +Herr Pastor, bitt' schön. — Auf mich selbst kann ich mich gar nicht +verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen, +er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte +inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um +den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam +merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein.</p> + +<p>Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn +offenbar hatte der Rock kein<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,« +sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff +nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte +er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin.</p> + +<p>»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das +heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der +Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?«</p> + +<p>»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr +Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.«</p> + +<p>Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos — gelernt beim Vater als +Kaufmann im Materialgeschäft — nach dessen Tode hier und dort +beschäftigt, endlich dienstpflichtig — gerade noch so eben das Maß +— allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren — stets Störung +einer tadellosen Front — Strafen mit Nachexerzieren, — schlecht +schießen, weil das Gewehr zu schwer — Kugel suchen, Tornister mit +Steinen tragen — »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht +gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.«</p> + +<p>»Das heißt, Sie desertierten.«</p> + +<p>»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher +meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin +auf ein Dorf,<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen +hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei, +Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ +ich mir nicht gefallen und ging wieder weg — nein, Herr Pastor, +nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug +vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete +beim Bauern Schafe — zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und +Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen +Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite — »als das +vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer +Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den +Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub, +verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann +weg. Nach drei Tagen eingefangen. — Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor! +Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler +eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde +eingesteckt — dreimal — Herr Pastor, Herr Pastor — <em class="gesperrt">nur +dreimal</em> in vier Jahren — sonst kam ich immer durch — und etwas +Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen +Gerichten herumfragen, Herr Pastor.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p> + +<p>»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der +Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf +später verschob.</p> + +<p>»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat — das +ist nichts geworden, Herr Pastor, — und nun komme ich um Rat, Herr +Pastor, bitt' schön.«</p> + +<p>»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?«</p> + +<p>»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann, +indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog. +Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich +in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife +bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte.</p> + +<p>Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen. +Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und +Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb +er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten +seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen +erfordere.</p> + +<p>»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock +vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de +sall di<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen, +dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi +mi.« Mit diesen Worten ging er davon.</p> + +<p>Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war, +tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich +plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang +der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in +der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig +und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten +etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen +die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht +aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie +ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen +Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende +Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die +Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie +ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten +ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an.</p> + +<p>Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und +dabei von Gestalt fein und zart<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> wie ein Knabe, in allen Bewegungen +unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle +Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine +lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige +Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah, +entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo +heißt du denn, min Jung?«</p> + +<p>»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen.</p> + +<p>»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der +Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne +schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden +Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit.</p> + +<p>»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.«</p> + +<p>»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di +'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den +Stall. Un mak de Dör achter di tau.«</p> + +<p>Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen +Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das +Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof +noch mit leichtem, federndem<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Gang), fand er seine muntere Stimmung +wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als +müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die +Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und — wupp stülpte er ihn +sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der +Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine +Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper +bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden. +Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und +überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine +sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen +in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und +ging wieder an die Arbeit.</p> + +<p>»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter +vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu +und schlug alsbald den Haken ein.</p> + +<p>Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem +Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung +allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen.</p> + +<p>»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> sie verwundert. »Du +fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.«</p> + +<p>Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher +die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr +er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,« +versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine +Hände und zog mit Leibeskräften.</p> + +<p>Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken +Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und +dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter.</p> + +<p>Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine +beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb +soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld +ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle +verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich +wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine +Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern +ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über +den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf +stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß +auf Socken<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> — die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen — in +die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall. +Uns' Jung will uns dod bliewen.«</p> + +<p>Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in +Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen.</p> + +<p>»Ick kiek mi üm — dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete +Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein +Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.«</p> + +<p>Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt +hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse +Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten +wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den +Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an, +hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust, +schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte +sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht.</p> + +<p>»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min +Sofa rupdrägen.«</p> + +<p>»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst +awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p> + +<p>»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt +abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.«</p> + +<p>»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit +auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit +raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und +Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als +sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit +federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre +Brust gelehnt.</p> + +<p>Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und +bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang — ligg ganz +stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm +sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n +Dokter verluren gahn. — Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im +Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa.</p> + +<p>Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber +vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit +Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand — nicht etwa wieder +auf die Brust, sondern etwas tiefer.</p> + +<p>»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald +verständnisvoll. Ihm antwortete<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie +doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben +Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein +Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten +Sie mich für einen Bettler genommen.«</p> + +<p>»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer +eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte.</p> + +<p>»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von +dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der +Mettwurst?«</p> + +<p>»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein +Lieblingsessen.«</p> + +<p>»Am Verhungern — und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn +gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf.</p> + +<p>»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf +keinen Kummer kommen lassen.«</p> + +<p>»Ja, das ist es ja gerade. — Und dabei seit zwei Tagen nichts +gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf.</p> + +<p>Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der +Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür.</p> + +<p>»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p> + +<p>»Dort hinten — hängt sie — an der Wand.« Sie flüsterte es mit +absterbender Stimme.</p> + +<p>»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! — Verhungert und verdurstet +bei meiner Arbeit!«</p> + +<p>»Ja doch — um Gottes willen ja —« Sie trat in die Küche zurück und +füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn +in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke.</p> + +<p>»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen +Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und +schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige +Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei.</p> + +<p>Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war, +kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um +zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen +schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz +kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.«</p> + +<p>»Was ist denn geschehen?«</p> + +<p>»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je +davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie +hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den +Fall, da<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und +die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen +usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er +Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz +umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit +Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt +neben uns verhungern. — Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen +versinken, so schlingt der Mensch.«</p> + +<p>Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer +Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt: +»Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir +nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er +behält ihn sicherlich während der Nacht hier.«</p> + +<p>Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte +allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als +er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab, +freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das +Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch +aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein, +schlich zur Tür.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p> + +<p>»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,« +lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich +bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.«</p> + +<p>Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder, +denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber +können Sie auf dem Kirchhofe graben?«</p> + +<p>»Gruft graben, Herr Pastor? — Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den +Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten.</p> + +<p>»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so, +daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen +Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein, +jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die +Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.«</p> + +<p>Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor, +wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze, +die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür +zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an +das Werk zu gehen.</p> + +<p>Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst +aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich. +»Satt sind Sie,<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun +schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit +frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast +folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf +der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann +rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne +Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit +gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh, +daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand +schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer +rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich +habe eben aus dem Fenster gesehen — an der Dachrinne kann ich jeden +Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.«</p> + +<p>Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh +aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging +in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten +ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer +schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und +als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie +aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte.<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> »Ick stah hüt +morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben +an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal +verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt +hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹ +seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi +so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett +hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob +ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft +an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat +nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.«</p> + +<p>»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd.</p> + +<p>»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen +sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone +gnäterswarte Hor.«</p> + +<p>»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.«</p> + +<p>»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch? +Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat +runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür +hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die +Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> Manns-Spaten in den +Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof +brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er +seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder +auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm +seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte, +war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt +machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die +mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein +wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf +dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken +Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem +Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie +den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten.</p> + +<p>»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen +bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen.</p> + +<p>»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und +dazu gehört Geduld.«</p> + +<p>»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld +beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe — wie — ein Regenwurm, +Herr<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich +werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.«</p> + +<p>»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt +haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige +zu zerhacken, das ist etwas für Sie.«</p> + +<p>»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch +halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein +leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da +sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und +ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De +unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief +sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht, +immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei +Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die +Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab.</p> + +<p>»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und +versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der +Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr +Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles +ersetzt, Herr Pastor.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p> + +<p>»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n +Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube, +Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir +krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.«</p> + +<p>Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie +schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt +ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und +verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war +Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht +nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder, +einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange, +der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust +jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde +den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten +ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß +im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp — +hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau +Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ +und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> zeigte, »ganz rein! ganz +rein! Hopp hopp — hü hott!«</p> + +<p>An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern, +da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er +sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war +große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen +Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit +kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel, +das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der +Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur +Nachbarstadt? — Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon +in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch +Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte +der kleine Mann dann ab.</p> + +<p>Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte, +um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin +krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich +selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend, +von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um +Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> längst vorbei, da kam +der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke +nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte +es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht +lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und +drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half +sofort. »Herr Pastor — mit meinen Beinen — gar nicht tot zu kriegen! +Das kommt vom Wandern. — Nur die Arme — Regenwürmer — mürbe —« da +taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr +Pastor — armes Luderchen —, Herr Pastor — ich will — ich kann —« +Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett.</p> + +<p>Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all +wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen +lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei +sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei +schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus +und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der +Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem +Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her +vergnügt und vertrauensvoll<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> an, und vor solcher Art von Beredsamkeit +verstummte sie errötend.</p> + +<p>Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde +gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner +umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem +Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns +stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu +überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon +ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine +Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang +bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen +Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus +und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz +mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken. +Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern +befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft +und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam +ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder +allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und +der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> +und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu +erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift +mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße +Papier gelaufen wäre.</p> + +<p>Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der +Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei +zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert, +Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar +Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war +der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt, +Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof +gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich +Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den +Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die +Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem +diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich +nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel +auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den +Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der +Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich +mit Steinen nach ihnen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span></p> + +<p>»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine, +die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete.</p> + +<p>»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei +Wäldag.«</p> + +<p>»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich +flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.«</p> + +<p>Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu +angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur die +geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er mitgenommen.</p> + +<p>Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und +besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer +Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen +solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach. +Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut +und freundlich, wie sie gewesen war.</p> + +<p>Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter +trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines +Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des +Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte +ihn hinter<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von +ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür +und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab +ich eins. — Nun hab ich eins, Herr Pastor, — ein so Kleines — so — +so — so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf +Handlänge.</p> + +<p>»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse +Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.«</p> + +<p>Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge +fast bis an die Decke. »Herr Pastor — Herr Pastor — Herr Pastor!«</p> + +<p>»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt +zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.«</p> + +<p>Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,« +sagte er langgezogen.</p> + +<p>»Natürlich wird es verkauft.«</p> + +<p>»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.« +Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor, +mein Fleisch und Blut ...«</p> + +<p>Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich +schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte +dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> seine +glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck +in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe +er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie +ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte +sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf +den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte.</p> + +<p>»Ein so — so — so Kleines, Herr Pastor. — Ich bitt' schön, Sie +müssen's mal sehen, Herr Pastor, — o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr +Pastor, — und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« — Er lief +schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. — Ich +hab' eins, ich hab' eins. — Gemolken habe ich, Herr Pastor — ein so +Kleines — ein so Kleines — Stine hat's mir in den letzten Wochen +gezeigt, Herr Pastor, ein so — so — so Kleines, Herr Pastor — und +alle haben sie zu fressen — Frau Pastorin und die Kinder — — —.« +Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen +die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte, +als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse +nachahmen.</p> + +<p>Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald +bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> +sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht, +voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam +letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem +ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und +auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens +zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was +sein Herz füllte.</p> + +<p>Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung, +Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf +ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.«</p> + +<p>Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie +erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als +Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie +dann ihre Herrschaften eintreten.</p> + +<p>»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er +gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so +die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen +Sie nur die Hände — wie eine Haselnuß — Frau Pastorin, die Füße — da +— da — da — akkurat wie ein Frosch — und hier die Haare, oh, lang +wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater, +das bin ich<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr +Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr +zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn +nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden +einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht, +Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich +Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.«</p> + +<p>»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine +inzwischen dem Seelsorger zu.</p> + +<p>Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung +seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im +Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen +können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb — er war sogar des +Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin.</p> + +<p>Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht +befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf +einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt +hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen.</p> + +<p>»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich, +indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich +gaud?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p> + +<p>»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich +rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen +könnte.«</p> + +<p>»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,« +sagte sie harmlos.</p> + +<p>Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine +Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause +anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen —«</p> + +<p>»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern +bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick +gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.«</p> + +<p>»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an +seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte.</p> + +<p>»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern +laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di +doch nich friegt.«</p> + +<p>»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?«</p> + +<p>»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen +Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und +erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch +Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> heww? du süst mi nich up +de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du +all orig 'n Knick weg.«</p> + +<p>»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir +ernähren lassen? Das soll ich, Stine? — Soll ich das, Stine?« Er fuhr +einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte +ihn nur wütender.</p> + +<p>»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht +de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte +sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich +im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im +nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei +Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er +mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner +Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen +und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte +ich mit ihm um die Wette lutschen? — Was soll ich, Stine? Mich vor +meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern +auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht +erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! — Zu Hause +bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span></p> + +<p>Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch +schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die +anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und +fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen.</p> + +<p>»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick +bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh +jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« — die große Frau +schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so +dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer, +stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam +allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und +endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren +Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei +alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese +doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine +hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater, +sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die +Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern +schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück.</p> + +<p>Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> nicht, aber er wurde +blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel. +Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen — nein, er sagte +bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren. +Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie +aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim +Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn +geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch +nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut +erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden +dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht +am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das +Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das +Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer, +und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände. +Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang +vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die +Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es +ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum +fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> nur beim +Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau +dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden +Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben +und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen +behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen.</p> + +<p>So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor +»Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine +wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes +»Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen.</p> + +<p>Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen +Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor +allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei +Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn +Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und +schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen +will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter +aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine +lacht, dann aber fällt der Bau auseinander.</p> + +<hr class="full"> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span></p> +</div> + +<h2>Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.</h2> + +<p>Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die +Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade +auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber +nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich +getan.</p> + +<p>Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die +Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen +die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an +Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen. +Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter +abgewiesen. Nun denn — um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit +einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm +Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich +wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not. +Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der +durch zwei<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde. +Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich +und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein +Griff — und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine +Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein +Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung +sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem +Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man +sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich +durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke.</p> + +<p>Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem +Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen +mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles +still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich +gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da +öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten +sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das +Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern. +Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier +beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> erschnappen +sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr +wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst +drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren +Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit +die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen +ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in +tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht +ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag +ich das Pech damit dauernd los geworden sein.«</p> + +<p>Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er +allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde, +denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen +fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit +Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein +Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres +anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille +vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen +auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als +bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine +Barrikade<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug +erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang.</p> + +<p>Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu +rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis +weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen +französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still +auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die +übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte +auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern +Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um +Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß +es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald +da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst +vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu. +In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der +Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat +am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er +einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher +rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den +Rückzug.<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade. +Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas +näher — und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist, +gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit +dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn +der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind +sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die +Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben.</p> + +<p>Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten +Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte, +sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam +schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser +laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen +Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle +beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter +dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast +einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl, +sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu +verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn,<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span> +und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind +dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit — der Kürassier war ein +baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen — sollte er ihn niederschießen? +Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle — doch nein, so +von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte, +Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt, +Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte +ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte +der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er +den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser +auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte +einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken +der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und +stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber +zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab +es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die +langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der +Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall.</p> + +<p>Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm +doch erobert, ein Blick, oh,<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> sie hatten eine wunderbare Größe! Und +die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen +früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert! +Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr +auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte +ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der +Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang +auf seinen Socken, als wollte er sagen: »Ätsch, ich bin doch noch +davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß +ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und +beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn +er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen +schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den +Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder +und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner +früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich +drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er +ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der +Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen +wollte, und der Deutsche winkte ihm, er<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> sollte nur kommen. Der +Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf +den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob +sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der +Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem +Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte, +daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe. +Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene +Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt +hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er +auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die +Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide +waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren +gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene +Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie +aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der +Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf — +nun — Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen +Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus +kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar,<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> daß +er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in +seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten. +Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das +Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute +kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle +riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit +einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und +dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und +gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen +regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte +Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr +höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber, +der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen +Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh, +Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß +sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete +und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also +fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr, +duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder +Haut, hob ihn<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> mit seiner Bärenkraft, und hup — da machte er ihm +einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den +Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen +auffallend schnell auf die Beine brachte.</p> + +<p>»<em>Ah, grand respect! — Une main vigoureuse! Dans le monde entier +on ne trouve pas son pareil</em>«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a>, sagte er würdevoll grüßend, +nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie +staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete: +»Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte +der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich +wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls +dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der +genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er +versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte +mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch. +Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht +geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie +<em>Cognac</em> klang und sicher so wie <em>boire</em>. Wilhelm Pickhingst<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span> +spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken +besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein +Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und +trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer +Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang +er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie +dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn +erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust +klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab +und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen +Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die +Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als +das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig; +Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte +es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich +gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über +zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches +Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte, +daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum +Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig;<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> verlegen sah er auf +die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt +faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er +sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude +für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup, +da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten +Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und +flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine +Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an! +»<em>Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur! +Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?</em>«<a id="FNAnker_2" href="#Fussnote_2" class="fnanchor">[2]</a> +und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit +seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das +eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich +hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »<em>Eh bien, allons, camerade, +vous êtes mon prisonnier.</em>«<a id="FNAnker_3" href="#Fussnote_3" class="fnanchor">[3]</a> Der Franzose zog die Schuhe wieder +an, und so wanderten<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man +sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie +ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt — gleich +darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon +lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber +aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten +Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen +nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen, +umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und +schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den +Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um +sich.</p> + +<p>St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als +Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts +sein Bataillon auftauchen. — »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin +Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr +wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er +lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is, +kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« — Abermals ein +Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> fort, alle wollten +Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe +nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße, +sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem +Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die +Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen, +und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die +allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein +Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte +sein werden.</p> + +<p>Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich +verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst +kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im +Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen +Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die +Freiheit.</p> + +<p>Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft, +offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen +der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete, +nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien +flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand, +aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> an dem einen Wagen laut. +Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus +und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm +Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres +ertönte hinter ihm — es kümmerte ihn nicht — »Halt!« unmittelbar +darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen +heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage, +vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem +Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den +Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. — +Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er +ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell +rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich +ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen +Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das +Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und +lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht +von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet +war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung +zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn +der<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die +Kürbisflasche — da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm +Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund +fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er +trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit +einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an +Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn +beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere +steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft, +die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und +winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern +schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte +ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte +gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen +schmutzigen Fetzen Papier und rief: »<em>Votre nom, votre nom, mon brave +camerade!</em>«<a id="FNAnker_4" href="#Fussnote_4" class="fnanchor">[4]</a> Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und +Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging +hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p> + +<p>Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr +aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten, +auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er +phantasierte.</p> + +<p>Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er +endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden +konnte. — In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so +durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken +seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich +alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still +und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche +und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben +Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück +ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im +Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte +es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na, +Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?«</p> + +<p>Er sah den Mann an und sah um sich — es war am Markte, und viele +Menschen standen in der Nähe — am liebsten hätte er ihn durch das +Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben.<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> »Du Hans +Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine +langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran +gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.« +— Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so +nach Hause.</p> + +<p>Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch +ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er, +schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst +eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über +England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der +ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher +nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne +Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten. +Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es +und zerdrückte eine Träne in seinem Auge.</p> + +<p>Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht +glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch +heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen). +Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß +noch etwas von<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap +zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun — man frage sich selbst, wie man +es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben.</p> + +<hr class="full"> +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p> + +<p class="s3 p4 center"><b>Ilse Frapan,</b></p><br> + +<p class="s2 center">Dat Undeert.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p> + +<p class="p0 center">Mit Genehmigung der Verleger <em class="gesperrt">Gebrüder Paetel</em> in<br> +<em class="gesperrt">Berlin</em> aus <em class="gesperrt">Ilse Frapan</em> »<em class="gesperrt">Zu Wasser und zu Lande.</em>«<br> +Geb. M. 5.50.</p><br> +</div> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p> + +<h2>Dat Undeert.</h2> +</div> + +<p>»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit! +Un nu mal op engelsch: <em>hep! hep! hep! hurrah!</em>«</p> + +<p>»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar +Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten +fröhlichen Haufen.</p> + +<p>Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es +nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch: +ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken, +Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei, +hurra!«</p> + +<p>Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von +sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt +und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die +Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen +Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die +Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den +Blankeneser Strand, und<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel +standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen, +festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg.</p> + +<p>»Und noch einmal! Und noch einmal!«</p> + +<p>Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen +schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es +galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden +Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen +und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene +Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur +einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann, +mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich +der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet, +das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke, +allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende +Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und +sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen, +wat?«</p> + +<p>»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und +Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die +Kleinen können das je sonst nich.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span></p> + +<p>»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.«</p> + +<p>»Nee! da war sie je man fünfviertel!«</p> + +<p>»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, — sünst sünd ji an' Enn' +hesch<a id="FNAnker_5" href="#Fussnote_5" class="fnanchor">[5]</a>, wenn't an't Klappen kummt! Wanneer<a id="FNAnker_6" href="#Fussnote_6" class="fnanchor">[6]</a> schall Vadder denn +opkamen?«</p> + +<p>»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide<a id="FNAnker_7" href="#Fussnote_7" class="fnanchor">[7]</a>.«</p> + +<p>»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen +und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen +Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe<a id="FNAnker_8" href="#Fussnote_8" class="fnanchor">[8]</a> in +den dicken rotmarmorierten Ärmchen.</p> + +<p>»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.«</p> + +<p>»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff +nach dem Arm der Kleinen.</p> + +<p>»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man +leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich +hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und +drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er +ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei —«</p> + +<p>»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> habt ihr 'n büschen zu früh +aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!«</p> + +<p>All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich +palmengleich elastisch hin und her bog.</p> + +<p>»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die +Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die +Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst +mitgebracht.«</p> + +<p>Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen, +wir haben alle neue Stiefel an.«</p> + +<p>»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester.</p> + +<p>Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer +so'n Unsinn, — nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund +von Feuerland, wo die Lehmänner<a id="FNAnker_9" href="#Fussnote_9" class="fnanchor">[9]</a> wohnen!«</p> + +<p>»Mama steckt reine Gardinen auf.«</p> + +<p>»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat +denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen +denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.«</p> + +<p>»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein +Schiff, lütt Jung?«</p> + +<p>»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> Chor, sogar +Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas +undeutlich herauskam.</p> + +<p>Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun +zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz +und mit Hand!«</p> + +<p>»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt<a id="FNAnker_10" href="#Fussnote_10" class="fnanchor">[10]</a>, sei doch +'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.«</p> + +<p>Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen +Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die +Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen, +daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?«</p> + +<p>»Tante Manga, kommst du zu uns?«</p> + +<p>»Nein, ich will den Schirm tragen.«</p> + +<p>»Und ich trag' die Tasche, nich?«</p> + +<p>»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!«</p> + +<p>»Papa und Onkel Hartig!«</p> + +<p>»Heute Nachmittag oder morgen früh!«</p> + +<p>»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.«</p> + +<p>»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich +'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p> + +<p>Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche +Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das +ganz rot übergossen aussah.</p> + +<p>»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit +eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus, +während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam +der Gartentreppe zuschob.</p> + +<p>Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es +für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand +hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den +Garten.</p> + +<p>»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief +Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen +Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten +Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte +hinunter.</p> + +<p>»Ach Gott nein, wieso denn?«</p> + +<p>Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich +wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage +heraus kommen, aber jetzt — und nun haben Sie gedacht — o wie dumm +von mir.«</p> + +<p>Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der +Dampfergesellschaft seh',<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> krieg' ich's immer mit der Angst, und weil +Ihr Vater doch nu der Inspektor is — das geht uns Seemannsfrauen allen +so, 'n büschen bange is man doch immer.«</p> + +<p>Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der +Schwelle wollte sie nicht weiter.</p> + +<p>»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt — sehn Sie, Frau Tönnies, darum +wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte +ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche +dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher.</p> + +<p>»Ja, mein Mann kommt heute.«</p> + +<p>»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.«</p> + +<p>»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona, +nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus +und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die +Leiter bestieg.</p> + +<p>»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich +muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was +glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn +Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis +auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat +noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt — na überhaupt, so +neun, das is 'ne kleine Horde!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span></p> + +<p>Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben +Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören +das gewesen? Ich mein' die Tappsen<a id="FNAnker_11" href="#Fussnote_11" class="fnanchor">[11]</a> da bei der Tür und beim Sofa; +können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu +alles rein —«</p> + +<p>»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen +auf.</p> + +<p>Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch +gehn und Stuben fäulen<a id="FNAnker_12" href="#Fussnote_12" class="fnanchor">[12]</a>!«</p> + +<p>»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe +eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen<a id="FNAnker_13" href="#Fussnote_13" class="fnanchor">[13]</a> und +Fäuel<a id="FNAnker_14" href="#Fussnote_14" class="fnanchor">[14]</a> zurück.</p> + +<p>Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die +entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt +beendete.</p> + +<p>»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten +— bloß, weil mein Mann kommt —«</p> + +<p>»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden +Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf.</p> + +<p>»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> is immer schön, wenn man +das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.«</p> + +<p>Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große +Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre +rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden +hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll +das junge Mädchen, »ich hol' sie!«</p> + +<p>»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird +zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her.</p> + +<p>Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen<a id="FNAnker_15" href="#Fussnote_15" class="fnanchor">[15]</a> klärte, war nicht +sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam. +»Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het +all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de +Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder +schall ick Gören möten<a id="FNAnker_16" href="#Fussnote_16" class="fnanchor">[16]</a>?« fragte sie mürrisch.</p> + +<p>»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga +gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann +auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> + +<p>»<em class="gesperrt">Was</em> sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund +dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die +neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als +Kathrin Gewalt anwendete.</p> + +<p>»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her, +wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon +spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau +Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden +Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und +versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten +erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran +und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das +alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn +Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da +Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus +Antwerpen gekriegt?«</p> + +<p>Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten +zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, — es wäre rücksichtslos — +wo Sie sich so lange nicht gesehen haben —«</p> + +<p>»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span></p> + +<p>Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß +ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen +sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn +'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei +Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa +sein Schoß?«</p> + +<p>Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben +riefen einfach: »Ich!«</p> + +<p>Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!«</p> + +<p>Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!«</p> + +<p>Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das — noch +andere!«</p> + +<p>»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!«</p> + +<p>Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen. +Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn +sitzen?«</p> + +<p>Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel +Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.«</p> + +<p>Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es: +»Mit mein' Onkel Hartig kann<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> man überhaupt viel besser spielen, mit +dem kann man 'n büschen albern!«</p> + +<p>»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die +Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des +Kindes niedersah, aber keine Antwort gab.</p> + +<p>»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er +ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.«</p> + +<p>»Ich weiß wohl — und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht +gewußt — wenn ich ihn 'mal gesehen habe — er kam ja öfter zu Papa, +denn hat er immer so ernst ausgesehen —«</p> + +<p>»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa, +das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein +Bruder nu komisch — sich annögeln<a id="FNAnker_17" href="#Fussnote_17" class="fnanchor">[17]</a> oder gute Worte geben, das kann +er nich, das kann ich auch nich.«</p> + +<p>»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung.</p> + +<p>»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau +Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen +haben<a id="FNAnker_18" href="#Fussnote_18" class="fnanchor">[18]</a>, wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt +immer gleich: meinst', ich will einem da um zu<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Füßen fallen? ich werd' +noch früh genug Kap'tän, — besorg' du mir man 'n kleine nette Frau, +denn da kann ich mich nich mit abgeben.«</p> + +<p>Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter +der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über +die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete +Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog.</p> + +<p>»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als +Schiffsjunge gedient hat.«</p> + +<p>»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell, +— »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.«</p> + +<p>»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen +Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar +nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien +Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem.</p> + +<p>Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen; +freilich — gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll +Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit +kommt erst, wenn Papa da ist!</p> + +<p>Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem +frugalen Mittagbrot einzuladen, aber<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> gerade, als Fräulein Dehn den +Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen +zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens — die +Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies +faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge — sie konnte +sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben, +und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen. +Sonderbar!</p> + +<p>»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die +Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da +is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er +jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon +'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber +wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr<a id="FNAnker_19" href="#Fussnote_19" class="fnanchor">[19]</a> je nu +all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte +die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch +'n orrendlichen Klacks<a id="FNAnker_20" href="#Fussnote_20" class="fnanchor">[20]</a>,« riefen die anderen. Klatsch, klatsch, +klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine +leer war.</p> + +<p>»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Dehn, der es bei der +Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse, +daß ich so lange geblieben bin.«</p> + +<p>»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man +noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.«</p> + +<p>Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen +Filethandschuhe wieder in die Tasche.</p> + +<p>»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich +am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?«</p> + +<p>Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit +ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her +geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne.</p> + +<p>»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria +nich hier sein, — das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je +noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis +mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht, +neun werden.«</p> + +<p>»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz +ab.«</p> + +<p>»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, — +ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können +Sie sich das denken?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p> + +<p>Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen +Schein; sie nickte eifrig.</p> + +<p>»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar +nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu +hiddelig<a id="FNAnker_21" href="#Fussnote_21" class="fnanchor">[21]</a>, was soll ich denn im Bett tun.«</p> + +<p>»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich, +als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie +wieder prüfend an.</p> + +<p>»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.«</p> + +<p>Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen +Sie?« — »Bitte, Frau Tönnies, kann <em class="gesperrt">ich</em> nich heute aufwaschen?« +bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom +Klären wegzugehn.«</p> + +<p>Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na, +freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten +kann.«</p> + +<p>»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama +noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht; +Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Woche kein +Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.«</p> + +<p>»Na, Sie werden doch nicht weinen?«</p> + +<p>Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine +resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind, +der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen +vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an.</p> + +<p>»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer +sich drehn<a id="FNAnker_22" href="#Fussnote_22" class="fnanchor">[22]</a>, sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee +machen.«</p> + +<p>Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf +und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe. +Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das +schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, — ist da woll am Ende 'n +Passagier mit, der — —.«</p> + +<p>Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was +um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst +da wäre, nicht?«</p> + +<p>Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune +Krebsschale vor das Fräulein hin.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span></p> + +<p>»Kiek, du, das 'n Tasch<a id="FNAnker_23" href="#Fussnote_23" class="fnanchor">[23]</a>, die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst +du ihm, Tante Manga?«</p> + +<p>»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der +Kleine aufmerksam betrachtete.</p> + +<p>»Aber du hest Geld <em class="gesperrt">in</em> de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus, +»das' noch besser.«</p> + +<p>»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!«</p> + +<p>Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich, +und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.«</p> + +<p>Frau Tönnies wurde blutrot.</p> + +<p>»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?«</p> + +<p>»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut, +hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine +weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick +der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte, +faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, — +lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.«</p> + +<p>Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse +auf und stellte sich in die Ecke.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p> + +<p>»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der +Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm +nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück.</p> + +<p>»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies +blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig +soweit, aber — wenn man kein Wort sprechen kann — ohne daß die Gören +—«</p> + +<p>»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga, +und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am +Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt. +Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den +Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es +wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.«</p> + +<p>»Komm, Hinrich, sei artig! Du — wenn du es doch so gut gehört hast — +was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich +heran.</p> + +<p>»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte +unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst.</p> + +<p>Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Lächeln an; plötzlich nahm +sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die +glatte Stirn zwischen den Augen.</p> + +<p>»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr +böse.«</p> + +<p>Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?« +brummte er, sich über die Stirn wischend.</p> + +<p>»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus +an 'n Strand, wir kommen alle nach.«</p> + +<p>Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh +war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen. +Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn +die Tassen ineinander stellte.</p> + +<p>»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon; +haben Sie nicht eine Arbeit für mich?«</p> + +<p>»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine +Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf +der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die +muß ich befestigen.«</p> + +<p>Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe +gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> +Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub, +Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, — alles +duftete durcheinander, so stark es konnte.</p> + +<p>»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün +umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte +immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das +heraus war.</p> + +<p>»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste +Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte +sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen, +wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken — +— und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch! +Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, — drinnen +auf 'n Vorplatz, denn '<em class="gesperrt">raus</em>kommen darf ich nich, nee — das mag +er nich, — denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und +so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer +neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n +Ruff<a id="FNAnker_24" href="#Fussnote_24" class="fnanchor">[24]</a> wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er +sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p> + +<p>Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre +kleine feste Hand zitterte.</p> + +<p>»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut.</p> + +<p>»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er +sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen, +aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach +Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich +denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen +könntest, das wär' 'mal nett.«</p> + +<p>»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge +Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab.</p> + +<p>Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn.</p> + +<p>»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, — ich glaube, es is bloß, +weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich +da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib' +ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu +Füßen gefallen.‹«</p> + +<p>Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig +aus.</p> + +<p>»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> gehn. Ich glaube, die Ewer +drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe +aus der Tasche.</p> + +<p>Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen +Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, — ach, bleiben Sie man, bis +das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!«</p> + +<p>Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das +Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen +die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden +auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem +schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war +hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge +angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit +Recht: Kirschenland.«</p> + +<p>Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr +sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung +stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und +Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen.</p> + +<p>»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!«</p> + +<p>»Und tüchtig wedeln!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p> + +<p>»Ob Papa woll'n <em>blue-light</em> abbrennt, wenn er vorbei kommt?«</p> + +<p>»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.«</p> + +<p>»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn +geht es nich, denn wird sie zu voll!«</p> + +<p>»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper.</p> + +<p>»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die +›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug, +die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!«</p> + +<p>Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber +sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit +zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen +weiter ins Fahrwasser hinaus.</p> + +<p>»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies +lächelte wohlgefällig.</p> + +<p>»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot +leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all +wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.«</p> + +<p>Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes +lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück.</p> + +<p>»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt!<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> Unser Stack<a id="FNAnker_25" href="#Fussnote_25" class="fnanchor">[25]</a> liegt +schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater +jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran +gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper, +hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig +aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, — Schlick, der weiter drunten +im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser +ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer, +als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und +aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die +Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag +hin und her.</p> + +<p>»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der +da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die +Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie +auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die +Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen +hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in +sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Wasser +zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher, +durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach.</p> + +<p>Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne +es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das +Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt, +so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich +verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe +erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes +Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott +sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, — der Himmel war klar +geworden.</p> + +<p>»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter, +das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei +schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell! +Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich +geworden.</p> + +<p>Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter? +Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat! +Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure +Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch +einmal — — und<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn, +wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck! +Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra! +hurra! hurra!«</p> + +<p>Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz +und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller +Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der +Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen +der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den +kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten, +hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur +mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch +auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen +Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende Kind.</p> + +<p>Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff +heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon +ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der +hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der +Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß +die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Silber glänzten, nun +verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die +ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald +alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und +nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile +im Osten, wie es vorher im Westen gestanden.</p> + +<p>»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch +einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink, +Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen +aufsetzen — in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.« +Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um. +»Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?«</p> + +<p>Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp +weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte +ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd +an.</p> + +<p>»Frau Tönnies, ich bin auch so — so recht glücklich. Sie haben solchen +guten Mann, Frau Tönnies.«</p> + +<p>»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und +lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von +Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> +Zentral«<a id="FNAnker_26" href="#Fussnote_26" class="fnanchor">[26]</a>. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n +liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge — haben Sie meinen +Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.«</p> + +<p>»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu +wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und +wenn Sie allein sind« — Manga blickte blinzelnd zu Boden — »denn +komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und +streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein, +nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat +noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir +'n andermal holen.«</p> + +<p>Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer +Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde +Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das +sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch +einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der +Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der +sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p> + +<p>»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau +Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in +Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen +mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn +sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!«</p> + +<p>Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet — der Fisch war +butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt +der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche +Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein +prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje +auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die +»kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und +durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch +einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten +nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme +war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den +Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen, +braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie +ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> +etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt, +die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein, +daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht, +daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte, +um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste +Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor +allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten +fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem +Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine +Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«.</p> + +<p>»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner +Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›<em>Smartness</em>‹ +hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll +auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen +wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man +halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum +Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum +wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«, +wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre +Verwandten zu besuchen.</p> + +<p>»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> warst und immer so +patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, — Junge, sag' ich zu +mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige +Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten +Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder +lachen wie die richtigen Grienaapen<a id="FNAnker_27" href="#Fussnote_27" class="fnanchor">[27]</a>, — du, solche hätt' ich +nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens +Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum +die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und +Schlarren<a id="FNAnker_28" href="#Fussnote_28" class="fnanchor">[28]</a> auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar +wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff +zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! — Bloß 'n +büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar +nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen +abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im +Kartenzimmer —«</p> + +<p>»Wie du die Sonne genommen hattest<a id="FNAnker_29" href="#Fussnote_29" class="fnanchor">[29]</a>,« fiel Frau Tönnies glücklich +ein.</p> + +<p>»Ja, daß du da immer 'reinkamst — wo du nichts verloren hattest, und +denn gleich weggeguckt,<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> wenn <em class="gesperrt">ich</em> die Tür aufmachte — schwubb +den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch +gesehen.«</p> + +<p>Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem +Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage +vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit +ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht +vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen +und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue +Anmusterungen zu besorgen, — endlich mußte das Schiff ins Dock +gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war.</p> + +<p>»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr +durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen, +der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt +uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du, +Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein +weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung +zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum: +»<em>All right</em>, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?«</p> + +<p>»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p> + +<p>Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit. +Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein, +ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem +Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber +sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen +beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer +Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein +Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen +ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es +kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und +nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er +uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm; +ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf +versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den +Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der +Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem +Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen +schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen +ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> sie mit großer +Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes +neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so +hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«.</p> + +<p>Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf +einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand +vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und +Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem +weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes <em>M. D.</em> glänzte.</p> + +<p>»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag +in dem Ausruf.</p> + +<p>Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab. +»Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört +Fräulein Dehn zu.«</p> + +<p>Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine +Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen.</p> + +<p>»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen +Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter +seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu kommen.</p> + +<p>»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> der vierten +Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in +den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte.</p> + +<p>»Na, Stine, min Deern?«</p> + +<p>»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie +ihn am Ende — du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.«</p> + +<p>Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat +geiht mi dat an?«</p> + +<p>»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?«</p> + +<p>Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so +mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen, +Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren +Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies +lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen.</p> + +<p>»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel', +und du gibst ihn bloß ab?«</p> + +<p>Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick +mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und +goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie +zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!«</p> + +<p>Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf +den Zehenspitzen auf und ab.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p> + +<p>Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein +und strich an ihrem seidenen Kleide herum.</p> + +<p>»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.«</p> + +<p>Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein<a id="FNAnker_30" href="#Fussnote_30" class="fnanchor">[30]</a>, +Stine?«</p> + +<p>»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.«</p> + +<p>»Er hat ja drei Stück, Deern.«</p> + +<p>»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies +sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen +dumpfen fernen Klang bekam.</p> + +<p>Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor +sich hin.</p> + +<p>»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in +ein heftiges gezwungenes Lachen aus.</p> + +<p>»Wat du klok<a id="FNAnker_31" href="#Fussnote_31" class="fnanchor">[31]</a> büst.«</p> + +<p>»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen +können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen +Hals gelegt hätte, — aber sich mit seinem Bruder handgemein machen, +das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug +von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> Schritte +treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na, +heb' den Schirm man gut auf — wenn die Gören bei den Schrank gehn —«</p> + +<p>Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen +Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.«</p> + +<p>Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich +sicher steht — —«</p> + +<p>»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig +wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus +Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu +zerbrechlich aussah, — das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche +weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau +Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte +hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote +Wolke zog über seine ungebräunte Stirn.</p> + +<p>»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje +nüdliche Dings ganz entzwei?«</p> + +<p>Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es +und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt' +ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene +sah, der den Kopf hängen<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren, +richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm, +mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in +der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor.</p> + +<p>Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick +wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die +Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je +nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das +verhängnisvolle Paket in seine Kammer.</p> + +<p>»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein +war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'? +Sie hat mich da all immer um gebeten.«</p> + +<p>Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger, +da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche +Deern, das bringt Glück an Bord.«</p> + +<p>Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden +täte, Tönnies?«</p> + +<p>Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal, +Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.«</p> + +<p>»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung. +Sie wollte es durchaus<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> nicht zugeben. »Er hat da woll man seine +Putzen<a id="FNAnker_32" href="#Fussnote_32" class="fnanchor">[32]</a> mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das +sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.«</p> + +<p>Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar +nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir +sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie +gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.«</p> + +<p>»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte +unruhig näher.</p> + +<p>»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen +Dwarsdriever<a id="FNAnker_33" href="#Fussnote_33" class="fnanchor">[33]</a>, de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr +von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da +noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die +Gatten lachten um die Wette.</p> + +<p>»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst, +denn such' dir man 'n ander Paar aus — din Broder hett all sin +Bekummst<a id="FNAnker_34" href="#Fussnote_34" class="fnanchor">[34]</a>,« meinte Tönnies.</p> + +<p>»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat'<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> er nich,« sagte Stine +zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.«</p> + +<p>»Denn ward he woll sitten blieben, — he hett dulle Küren<a id="FNAnker_35" href="#Fussnote_35" class="fnanchor">[35]</a>.« Mit +einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. — —</p> + +<p>Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen +Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn +abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr +früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an +der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd +entgegenschrien.</p> + +<p>»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und +nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir +mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei +Dinger fahren wir heute, Tante Manga!«</p> + +<p>»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge.</p> + +<p>»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper +mit bedächtigem Händefalten.</p> + +<p>»Jasper Dickwust<a id="FNAnker_36" href="#Fussnote_36" class="fnanchor">[36]</a>!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um +den drolligen Kleinen herum.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span></p> + +<p>Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht +viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und +ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr +graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen. +Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein +seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden +Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war +frei.</p> + +<p>»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte +Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung +fehlte, Stine war nicht impulsiv.</p> + +<p>»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie +etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule, +und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll +lachen.«</p> + +<p>Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön +soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne +Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.«</p> + +<p>Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund +für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies +auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p> + +<p>»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für +das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten +Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott<a id="FNAnker_37" href="#Fussnote_37" class="fnanchor">[37]</a>!«</p> + +<p>Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe +Begegnung in Aussicht, und dazu — einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn +übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, — »und nun noch den +Sonnenschirm!«</p> + +<p>Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,« +platzte sie heraus, »weil —«</p> + +<p>Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten! +Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah +durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu +bekommen.</p> + +<p>»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der +Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch +dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren +Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte.</p> + +<p>Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten +Kindern, die fünf anderen im<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie +endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut +zogen.</p> + +<p>»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«, +flüsterte Anna.</p> + +<p>»Rohmtorten<a id="FNAnker_38" href="#Fussnote_38" class="fnanchor">[38]</a>«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles +Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper, +Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.«</p> + +<p>Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort +an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in +Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin — auf der Straße und +vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen +unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene +Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner +Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich +mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich, +daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach +Hause.«</p> + +<p>Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten; +sie saßen schon auf<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit +der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig +mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies' +glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des +kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das +gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen +Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er +nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge, +das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken +zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß.</p> + +<p>»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß<a id="FNAnker_39" href="#Fussnote_39" class="fnanchor">[39]</a>, die möcht' ich +woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst +so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das +Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein +voran — Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur +mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin; +oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir +müssen wohl 'n bißchen warten.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p> + +<p>»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer +sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.«</p> + +<p>»Die kleinen Kinder —« begann das Fräulein und sah sich abermals um.</p> + +<p>»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, <em>go +ahead, go ahead</em>!« Er machte eine seiner kurzen energischen +Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen +gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen, +dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den +vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die +Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu +zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen, +die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und +Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum +Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte +der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit +festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene +der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich +auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen +geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> +den eisernen Schlagbetten, — en anständiger Kasten, was?«</p> + +<p>Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich +leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen +aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb +auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie +gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen +Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit +Herausforderung fester unter den seinen schob.</p> + +<p>Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich +woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser +gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte, +— sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor +Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der +Augenblick weh tue.</p> + +<p>»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst, +guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen +sie.«</p> + +<p>Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um +den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die +muschelartigen feingerippten Zapfen, die den<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> Kupferboden des Schiffes +bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen +Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren +Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern.</p> + +<p>»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.«</p> + +<p>Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren +Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut.</p> + +<p>»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die +Löckchen um ihre Stirn bebten.</p> + +<p>»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen +Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?«</p> + +<p>»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er +die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein +hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg +zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der +Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje, +Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem +Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und +klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre. +Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> freudewinselnd der +kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika +mitgebracht hatten.</p> + +<p>»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen +eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.«</p> + +<p>»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem +Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm, +»nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward +kann ihn auf'n Teller legen.«</p> + +<p>Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte +spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n +Zwickel<a id="FNAnker_40" href="#Fussnote_40" class="fnanchor">[40]</a>?« sagte er halblaut zu ihm.</p> + +<p>Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er +dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen +bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen +Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete.</p> + +<p>Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte, +was sind denn das für Gewächse, Herr — Herr Holert?«</p> + +<p>Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> erhellte sich. +»<em>Sweet potatoes</em><a id="FNAnker_41" href="#Fussnote_41" class="fnanchor">[41]</a>, Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über +die Schulter weg.</p> + +<p>Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie +aus <em class="gesperrt">diesen</em> Knollen?«</p> + +<p>Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus, +und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich +nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen +Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in +die Augen, prüfend, vorsichtig.</p> + +<p>Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken. +»Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts +weismachen, he lüggt<a id="FNAnker_42" href="#Fussnote_42" class="fnanchor">[42]</a>.«</p> + +<p>Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen. +Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine +Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat.</p> + +<p>»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von +Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.«</p> + +<p>Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich. +»Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag', +Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> die Zunge im +Mund hält, — denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den +Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.«</p> + +<p>Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden +jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten +vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem +unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen, +ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen +Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen +schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je.</p> + +<p>Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein +Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner +Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«, +damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. —</p> + +<p>»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich +erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen, +ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich +muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft.</p> + +<p>»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er +öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah +das<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz +mit Photographien bepflastert.</p> + +<p>»So sahst du damals aus, Stine.«</p> + +<p>»So sah ich damals aus.«</p> + +<p>»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider +allein machen mußte.«</p> + +<p>»Und da bist du als Bräutigam.«</p> + +<p>Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der +Kinder mit sich, die hineingewollt hatten.</p> + +<p>»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.«</p> + +<p>Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war +Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der +Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und +ab, und Stine verglich es mit der Photographie.</p> + +<p>Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte +alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen +Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier +gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten, +— zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder +zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit +zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste,<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> stolperte Anna herein +und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit +desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer +hinter sich, — den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna +betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf, +und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, — ich weiß aber woll warum!« +setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu.</p> + +<p>Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut<a id="FNAnker_43" href="#Fussnote_43" class="fnanchor">[43]</a>.«</p> + +<p>»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch! +Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig +herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben +wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran +gearbeitet wurde.</p> + +<p>»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind +entgegen, »soll ich es 'mal sagen?«</p> + +<p>»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund +zugehalten ward. »Weil du all den Rohm<a id="FNAnker_44" href="#Fussnote_44" class="fnanchor">[44]</a> in deine Tasse gegossen +hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«, +rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> Aber nun setzte es einen +Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, — — +weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die +wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten.</p> + +<p>»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte +ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den +Unsinn ein.</p> + +<p>»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über +den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal +mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte.</p> + +<p>»O, Herr Holert —« sie legte die Hände zusammen.</p> + +<p>»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach — aber das kennen Sie +ja alles! Na, schad't nix — sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt, +fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee +oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht +Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er +lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann +schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als +Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen +Mund aufmachen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span></p> + +<p>»O darum —« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und +verwirrend.</p> + +<p>»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und +bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn —«</p> + +<p>»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der +is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an, +der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann +zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch, +jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen +was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier +Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch +auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von —«</p> + +<p>»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend.</p> + +<p>Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst +keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut, +tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.«</p> + +<p>»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen.</p> + +<p>»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester.</p> + +<p>»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem +Taschenbuch!« reizte der Kapitän.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p> + +<p>Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er +versuchte zu lachen.</p> + +<p>»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein.</p> + +<p>»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick +nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach +dem Werftplatz, als gehe <em class="gesperrt">sie</em> nicht im geringsten an, was hier +gesprochen wurde.</p> + +<p>»Dat muchst du woll, — ward aber nix ut!«</p> + +<p>»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen +wendete sich halb gegen sie.</p> + +<p>»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine +Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt +Papa früher als ich zu Tisch.«</p> + +<p>»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll —« begann Stine +niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch +fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum +Aufbruch.</p> + +<p>Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch +ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob +ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-, +zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> den Hut auf den Kopf und +stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn +sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte +sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen +inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies +sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen +brannten zwei hochrote Flecken.</p> + +<p>»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre +forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson +verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr +Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch +die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon +allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn +vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen, +sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer +hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt +es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr +zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen +bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als +alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt,<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> aber +da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die +gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb +hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er +würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am +Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender +oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen +hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen +hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den +ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich +immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte« +— hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß +auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß +der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit +einen vertieften Reiz verlieh.</p> + +<p>Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben +sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich +dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen —</p> + +<p>»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von +dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig +geblieben?«<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein, +bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch +ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar +in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem +Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der +Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans +Schlüsselloch, dann auch das Auge.</p> + +<p>»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel +steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie, +glücklich über ihre Schlauheit.</p> + +<p>»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder +vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun +hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem +niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er +mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er +in Lebensgefahr gewesen, — mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte +er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu +kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender +See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p> + +<p>»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot, +sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller +beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß +still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz +allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies +zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen +Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren, +aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist +denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer +eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich +in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, — dann ging +die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu +einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der +Kapitän wurde »quirrig<a id="FNAnker_45" href="#Fussnote_45" class="fnanchor">[45]</a>« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert +besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, — warum konnte er nicht dort +wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht, +weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die +Gärten beinahe aneinander stießen? Es war<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> nur gut, daß Stine so wenig +Zeit zum Grübeln hatte, — die bevorstehende Abreise hielt sie in +Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen +Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des +Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich — zumal, da die Tropen +täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte +sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in +augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem +aus der Waschbalje<a id="FNAnker_46" href="#Fussnote_46" class="fnanchor">[46]</a> der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das +füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und +brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht +zu sehen, — der <em class="gesperrt">Kisten</em>, denn der guten Schwester erschien es +selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal +eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder, +wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn +zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß +Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie +ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb +scherzenden Anschuldigungen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> seines Schwagers sogleich reinigen können, +aber — und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung — wenn man einem +Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit. +Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt +eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war — +Fräulein Dehn — und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich +Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres +Mannes von der Zeugleine nahm — stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf +der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und +freundlich an.</p> + +<p>»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer +Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!«</p> + +<p>Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu +helfen.</p> + +<p>»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?«</p> + +<p>Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber +ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre +Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte. +»Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der +Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.«</p> + +<p>Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> der Beutel für die +Kneifen<a id="FNAnker_47" href="#Fussnote_47" class="fnanchor">[47]</a>, Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn +das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.«</p> + +<p>Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere +Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig +befühlte.</p> + +<p>»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie +nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester. +Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und +in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n +ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf +Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er +ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen +da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da +waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch +so'n Ärger —«</p> + +<p>Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite +musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt +hatte.</p> + +<p>»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p> + +<p>»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut +— ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.«</p> + +<p>»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?«</p> + +<p>»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem +Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu — nich mit +Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er +die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was +'reinkommen soll, und sprechen tut er nich <em class="gesperrt">so</em>viel.« Die Frau tat +einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man +hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die +Augen.</p> + +<p>»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit +sanftem Vorwurf.</p> + +<p>Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie +haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll +das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all +die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder +mit getan.«</p> + +<p>»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte +ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu +ihr auf: »Gestern abend — in vier Tagen wollen sie<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> weg — kommt +mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste +Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du +sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein +dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un +ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹«</p> + +<p>»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein. +Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert.</p> + +<p>»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie +so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen +sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich +zu plätten —«</p> + +<p>»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester +anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen +Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen —« sie errötete und spielte +mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau +Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.«</p> + +<p>»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen +kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll +liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen +sehen, daß ich es ganz gut machen werde.<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> Wenn ich will, kann ich den +ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna +sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes +Kleid und eine große Schürze — ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit +eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich +sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch' +ich den Rock«, sagte sie endlich.</p> + +<p>Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten +verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den +Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte +sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.«</p> + +<p>Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte +sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, — Gott, es hätt' +ja doch angehen können — und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen +gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.«</p> + +<p>Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand +sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und +bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden +Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche +Vorrichtung die dicken<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau +Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe +Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte +sie.</p> + +<p>Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir, +Ihr Bruder soll es nicht wissen! — Ist er schon öffentlich verlobt, +Frau Tönnies?«</p> + +<p>»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die +ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n +großen Slöpendriwer<a id="FNAnker_48" href="#Fussnote_48" class="fnanchor">[48]</a>.«</p> + +<p>Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor.</p> + +<p>»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm +'raus.«</p> + +<p>»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau.</p> + +<p>»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin +eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?«</p> + +<p>Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich +verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die +Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> war am Ende gar +kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende, +langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm, +und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei +nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von +Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen.</p> + +<p>Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief. +Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte +er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß. +Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den +Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich +kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg +sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom, +der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen. +Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen, +und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor +Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra +schreien, — aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen. +Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von +der glitzernden Fläche, die<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig +weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer.</p> + +<p>Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, — das waren keine +Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen +waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die +Ritze. Ach so, der Briefträger war's, — sie hörte ihn ans Fenster der +Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die +Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend.</p> + +<p>»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach +der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen! +Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich +Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.«</p> + +<p>»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar +Stunden hier an den Ärmeln zu tun.«</p> + +<p>»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte +aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk' +ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu +sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das +nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus +sagen<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> soll, — ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders, +wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung +verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.«</p> + +<p>Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie +die gute Frau noch gar nicht gesehen.</p> + +<p>»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm.</p> + +<p>»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, — es is +ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren<a id="FNAnker_49" href="#Fussnote_49" class="fnanchor">[49]</a>, und der +Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.«</p> + +<p>Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach +dem Abendbrot, — ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so +zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen +nach der Arbeit«, lachte sie.</p> + +<p>»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch +nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau +Tönnies davon, um sich anzukleiden.</p> + +<p>Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin +Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu +sich hereingucken.</p> + +<p>»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Sommer hab' ich +dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich +man nich die Zeit lang werden, — mein Bruder is das gar nich wert, daß +—«</p> + +<p>»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin +wieder allein.</p> + +<p>Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach +Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen. +Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die +Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub +bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine +Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die +Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen +hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom +Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling: +die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus +einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie +zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte +dabei. — —</p> + +<p>»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen +oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und +stand auf<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber +führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen +Kopf da drinnen gezeigt.</p> + +<p>Das Mädchen stand sprachlos, — das blaue Tuchgebäude war ihren Händen +entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr +in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen +betroffen worden.</p> + +<p>»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am +Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit +belegter Stimme.</p> + +<p>Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«, +stotterte sie.</p> + +<p>»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein +unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die +hervorbrach.</p> + +<p>»Stine ist aus.«</p> + +<p>»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!«</p> + +<p>»Sie müssen das Un-, — den Südwester ja doch haben —«</p> + +<p>»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot +und bestürzt, »Sie sind bei <em class="gesperrt">meinem</em> Rock zu Gange?«</p> + +<p>Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> zu Boden, und der +Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er +der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht, +daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin.</p> + +<p>»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte +Antwort.</p> + +<p>»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte +waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr +schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der +Waschbalje, hinter der sie stand.</p> + +<p>»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!«</p> + +<p>»Ach, Sie waren bei uns?«</p> + +<p>»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal — allmählich 'mal — Ihren +Sonnenschirm wiederbringen — sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe +gewesen,« — er errötete wie ein Knabe — »ich mocht' immer nich +'reinkommen.«</p> + +<p>»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht.</p> + +<p>Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge.</p> + +<p>»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,« +platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das +Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn +müssen Sie das nich für<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> ungut nehmen, denn kann das leicht geändert +werden, — das is all zum Abschrauben.«</p> + +<p>»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem +schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und +stürmte mit einem Seufzer davon.</p> + +<p>Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, — richtig, da +war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber +was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes <em>M</em> +und <em>H</em>? Überrascht wiederholte sie laut: »<em>M. H.</em>? <em>M. +H.</em>?«</p> + +<p>Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin — die andere +Krücke.</p> + +<p>»Hier ist das andere — wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte +Stimme. Sie nahm es — aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten +Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit +einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen +<em>M. H.</em> zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende +Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre +Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh +und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie +hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit +stürmisch festzuhalten. Das Mädchen<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> richtete sich zuerst auf. »Nun muß +ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest.</p> + +<p>»Das Beste weißt du noch nich.«</p> + +<p>»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn.</p> + +<p>»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger +Zeit.«</p> + +<p>»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt.</p> + +<p>»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja +auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja +nicht wissen — das kann ja sein — vielleicht hab' ich Glück, daß sie +mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie +sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem +Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich +mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm +die Augen naß wurden, ermannte sie sich.</p> + +<p>»Ich muß wohl ins Haus jetzt —« sie blickte an sich nieder — »ich +will mich schnell umziehen.«</p> + +<p>»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.«</p> + +<p>Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein +kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.« +Neben<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis +sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere +Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten. +Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter +Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und +grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte +das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem +First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen +rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach, +aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.«</p> + +<p>Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande +die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend. +Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks, +das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende, +verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit +den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten +Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller +Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und +staunte hinunter und drückte sich fester die Hände.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<p>»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend, +nachdenklich — »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« — — +— —</p> + +<p>Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine +war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt, +die Kinder bejubelten die neue Tante — nur Kapitän Tönnies zeigte +sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja +schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein +Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.«</p> + +<p>Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte +beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte: +»Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.«</p> + +<p>Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein +bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein +war.</p> + +<p>»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte +sie befangen.</p> + +<p>»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar +nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog +sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine +Weile ging er mit großen<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> Schritten hin und her und ließ sie weinen. +Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die +Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter +anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse, +ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum +zurück.</p> + +<p>»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was +Unrechtes is es nich.«</p> + +<p>Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht, +wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt. +Es könnte sie nur <em class="gesperrt">glücklich</em> machen, wenn sie's sähe, dies +freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in +heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen — +aber der Kapitän zeigt's nicht — er ist eben noch nie jemandem, auch +seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen.</p> + +<hr class="full"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p> +<div class="chapter"> +<p class="s3 p4 center"><b>Balduin Groller,</b></p> +</div> +<p class="s2 center">Die Tante und der Onkel.</p> +<p class="s2 center">Eine Entlarvung.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p> + +<h2 class="nobreak">Die Tante und der Onkel.</h2> +</div> + +<h3>I.</h3> + +<p>»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine +Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch +die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich +auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen, +und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner +ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich +stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas. +Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen +Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche +Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet +um einige beruhigende Zeilen</p> + +<p class="r15">Dein alter treuer</p> +<p class="r5">Fridolin.«</p><br> + + +<p>Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war +ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, <em>Dr.</em> +Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von +Gerolstein seine guten<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf +die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit +Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die +Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren, +sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die +auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen +unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte.</p> + +<p><em>Dr.</em> Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort +hin, um es zu beantworten — Zeit hatte er ja. Er schrieb:</p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">»Mein lieber Junge!</span><br> +</p> + +<p>Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei, +vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht +erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast. +Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis +eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als +Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre +ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes +antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe +Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs +Beobachtungszimmer. — Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und +hoffe noch auf eine gute Besserung.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p> + +<p>Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also +<em class="gesperrt">nicht</em> ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm! +Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen +Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist +der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben. +<em>Solamen miseris socios habuisse malorum.</em> Ich weiß, man kann +statt <em>miseris</em> auch <em>miserum</em> sagen; Du siehst also, ich +bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich +›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den +Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner +Verhältnisse ist er gerade großartig genug.</p> + +<p>Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ — +das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich +aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von +Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit +zu Zeit ein paar <em class="gesperrt">Ärzte</em> Hungers stürben, so käme die Statistik +gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das +Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit +stelle.</p> + +<p>Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres +erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre, +wegzusterben<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst +auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist +auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch +nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir +müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die +Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu +machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu +verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen +Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das +heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein +geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine +Vorbedingungen — dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man +sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit — nun, wir +wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! — aber Glück hast Du +entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden +also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden +und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind +sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen.</p> + +<p><em>Quae cum ita sint</em> — komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein +würdiger Freund, und es fehlt<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> mir nicht an Argumenten, eine große +Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf +weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst, +und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir +wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu +arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und +kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem +Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten soll.</p> + +<p><em>Ad vocem</em> Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht +gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in +Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß +sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen +können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter +erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze +Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in +Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf +eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger, +Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit +einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen +Gefechtes von der<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit +einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse +erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe +massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit +hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht +dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich +habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen.</p> + +<p>Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig +mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten +Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen +zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also +die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie!</p> + +<p class="r15">Dein schiefgewickelter Freund</p> + +<p class="r5">Arnold.«</p><br> + +<p>Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte:</p> + +<p>»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden +dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach +Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet.</p> + +<p class="r5">Dein F.«</p><br> + +<p>Die umgehende Antwort lautete:</p> + +<p>»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse +Menschen, die von ihren Rechten<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> einen unbescheidenen Gebrauch zu +machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser +<em class="gesperrt">einen</em> großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht +ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt +etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch +weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür +wäre ich sonst</p> + +<p class="r5">Dein Freund A.«</p><br> + +<p>Darauf kam noch eine Erwiderung:</p> + +<p>»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade +gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist +zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt +wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist?</p> + +<p class="r15">Auf Wiedersehen!</p> + +<p class="r5">Dein F.«</p><br> + +<p>Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen:</p> + +<p>»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und +Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir +wohl mündlich auseinandersetzen.</p> + +<p class="r15">Ich drücke dich an meinen Busen!</p> +<p class="r5">Dein A.«</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"><div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p> + +<h3>II.</h3> +</div> + +<p><em>Cherchez la femme!</em> hatte sich Arnold gedacht, als er, nach +den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem +Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen:</p> + +<p><em>Dr.</em> Friedrich Bruckner — von seinen Freunden immer nur Fridolin +genannt — hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital +abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen +Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem +Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen +großen Nichtstun bestehen. Fridolin — wir zählen zu seinen Freunden +und haben das Recht, ihn so zu nennen, — Fridolin hatte sich für eine +Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen.</p> + +<p>Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den +Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung +Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte +aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht, +das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort +irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur +schon ein bißchen lange her.</p> + +<p>Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf +auszuschreiten, hatte er nicht;<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm +ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen +Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem +Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es +sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck, +von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen +lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße, +die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins +Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles +Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu +erblicken.</p> + +<p>Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen +Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken. +Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und +sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es +Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr +verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land +ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr +gegen sich.</p> + +<p>Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes: +in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im +nächsten<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn +herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte. +Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und +so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief:</p> + +<p>»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf +die Bäuche!«</p> + +<p>Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem +Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn.</p> + +<p>»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um — schützen Sie — +ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank +ins Gras; sie war ohnmächtig.</p> + +<p>Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo +er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein +weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als +alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und +ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte +sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute +hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht.</p> + +<p>»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug. +»Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> Kognak aus meiner Feldflasche. So +ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.«</p> + +<p>»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge +Dame mit matter Stimme.</p> + +<p>»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein +Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können +— ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon +abgerissen.«</p> + +<p>»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war +nur so fürchterlich erschrocken.«</p> + +<p>»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die +Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich +denn für einen Mörder gehalten?«</p> + +<p>»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken +bin, sondern was vorhergegangen ist — es war entsetzlich!«</p> + +<p>»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In +der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den +Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin +endlich auch ich da, — mein Name ist <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner — +und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen. +Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie +zu sterben, vollkommen überflüssig<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> sind. Denn ich sehe — leider! — +keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.«</p> + +<p>»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins +Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie +wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß +nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten — +ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus +meiner Tante geworden?«</p> + +<p>»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante +sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine +Blicke nach allen Richtungen hin schweifen.</p> + +<p>»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine +Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.«</p> + +<p>Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem +Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das.</p> + +<p>»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er. +»Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt +müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie +sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr +heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und +vielleicht auch noch<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> morgen quälen werden, während die Sache ganz +bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt +genügend ausruhen.«</p> + +<p>»Aber meine Tante —.«</p> + +<p>»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen, +daß Sie sich krank machen.«</p> + +<p>»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!«</p> + +<p>»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen +über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern +sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die +Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie +sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.</p> + +<p>»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle, +sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder +aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu +befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön +sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?«</p> + +<p>»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.«</p> + +<p>»Das sehe ich. Ihr Aussehen — alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt +kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum +Glück ist man nicht nur Arzt — <em>homo sum</em>!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p> + +<p>»So heißt ein Roman von Ebers.«</p> + +<p>»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein +Roman hier ist mir lieber!«</p> + +<p>»Wenn nur die Tante —«</p> + +<p>»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie +retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man +kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und +ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.«</p> + +<p>»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben. +Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie +sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar —«</p> + +<p>»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.«</p> + +<p>»Richtig; und ein Fenster hat sie auch —«</p> + +<p>»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter +mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.«</p> + +<p>»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!«</p> + +<p>»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt.</p> + +<p>»Die war so — ach Gott, wenn nur die Tante —!«</p> + +<p>»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!«</p> + +<p>»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> ßen wollte, da trugen +die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß +es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er +ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit, +sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.«</p> + +<p>»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?«</p> + +<p>»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.«</p> + +<p>»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?«</p> + +<p>»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, — ach, du meine +Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!«</p> + +<p>»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! — Was geschah da?«</p> + +<p>»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes +Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger +transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes +Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen, +denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen +konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht +wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so +mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> uns vorüberziehen zu +lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der +Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen +Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr. +Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen +konnte, — wie weit und wie lang, das weiß ich nicht — und ich kam +erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.«</p> + +<p>»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die +Patientinnen in den Schoß fallen.«</p> + +<p>»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte +Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir +jetzt die Tante suchen.«</p> + +<p>»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission +beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und — +jetzt wollen wir die Tante suchen!«</p> + +<p>Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft +darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in +die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo +seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des +Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven +Regun<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige +medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war, +drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes, +liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt +hatte.</p> + +<p>Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine +Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte +einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte +nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit +kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die +richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu +keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht +aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie +es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das +Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber +auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle +Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende +Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu.</p> + +<p>Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein +unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe +schwanken<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß +er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es.</p> + +<p>Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische +Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache +Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts +zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher +Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also +kombinieren.</p> + +<p>Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff +wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als +bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von +fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen, +daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden +wird.</p> + +<p>Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente +vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf +auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die +Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ, +so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war +immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal +separat aufgerechnete Echo, das seine<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> zärtlichen Rufe »Tante, teuerste +Tante!« beantwortete.</p> + +<p>Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der +Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte +sein können, aber — der Genius der Menschheit wird ersucht, hier +sein Antlitz zu verhüllen, — Fridolin erklärte dagegen auf das +bestimmteste, daß zur <em class="gesperrt">Rechten</em> etwas durch die Zweige geschimmert +habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe. +Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein +Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in +Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante.</p> + +<p>So sind die Männer! Und so ist die Welt!</p> + +<p>Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen +war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer +Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin +sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der +von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun +zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte +die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles +in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> geholt +werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im +Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen +begegnete — es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin, +alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war —, zu fragen, ob sie +keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und +bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu +wollen.</p> + +<p>So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht +gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin +tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war +bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem +langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe +nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer +freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das +wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut +beraten, was nun weiter zu geschehen habe.</p> + +<p>»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich +habe nicht einen Pfennig bei mir!«</p> + +<p>»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie +werden mir zusehen!«</p> + +<p>Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Sie mir aber doch auch +geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!«</p> + +<p>»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.«</p> + +<p>»Die Tante wird Ihnen dann schon alles —«</p> + +<p>»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden +zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen +darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!«</p> + +<p>Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und +die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken, +mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im +Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe.</p> + +<p>»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf +einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt +Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?«</p> + +<p>»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist +klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres +Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre +gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die <em>p. t.</em> +Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p> + +<p>»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie +schneiden herunter!«</p> + +<p>Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden +hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die +Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der +Nacht nichts geschieht.«</p> + +<p>»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«, +meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont +aufsteigenden Mond deutend.</p> + +<p>»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe. +Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für +prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.«</p> + +<p>Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs +Herz.</p> + +<p>»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich +weiß nicht, was mit mir geschehen soll.«</p> + +<p>»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante +heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.«</p> + +<p>»Glauben Sie wirklich?«</p> + +<p>»Ich möchte sagen, ich <em class="gesperrt">weiß</em> es. Um diese Zeit werden Tanten +nicht mehr gefunden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p> + +<p>»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt.</p> + +<p>»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?«</p> + +<p>»Das ist ja nur um so schlimmer!«</p> + +<p>»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich +höflichst zu empfehlen!«</p> + +<p>»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!«</p> + +<p>»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!«</p> + +<p>»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank +verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein —«</p> + +<p>»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein +desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins +klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen +sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer +Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie +heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!«</p> + +<p>»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem +Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante +gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen.</p> + +<p>»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?«</p> + +<p>»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> verbeugen Sie sich denn? +Da ist doch nichts so Großes dabei!«</p> + +<p>»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag +zurück in die Pension?«</p> + +<p>»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist +zugesperrt.«</p> + +<p>»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie +abholte?«</p> + +<p>»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.«</p> + +<p>»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz; +zurück nach Gerolstein?«</p> + +<p>»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach +Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und +schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.«</p> + +<p>»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich +Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache +ist nicht so einfach!«</p> + +<p>Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu +ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.</p> + +<p>»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe +ich sofort auf und davon!<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier +in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?«</p> + +<p>»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten +heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.«</p> + +<p>»Sie wissen nicht, wo?«</p> + +<p>»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt, +und ich hatte nach nichts gefragt.«</p> + +<p>»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?«</p> + +<p>»Jawohl!«</p> + +<p>»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?«</p> + +<p>»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu kümmern; +ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.«</p> + +<p>Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen sollte.</p> + +<p>»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das +Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund +der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige +Vermutung kommen, was <em class="gesperrt">sie</em> nun wohl anfangen wird. Was glauben +Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?«</p> + +<p>»Ängstigen wird sie sich!«</p> + +<p>»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> wird nicht ausreichen, +uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun. +Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr +die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach +Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja +etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos +und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind, +und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man +es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist +oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen +sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben +und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte +ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube +vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte +zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher, +als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin +zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind. +Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß +wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹ +übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> ist, wird sich +dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.«</p> + +<p>Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so +wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach +Dresden brachte.</p> + +<p>»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden +zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom +Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich +entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen.</p> + +<p>»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin, +»für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein. +Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl +nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein +reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich +immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber +morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob +sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.«</p> + +<p>»Ich habe keine Eltern mehr.«</p> + +<p>»Aber ein Heim haben Sie doch dort?«</p> + +<p>»Ja, bei meinem Onkel.«</p> + +<p>»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span></p> + +<p>»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.«</p> + +<p>»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie +sogar nur noch mich als Beschützer!«</p> + +<p>»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor. +Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren +so lieb zu mir — wie soll ich Ihnen nur danken?«</p> + +<p>»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!«</p> + +<p>»Sie? Wofür denn?«</p> + +<p>»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der +Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist +eigentlich alles gesagt.«</p> + +<p>»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!«</p> + +<p>»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute. +Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken +haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn +Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir +verbracht zu haben?«</p> + +<p>»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur +so!«</p> + +<p>»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach +Gerolstein oder, wenn es<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> gut geht, nach Wien, nach Frankreich, — Gott +weiß, wohin noch? — mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen +Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie +wiedersehen!«</p> + +<p>»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über +ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht +bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen, +durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den +Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit +stiller Freude.</p> + +<p>»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer +Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst +vergessen haben.«</p> + +<p>»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt.</p> + +<p>»Sie werden!«</p> + +<p>»Gewiß nicht!«</p> + +<p>»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf +Nimmerwiedersehen auseinander sollen?«</p> + +<p>»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge +Käthe.</p> + +<p>»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit +sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die +Idee<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde +als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung +geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer +Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer +Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren, +daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es +für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit +einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch +den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde, +und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu +verkümmern.</p> + +<p>»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit +einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere +Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen +gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz +andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem +eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in +Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die +letzte Erinnerung an mich verwischt sein!«</p> + +<p>»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß +nicht!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p> + +<p>»Oh, ich weiß das besser!«</p> + +<p>»Das können Sie nicht besser wissen!«</p> + +<p>»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das +Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!«</p> + +<p>»Jetzt bedauern Sie es auch noch!«</p> + +<p>»Habe ich nicht alle Ursache dazu?«</p> + +<p>»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das +Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue +mich an dem, was ist und was wirklich war.«</p> + +<p>»Fräulein Käthe?«</p> + +<p>»Herr Doktor?«</p> + +<p>»Ich möchte Ihnen etwas sagen.«</p> + +<p>»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.«</p> + +<p>»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.«</p> + +<p>»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja +gleich unter Menschen! — Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen +voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so +gar nichts angehen.«</p> + +<p>»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir —« sagte Käthe +nun ängstlich stockend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span></p> + +<p>»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte: +Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher +vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!«</p> + +<p>»Nein, das ist noch nicht unritterlich.«</p> + +<p>»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?«</p> + +<p>»Herr Doktor!«</p> + +<p>»Ist es unritterlich?«</p> + +<p>»N—ein — ich glaube, — es ist nicht unritterlich.«</p> + +<p>»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig — ein ganz klein bißchen — +gut sein können?«</p> + +<p>»Herr Doktor, — ich bitte Sie —«</p> + +<p>»Ist es unritterlich?«</p> + +<p>»Ich weiß nicht, ob —«</p> + +<p>»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen +gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!«</p> + +<p>»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!«</p> + +<p>Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen +Abschiedskuß.</p> + +<p>»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste.</p> + +<p>»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen +Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch. +Käthe!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p> + +<p>»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd +still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem +ihrigen nahebrachte.</p> + +<p>»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er +leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!«</p> + +<p>Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er +dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch +unritterlich, sondern einfach natürlich. —</p> + +<p>»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob +du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?«</p> + +<p>»Vielleicht!«</p> + +<p>»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen +sollen?«</p> + +<p>»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen — und mich finden!«</p> + +<p>Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante +schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> +<h3>III.</h3> + +<p>So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß +begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel +war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> herabgesandt. +Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch — +von wegen der Tante! — nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren +voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder +zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen +die Formel gefunden: Du wirst mich suchen — und mich finden!</p> + +<p>Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des +berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe +seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich +einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren +sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein. +Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen +Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund +des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen +Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte +er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen +Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte.</p> + +<p>Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand +es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren, +da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine +Begegnung mit Käthe bringen.<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Gerolstein war nicht so groß, daß ein +schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird +Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes +ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen +würde.</p> + +<p>In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall +sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte, +sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm +allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine +ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit, +die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem +gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen.</p> + +<p>Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine +herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter +Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um +ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der +Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den +offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber +der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde +Arnold. Das Schreiben lautete:</p> + +<p>»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen +großartigen Kriminalfall vertieft.<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> Zur vollständigen Vernichtung des +Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. — Der Geh. +Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist +glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als +eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in +Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit +schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn +Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten.</p> + +<p class="r5">Dein wohlaffektionierter F.«</p><br> + +<p>Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu +später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte +darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den +Rechtsanwalt <em>Dr.</em> Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im +Bette empfing.</p> + +<p>Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker +der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt +und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle +Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich — er hatte solche +Schmerzen in der Seite — eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer +schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im +Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs +war eine<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle +Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und +das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch +Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und +wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen +immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben +Tage bei einem <em class="gesperrt">Früh</em>schoppen begehen konnten. Solche Bosheiten +begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der +Zivilisation erfreut.</p> + +<p>Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen: +den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den +»Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt +war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen +»Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der +Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des +Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das +heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine +oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben +verbitterte.</p> + +<p>Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten? +»Gerolsteiner Radfahrerklub<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum +»Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten +sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König +Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im +Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst +gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, — +es steckte eine große Bosheit dahinter.</p> + +<p>Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht +beliebt — das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind +bei der Opposition niemals beliebt — und sie setzte ihm zu mit +Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit +Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt« +so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere <em>Numa +Pompilius</em>, der zweite König Roms, und so oft <em>Numa Pompilius</em> +im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt +war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle +Maßen wütend. Denn unter <em>Numa Pompilius</em> war immer <em class="gesperrt">er</em> +gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen +aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre +Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß +eine hohe Behörde<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu +niederträchtig.</p> + +<p><em>Numa Pompilius</em> wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man +hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen, +um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr +um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. <em>Egeria</em> +war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und +man wußte, daß auch der Gerolsteiner <em>Numa Pompilius</em> von einer +Gerolsteiner <em>Egeria</em> beraten wurde.</p> + +<p>Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim +war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung +neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe +hatte es ihm angetan.</p> + +<p>Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht, +wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden +wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie +eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man; +das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte +und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil +eine weise <em>Egeria</em> da war, wurde <em class="gesperrt">er</em> <em>Numa Pompilius</em> +genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal +aufgekommen war, da<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie +schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen +Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines +etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten, +glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie +aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein +nur so gegangen wäre!</p> + +<p>Jetzt war die Analogie mit <em>Numa Pompilius</em> und <em>Egeria</em> erst +recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres +Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier« +auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit <em>Numa +Pompilius</em> nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch +durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe +Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des +Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die +seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten +bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso +streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die +wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen +Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer +Befriedigung voraussetzten — und da war<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> dann eigentlich nichts mehr +zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner +unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die +»Numidier« nun als eine Art Leibgarde für <em>Numa Pompilius</em> +aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man +sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer +der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose +zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und +ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem +auch noch grob anfuhr.</p> + +<p>Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern +nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren +in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein +unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das +erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war +alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden. +Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte +auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war +verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum +er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte +an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> +Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war +polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte +nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war +ganz in der rechten Stimmung dazu.</p> + +<p>So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten +berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und +Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die +Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches +Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung +eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden +Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das +ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden. +Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es +war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald +einsah, daß er als Doktor <em>juris</em> hier nicht zu dem gewünschten +Resultate gelangen werde.</p> + +<p>»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein <em>Medicinae</em> Doktor +her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.«</p> + +<p>»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende +Ministerpräsident.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p> + +<p>»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier +nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen +Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein +niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend +rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine +<em>Dr.</em> Bruckner?«</p> + +<p>Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch +und fertigte das Schreiben an Fridolin ab.</p> + +<p>Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen.</p> + +<p>»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im +klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene +Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?«</p> + +<p>»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz +gewaltig!«</p> + +<p>»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz +haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße +für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig +zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz — es ist nur +natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was +aber sagte der Attentäter?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> + +<p>»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte +genau so wie ich, nur viel gröber.«</p> + +<p>»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie +lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?«</p> + +<p>»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr +geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen, +auch noch verhöhnt!«</p> + +<p>»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns +nicht gefallen zu lassen.«</p> + +<p>»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er +liege auch nicht auf Rosen.«</p> + +<p>»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?«</p> + +<p>»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht +auf die Gasse gehen!«</p> + +<p>»Das ist stark!«</p> + +<p>»Und dann — sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das +eigentlich, ein Pneumatik?«</p> + +<p>»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten +Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.«</p> + +<p>»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich, +das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine +Laterne<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint, da +ich doch keinen Pneumatik habe?«</p> + +<p>»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten — ich glaube, der Mensch hatte +die Vermessenheit, auf das — das Embonpoint Ew. Exzellenz anzuspielen!«</p> + +<p>»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den +Bauch hängen soll?«</p> + +<p>»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.«</p> + +<p>»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!«</p> + +<p>»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben +werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon +sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen +schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose +Ew. Exzellenz als <em>Corpus delicti</em> produzieren, und <em>Dr.</em> +Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über +welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.«</p> + +<p>In diesem Moment meldete der Lakai, daß <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner +um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden.</p> + +<p>»Ach, <em>lucus in fabula</em>!« sagte der Exzellenzherr, er sagte +wirklich »<em>lucus</em>«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend +hinzu.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p> + +<p>Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und +seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er +verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da +richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine +Wort:</p> + +<p>»Hinaus!«</p> + +<p>Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert:</p> + +<p>»Der Mann mit dem Pneumatik!«</p> + +<p>Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort +eine junge Dame mit der Frage bestürmte:</p> + +<p>»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?«</p> + +<p>Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die +junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse — es +war Käthe.</p> + +<p>»Käthe! Du — Sie — gnädiges Fräulein — hier?«</p> + +<p>»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen.</p> + +<p>»Und der da drin ist dein — Ihr — unser Onkel?«</p> + +<p>»Natürlich!«</p> + +<p>»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!«</p> + +<p>»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p> + +<p>»Und die Tante?«</p> + +<p>»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort.</p> + +<p>»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin +ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!«</p> + +<p>Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation +ein vorzeitiges Ende.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<h3>IV.</h3> + +<p>»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime +steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte. +»So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum +Velozipedfahren?«</p> + +<p>»Ich bitte dich — in Gerolstein!«</p> + +<p>»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!«</p> + +<p>»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich +bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich +allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an +dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.«</p> + +<p>»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!«</p> + +<p>»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze +der lieben Straßenjugend<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel +darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen +ausgesucht.«</p> + +<p>»Was gedenkst du nun zu tun?«</p> + +<p>»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!«</p> + +<p>»Mensch, bist du verrückt?!«</p> + +<p>»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich +bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß +dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der +Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht +hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar +noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu +werfen.«</p> + +<p>»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der +Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen +bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer +Radfahrer!«</p> + +<p>»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer +Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den +miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse, +und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im +Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> +tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat. +Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens +auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die +Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.«</p> + +<p>Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf +zusammen.</p> + +<p>»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!«</p> + +<p>»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen +›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen +gefallen!«</p> + +<p>»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.«</p> + +<p>»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹ +begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.«</p> + +<p>»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß +auf den Hals!«</p> + +<p>»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.«</p> + +<p>»Fridolin, man wird dich einsperren!«</p> + +<p>»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt! +Übrigens — die beste Art der Verteidigung ist — anzugreifen. Ich +werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p> + +<p>»Und dann?«</p> + +<p>»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!«</p> + +<p>»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum — +Gerolstein?!«</p> + +<p>»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.«</p> + +<p>»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und +verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!«</p> + +<p>»Eins schließt doch das andere nicht aus!«</p> + +<p>»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!«</p> + +<p>»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel +nicht einen Schafskopf heißen!«</p> + +<p>»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade, +daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen +Sensationsprozeß daraus gemacht!«</p> + +<p>»Das kannst du ja noch, — nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für +mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt +angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen +zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden, +du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu +einer imposanten<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht +schaden.«</p> + +<p>»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!«</p> + +<p>»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch +nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen +aufgelesen hast!«</p> + +<p>»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen +Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es +sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu +prozessieren als für ihn.«</p> + +<p>»Ich könnte« — fuhr der Rechtsanwalt fort — »nun ganz gut das mir von +ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung +übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt +hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt +werde und sich in Wohlgefallen auflöse.«</p> + +<p>»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.«</p> + +<p>»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig +entschuldigen.« —</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<h3>V.</h3> + +<p>So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn +gedacht hatte. Herr Besenbeck, der<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> gebietende Staatsmann, wollte +von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich +verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins +Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen +können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche +gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug +zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu +fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn +kennen lernen.</p> + +<p>Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins +geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein +abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der +kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung +zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen +Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh, +meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt +riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte +Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich +selbst.</p> + +<p>Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht +zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt.</p> + +<p>Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> doch für rätlich, die +Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben.</p> + +<p>»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des +Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich +umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade +der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei.</p> + +<p>»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich +schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen +gibt es keine Einwendungen.«</p> + +<p>»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben +versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht +retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse +—«</p> + +<p>»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen +Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse +stattgefunden hat?«</p> + +<p>»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir +gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.«</p> + +<p>»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon? +Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die +Schleiermachergasse nicht genannt werden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p> + +<p>»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige +Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben +an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als +naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung +in der Schleiermachergasse —«</p> + +<p>»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen +nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand +noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des +Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich +beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu +bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand +und an meine Instruktion zu halten.«</p> + +<p>»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.«</p> + +<p>Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte +sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit +den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines +Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich +mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In +der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria, +— die schöne Baronin Waltersheim<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> wohnte in der Schleiermachergasse! +Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin +nicht mehr schlimm werden.</p> + +<p>»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach +einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß +von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus +geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch +manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen, +und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache +vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß — die +Opposition zerschmettert haben!«</p> + +<p>Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem +eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch +sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte +geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war.</p> + +<p>»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht +wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele. +Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen +doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben +sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> und +das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der +Lohn für unsere Mühe sein!«</p> + +<p>Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des +Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm +verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in +zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch +einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh +tun wollte.</p> + +<p>Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der +»Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt +geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr +ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches +Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der +Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst +überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte.</p> + +<p>Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner +letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau. +Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem +Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich +noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder +»regieren« gehen müsse.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p> + +<p>»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten +das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze! +Unsere Sache steht ausgezeichnet!«</p> + +<p>Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das +Schriftstück vorzulesen, und Arnold las:</p><br> + +<p class="r5">»<em class="gesperrt">Gerolsteiner Radfahrerklub</em></p> +<p class="r15"><em class="gesperrt">›Die Numidier‹.</em></p> +<p> +<span style="margin-left: 1em;">An Se. Hochwohlgeboren Herrn <em>Dr.</em> Arnold Winter,</span><br> +<span style="margin-left: 5em;">Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias</span><br> +<span style="margin-left: 5em;">Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums</span><br> +<span style="margin-left: 5em;">Gerolstein</span><br> +</p> +<p class="r15">in Gerolstein.</p><br> +<p> +<span style="margin-left: 6em;">Hochgeehrter Herr!</span><br> +</p> +<p>Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis +erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz +der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und +Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es +hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten, +ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre +Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein +einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen +vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span> +Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie +Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen +Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.«</p> + +<p>»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las +weiter:</p> + +<p>»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir +begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied +<em class="gesperrt">preisgeben</em>, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig +ist, dem <em class="gesperrt">Strafverfahren anschließen</em>!«</p> + +<p>»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon +haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!«</p> + +<p>»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig +lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las:</p> + +<p>»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses, +daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft +werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung +des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf +der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn <em class="gesperrt">ein</em> +Radfahrer schuldig ist, es doch nicht <em class="gesperrt">alle</em> sind; wir wollen +zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> Sache +machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu +zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere +Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der +nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur +gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich +nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich +dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger +Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der +Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu +umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve +die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission +in die <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em> entsendet werden, damit sie den +Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12 +in der <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em>.«</p> + +<p>»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. — In dem Hause +Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. — Der junge +Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter:</p> + +<p>»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden, +des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an +die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern,<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> sich der +Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur +festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die +Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln. +—«</p> + +<p>»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12 +veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem +Ingrimm. — Arnold las weiter:</p> + +<p>»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht +warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung +zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf, +Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich +in die <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em>! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.«</p> + +<p>Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft.</p> + +<p>»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag +soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren +Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt, +kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel +führen: ›<em class="gesperrt">Die Katastrophe in der Schleiermachergasse</em>‹ — denn +eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer +müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit +Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> soll ihnen gesagt werden, daß +jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe, +nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten +nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren +Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie +Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die +Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte +er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des +Staates erwägend — und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher +sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren +Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz +auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen, +den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung +hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu +wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht +einschlafen zu lassen.</p> + +<p> +<span style="margin-left: 1em;">Mit sportlichem All Heil!</span><br> +<span style="margin-left: 3em;"><em>Dr.</em> A. <em class="gesperrt">Wohlrab</em>, Präsident.</span><br> +<span style="margin-left: 3em;"><em>Dr.</em> Fr. <em class="gesperrt">Bruckner</em>, dzt. Schriftführer.«</span><br> +</p><br> + +<p>»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der +Schriftführer heißt <em>Dr.</em> Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe, +der —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p> + +<p>»Es scheint.«</p> + +<p>»Das ist stark!«</p> + +<p>»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst +den Stab über sich bricht.«</p> + +<p>Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl +etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des +Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das +nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein.</p> + +<p>Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als +ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge +beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr +leutselig:</p> + +<p>»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu +verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen +Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen +nachzugehen.«</p> + +<p>Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das +Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte +»abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, — die Sache sei es +ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn +für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei;<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> +er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich +daran doch gar nicht erinnern!</p> + +<p>Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer +weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der +gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt +werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident, +die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für +wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit +dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität. +Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die +entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine +hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets +eine nachdrückliche Förderung erfahren solle.</p> + +<p>»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man +Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank +und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die +Leidenschaften zu entfesseln.«</p> + +<p>Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende +und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm +nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene +gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen +müsse.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p> + +<p>Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr. +Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die +»Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls, +nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber +der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft +zu bringen.</p> + +<p>»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt.</p> + +<p>»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!«</p> + +<p>»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.«</p> + +<p>»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.«</p> + +<p>»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.«</p> + +<p>»Damit will er sich nicht mehr begnügen.«</p> + +<p>»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?«</p> + +<p>»Das würde er für ungesetzlich halten.«</p> + +<p>»Ja, was in aller Welt will er sonst?«</p> + +<p>»Er will seinen Prozeß.«</p> + +<p>»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug +und berittenen Bannerträgern vielleicht?!«</p> + +<p>»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein +Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p> + +<p>»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten +keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis, +hören Sie — um jeden Preis?!«</p> + +<p>»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich +wage nicht —«</p> + +<p>»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!«</p> + +<p>»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich +kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die +Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich +höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur +von einem Familienmitgliede gefallen lassen.«</p> + +<p>»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und +mir herzaubern!«</p> + +<p>»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies +doch möglich wäre.«</p> + +<p>»Das ist ja ein kompletter Narr!«</p> + +<p>»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt — +sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. — <em>Dr.</em> +Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von +ihr wiedergeliebt.«</p> + +<p>Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann +wieder von sich wie ein Blasebalg.<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> Die mächtige Präsidentenglocke +wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet, +daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe. +Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl.</p> + +<p>»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen +Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn +wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?«</p> + +<p>»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«, +erwiderte Käthe.</p> + +<p>»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!«</p> + +<p>»Den würde ich allerdings nicht nehmen!«</p> + +<p>»Nicht?! Warum nicht?«</p> + +<p>»Weil ich keinen Prinzen will.«</p> + +<p>»So — das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun +aber kein Prinz wäre — aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe, +— wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, — kennst du einen +Herrn <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner?«</p> + +<p>Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja!</p> + +<p>»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?«</p> + +<p>»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die +Staatsräson da verlangen sollte —«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p> + +<p>Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund +aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an +die Brust.</p> + +<p>»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie +ihn küßte.</p> + +<p>Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold +hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte:</p> + +<p>»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und +so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen +Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde +werden würden!«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p> + +<h2>Eine Entlarvung.</h2> +</div> + +<p>Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend +Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten +pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein +industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren, +um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter — seine +einzige Tochter — hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise +angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren +einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem +entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind, +im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles +Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles +natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst +selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde.</p> + +<p>Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden +exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte +Carlo auftauchen.<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Er machte sich also schleunig auf und kam und +sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten +Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen +noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer +unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit +herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte +er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch +zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt +wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das +er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den +»Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt +der Hinauswurf erfolgen.</p> + +<p>Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in +der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten +Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die +beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen +Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und +starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem +Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit +gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen, +mit wunder<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger +Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von +der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und +machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken. +Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen.</p> + +<p>»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.«</p> + +<p>»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte +aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den +gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe.</p> + +<p>»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften +lassen kann.«</p> + +<p>»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich +mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu +wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei +raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!«</p> + +<p>Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er +dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen +Zündhölzchenbehälter mit Feuer.</p> + +<p>»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> + +<p>»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht. +Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!«</p> + +<p>»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.«</p> + +<p>»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind, +beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich +lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters +zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat +manchmal so seine kleinen Launen!«</p> + +<p>»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von +Ihrem hohen Roß herabzusteigen.«</p> + +<p>»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.«</p> + +<p>»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg +in Mähren.«</p> + +<p>»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in +Abrede zu stellen.«</p> + +<p>»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben, +achtundzwanzig.«</p> + +<p>»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir +die achtundzwanzig geglaubt hat.«</p> + +<p>»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie +zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!«</p> + +<p>»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> Jahre habe ich aus +meinem Leben gestrichen, — bleiben genau achtundzwanzig. Ich war +berechtigt dazu. Denn — sagen Sie selbst, Herr Rodebach — so ein +Leben in den Gefängnissen — ist denn das wirklich ein Leben?!«</p> + +<p>»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem +Zimmer zu jagen!«</p> + +<p>»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang, +und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie +also durchaus wollen — bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen +abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das +wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal +die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine +bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, — und +Nervenschocks sind nicht billig!«</p> + +<p>»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der +Verstand stehen!«</p> + +<p>»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf +den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich +gewählt haben. Ich fühle mich — Sie wissen sehr wohl, aus welchen +zarten Rücksichten —«</p> + +<p>»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort <em class="gesperrt">davon</em> zu sprechen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<p>»— verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer +tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was +Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen, +europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben +als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, — +ich beschönige nichts — die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern +der Name Ihres Hauses — reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu +ungleich zu Ihren Ungunsten.«</p> + +<p>»Darin haben Sie allerdings recht!«</p> + +<p>»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und +korrekt zu handeln.«</p> + +<p>»Der edle Stolz eines Gauners!«</p> + +<p>»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß +Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich +<em class="gesperrt">Ihr</em> Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als +Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser +für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge +ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen +Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja, +es spricht sich besser, wenn —«</p> + +<p>»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre.<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> Das Vergnügen, einen +philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße +genossen sein.«</p> + +<p>»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre +Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie +mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel +eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in +Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer +noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern +sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch +einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach. +Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden +Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich +damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt — ich werde keinen unedlen +Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen, +vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven. +Aber ich bitte — entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es +doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte +Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter +verlobt!«</p> + +<p>»Das ist erlogen!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p> + +<p>»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten. +Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der +angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von +schriftlichen Beweisen vorzulegen. — Hat sich mit meiner Tochter +verlobt, hat sie geküßt —«</p> + +<p>»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!«</p> + +<p>»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern. +Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche +Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und +meiner nicht minder hochverehrten Braut.«</p> + +<p>Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte +Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur +Besonnenheit.</p> + +<p>»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren +nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position +als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen +beweisen, daß Sie selbst <em class="gesperrt">mir</em> die Mittel an die Hand gegeben +haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen +hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer +gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin. +Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment +der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Ehrenbeleidigung +erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es +gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes +Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der +Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.«</p> + +<p>»Auf alle Gefahr hin — Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter +Schurke!«</p> + +<p>»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere +Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so +würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern +sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber +hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da +würden Sie heilig eingehen.«</p> + +<p>»Ich würde es darauf ankommen lassen.«</p> + +<p>»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der +Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie +irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten +Angehörigen viel zu hoch.«</p> + +<p>»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!«</p> + +<p>»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht +ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich — ich habe das Herz Ihrer +Tochter gewonnen!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span></p> + +<p>»Reden Sie nichts davon!«</p> + +<p>»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar +werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine +Heilige. Sie hat mich liebgewonnen — ich stelle es unter Beweis! —, +und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht +sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste +Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem +Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie +nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und +ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden +ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben — was weiß +ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, — da kann sie, wenn +sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich +haben ...«</p> + +<p>»Ein Vorurteil — gegen einen Betrüger?!«</p> + +<p>»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht, +daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung +den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf +ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der +Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den — Minder<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> klugen. +Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht +anders im Kampf ums Dasein.«</p> + +<p>»Wie bereits erwähnt — ein philosophischer Gauner!«</p> + +<p>»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und +darum — es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach —, trete ich zurück und +gebe meine Ansprüche auf.«</p> + +<p>»Reden wir deutlich. Was kostet das?«</p> + +<p>»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt. +Ferne sei es von mir —«</p> + +<p>»Keine Redensarten! Was kostet's?«</p> + +<p>»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft —«</p> + +<p>»Der Hochstapelei!«</p> + +<p>»Die Hochstapelei — war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu +hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche +Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube +ich das Auslangen finden zu können.«</p> + +<p>»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.«</p> + +<p>»Mit zweitausend Mark monatlich —«</p> + +<p>»Monatlich?!«</p> + +<p>»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen +Ansprüchen mein Leben<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr +Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen +und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen Preis.«</p> + +<p>»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!«</p> + +<p>»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen. +Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt +erhalte.«</p> + +<p>»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie +in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort +verlautbaren lassen!«</p> + +<p>»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn +ich diese Bedingung nicht einhalte.«</p> + +<p>»Wünschen Sie etwas Schriftliches?«</p> + +<p>»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe +bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste +Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.«</p> + +<p>»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen +werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen +sofort ab.«</p> + +<p>»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> anstandshalber eine kleine +Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, — ich bin +momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht +erlauben —«</p> + +<p>»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken. +Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs — Sie haben nicht schlecht +gelebt, Hofmann!«</p> + +<p>»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich — auf +Ferien war.«</p> + +<p>»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!«</p> + +<p>Eine Verbeugung — und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen +weniger auf der Welt.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein — <em>esprit d'escalier</em>! +Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben +gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und +Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst — zu +spät — erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache +übertragen hätte — er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er +war's auch so zufrieden.</p><br> + +<hr class="full"> +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span></p> + +<p class="s3 p4 center"><b>Wolfgang Lenburg,</b></p><br> + +<p class="s2 center">»Straße 27«.</p> +<p class="center">Aus »Oberlehrer Müller«.</p> +<p><span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span></p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p> + +<p class="p0 center">Mit Genehmigung der Verleger <em class="gesperrt">Gebrüder Paetel</em> in<br> +<em class="gesperrt">Berlin</em> aus <em class="gesperrt">W. Lenburg</em> »<em class="gesperrt">Oberlehrer Müller</em>«.<br> +Gbd. M. 3.—</p> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2>»Straße 27«.</h2> +</div> + +<p>Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit +dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der +Beschämung.</p> + +<p>Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen +können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn +wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe +des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber +war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch +hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie +erster Stock.«</p> + +<p>Wer Berlin <em>W</em>, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu +schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die +Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar +zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete, +Rückkompanie und Kulturmangel.</p> + +<p>»Straße 27!«</p> + +<p>Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> Balkons zum +Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und +darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten +Nasen.</p> + +<p>Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein +Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im +Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung +nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes +Einkommen und manche Nebeneinnahmen!«</p> + +<p>Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch +meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem +Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft!</p> + +<p>Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in +der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich +sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen.</p> + +<p>Welch törichter Aberglaube!</p> + +<p>Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe +der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der +Menschen zu roden.</p> + +<p>Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> hören, daß ich jetzt in +der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist +wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!«</p> + +<p>Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad, +fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur +stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen +auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher +ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« — Rückzahlung bis 1930 +ausgeschlossen — zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich +noch nie von Rönne losgekommen.</p> + +<p>Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, — aber +es ist gar nicht so schlimm!«</p> + +<p>Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch +nicht »da hinten«, sondern in Berlin <em>W</em>. Ja, <em class="gesperrt">wirklich</em>, in +Berlin <em>W</em>, und dicht am Kurfürstendamm.</p> + +<p>Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen +Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen +Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd +aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die +Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p> + +<p>»Holla, siebenundzwanzig — vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der +Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie +steht's?«</p> + +<p>Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit +meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter <em>Dr.</em> Scherbe, ebenso +überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich +den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34 +mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne.</p> + +<p><em>Dr.</em> Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend +die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen +Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie +wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen. +Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so +wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht +passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: <em class="gesperrt">bisher</em>. +<em class="gesperrt">Jetzt</em> aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.«</p> + +<p>»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen +Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›<em>nick-names</em>‹.«</p> + +<p>»Na, Verehrtester,« erwiderte <em>Dr.</em> Scherbe mit beschwichtigender +Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders +denn<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen +›Scherbengericht‹ zu danken? — Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch +als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich +und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher +Nummer.«</p> + +<p>»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen.</p> + +<p>»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein +Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten +Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens +beantragt und durchgesetzt.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht +fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.«</p> + +<p>»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber +ein anderer, <em class="gesperrt">ganz</em> neuer Beiname für Sie gewählt worden, und +zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von <em class="gesperrt">mir</em>.«</p> + +<p>Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in +finsteren Haß zu verwandeln.</p> + +<p>»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem +Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine +merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre +Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die +von den<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug +ich für Sie den Namen ›<em class="gesperrt">Der Taxameter</em>‹ vor.«</p> + +<p>»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit +unverhohlenem Mißbehagen.</p> + +<p>»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd, +»die Kerls haben ja <em class="gesperrt">so</em> gelacht!« — — —</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span></p> + +<h3>Straße 27 erhält endlich einen Namen.</h3> +</div> + +<p>Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch +bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald +nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major +hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen, +doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit +hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium +niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen.</p> + +<p>Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel, +Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier +von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär +a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen.</p> + +<p>Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern +aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten +und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso +bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an +sich geringfügigen<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man +solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen +Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück. +Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein +müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und +Schusters nicht die schuldige Ehre an, »<em class="gesperrt">Hans</em>-Sachs-Straße« +aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn +Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen +Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten, +die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den +Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die +Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem +bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die +Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt +werden.</p> + +<p>Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen +eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts +gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er +nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch +die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle, +den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span> +Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er +selber müsse offen bekennen, daß er von der Mar<em class="gesperrt">litt</em> wohl schon, +aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört +hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch.</p> + +<p>Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja +»einen Komponist schließen« und die Straße »<em class="gesperrt">Marlitt</em>straße« +nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein +Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob +die <em class="gesperrt">Marlitt</em> eine Schuster<em class="gesperrt">tochter</em> war, so sympathisch +ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf +»Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde.</p> + +<p>Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar +manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer +vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände +nur verwechselt hätten, und <em class="gesperrt">der Marlo</em> und <em class="gesperrt">die Marlitt</em> +möglicherweise <em class="gesperrt">eine</em> Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen +gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein +Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer +Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl +er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht +fassen,<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft +aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so +sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller +und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine +Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte +unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel, +dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten +Mamsell«.</p> + +<p>Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja, +es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe +aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden +irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer +Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten.</p> + +<p>Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner <em class="gesperrt">sämtlicher</em> +Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe +<em class="gesperrt">noch</em> Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und +jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest.</p> + +<p>So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und +der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin +durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil +schon recht fidelen Buchstaben<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> namens der versammelten Bewohner der +Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »<em class="gesperrt">Marlittstraße</em>« zu +benamsen, besonders »<em class="gesperrt">in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine +Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte +unserer Dichtkunst zu verdanken haben</em>«.</p> + +<p>Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht +selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber +Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den +ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt.</p> + +<p>Wie der <em class="gesperrt">eigentliche</em> und endgültige Schlußakkord jenes Abends +geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist +nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn +noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und +Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben.</p> + +<p>Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst +am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich +auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel +widerspiegelte. —</p> + +<p>Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die +Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des +alten<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist +er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine +Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, — ihm +ist ein Söhnlein geboren.</p> + +<p>Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem +braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig +in der Marlittstraße wohnen muß.</p> + +<p>Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen +Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen, +und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat +von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen +versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische +Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt.</p> + +<p>Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung: +<em class="gesperrt">Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße</em>.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p> + +<h3>Wir müssen ziehen.</h3> +</div> + +<p>Schade!</p> + +<p>Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist!</p> + +<p>Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden +würde.</p> + +<p>Aber schade ist's doch!</p> + +<p>Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer +Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark +mehr zahlen, — das geht beim besten Willen nicht.</p> + +<p>»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen +Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen +zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches +Eheleben begonnen haben.«</p> + +<p>Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und +weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. —</p> + +<p>Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu +können, das heißt — noch bei <em class="gesperrt">Leb</em>zeiten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p> + +<p>Ach, wir modernen Nomaden!</p> + +<p>Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem +Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch +einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht.</p> + +<p>Wo sie ihr Nest wohl hat? — Sicher nicht an unserem Hause!</p> + +<p>Großstadt und Schwalbennest!</p> + +<p>Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja, +<em class="gesperrt">da</em> war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem +grünumrankten Vaterhause.</p> + +<p>Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater, +der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich, +wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, <em class="gesperrt">der</em> hatte +ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen +gehörte!</p> + +<p>Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die +vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft +der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der +Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und +gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser +schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher +gefiederter Sängerchor!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p> + +<p>Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche +Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und +Gebieter hauste.</p> + +<p>Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde!</p> + +<p>Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht +mein Herz in Sehnsucht schwellen.</p> + +<p>Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden +und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die +Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem +Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie +sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten, +während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle +Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der +scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt.</p> + +<p>Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu +werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine +Wünsche ruhiger und immer ruhiger, — bis sie ihn hinaustrugen aus dem +Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft +hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. — —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p> + +<p>Und <em class="gesperrt">mich</em> hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich +sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem +sonnigen Garten meiner Kindheit.</p> + +<p>Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem +Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und +ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's +jetzt noch recht kämpfen.</p> + +<p>Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe +Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein +Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet +hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt.</p> + +<p>Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. —</p> + +<p>Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen +Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend +entgegenhält.</p> + +<p>Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh +hinausgeschaut in den linden Septembertag?</p> + +<p>»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben +hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> nicht +aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das +Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« —</p> + +<p>Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen +nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden +von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend +und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als +wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten.</p> + +<p>Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken +nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt +»unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte +zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch +empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte.</p> + +<p>»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie +wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz +unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr +Haupt an der Brust des Mannes barg?«</p> + +<p>»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr +wohl.«</p> + +<p>»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint +ihnen so hell wie uns eitel<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> Lust und Freude aus den Augen des kleinen +Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder +zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten +hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? — +Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?«</p> + +<p>Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren +Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an +meiner Brust verborgen und antwortet nicht.</p> + +<p>Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen +und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse +andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein +dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den +Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen.</p> + +<p>»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau +oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und +haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen +Wohnungswechsel freue!</p> + +<p><em class="gesperrt">Gewiß</em> freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie +ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und +<em class="gesperrt">das</em> fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wir +eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich +Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie.</p> + +<p>Wie schön, und welche Ersparnis!</p> + +<p>Oder wenn's nicht <em class="gesperrt">so</em> ist, dann doch immerhin <em class="gesperrt">Aussicht</em> auf +Bäume und Gärten. Oder wenn's auch <em class="gesperrt">das</em> nicht ist, so könnten +wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und +meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen. +Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch +unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist +denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel +meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus.</p> + +<p>Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in +der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben <em class="gesperrt">zur +großen Müdigkeit</em>, die <em class="gesperrt">erworben</em> werden muß, um köstlich zu +erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen +darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.«</p> + +<p>»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche +Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner +literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> da froh und +glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des +täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern, +deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!«</p> + +<p>»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich +so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht +mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte +Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt. +<em class="gesperrt">Doch, doch</em>, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es +gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft +zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.«</p> + +<p>»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich +anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar, +ach, <em class="gesperrt">wenn's</em> doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst +gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach, +und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde? +Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und +Macht gelangen. — Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung, +die dich niederdrückt?«</p> + +<p>»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren,<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> seit welchen ich mich +mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher +entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann +nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja, +<em class="gesperrt">fühlen</em> kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir +auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns +entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich, +<em class="gesperrt">darstellend schaffen</em> — Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich +wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige +sind auserwählt. Und <em class="gesperrt">doch</em> sollen einmal meine Lieder erklingen. +Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme +vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften +Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen +Glanz des Nachruhms hin.</p> + +<p>Und Geld?!</p> + +<p>Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein +kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! — Sieh, wenn wir +uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser +Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles <em class="gesperrt">irdische</em> Gold +entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig +voran!« —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> + +<hr class="tb"> + +<p>Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung, +um unseren Nachfolgern Platz zu machen.</p> + +<p>Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen +ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! — —</p> + +<p>Da klingelt es.</p> + +<p>Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall +aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen +Räumen uns umgibt?</p> + +<p>Soso, nur der Postbote ist's.</p> + +<p>Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt +er mir?</p> + +<p>»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen, +der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück. +Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man +<em class="gesperrt">kann</em> doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!«</p> + +<p>»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine +ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung.</p> + +<p>Nein, — es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist +verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie +nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span></p> + +<p>Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz +blaß aus.</p> + +<p>Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt +hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß +von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur +über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den +Transport verlohnen würden.</p> + +<p>»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen, +Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734 +vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören <em class="gesperrt">uns</em> nun. +<em class="gesperrt">Uns!!</em> Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben +reden!«</p> + +<p>»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen +Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern, +»Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen +auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle +Kulturaufgabe der Schule sein!«</p> + +<p>»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für +mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer +alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's +eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches +Denkmal setzte und über<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein +Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?«</p> + +<p>»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern +legend, »ach, dann wirst du <em class="gesperrt">doch</em> vielleicht noch berühmt.«</p> + +<p>»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon +zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.«</p> + +<p>»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so +überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte, +»das Publikum <em class="gesperrt">wird</em> dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich +an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu:</p> +<p class="r15">»Schon <em class="gesperrt">mir</em> zuliebe.«</p><br> + +<hr class="full"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p> + +<p class="s3 p4 center"><b>Johannes Trojan,</b></p></div> + +<p class="s2 center">Wie man einen Weinreisenden los wird.<br> +Kleine Leiden auf einer Landpartie.<br> +Drei Gedichte.</p><br> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span></p> + +<p class="p0 center">Mit Genehmigung der <em class="gesperrt">J. G. Cotta</em>schen Buchhandlung<br> +Nachfolger in <em class="gesperrt">Stuttgart</em> und <em class="gesperrt">Berlin</em>: »Wie man einen<br> +Weinreisenden los wird« und »Kleine Leiden auf einer Land-<br> +partie« aus »<em class="gesperrt">Johannes +Trojan</em>, <em class="gesperrt">Das Wustrower<br> +Königsschießen</em> u. a. Humoresken«. Gbd.M. 3,—.</p><br> + +<p class="p0 center">»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag aus«<br> +»<em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, <em class="gesperrt">Gedichte</em>«. »Der Oberamtsrichter<br> +von Neckarsulm« aus »<em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, <em class="gesperrt">Scherz-<br> +gedichte</em>«. Gbd. M. 3,50.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span></p> + +<h2>Wie man einen Weinreisenden los wird.</h2> +</div> + +<p>Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß +es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht +unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die +Firma <em class="gesperrt">J. G. Pfropfenberg</em> & Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich +wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde, +bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger +Spannung erwartete ich den jungen Mann.</p> + +<p>Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck +lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief +ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!« +Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl +denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung +setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten +Hauses <em class="gesperrt">Pfropfenberg</em> & Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere +edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p> + +<p>»Halt!« fiel ich ihm ins Wort — »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?«</p> + +<p>»Jawohl«, erwiderte er.</p> + +<p>»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter +denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen +Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten! +Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den +Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten +Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im +Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im +Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum, +geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an +Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in +den Rhein zu stürzen.«</p> + +<p>Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte +einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein +Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein +Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er +eben das Wort ergreifen wollte, zuvor.</p> + +<p>»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p> + +<p>»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...«</p> + +<p>»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich +gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?«</p> + +<p>»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg & Comp., in dessen Auftrag +...«</p> + +<p>»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie +selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen +anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den +Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der +Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter. +Ich selbst — Sie wissen, daß ich Käfersammler bin — möchte manchmal +mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier +tauschen.«</p> + +<p>Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen +Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie +mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma +Pfropfenberg & Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...«</p> + +<p>Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf +an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich +fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p> + +<p>»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen.</p> + +<p>»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?«</p> + +<p>»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit.</p> + +<p>»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich.</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Meyer</em> — <em class="gesperrt">A. H. Meyer</em>!«</p> + +<p>»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald +siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap +führten, dort einen Herrn <em class="gesperrt">Meyer</em> kennen, dem Sie sehr ähnlich +sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt +sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in +keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend, +besonders da auch der Name zutrifft. Dieser <em class="gesperrt">Meyer</em> war +Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine — +warten Sie einmal — richtig! eine geborene <em class="gesperrt">Kloppfleisch</em>. Ein +prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen +ist er auch natürlich älter geworden.«</p> + +<p>Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den +eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir —« +begann er noch einmal.</p> + +<p>»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?«</p> + +<p>»Ja!« stöhnte er.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> + +<p>»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches +Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich +mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?«</p> + +<p>Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« — rief er +mit vor Ärger halb erstickter Stimme — »ich muß mich Ihnen empfehlen. +Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...«</p> + +<p>»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein +anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus +rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr +vorstellte.«</p> + +<p>»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit. +Wenn Sie einen Auftrag ...«</p> + +<p>»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt +wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir +uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule +oder ...«</p> + +<p>Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das +Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich +in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße +hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p> + +<p>Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten +Halteplatz für Droschken zu.</p> + +<p>Ob er wohl wiederkommen wird?</p><br> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2>Kleine Leiden auf einer Landpartie.</h2> +</div> + + +<p>Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn +die Rede auf Landpartien kam — nein! über diese Vergnügungen bin +ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter +Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von +Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang +in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen +und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige +Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen.</p> + +<p>Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige +Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe.</p> + +<p>Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen +Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und +versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann +sie so nicht stehen, also sagen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> Sie mir schnell: was soll geschehen? +Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt, +die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine +einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen +Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von +jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle +auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich +führen. Ein grausamer Barbar endlich — ich verschweige seinen Namen, +obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle — gab den +Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie +werde schon von selbst nachgehüpft kommen!</p> + +<p>Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte +meiner letzten Landpartie erzählen.</p> + +<p>Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius. +Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna +und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom +Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein +Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war +ich und der neunte — doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es +war<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren, +hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend +ausbreiten sollte.</p> + +<p>Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann +auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen +absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten« +angetreten.</p> + +<p>In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr +romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen. +Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot +sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine +große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich +seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem +Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes +saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über +der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten +unten fand folgendes Wechselgespräch statt.</p> + +<p>»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte.</p> + +<p>»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es +von oben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p> + +<p>»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen +Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.«</p> + +<p>»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker +herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume? +Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine +wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es +mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld +auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück +gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß +man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom +Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?«</p> + +<p>Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten, +um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der +an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei, +betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er +ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er +entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen.</p> + +<p>Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn +nicht der Steuerrat und<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen +und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen +Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der +zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es +denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen +»draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat. +Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen +hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der +Gesellschaft anzuschließen.</p> + +<p>Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht +unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem +eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich +den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der +lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte, +vollständig ausgedacht und erlogen war.</p> + +<p>Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie +einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß +was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören. +Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag +machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß +zu<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der +Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie +die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit +er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte.</p> + +<p>Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains +vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und +spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen +die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings +recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns +öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die +gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und +anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst. +Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits +waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu +Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem +Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf +das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife +Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches +hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem +alten<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum +großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende +Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen +Richtungen hin gepriesen wurde.</p> + +<p>Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben, +als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach +Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen +wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen +Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über +Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...«</p> + +<p>»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit +sein.«</p> + +<p>»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie — bis +Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen +höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig. +Das macht zusammen noch keine Stunde.«</p> + +<p>»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat.</p> + +<p>»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will +ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest +ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> der in +hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.«</p> + +<p>Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen +wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen.</p> + +<p>Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist, +sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn +es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so +war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich +erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten, +einen steglosen Bach — den die Damen auf hineingelegten Steinen +überschreiten mußten — und einen Bruchacker zu passieren hatten. +Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen +Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der +Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte +er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über +Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.«</p> + +<p>»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir +noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an +der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p> + +<p>Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer +menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain +fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner, +und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte +Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag.</p> + +<p>Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte +und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder +Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe +Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker +fragend an.</p> + +<p>»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas +mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch +oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch +das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen +Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine +sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits +Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.«</p> + +<p>Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt +erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span> +noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten.</p> + +<p>»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts +abbiegen.«</p> + +<p>Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort +ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige +Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir +in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo +sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten +versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese. +Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen +kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten +Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging +voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb. +Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß.</p> + +<p>»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er. +»Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.«</p> + +<p>»Ei, zum —« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte +ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß +derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> mein +Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie! +helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!«</p> + +<p>Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten +Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein +Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der +einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte +eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und +anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief +der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben +wir endlich den Spitzbuben gefangen!«</p> + +<p>»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen.</p> + +<p>Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb +gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich +festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den +Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt +werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke +die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es +war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht +der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um +mich nach<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete, +das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens +Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß +er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem +Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der +Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war. +Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher +inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns +vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen +Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich +nachher bestätigt.</p> + +<p>Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich +nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der +Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte, +bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus +dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach +dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde.</p> + +<p>Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich +mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem +Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> Jammern und +Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt +waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden +Fuhrmannsschenke, anlangten.</p> + +<p>Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen, +dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich +der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu +finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit +nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?« +sagte der Steuerrat.</p> + +<p>»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte +Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.«</p> + +<p>»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das +Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.«</p> + +<p>Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch +Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach.</p> + +<p>»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen.</p> + +<p>»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker +zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet! +Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun +sollen!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p> + +<p>Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die +Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich +öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten +Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde. +Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt, +von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert.</p> + +<p>»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde.</p> + +<p>»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte.</p> + +<p>Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich +durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß +er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte. +Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals +über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen +geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte +das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben +zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«, +schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als +hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht, +ob es<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich +ihn auf keinem meiner beiden Arme.«</p> + +<p>»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich +wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem +strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich +möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.«</p> + +<p>Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein +wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine +Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns +auf den Weg nach der Bahnstation.</p> + +<p>Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns +hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte +die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun +eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so +oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken.</p> + +<p>Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen +Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit +ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir +zu Hause an.</p> + +<p>Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> ging ich am Stock, ein +ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß.</p> + +<p>Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese +Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie +werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines. +Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den +Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer — lassen Sie +ihn doch ja in der Kiefer sitzen!</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2>Männertreue und Weiberkrieg.</h2> +</div> + +<p class="center"><em>Veronica chamaedrys</em> und <em>Ononis spinosa</em>.</p> + +<p> +<span style="margin-left: 14em;"><em class="gesperrt">Die Frau spricht</em>:</span> +</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Es ist ein Kräutlein, heißt Männertreu,</div> + <div class="verse indent2">In jedem Frühling blüht es aufs neu.</div> + <div class="verse indent2">Am Waldrand steht es und auf der Au</div> + <div class="verse indent2">Und Blumen trägt es, anmutig blau.</div> + <div class="verse indent2">Doch pflückst davon du dir einen Strauß,</div> + <div class="verse indent2">Nicht eine Blume bringst du nach Haus.</div> + <div class="verse indent2">Herunter fallen sie gar geschwind,</div> + <div class="verse indent2">Schon unterwegs weht sie ab der Wind.</div> + <div class="verse indent2">Des Kräutleins Name, der ist nicht schlecht,</div> + <div class="verse indent2">Und seinen Namen trägt es mit Recht.</div> + <div class="verse indent2">Den Männern sag' ich es ins Gesicht:</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">So sind sie alle — nur meiner nicht!</em></div> + </div> +</div> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p> +</div> +<p> +<span style="margin-left: 14em;"><em class="gesperrt">Der Mann spricht</em>:</span> +</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ein Kräutlein ist Weiberkrieg genannt,</div> + <div class="verse indent2">Das wächst auf Anger und Heideland.</div> + <div class="verse indent2">Da siehst du blühen es weit und breit</div> + <div class="verse indent2">Schön weiß und rot um die Sommerszeit.</div> + <div class="verse indent2">Doch will ich raten dir: Laß es stehn!</div> + <div class="verse indent2">Mit hundert Häkchen ist es versehn,</div> + <div class="verse indent2">Verletzt die Hände dir, hemmt den Schritt,</div> + <div class="verse indent2">Viel Ärger hast du und Not damit.</div> + <div class="verse indent2">Das ist so recht ja der Weiber Art,</div> + <div class="verse indent2">Ob sie auch lieblich sonst sind und zart,</div> + <div class="verse indent2">Sie sind ein Kräutlein, das kratzt und sticht.</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">So sind sie alle — nur meines nicht!</em></div> + </div> +</div> +</div> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2>Der Glückstag.</h2> +</div> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ich war am Morgen</div> + <div class="verse indent2">So frohen Mutes,</div> + <div class="verse indent2">Als müßt' begegnen</div> + <div class="verse indent2">Mir etwas Gutes.</div> + <div class="verse indent2">Wohlan, es komme</div> + <div class="verse indent2">Das Glück gegangen!</div> + <div class="verse indent2">Bereit hier sitz' ich,</div> + <div class="verse indent2">Es zu empfangen.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Da kam ein Brief,</div> + <div class="verse indent2">Den die Post mir brachte,</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ich brach ihn auf, sah</div> + <div class="verse indent2">Hinein und lachte.</div> + <div class="verse indent2">Logierbesuch will</div> + <div class="verse indent2">Ins Haus mir kommen:</div> + <div class="verse indent2">Sei er mit Jubel</div> + <div class="verse indent2">Denn aufgenommen!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Drauf kam ein Mann, um</div> + <div class="verse indent2">Von mir zu borgen,</div> + <div class="verse indent2">Obwohl ich selbst war</div> + <div class="verse indent2">Bedrängt von Sorgen.</div> + <div class="verse indent2">Daß er auf mich sein</div> + <div class="verse indent2">Vertrauen setzte,</div> + <div class="verse indent2">Rührt' mich, ich gab ihm</div> + <div class="verse indent2">Sorglos das Letzte.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Nun eine Zeitung</div> + <div class="verse indent2">Nahm in die Hand ich,</div> + <div class="verse indent2">Darin auf mich was</div> + <div class="verse indent2">Geschrieben fand ich,</div> + <div class="verse indent2">Was Böses, Arges.</div> + <div class="verse indent2">Wie das mich freute!</div> + <div class="verse indent2">Seht, so beachten mich</div> + <div class="verse indent2">Doch die Leute!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ich war noch immer</div> + <div class="verse indent2">Bei frohem Mute,</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Als müßte kommen</div> + <div class="verse indent2">Noch andres Gute.</div> + <div class="verse indent2">Um mehr des Glückes</div> + <div class="verse indent2">Noch zu empfangen,</div> + <div class="verse indent2">Bin aus dem Haus ich</div> + <div class="verse indent2">Hinausgegangen.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Da überfiel mich</div> + <div class="verse indent2">Mit Donnerschlägen,</div> + <div class="verse indent2">Mich Unbeschirmten,</div> + <div class="verse indent2">Ein heft'ger Regen.</div> + <div class="verse indent2">Dem Himmel dankt' ich,</div> + <div class="verse indent2">Daß er uns schenkte</div> + <div class="verse indent2">Willkommenes Naß</div> + <div class="verse indent2">Und die Saaten tränkte.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Von einem Fenster-</div> + <div class="verse indent2">Brett fiel ein bunter</div> + <div class="verse indent2">Tontopf mit Nelken</div> + <div class="verse indent2">Auf mich herunter.</div> + <div class="verse indent2">Doch meinen Hut nur</div> + <div class="verse indent2">Hat er zertrümmert,</div> + <div class="verse indent2">Heil blieb ich selber</div> + <div class="verse indent2">Und unbekümmert.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Nach Hause eilt' ich,</div> + <div class="verse indent2">Da sah ich jagen</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Scharf um die Ecke</div> + <div class="verse indent2">'nen Schlächterwagen.</div> + <div class="verse indent2">Zu Boden riß er</div> + <div class="verse indent2">Mich freilich nieder,</div> + <div class="verse indent2">Doch kaum verletzt sprang</div> + <div class="verse indent2">Empor ich wieder.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Allmählich wurde</div> + <div class="verse indent2">Der Himmel heller;</div> + <div class="verse indent2">Nach Hause hinkt' ich,</div> + <div class="verse indent2">Stieg in den Keller,</div> + <div class="verse indent2">Holt' eine Flasche</div> + <div class="verse indent2">Mit gutem Weine.</div> + <div class="verse indent2">Wohl mir, ich hatte</div> + <div class="verse indent2">Just noch die eine.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Zusammen rief ich</div> + <div class="verse indent2">Darauf die Meinen,</div> + <div class="verse indent2">Mit mir im Jubel</div> + <div class="verse indent2">Sich zu vereinen.</div> + <div class="verse indent2">Kommt her und trinket,</div> + <div class="verse indent2">Seid frohen Mutes!</div> + <div class="verse indent2">Mir ist begegnet heut</div> + <div class="verse indent2">So viel Gutes.</div> + </div> +</div> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p> +<h2>Der Oberamtsrichter von Neckarsulm.</h2> +</div> + +<p class="s5">(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren +verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer +bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.)</p> + + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Das war ein kernfest tüchtiger Mann,</div> + <div class="verse indent2">Von dem man Bestes melden kann,</div> + <div class="verse indent2">Von Gliedern stark, an Geist gesund,</div> + <div class="verse indent2">Was Zier des Manns ist, war ihm kund.</div> + <div class="verse indent2">In mancher Kunst war er geübt,</div> + <div class="verse indent2">Und ob's noch solche Zecher gibt,</div> + <div class="verse indent2">Wie er war — zweifelhaft ist das!</div> + <div class="verse indent2">Er saß so fest beim Römerglas,</div> + <div class="verse indent2">Er war von echter deutscher Art,</div> + <div class="verse indent2">So mild und doch wie Stahl so hart,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Einst kam er wandernd an den Rhein,</div> + <div class="verse indent2">Der war beglänzt von hellem Schein,</div> + <div class="verse indent2">Von untergehnder Sonne Glut.</div> + <div class="verse indent2">»Fürwahr, ein Bad wär' gar zu gut!</div> + <div class="verse indent2">Es kann ja gar so schlimm nicht sein,</div> + <div class="verse indent2">Heut noch zu schwimmen durch den Rhein</div> + <div class="verse indent2">Und wieder hier ans Land zurück —</div> + <div class="verse indent2">Das nenn' ich noch kein Wagestück!«</div> + <div class="verse indent2">Die Kleider wirft er ab sogleich</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Und birgt sie unter dem Gesträuch,</div> + <div class="verse indent2">Drauf in den Strom wirft er sich kühn,</div> + <div class="verse indent2">Der faßt mit starken Armen ihn.</div> + <div class="verse indent2">Er regt die Glieder frisch und keck,</div> + <div class="verse indent2">Kommt anfangs auch recht gut vom Fleck;</div> + <div class="verse indent2">Doch mählich wächst des Stromes Kraft,</div> + <div class="verse indent2">Gewaltig wird er, riesenhaft,</div> + <div class="verse indent2">Kämpft mit dem Mann und reißt ihn mit,</div> + <div class="verse indent2">Hinunter wohl manch hundert Schritt;</div> + <div class="verse indent2">Der wehrt sich auch, so gut er kann:</div> + <div class="verse indent2">So kämpfen beide, Strom und Mann,</div> + <div class="verse indent2">Und miteinander ringen sie,</div> + <div class="verse indent2">Bis daß zuletzt mit vieler Müh'</div> + <div class="verse indent2">Das andre Ufer er erreicht,</div> + <div class="verse indent2">Der Mann. »Das war, bei Gott, nicht leicht!</div> + <div class="verse indent2">Ich traf den Rhein nicht häufig so.«</div> + <div class="verse indent2">Er spricht es, seiner Landung froh,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Da steht er nun am Uferrand,</div> + <div class="verse indent2">Die Gegend ist ihm nicht bekannt.</div> + <div class="verse indent2">Schon dunkel ist's, er nackt und bloß!</div> + <div class="verse indent2">Traun, die Verlegenheit ist groß.</div> + <div class="verse indent2">Zurück zu schwimmen durch den Rhein,</div> + <div class="verse indent2">Darauf lass' sich ein andrer ein!</div> + <div class="verse indent2">Er spürt, er weiß, das wär' nicht gut,</div> + <div class="verse indent2">Ob's ihm auch sonst nicht fehlt an Mut.</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Die Kleider drüben und der Fluß</div> + <div class="verse indent2">Dazwischen — o welch ein Verdruß!</div> + <div class="verse indent2">Wohin jetzt lenkt er seinen Lauf?</div> + <div class="verse indent2">Wer nimmt den neuen Adam auf?</div> + <div class="verse indent2">Da sieht ein Licht er gar nicht weit,</div> + <div class="verse indent2">Schleicht unterm Schirm der Dunkelheit</div> + <div class="verse indent2">Hinan sich. »Ha, ein Wirtshaus! Dort</div> + <div class="verse indent2">Helf' ich mir jetzt schon weiter fort.«</div> + <div class="verse indent2">Er lauscht. »Horch! Heller Gläserklang!</div> + <div class="verse indent2">Jetzt unverzagt! Jetzt nur nicht bang!«</div> + <div class="verse indent2">Ein wenig öffnet er die Tür</div> + <div class="verse indent2">Und ruft: »Ein Mann in Not ist hier!</div> + <div class="verse indent2">Reicht, Freunde, mir, ich bitt' euch sehr,</div> + <div class="verse indent2">Ein Bettuch oder Tischtuch her!</div> + <div class="verse indent2">Das reicht zu meiner Rettung hin.</div> + <div class="verse indent2">Habt keine Furcht vor mir, ich bin</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.«</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Das Linnen wird ihm hingereicht,</div> + <div class="verse indent2">Er hüllt sich ein darin — nun gleicht</div> + <div class="verse indent2">Er einem alten Römer fast.</div> + <div class="verse indent2">Ins Zimmer tritt der werte Gast:</div> + <div class="verse indent2">»Ihr Herrn, die ihr da sitzt beim Wein,</div> + <div class="verse indent2">Verzeiht, daß ich so spät erschein'</div> + <div class="verse indent2">Und in so seltsamem Kostüm!</div> + <div class="verse indent2">Das macht des Rheines Ungestüm,</div> + <div class="verse indent2">Der her mich ließ, doch nicht zurück.</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Ein Licht erblickt' ich hier zum Glück</div> + <div class="verse indent2">Und lenkte zu ihm meinen Schritt.</div> + <div class="verse indent2">Wenn ihr's erlaubt, zech' ich jetzt mit.</div> + <div class="verse indent2">Mich hat das Schwimmen müd' gemacht,</div> + <div class="verse indent2">Mich überkam dabei die Nacht,</div> + <div class="verse indent2">Nun schaudert mich bis tief ins Mark.</div> + <div class="verse indent2">Wein her! Wein her! Mein Durst ist stark.«</div> + <div class="verse indent2">Da stehn sie all ehrfürchtig auf,</div> + <div class="verse indent2">Platz machend ihm. Der Wirt darauf</div> + <div class="verse indent2">Bringt ihm den Wein und füllt sein Glas:</div> + <div class="verse indent2">»Trinkt, lieber Herr! Wohl tu' Euch das!«</div> + <div class="verse indent2">Er hebt das Glas und leert's und spricht:</div> + <div class="verse indent2">»Der Rhein meint's doch so übel nicht,</div> + <div class="verse indent2">Daß er mich warf an diesen Strand!</div> + <div class="verse indent2">Hier fühl' ich mich in guter Hand;</div> + <div class="verse indent2">Der Ort gefällt mir und der Wein.«</div> + <div class="verse indent2">Er spricht's und schenkt sich fröhlich ein,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Da fiel beim Trunk manches gutes Wort,</div> + <div class="verse indent2">Denn wackere Zecher saßen dort.</div> + <div class="verse indent2">Der Wirt bedient mit allem Fleiß,</div> + <div class="verse indent2">Daß von der Stirn ihm troff der Schweiß.</div> + <div class="verse indent2">Sein Amt ihm harte Arbeit schuf,</div> + <div class="verse indent2">Denn unaufhörlich scholl der Ruf</div> + <div class="verse indent2">Von irgendeiner Seite her:</div> + <div class="verse indent2">»Wein her! Wein her! Ich hab' nichts mehr.«</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Als spät es ward, nach alter Sitt'</div> + <div class="verse indent2">Man zu den bessern Sorten schritt,</div> + <div class="verse indent2">Von Jahrgang sich zu Jahrgang schwang</div> + <div class="verse indent2">Bis zu dem Wein von erstem Rang.</div> + <div class="verse indent2">Da funkeln Augen, Wangen glühn,</div> + <div class="verse indent2">Weinrosen purpurrot erblühn.</div> + <div class="verse indent2">Nun sitzt erst da voll Herrlichkeit</div> + <div class="verse indent2">Der Mann im weißen Römerkleid.</div> + <div class="verse indent2">Vor sich die Flaschenburg erbaut,</div> + <div class="verse indent2">Stolz er das Ganze überschaut</div> + <div class="verse indent2">Und spricht mit Kraft und trinkt und trinkt.</div> + <div class="verse indent2">Wie wohlgemut das Glas er schwingt,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Und wie es spät und später wird,</div> + <div class="verse indent2">Die Eule schon zu Neste schwirrt,</div> + <div class="verse indent2">Da wird doch manch ein Zecher still;</div> + <div class="verse indent2">Die Hand nicht mehr gehorchen will,</div> + <div class="verse indent2">Und wie ein Mohnhaupt regenschwer</div> + <div class="verse indent2">Zur Seite sinkt, so hält nicht mehr</div> + <div class="verse indent2">Sich aufrecht, von der Last gebeugt,</div> + <div class="verse indent2">Manch Haupt, vom Weine schwer; es neigt</div> + <div class="verse indent2">Sich auf den Tisch und ruht da fest,</div> + <div class="verse indent2">Und ungetrunken bleibt ein Rest.</div> + <div class="verse indent2">Die Hähne krähn, der Morgen graut,</div> + <div class="verse indent2">Der Tag fahl in die Fenster schaut.</div> + <div class="verse indent2">Da sitzt noch einer ganz allein,</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Der Weißumhüllte, wach beim Wein.</div> + <div class="verse indent2">Er füllt sein Glas und trinkt es leer —</div> + <div class="verse indent2">»Will denn kein andrer trinken mehr?</div> + <div class="verse indent2">Hat alles schon so früh versagt,</div> + <div class="verse indent2">Da es ja doch erst eben tagt,</div> + <div class="verse indent2">Und noch des Weins da ist genug?«</div> + <div class="verse indent2">Er sprach's und tat manch tiefen Zug,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Hell in die Fenster scheint der Tag,</div> + <div class="verse indent2">Sich schier darob verwundern mag,</div> + <div class="verse indent2">Was in der Gaststub' er erblickt.</div> + <div class="verse indent2">Da schlafen, übern Tisch gebückt,</div> + <div class="verse indent2">Alle bis auf einen — dieser spricht:</div> + <div class="verse indent2">»Jetzt duldet's mich hier länger nicht.</div> + <div class="verse indent2">Kein Mensch ist da, der mit mir trinkt,</div> + <div class="verse indent2">Das Schnarchen mir unlieblich klingt,</div> + <div class="verse indent2">Des Weines find' ich auch nichts mehr;</div> + <div class="verse indent2">Den Wirt zu wecken, scheint mir schwer,</div> + <div class="verse indent2">Drum will ich gehn. Die hier ihr ruht,</div> + <div class="verse indent2">Ihr Schläfer all, bekomm's euch gut!«</div> + <div class="verse indent2">Er spricht's, von seinem Platze steht</div> + <div class="verse indent2">Er auf und ohne Schwanken geht</div> + <div class="verse indent2">Er hin zur Tür und tritt hinaus.</div> + <div class="verse indent2">Wie sieht die Welt seltsamlich aus!</div> + <div class="verse indent2">In Glut getaucht sind Wald und Bühl,</div> + <div class="verse indent2">Und doch weht es ihn an so kühl —</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Zum Ufer schreitet er sodann,</div> + <div class="verse indent2">Da steht bei seinem Kahn ein Mann.</div> + <div class="verse indent2">»Hier find' ich, was mir eben not,</div> + <div class="verse indent2">Schau' einen Fährmann und ein Boot!</div> + <div class="verse indent2">Freund, fahrt Ihr mich wohl übern Rhein?«</div> + <div class="verse indent2">Der staunt, doch sagt er: »Steigt nur ein!«</div> + <div class="verse indent2">Vollendet glücklich ist die Fahrt;</div> + <div class="verse indent2">Die Kleider hat der Strauch bewahrt.</div> + <div class="verse indent2">Sie anzulegen wird ihm leicht,</div> + <div class="verse indent2">Das Lailach er dem Schiffer reicht.</div> + <div class="verse indent2">»Bringt dies zurück dem Wirt im Stern,</div> + <div class="verse indent2">Grüßt ihn und grüßt die guten Herrn,</div> + <div class="verse indent2">Die ich dort antraf, jung und alt.</div> + <div class="verse indent2">Dem Wirte sagt, ich käme bald</div> + <div class="verse indent2">Ihm zu bezahlen meine Schuld —</div> + <div class="verse indent2">Ein wenig wohl hätt' er Geduld.</div> + <div class="verse indent2">Und dies hier ist für dich, mein Sohn!«</div> + <div class="verse indent2">Er gibt dem Mann gar guten Lohn</div> + <div class="verse indent2">Und geht davon aufrecht und stolz</div> + <div class="verse indent2">Durch Feld und Flur, durchs duft'ge Holz</div> + <div class="verse indent2">Grad' aus auf eine gute Stadt.</div> + <div class="verse indent2">Welch einen tücht'gen Schritt er hat,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div> + </div> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Er zecht nicht mehr vom vollen Faß,</div> + <div class="verse indent2">Er schwingt nicht mehr das Römerglas,</div> + <div class="verse indent2">Er atmet nicht mehr goldne Luft,</div> + </div> +</div> +</div> +<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span></p> +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent2">Längst ruht er schon in kühler Gruft.</div> + <div class="verse indent2">Doch wo vereint beim goldnen Wein</div> + <div class="verse indent2">Sitzt eine Zecherschar am Rhein,</div> + <div class="verse indent2">Da wird um manche Mitternacht</div> + <div class="verse indent2">In Ehren seiner noch gedacht.</div> + <div class="verse indent2">Da heißt's: Klingt mit den Gläsern an!</div> + <div class="verse indent2">Ihm gilt's! Das war ein wackrer Mann,</div> + <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div> + </div> +</div> +</div> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p> +<p class="center">Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig.</p><br> +</div> + +<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt +findet man nicht ihresgleichen.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_2" href="#FNAnker_2" class="label">[2]</a> »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum +mir diese Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_3" href="#FNAnker_3" class="label">[3]</a> »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_4" href="#FNAnker_4" class="label">[4]</a> »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!«</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_5" href="#FNAnker_5" class="label">[5]</a> heiser.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_6" href="#FNAnker_6" class="label">[6]</a> wann.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_7" href="#FNAnker_7" class="label">[7]</a> Flut.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_8" href="#FNAnker_8" class="label">[8]</a> Lumpenpuppe.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_9" href="#FNAnker_9" class="label">[9]</a> Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_10" href="#FNAnker_10" class="label">[10]</a> Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_11" href="#FNAnker_11" class="label">[11]</a> Fußspuren.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_12" href="#FNAnker_12" class="label">[12]</a> naßwischen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_13" href="#FNAnker_13" class="label">[13]</a> Bürste.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_14" href="#FNAnker_14" class="label">[14]</a> Lumpen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_15" href="#FNAnker_15" class="label">[15]</a> Kessel.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_16" href="#FNAnker_16" class="label">[16]</a> steuern.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_17" href="#FNAnker_17" class="label">[17]</a> anschmeicheln.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_18" href="#FNAnker_18" class="label">[18]</a> Kapitän sein.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_19" href="#FNAnker_19" class="label">[19]</a> ihnen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_20" href="#FNAnker_20" class="label">[20]</a> Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_21" href="#FNAnker_21" class="label">[21]</a> unruhig.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_22" href="#FNAnker_22" class="label">[22]</a> Zeichen, daß die Flut eintritt.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_23" href="#FNAnker_23" class="label">[23]</a> Taschenkrebs.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_24" href="#FNAnker_24" class="label">[24]</a> Übereilen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_25" href="#FNAnker_25" class="label">[25]</a> kleiner Damm.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_26" href="#FNAnker_26" class="label">[26]</a> Mittelamerika.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_27" href="#FNAnker_27" class="label">[27]</a> Affen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_28" href="#FNAnker_28" class="label">[28]</a> Pantoffeln.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_29" href="#FNAnker_29" class="label">[29]</a> d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_30" href="#FNAnker_30" class="label">[30]</a> Wer.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_31" href="#FNAnker_31" class="label">[31]</a> klug.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_32" href="#FNAnker_32" class="label">[32]</a> Scherz.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_33" href="#FNAnker_33" class="label">[33]</a> Der quer durch den Strom schifft.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_34" href="#FNAnker_34" class="label">[34]</a> Teil.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_35" href="#FNAnker_35" class="label">[35]</a> Launen.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_36" href="#FNAnker_36" class="label">[36]</a> Dicker.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_37" href="#FNAnker_37" class="label">[37]</a> Ruß.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_38" href="#FNAnker_38" class="label">[38]</a> Rahmtorten.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_39" href="#FNAnker_39" class="label">[39]</a> mit Petroleummotor.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_40" href="#FNAnker_40" class="label">[40]</a> Wie siehst du aus?</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_41" href="#FNAnker_41" class="label">[41]</a> Bataten.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_42" href="#FNAnker_42" class="label">[42]</a> lügt.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_43" href="#FNAnker_43" class="label">[43]</a> Naseweis.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_44" href="#FNAnker_44" class="label">[44]</a> Rahm.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_45" href="#FNAnker_45" class="label">[45]</a> verdrießlich.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_46" href="#FNAnker_46" class="label">[46]</a> Trog.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_47" href="#FNAnker_47" class="label">[47]</a> Zeugklammern.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_48" href="#FNAnker_48" class="label">[48]</a> Spaßmacher.</p> + +</div> + +<div class="footnote"> + +<p><a id="Fussnote_49" href="#FNAnker_49" class="label">[49]</a> schwärmen, herumlaufen.</p> + +</div> +</div> + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75693-h/images/cover.jpg b/75693-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4b065d9 --- /dev/null +++ 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