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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-03-23 08:21:03 -0700
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--- /dev/null
+++ b/75693-0.txt
@@ -0,0 +1,6899 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***
+
+
+
+=======================================================================
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+ Anmerkungen zur Transkription.
+
+Das Original ist in Fraktur gesetzt. Die Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind
+stillschweigend korrigiert worden.
+
+Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~.
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+=======================================================================
+
+
+ [Illustration]
+
+
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+ Vom köstlichen
+ Humor
+
+
+ Eine Auslese aus der
+ humoristischen Literatur
+ alter und neuer Zeit
+
+
+ Herausgegeben von
+ Ludwig Fürstenwerth
+
+ [Illustration]
+
+ Leipzig
+ Hesse & Becker Verlag
+
+
+
+
+
+ Inhalt.
+
+
+ Seite
+
+ Über Verfasser und Inhalt 7
+
+ ~Carl Beyer~, Stanislaus Wetterwetzer 9
+
+ --"--, Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten 46
+
+ ~Ilse Frapan~, Dat Undeert 65
+
+ ~Balduin Groller~, Die Tante und der Onkel 145
+
+ --"--, Eine Entlarvung 214
+
+ ~Wolfgang Lenburg~, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer
+ Müller« 227
+
+ ~Johannes Trojan~, Wie man einen Weinreisenden
+ los wird 253
+
+ --"--, Kleine Leiden auf einer Landpartie 260
+
+ --"--, Drei Gedichte:
+
+ Männertreue und Weiberkrieg 275
+
+ Der Glückstag 276
+
+ Der Oberamtsrichter von Neckarsulm 280
+
+
+
+
+ Über Verfasser und Inhalt.
+
+
+Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen
+Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach
+vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im
+Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche
+Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit,
+deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an
+den Rhein und die Donau erstreckt.
+
+Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters
+Fußstapfen zu treten. ~Carl Beyer~, der Pfarrer a. D., der in
+Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus
+nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist
+historische Stoffe behandelt -- Reuters Geist und Humor steckt in dem
+Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden
+sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes
+Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer
+aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen
+Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück
+auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze,
+begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang
+leicht ergeben. --
+
+~Ilse Frapans~ »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und
+zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher
+Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen
+wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne
+aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter
+glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den
+Kinderszenen -- am Schlusse »kriegen« sie sich. --
+
+Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners ~Balduin
+Groller~ in der noch nicht in Buchform erschienenen humoristischen
+Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der
+alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf
+dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine
+knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema,
+den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme
+gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll
+etwas leichtes Gepäck nicht fehlen.
+
+Dazu gehört auch ~Wolfgang Lenburgs~ Skizzensammlung »Oberlehrer
+Müller« -- unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner
+Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen --, aus der hier eine
+Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße
+27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer
+Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die
+leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht,
+der Oberlehrerton ist echt.
+
+~Johannes Trojan~, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der
+auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen
+Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung
+des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan,
+und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des
+Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und
+andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie
+man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den
+Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch
+bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die
+Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der
+Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch
+solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen.
+
+
+
+
+ Carl Beyer,
+
+ Stanislaus Wetterwetzer.
+
+ Aus Wilhelm Pickhingsts
+ Kriegsfahrten.
+
+
+ Mit Genehmigung des Verlages Fr. ~Bahn~ in ~Schwerin~ i.
+ Meckl. aus »~C. Beyer, Stane und Stine~«, gbd. M. 1.--, und aus
+ »~Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten~«, kart. M. 1.--.
+
+
+
+
+ Stanislaus Wetterwetzer.
+
+
+»Guten Tag, Herr Pastor! -- Da bin ich, Herr Pastor!«
+
+Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war
+und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden
+zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell
+noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem
+Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte
+also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch
+wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken
+auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären
+sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen
+echten Landstreicher vor sich hatte.
+
+»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich
+und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur
+darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?«
+
+»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze
+wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick
+von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie
+noch, Herr Pastor? -- In Altstädt, Herr Pastor? -- Weihnachten, Herr
+Pastor? -- Da bin ich, Herr Pastor.«
+
+Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem
+Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften
+Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die
+Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich
+gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und
+leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen,
+wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen
+erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer
+Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los
+und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt
+aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich
+auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern
+andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem
+Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige
+Gesichter war die Bewegung wie plötzliches Blitzezucken gegangen, die
+meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten
+die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm
+stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher
+Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm
+beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren
+seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der
+die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten,
+war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere
+dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm.
+
+Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten
+glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die
+Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich,
+Herr Pastor, bitt' schön. -- Auf mich selbst kann ich mich gar nicht
+verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen,
+er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte
+inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um
+den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam
+merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein.
+
+Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn
+offenbar hatte der Rock kein Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,«
+sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff
+nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte
+er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin.
+
+»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das
+heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der
+Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?«
+
+»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr
+Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.«
+
+Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos -- gelernt beim Vater als
+Kaufmann im Materialgeschäft -- nach dessen Tode hier und dort
+beschäftigt, endlich dienstpflichtig -- gerade noch so eben das Maß
+-- allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren -- stets Störung
+einer tadellosen Front -- Strafen mit Nachexerzieren, -- schlecht
+schießen, weil das Gewehr zu schwer -- Kugel suchen, Tornister mit
+Steinen tragen -- »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht
+gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.«
+
+»Das heißt, Sie desertierten.«
+
+»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher
+meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin
+auf ein Dorf, und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen
+hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei,
+Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ
+ich mir nicht gefallen und ging wieder weg -- nein, Herr Pastor,
+nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug
+vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete
+beim Bauern Schafe -- zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und
+Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen
+Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite -- »als das
+vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer
+Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den
+Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub,
+verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann
+weg. Nach drei Tagen eingefangen. -- Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor!
+Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler
+eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde
+eingesteckt -- dreimal -- Herr Pastor, Herr Pastor -- ~nur
+dreimal~ in vier Jahren -- sonst kam ich immer durch -- und etwas
+Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen
+Gerichten herumfragen, Herr Pastor.«
+
+»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der
+Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf
+später verschob.
+
+»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat -- das
+ist nichts geworden, Herr Pastor, -- und nun komme ich um Rat, Herr
+Pastor, bitt' schön.«
+
+»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?«
+
+»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann,
+indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog.
+Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich
+in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife
+bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte.
+
+Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen.
+Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und
+Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb
+er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten
+seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen
+erfordere.
+
+»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock
+vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de
+sall di hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen,
+dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi
+mi.« Mit diesen Worten ging er davon.
+
+Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war,
+tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich
+plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang
+der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in
+der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig
+und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten
+etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen
+die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht
+aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie
+ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen
+Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende
+Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die
+Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie
+ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten
+ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an.
+
+Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und
+dabei von Gestalt fein und zart wie ein Knabe, in allen Bewegungen
+unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle
+Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine
+lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige
+Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah,
+entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo
+heißt du denn, min Jung?«
+
+»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen.
+
+»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der
+Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne
+schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden
+Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit.
+
+»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.«
+
+»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di
+'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den
+Stall. Un mak de Dör achter di tau.«
+
+Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen
+Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das
+Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof
+noch mit leichtem, federndem Gang), fand er seine muntere Stimmung
+wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als
+müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die
+Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und -- wupp stülpte er ihn
+sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der
+Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine
+Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper
+bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden.
+Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und
+überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine
+sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen
+in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und
+ging wieder an die Arbeit.
+
+»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter
+vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu
+und schlug alsbald den Haken ein.
+
+Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem
+Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung
+allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen.
+
+»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte sie verwundert. »Du
+fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.«
+
+Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher
+die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr
+er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,«
+versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine
+Hände und zog mit Leibeskräften.
+
+Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken
+Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und
+dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter.
+
+Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine
+beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb
+soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld
+ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle
+verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich
+wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine
+Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern
+ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über
+den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf
+stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß
+auf Socken -- die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen -- in
+die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall.
+Uns' Jung will uns dod bliewen.«
+
+Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in
+Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen.
+
+»Ick kiek mi üm -- dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete
+Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein
+Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.«
+
+Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt
+hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse
+Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten
+wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den
+Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an,
+hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust,
+schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte
+sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht.
+
+»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min
+Sofa rupdrägen.«
+
+»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst
+awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...«
+
+»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt
+abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.«
+
+»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit
+auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit
+raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und
+Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als
+sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit
+federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre
+Brust gelehnt.
+
+Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und
+bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang -- ligg ganz
+stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm
+sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n
+Dokter verluren gahn. -- Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im
+Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa.
+
+Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber
+vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit
+Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand -- nicht etwa wieder
+auf die Brust, sondern etwas tiefer.
+
+»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald
+verständnisvoll. Ihm antwortete Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie
+doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben
+Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein
+Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten
+Sie mich für einen Bettler genommen.«
+
+»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer
+eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte.
+
+»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von
+dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der
+Mettwurst?«
+
+»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein
+Lieblingsessen.«
+
+»Am Verhungern -- und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn
+gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf.
+
+»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf
+keinen Kummer kommen lassen.«
+
+»Ja, das ist es ja gerade. -- Und dabei seit zwei Tagen nichts
+gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf.
+
+Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der
+Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür.
+
+»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst.
+
+»Dort hinten -- hängt sie -- an der Wand.« Sie flüsterte es mit
+absterbender Stimme.
+
+»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! -- Verhungert und verdurstet
+bei meiner Arbeit!«
+
+»Ja doch -- um Gottes willen ja --« Sie trat in die Küche zurück und
+füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn
+in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke.
+
+»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen
+Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und
+schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige
+Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei.
+
+Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war,
+kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um
+zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen
+schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz
+kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.«
+
+»Was ist denn geschehen?«
+
+»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je
+davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie
+hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den
+Fall, da kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und
+die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen
+usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er
+Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz
+umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit
+Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt
+neben uns verhungern. -- Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen
+versinken, so schlingt der Mensch.«
+
+Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer
+Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt:
+»Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir
+nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er
+behält ihn sicherlich während der Nacht hier.«
+
+Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte
+allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als
+er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab,
+freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das
+Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch
+aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein,
+schlich zur Tür.
+
+»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,«
+lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich
+bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.«
+
+Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder,
+denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber
+können Sie auf dem Kirchhofe graben?«
+
+»Gruft graben, Herr Pastor? -- Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den
+Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten.
+
+»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so,
+daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen
+Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein,
+jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die
+Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.«
+
+Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor,
+wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze,
+die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür
+zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an
+das Werk zu gehen.
+
+Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst
+aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich.
+»Satt sind Sie, wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun
+schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit
+frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast
+folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf
+der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann
+rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne
+Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit
+gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh,
+daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand
+schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer
+rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich
+habe eben aus dem Fenster gesehen -- an der Dachrinne kann ich jeden
+Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.«
+
+Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh
+aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging
+in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten
+ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer
+schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und
+als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie
+aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte. »Ick stah hüt
+morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben
+an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal
+verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt
+hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹
+seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi
+so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett
+hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob
+ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft
+an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat
+nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.«
+
+»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd.
+
+»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen
+sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone
+gnäterswarte Hor.«
+
+»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.«
+
+»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch?
+Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat
+runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür
+hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die
+Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren Manns-Spaten in den
+Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof
+brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er
+seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder
+auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm
+seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte,
+war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt
+machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die
+mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein
+wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf
+dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken
+Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem
+Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie
+den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten.
+
+»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen
+bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen.
+
+»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und
+dazu gehört Geduld.«
+
+»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld
+beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe -- wie -- ein Regenwurm,
+Herr Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich
+werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.«
+
+»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt
+haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige
+zu zerhacken, das ist etwas für Sie.«
+
+»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch
+halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein
+leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da
+sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und
+ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De
+unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief
+sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht,
+immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei
+Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die
+Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab.
+
+»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und
+versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der
+Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr
+Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles
+ersetzt, Herr Pastor.«
+
+»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n
+Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube,
+Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir
+krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.«
+
+Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie
+schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt
+ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und
+verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war
+Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht
+nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder,
+einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange,
+der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust
+jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde
+den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten
+ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß
+im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp --
+hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau
+Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ
+und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand zeigte, »ganz rein! ganz
+rein! Hopp hopp -- hü hott!«
+
+An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern,
+da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er
+sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war
+große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen
+Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit
+kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel,
+das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der
+Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur
+Nachbarstadt? -- Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon
+in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch
+Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte
+der kleine Mann dann ab.
+
+Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte,
+um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin
+krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich
+selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend,
+von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um
+Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war längst vorbei, da kam
+der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke
+nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte
+es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht
+lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und
+drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half
+sofort. »Herr Pastor -- mit meinen Beinen -- gar nicht tot zu kriegen!
+Das kommt vom Wandern. -- Nur die Arme -- Regenwürmer -- mürbe --« da
+taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr
+Pastor -- armes Luderchen --, Herr Pastor -- ich will -- ich kann --«
+Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett.
+
+Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all
+wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen
+lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei
+sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei
+schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus
+und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der
+Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem
+Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her
+vergnügt und vertrauensvoll an, und vor solcher Art von Beredsamkeit
+verstummte sie errötend.
+
+Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde
+gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner
+umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem
+Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns
+stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu
+überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon
+ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine
+Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang
+bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen
+Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus
+und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz
+mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken.
+Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern
+befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft
+und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam
+ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder
+allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und
+der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich
+und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu
+erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift
+mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße
+Papier gelaufen wäre.
+
+Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der
+Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei
+zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert,
+Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar
+Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war
+der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt,
+Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof
+gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich
+Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den
+Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die
+Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem
+diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich
+nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel
+auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den
+Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der
+Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich
+mit Steinen nach ihnen.
+
+»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine,
+die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete.
+
+»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei
+Wäldag.«
+
+»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich
+flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.«
+
+Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu
+angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur
+die geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er
+mitgenommen.
+
+Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und
+besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer
+Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen
+solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach.
+Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut
+und freundlich, wie sie gewesen war.
+
+Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter
+trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines
+Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des
+Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte
+ihn hinter den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von
+ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür
+und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab
+ich eins. -- Nun hab ich eins, Herr Pastor, -- ein so Kleines -- so --
+so -- so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf
+Handlänge.
+
+»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse
+Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.«
+
+Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge
+fast bis an die Decke. »Herr Pastor -- Herr Pastor -- Herr Pastor!«
+
+»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt
+zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.«
+
+Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,«
+sagte er langgezogen.
+
+»Natürlich wird es verkauft.«
+
+»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.«
+Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor,
+mein Fleisch und Blut ...«
+
+Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich
+schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte
+dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck seine
+glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck
+in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe
+er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie
+ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte
+sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf
+den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte.
+
+»Ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor. -- Ich bitt' schön, Sie
+müssen's mal sehen, Herr Pastor, -- o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr
+Pastor, -- und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« -- Er lief
+schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. -- Ich
+hab' eins, ich hab' eins. -- Gemolken habe ich, Herr Pastor -- ein so
+Kleines -- ein so Kleines -- Stine hat's mir in den letzten Wochen
+gezeigt, Herr Pastor, ein so -- so -- so Kleines, Herr Pastor -- und
+alle haben sie zu fressen -- Frau Pastorin und die Kinder -- -- --.«
+Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen
+die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte,
+als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse
+nachahmen.
+
+Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald
+bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus
+sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht,
+voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam
+letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem
+ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und
+auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens
+zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was
+sein Herz füllte.
+
+Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung,
+Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf
+ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.«
+
+Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie
+erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als
+Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie
+dann ihre Herrschaften eintreten.
+
+»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er
+gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so
+die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen
+Sie nur die Hände -- wie eine Haselnuß -- Frau Pastorin, die Füße -- da
+-- da -- da -- akkurat wie ein Frosch -- und hier die Haare, oh, lang
+wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater,
+das bin ich nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr
+Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr
+zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn
+nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden
+einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht,
+Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich
+Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.«
+
+»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine
+inzwischen dem Seelsorger zu.
+
+Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung
+seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im
+Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen
+können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb -- er war sogar des
+Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin.
+
+Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht
+befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf
+einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt
+hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen.
+
+»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich,
+indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich
+gaud?«
+
+»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich
+rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen
+könnte.«
+
+»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,«
+sagte sie harmlos.
+
+Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine
+Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause
+anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen --«
+
+»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern
+bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick
+gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.«
+
+»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an
+seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte.
+
+»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern
+laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di
+doch nich friegt.«
+
+»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?«
+
+»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen
+Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und
+erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch
+Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt heww? du süst mi nich up
+de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du
+all orig 'n Knick weg.«
+
+»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir
+ernähren lassen? Das soll ich, Stine? -- Soll ich das, Stine?« Er fuhr
+einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte
+ihn nur wütender.
+
+»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht
+de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte
+sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich
+im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im
+nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei
+Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er
+mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner
+Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen
+und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte
+ich mit ihm um die Wette lutschen? -- Was soll ich, Stine? Mich vor
+meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern
+auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht
+erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! -- Zu Hause
+bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?«
+
+Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch
+schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die
+anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und
+fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen.
+
+»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick
+bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh
+jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« -- die große Frau
+schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so
+dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer,
+stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam
+allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und
+endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren
+Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei
+alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese
+doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine
+hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater,
+sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die
+Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern
+schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück.
+
+Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich nicht, aber er wurde
+blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel.
+Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen -- nein, er sagte
+bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren.
+Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie
+aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim
+Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn
+geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch
+nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut
+erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden
+dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht
+am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das
+Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das
+Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer,
+und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände.
+Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang
+vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die
+Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es
+ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum
+fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor nur beim
+Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau
+dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden
+Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben
+und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen
+behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen.
+
+So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor
+»Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine
+wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes
+»Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen.
+
+Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen
+Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor
+allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei
+Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn
+Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und
+schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen
+will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter
+aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine
+lacht, dann aber fällt der Bau auseinander.
+
+
+
+
+ Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.
+
+
+Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die
+Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade
+auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber
+nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich
+getan.
+
+Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die
+Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen
+die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an
+Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen.
+Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter
+abgewiesen. Nun denn -- um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit
+einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm
+Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich
+wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not.
+Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der
+durch zwei Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde.
+Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich
+und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein
+Griff -- und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine
+Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein
+Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung
+sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem
+Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man
+sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich
+durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke.
+
+Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem
+Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen
+mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles
+still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich
+gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da
+öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten
+sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das
+Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern.
+Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier
+beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu erschnappen
+sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr
+wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst
+drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren
+Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit
+die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen
+ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in
+tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht
+ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag
+ich das Pech damit dauernd los geworden sein.«
+
+Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er
+allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde,
+denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen
+fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit
+Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein
+Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres
+anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille
+vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen
+auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als
+bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine
+Barrikade oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug
+erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang.
+
+Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu
+rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis
+weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen
+französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still
+auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die
+übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte
+auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern
+Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um
+Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß
+es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald
+da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst
+vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu.
+In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der
+Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat
+am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er
+einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher
+rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den
+Rückzug. »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade.
+Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas
+näher -- und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist,
+gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit
+dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn
+der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind
+sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die
+Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben.
+
+Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten
+Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte,
+sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam
+schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser
+laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen
+Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle
+beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter
+dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast
+einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl,
+sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu
+verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn,
+und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind
+dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit -- der Kürassier war ein
+baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen -- sollte er ihn niederschießen?
+Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle -- doch nein, so
+von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte,
+Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt,
+Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte
+ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte
+der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er
+den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser
+auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte
+einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken
+der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und
+stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber
+zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab
+es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die
+langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der
+Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall.
+
+Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm
+doch erobert, ein Blick, oh, sie hatten eine wunderbare Größe! Und
+die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen
+früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert!
+Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr
+auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte
+ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der
+Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang
+auf seinen Socken, als wollte er sagen: Ȁtsch, ich bin doch noch
+davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß
+ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und
+beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn
+er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen
+schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den
+Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder
+und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner
+früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich
+drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er
+ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der
+Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen
+wollte, und der Deutsche winkte ihm, er sollte nur kommen. Der
+Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf
+den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob
+sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der
+Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem
+Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte,
+daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe.
+Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene
+Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt
+hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er
+auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die
+Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide
+waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren
+gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene
+Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie
+aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der
+Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf --
+nun -- Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen
+Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus
+kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar, daß
+er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in
+seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten.
+Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das
+Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute
+kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle
+riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit
+einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und
+dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und
+gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen
+regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte
+Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr
+höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber,
+der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen
+Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh,
+Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß
+sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete
+und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also
+fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr,
+duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder
+Haut, hob ihn mit seiner Bärenkraft, und hup -- da machte er ihm
+einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den
+Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen
+auffallend schnell auf die Beine brachte.
+
+»+Ah, grand respect! -- Une main vigoureuse! Dans le monde entier
+on ne trouve pas son pareil+«[1], sagte er würdevoll grüßend,
+nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie
+staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete:
+»Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte
+der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich
+wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls
+dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der
+genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er
+versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte
+mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch.
+Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht
+geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie
++Cognac+ klang und sicher so wie +boire+. Wilhelm Pickhingst
+spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken
+besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein
+Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und
+trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer
+Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang
+er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie
+dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn
+erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust
+klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab
+und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen
+Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die
+Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als
+das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig;
+Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte
+es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich
+gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über
+zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches
+Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte,
+daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum
+Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig; verlegen sah er auf
+die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt
+faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er
+sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude
+für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup,
+da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten
+Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und
+flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine
+Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an!
+»+Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur!
+Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?+«[2]
+und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit
+seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das
+eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich
+hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »+Eh bien, allons, camerade,
+vous êtes mon prisonnier.+«[3] Der Franzose zog die Schuhe wieder
+an, und so wanderten beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man
+sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie
+ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt -- gleich
+darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon
+lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber
+aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten
+Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen
+nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen,
+umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und
+schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den
+Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um
+sich.
+
+St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als
+Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts
+sein Bataillon auftauchen. -- »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin
+Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr
+wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er
+lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is,
+kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« -- Abermals ein
+Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile fort, alle wollten
+Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe
+nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße,
+sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem
+Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die
+Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen,
+und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die
+allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein
+Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte
+sein werden.
+
+Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich
+verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst
+kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im
+Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen
+Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die
+Freiheit.
+
+Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft,
+offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen
+der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete,
+nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien
+flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand,
+aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es an dem einen Wagen laut.
+Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus
+und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm
+Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres
+ertönte hinter ihm -- es kümmerte ihn nicht -- »Halt!« unmittelbar
+darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen
+heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage,
+vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem
+Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den
+Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. --
+Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er
+ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell
+rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich
+ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen
+Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das
+Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und
+lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht
+von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet
+war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung
+zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn
+der Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die
+Kürbisflasche -- da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm
+Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund
+fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er
+trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit
+einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an
+Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn
+beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere
+steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft,
+die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und
+winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern
+schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte
+ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte
+gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen
+schmutzigen Fetzen Papier und rief: »+Votre nom, votre nom, mon brave
+camerade!+«[4] Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und
+Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging
+hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon.
+
+Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr
+aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten,
+auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er
+phantasierte.
+
+Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er
+endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden
+konnte. -- In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so
+durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken
+seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich
+alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still
+und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche
+und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben
+Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück
+ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im
+Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte
+es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na,
+Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?«
+
+Er sah den Mann an und sah um sich -- es war am Markte, und viele
+Menschen standen in der Nähe -- am liebsten hätte er ihn durch das
+Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben. »Du Hans
+Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine
+langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran
+gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.«
+-- Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so
+nach Hause.
+
+Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch
+ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er,
+schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst
+eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über
+England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der
+ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher
+nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne
+Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten.
+Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es
+und zerdrückte eine Träne in seinem Auge.
+
+Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht
+glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch
+heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen).
+Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß
+noch etwas von dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap
+zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun -- man frage sich selbst, wie man
+es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben.
+
+
+
+
+ Ilse Frapan,
+
+ Dat Undeert.
+
+
+Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~
+aus ~Ilse Frapan~ »~Zu Wasser und zu Lande.~«
+
+ Geb. M. 5.50.
+
+
+
+
+ Dat Undeert.
+
+
+»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit!
+Un nu mal op engelsch: +hep! hep! hep! hurrah!+«
+
+»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar
+Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten
+fröhlichen Haufen.
+
+Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es
+nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch:
+ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken,
+Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei,
+hurra!«
+
+Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von
+sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt
+und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die
+Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen
+Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die
+Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den
+Blankeneser Strand, und unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel
+standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen,
+festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg.
+
+»Und noch einmal! Und noch einmal!«
+
+Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen
+schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es
+galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden
+Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen
+und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene
+Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur
+einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann,
+mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich
+der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet,
+das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke,
+allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende
+Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und
+sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen,
+wat?«
+
+»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und
+Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die
+Kleinen können das je sonst nich.«
+
+»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.«
+
+»Nee! da war sie je man fünfviertel!«
+
+»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, -- sünst sünd ji an' Enn'
+hesch[5], wenn't an't Klappen kummt! Wanneer[6] schall Vadder denn
+opkamen?«
+
+»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide[7].«
+
+»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen
+und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen
+Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe[8] in
+den dicken rotmarmorierten Ärmchen.
+
+»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.«
+
+»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff
+nach dem Arm der Kleinen.
+
+»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man
+leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich
+hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und
+drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er
+ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei --«
+
+»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge habt ihr 'n büschen zu früh
+aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!«
+
+All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich
+palmengleich elastisch hin und her bog.
+
+»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die
+Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die
+Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst
+mitgebracht.«
+
+Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen,
+wir haben alle neue Stiefel an.«
+
+»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester.
+
+Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer
+so'n Unsinn, -- nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund
+von Feuerland, wo die Lehmänner[9] wohnen!«
+
+»Mama steckt reine Gardinen auf.«
+
+»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat
+denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen
+denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.«
+
+»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein
+Schiff, lütt Jung?«
+
+»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige Chor, sogar
+Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas
+undeutlich herauskam.
+
+Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun
+zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz
+und mit Hand!«
+
+»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt[10], sei doch
+'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.«
+
+Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen
+Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die
+Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen,
+daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?«
+
+»Tante Manga, kommst du zu uns?«
+
+»Nein, ich will den Schirm tragen.«
+
+»Und ich trag' die Tasche, nich?«
+
+»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!«
+
+»Papa und Onkel Hartig!«
+
+»Heute Nachmittag oder morgen früh!«
+
+»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.«
+
+»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich
+'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander.
+
+Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche
+Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das
+ganz rot übergossen aussah.
+
+»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit
+eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus,
+während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam
+der Gartentreppe zuschob.
+
+Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es
+für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand
+hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den
+Garten.
+
+»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief
+Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen
+Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten
+Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte
+hinunter.
+
+»Ach Gott nein, wieso denn?«
+
+Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich
+wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage
+heraus kommen, aber jetzt -- und nun haben Sie gedacht -- o wie dumm
+von mir.«
+
+Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der
+Dampfergesellschaft seh', krieg' ich's immer mit der Angst, und weil
+Ihr Vater doch nu der Inspektor is -- das geht uns Seemannsfrauen allen
+so, 'n büschen bange is man doch immer.«
+
+Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der
+Schwelle wollte sie nicht weiter.
+
+»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt -- sehn Sie, Frau Tönnies, darum
+wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte
+ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche
+dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher.
+
+»Ja, mein Mann kommt heute.«
+
+»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.«
+
+»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona,
+nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus
+und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die
+Leiter bestieg.
+
+»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich
+muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was
+glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn
+Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis
+auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat
+noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt -- na überhaupt, so
+neun, das is 'ne kleine Horde!«
+
+Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben
+Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören
+das gewesen? Ich mein' die Tappsen[11] da bei der Tür und beim Sofa;
+können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu
+alles rein --«
+
+»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen
+auf.
+
+Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch
+gehn und Stuben fäulen[12]!«
+
+»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe
+eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen[13] und
+Fäuel[14] zurück.
+
+Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die
+entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt
+beendete.
+
+»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten
+-- bloß, weil mein Mann kommt --«
+
+»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden
+Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf.
+
+»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen is immer schön, wenn man
+das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.«
+
+Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große
+Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre
+rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden
+hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll
+das junge Mädchen, »ich hol' sie!«
+
+»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird
+zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her.
+
+Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen[15] klärte, war nicht
+sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam.
+»Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het
+all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de
+Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder
+schall ick Gören möten[16]?« fragte sie mürrisch.
+
+»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga
+gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann
+auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!«
+
+»~Was~ sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund
+dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die
+neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als
+Kathrin Gewalt anwendete.
+
+»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her,
+wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon
+spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau
+Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden
+Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und
+versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten
+erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran
+und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das
+alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn
+Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da
+Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus
+Antwerpen gekriegt?«
+
+Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten
+zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, -- es wäre rücksichtslos --
+wo Sie sich so lange nicht gesehen haben --«
+
+»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder.
+
+Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß
+ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen
+sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn
+'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei
+Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa
+sein Schoß?«
+
+Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben
+riefen einfach: »Ich!«
+
+Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!«
+
+Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!«
+
+Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das -- noch
+andere!«
+
+»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!«
+
+Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen.
+Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn
+sitzen?«
+
+Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel
+Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.«
+
+Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es:
+»Mit mein' Onkel Hartig kann man überhaupt viel besser spielen, mit
+dem kann man 'n büschen albern!«
+
+»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die
+Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des
+Kindes niedersah, aber keine Antwort gab.
+
+»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er
+ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.«
+
+»Ich weiß wohl -- und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht
+gewußt -- wenn ich ihn 'mal gesehen habe -- er kam ja öfter zu Papa,
+denn hat er immer so ernst ausgesehen --«
+
+»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa,
+das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein
+Bruder nu komisch -- sich annögeln[17] oder gute Worte geben, das kann
+er nich, das kann ich auch nich.«
+
+»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung.
+
+»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau
+Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen
+haben[18], wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt
+immer gleich: meinst', ich will einem da um zu Füßen fallen? ich werd'
+noch früh genug Kap'tän, -- besorg' du mir man 'n kleine nette Frau,
+denn da kann ich mich nich mit abgeben.«
+
+Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter
+der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über
+die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete
+Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog.
+
+»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als
+Schiffsjunge gedient hat.«
+
+»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell,
+-- »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.«
+
+»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen
+Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar
+nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien
+Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem.
+
+Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen;
+freilich -- gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll
+Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit
+kommt erst, wenn Papa da ist!
+
+Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem
+frugalen Mittagbrot einzuladen, aber gerade, als Fräulein Dehn den
+Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen
+zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens -- die
+Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies
+faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge -- sie konnte
+sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben,
+und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen.
+Sonderbar!
+
+»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die
+Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da
+is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er
+jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon
+'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber
+wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr[19] je nu
+all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte
+die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch
+'n orrendlichen Klacks[20],« riefen die anderen. Klatsch, klatsch,
+klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine
+leer war.
+
+»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga Dehn, der es bei der
+Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse,
+daß ich so lange geblieben bin.«
+
+»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man
+noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.«
+
+Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen
+Filethandschuhe wieder in die Tasche.
+
+»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich
+am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?«
+
+Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit
+ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her
+geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne.
+
+»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria
+nich hier sein, -- das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je
+noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis
+mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht,
+neun werden.«
+
+»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz
+ab.«
+
+»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, --
+ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können
+Sie sich das denken?«
+
+Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen
+Schein; sie nickte eifrig.
+
+»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar
+nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu
+hiddelig[21], was soll ich denn im Bett tun.«
+
+»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich,
+als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie
+wieder prüfend an.
+
+»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.«
+
+Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen
+Sie?« -- »Bitte, Frau Tönnies, kann ~ich~ nich heute aufwaschen?«
+bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom
+Klären wegzugehn.«
+
+Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na,
+freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten
+kann.«
+
+»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama
+noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht;
+Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze Woche kein
+Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.«
+
+»Na, Sie werden doch nicht weinen?«
+
+Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine
+resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind,
+der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen
+vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an.
+
+»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer
+sich drehn[22], sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee
+machen.«
+
+Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf
+und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe.
+Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das
+schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, -- ist da woll am Ende 'n
+Passagier mit, der -- --.«
+
+Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was
+um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst
+da wäre, nicht?«
+
+Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune
+Krebsschale vor das Fräulein hin.
+
+»Kiek, du, das 'n Tasch[23], die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst
+du ihm, Tante Manga?«
+
+»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der
+Kleine aufmerksam betrachtete.
+
+»Aber du hest Geld ~in~ de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus,
+»das' noch besser.«
+
+»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!«
+
+Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich,
+und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.«
+
+Frau Tönnies wurde blutrot.
+
+»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?«
+
+»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut,
+hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine
+weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick
+der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte,
+faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, --
+lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.«
+
+Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse
+auf und stellte sich in die Ecke.
+
+»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der
+Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm
+nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück.
+
+»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies
+blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig
+soweit, aber -- wenn man kein Wort sprechen kann -- ohne daß die Gören
+--«
+
+»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga,
+und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am
+Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt.
+Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den
+Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es
+wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.«
+
+»Komm, Hinrich, sei artig! Du -- wenn du es doch so gut gehört hast --
+was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich
+heran.
+
+»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte
+unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst.
+
+Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten Lächeln an; plötzlich nahm
+sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die
+glatte Stirn zwischen den Augen.
+
+»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr
+böse.«
+
+Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?«
+brummte er, sich über die Stirn wischend.
+
+»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus
+an 'n Strand, wir kommen alle nach.«
+
+Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh
+war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen.
+Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn
+die Tassen ineinander stellte.
+
+»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon;
+haben Sie nicht eine Arbeit für mich?«
+
+»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine
+Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf
+der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die
+muß ich befestigen.«
+
+Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe
+gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die
+Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub,
+Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, -- alles
+duftete durcheinander, so stark es konnte.
+
+»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün
+umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte
+immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das
+heraus war.
+
+»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste
+Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte
+sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen,
+wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken --
+-- und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch!
+Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, -- drinnen
+auf 'n Vorplatz, denn '~raus~kommen darf ich nich, nee -- das mag
+er nich, -- denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und
+so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer
+neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n
+Ruff[24] wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er
+sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹«
+
+Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre
+kleine feste Hand zitterte.
+
+»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut.
+
+»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er
+sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen,
+aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach
+Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich
+denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen
+könntest, das wär' 'mal nett.«
+
+»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge
+Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab.
+
+Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn.
+
+»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, -- ich glaube, es is bloß,
+weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich
+da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib'
+ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu
+Füßen gefallen.‹«
+
+Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig
+aus.
+
+»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause gehn. Ich glaube, die Ewer
+drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe
+aus der Tasche.
+
+Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen
+Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, -- ach, bleiben Sie man, bis
+das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!«
+
+Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das
+Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen
+die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden
+auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem
+schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war
+hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge
+angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit
+Recht: Kirschenland.«
+
+Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr
+sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung
+stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und
+Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen.
+
+»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!«
+
+»Und tüchtig wedeln!«
+
+»Ob Papa woll'n +blue-light+ abbrennt, wenn er vorbei kommt?«
+
+»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.«
+
+»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn
+geht es nich, denn wird sie zu voll!«
+
+»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper.
+
+»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die
+›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug,
+die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!«
+
+Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber
+sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit
+zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen
+weiter ins Fahrwasser hinaus.
+
+»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies
+lächelte wohlgefällig.
+
+»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot
+leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all
+wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.«
+
+Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes
+lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück.
+
+»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt! Unser Stack[25] liegt
+schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater
+jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran
+gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper,
+hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig
+aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, -- Schlick, der weiter drunten
+im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser
+ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer,
+als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und
+aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die
+Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag
+hin und her.
+
+»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der
+da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die
+Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie
+auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die
+Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen
+hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in
+sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem Wasser
+zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher,
+durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach.
+
+Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne
+es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das
+Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt,
+so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich
+verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe
+erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes
+Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott
+sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, -- der Himmel war klar
+geworden.
+
+»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter,
+das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei
+schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell!
+Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich
+geworden.
+
+Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter?
+Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat!
+Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure
+Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch
+einmal -- -- und noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn,
+wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck!
+Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra!
+hurra! hurra!«
+
+Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz
+und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller
+Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der
+Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen
+der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den
+kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten,
+hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur
+mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch
+auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen
+Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende
+Kind.
+
+Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff
+heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon
+ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der
+hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der
+Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß
+die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie Silber glänzten, nun
+verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die
+ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald
+alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und
+nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile
+im Osten, wie es vorher im Westen gestanden.
+
+»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch
+einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink,
+Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen
+aufsetzen -- in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.«
+Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um.
+»Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?«
+
+Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp
+weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte
+ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd
+an.
+
+»Frau Tönnies, ich bin auch so -- so recht glücklich. Sie haben solchen
+guten Mann, Frau Tönnies.«
+
+»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und
+lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von
+Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte
+Zentral«[26]. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n
+liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge -- haben Sie meinen
+Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.«
+
+»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu
+wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und
+wenn Sie allein sind« -- Manga blickte blinzelnd zu Boden -- »denn
+komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und
+streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein,
+nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat
+noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir
+'n andermal holen.«
+
+Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer
+Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde
+Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das
+sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch
+einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der
+Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der
+sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte.
+
+»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau
+Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in
+Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen
+mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn
+sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!«
+
+Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet -- der Fisch war
+butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt
+der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche
+Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein
+prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje
+auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die
+»kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und
+durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch
+einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten
+nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme
+war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den
+Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen,
+braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie
+ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar
+etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt,
+die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein,
+daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht,
+daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte,
+um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste
+Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor
+allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten
+fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem
+Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine
+Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«.
+
+»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner
+Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›+Smartness+‹
+hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll
+auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen
+wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man
+halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum
+Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum
+wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«,
+wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre
+Verwandten zu besuchen.
+
+»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck warst und immer so
+patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, -- Junge, sag' ich zu
+mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige
+Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten
+Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder
+lachen wie die richtigen Grienaapen[27], -- du, solche hätt' ich
+nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens
+Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum
+die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und
+Schlarren[28] auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar
+wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff
+zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! -- Bloß 'n
+büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar
+nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen
+abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im
+Kartenzimmer --«
+
+»Wie du die Sonne genommen hattest[29],« fiel Frau Tönnies glücklich
+ein.
+
+»Ja, daß du da immer 'reinkamst -- wo du nichts verloren hattest, und
+denn gleich weggeguckt, wenn ~ich~ die Tür aufmachte -- schwubb
+den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch
+gesehen.«
+
+Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem
+Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage
+vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit
+ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht
+vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen
+und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue
+Anmusterungen zu besorgen, -- endlich mußte das Schiff ins Dock
+gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war.
+
+»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr
+durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen,
+der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt
+uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du,
+Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein
+weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung
+zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum:
+»+All right+, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?«
+
+»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?«
+
+Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit.
+Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein,
+ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem
+Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber
+sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen
+beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer
+Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein
+Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen
+ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es
+kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und
+nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er
+uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm;
+ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf
+versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den
+Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der
+Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem
+Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen
+schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen
+ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte sie mit großer
+Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes
+neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so
+hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«.
+
+Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf
+einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand
+vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und
+Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem
+weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes +M. D.+ glänzte.
+
+»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag
+in dem Ausruf.
+
+Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab.
+»Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört
+Fräulein Dehn zu.«
+
+Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine
+Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen.
+
+»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen
+Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter
+seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu
+kommen.
+
+»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf der vierten
+Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in
+den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte.
+
+»Na, Stine, min Deern?«
+
+»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie
+ihn am Ende -- du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.«
+
+Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat
+geiht mi dat an?«
+
+»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?«
+
+Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so
+mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen,
+Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren
+Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies
+lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen.
+
+»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel',
+und du gibst ihn bloß ab?«
+
+Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick
+mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und
+goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie
+zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!«
+
+Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf
+den Zehenspitzen auf und ab.
+
+Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein
+und strich an ihrem seidenen Kleide herum.
+
+»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.«
+
+Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein[30],
+Stine?«
+
+»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.«
+
+»Er hat ja drei Stück, Deern.«
+
+»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies
+sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen
+dumpfen fernen Klang bekam.
+
+Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor
+sich hin.
+
+»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in
+ein heftiges gezwungenes Lachen aus.
+
+»Wat du klok[31] büst.«
+
+»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen
+können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen
+Hals gelegt hätte, -- aber sich mit seinem Bruder handgemein machen,
+das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug
+von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar Schritte
+treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na,
+heb' den Schirm man gut auf -- wenn die Gören bei den Schrank gehn --«
+
+Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen
+Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.«
+
+Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich
+sicher steht -- --«
+
+»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig
+wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus
+Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu
+zerbrechlich aussah, -- das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche
+weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau
+Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte
+hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote
+Wolke zog über seine ungebräunte Stirn.
+
+»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje
+nüdliche Dings ganz entzwei?«
+
+Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es
+und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt'
+ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene
+sah, der den Kopf hängen ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren,
+richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm,
+mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in
+der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor.
+
+Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick
+wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die
+Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je
+nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das
+verhängnisvolle Paket in seine Kammer.
+
+»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein
+war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'?
+Sie hat mich da all immer um gebeten.«
+
+Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger,
+da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche
+Deern, das bringt Glück an Bord.«
+
+Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden
+täte, Tönnies?«
+
+Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal,
+Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.«
+
+»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung.
+Sie wollte es durchaus nicht zugeben. »Er hat da woll man seine
+Putzen[32] mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das
+sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.«
+
+Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar
+nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir
+sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie
+gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.«
+
+»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte
+unruhig näher.
+
+»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen
+Dwarsdriever[33], de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr
+von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da
+noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die
+Gatten lachten um die Wette.
+
+»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst,
+denn such' dir man 'n ander Paar aus -- din Broder hett all sin
+Bekummst[34],« meinte Tönnies.
+
+»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat' er nich,« sagte Stine
+zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.«
+
+»Denn ward he woll sitten blieben, -- he hett dulle Küren[35].« Mit
+einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. -- --
+
+Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen
+Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn
+abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr
+früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an
+der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd
+entgegenschrien.
+
+»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und
+nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir
+mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei
+Dinger fahren wir heute, Tante Manga!«
+
+»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge.
+
+»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper
+mit bedächtigem Händefalten.
+
+»Jasper Dickwust[36]!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um
+den drolligen Kleinen herum.
+
+Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht
+viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und
+ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr
+graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen.
+Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein
+seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden
+Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war
+frei.
+
+»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte
+Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung
+fehlte, Stine war nicht impulsiv.
+
+»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie
+etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule,
+und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll
+lachen.«
+
+Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön
+soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne
+Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.«
+
+Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund
+für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies
+auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid.
+
+»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für
+das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten
+Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott[37]!«
+
+Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe
+Begegnung in Aussicht, und dazu -- einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn
+übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, -- »und nun noch den
+Sonnenschirm!«
+
+Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,«
+platzte sie heraus, »weil --«
+
+Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten!
+Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah
+durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu
+bekommen.
+
+»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der
+Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch
+dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren
+Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte.
+
+Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten
+Kindern, die fünf anderen im Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie
+endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut
+zogen.
+
+»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«,
+flüsterte Anna.
+
+»Rohmtorten[38]«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles
+Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper,
+Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.«
+
+Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort
+an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in
+Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin -- auf der Straße und
+vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen
+unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene
+Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner
+Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich
+mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich,
+daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach
+Hause.«
+
+Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten;
+sie saßen schon auf den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit
+der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig
+mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies'
+glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des
+kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das
+gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen
+Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er
+nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge,
+das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken
+zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß.
+
+»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß[39], die möcht' ich
+woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst
+so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das
+Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein
+voran -- Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur
+mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin;
+oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir
+müssen wohl 'n bißchen warten.«
+
+»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer
+sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.«
+
+»Die kleinen Kinder --« begann das Fräulein und sah sich abermals um.
+
+»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, +go
+ahead, go ahead+!« Er machte eine seiner kurzen energischen
+Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen
+gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen,
+dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den
+vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die
+Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu
+zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen,
+die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und
+Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum
+Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte
+der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit
+festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene
+der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich
+auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen
+geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf
+den eisernen Schlagbetten, -- en anständiger Kasten, was?«
+
+Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich
+leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen
+aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb
+auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie
+gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen
+Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit
+Herausforderung fester unter den seinen schob.
+
+Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich
+woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser
+gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte,
+-- sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor
+Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der
+Augenblick weh tue.
+
+»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst,
+guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen
+sie.«
+
+Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um
+den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die
+muschelartigen feingerippten Zapfen, die den Kupferboden des Schiffes
+bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen
+Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren
+Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern.
+
+»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.«
+
+Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren
+Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut.
+
+»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die
+Löckchen um ihre Stirn bebten.
+
+»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen
+Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?«
+
+»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er
+die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein
+hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg
+zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der
+Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje,
+Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem
+Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und
+klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre.
+Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und freudewinselnd der
+kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika
+mitgebracht hatten.
+
+»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen
+eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.«
+
+»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem
+Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm,
+»nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward
+kann ihn auf'n Teller legen.«
+
+Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte
+spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n
+Zwickel[40]?« sagte er halblaut zu ihm.
+
+Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er
+dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen
+bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen
+Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete.
+
+Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte,
+was sind denn das für Gewächse, Herr -- Herr Holert?«
+
+Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht erhellte sich.
+»+Sweet potatoes+[41], Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über
+die Schulter weg.
+
+Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie
+aus ~diesen~ Knollen?«
+
+Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus,
+und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich
+nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen
+Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in
+die Augen, prüfend, vorsichtig.
+
+Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken.
+»Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts
+weismachen, he lüggt[42].«
+
+Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen.
+Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine
+Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat.
+
+»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von
+Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.«
+
+Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich.
+»Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag',
+Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und die Zunge im
+Mund hält, -- denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den
+Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.«
+
+Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden
+jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten
+vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem
+unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen,
+ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen
+Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen
+schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je.
+
+Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein
+Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner
+Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«,
+damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. --
+
+»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich
+erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen,
+ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich
+muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft.
+
+»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er
+öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah
+das Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz
+mit Photographien bepflastert.
+
+»So sahst du damals aus, Stine.«
+
+»So sah ich damals aus.«
+
+»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider
+allein machen mußte.«
+
+»Und da bist du als Bräutigam.«
+
+Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der
+Kinder mit sich, die hineingewollt hatten.
+
+»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.«
+
+Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war
+Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der
+Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und
+ab, und Stine verglich es mit der Photographie.
+
+Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte
+alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen
+Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier
+gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten,
+-- zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder
+zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit
+zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste, stolperte Anna herein
+und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit
+desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer
+hinter sich, -- den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna
+betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf,
+und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, -- ich weiß aber woll warum!«
+setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu.
+
+Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut[43].«
+
+»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch!
+Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig
+herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben
+wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran
+gearbeitet wurde.
+
+»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind
+entgegen, »soll ich es 'mal sagen?«
+
+»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund
+zugehalten ward. »Weil du all den Rohm[44] in deine Tasse gegossen
+hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«,
+rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen. Aber nun setzte es einen
+Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, -- --
+weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die
+wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten.
+
+»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte
+ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den
+Unsinn ein.
+
+»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über
+den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal
+mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte.
+
+»O, Herr Holert --« sie legte die Hände zusammen.
+
+»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach -- aber das kennen Sie
+ja alles! Na, schad't nix -- sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt,
+fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee
+oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht
+Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er
+lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann
+schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als
+Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen
+Mund aufmachen.«
+
+»O darum --« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und
+verwirrend.
+
+»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und
+bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn --«
+
+»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der
+is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an,
+der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann
+zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch,
+jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen
+was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier
+Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch
+auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von --«
+
+»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend.
+
+Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst
+keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut,
+tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.«
+
+»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen.
+
+»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester.
+
+»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem
+Taschenbuch!« reizte der Kapitän.
+
+Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er
+versuchte zu lachen.
+
+»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein.
+
+»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick
+nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach
+dem Werftplatz, als gehe ~sie~ nicht im geringsten an, was hier
+gesprochen wurde.
+
+»Dat muchst du woll, -- ward aber nix ut!«
+
+»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen
+wendete sich halb gegen sie.
+
+»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine
+Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt
+Papa früher als ich zu Tisch.«
+
+»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll --« begann Stine
+niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch
+fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum
+Aufbruch.
+
+Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch
+ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob
+ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-,
+zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich den Hut auf den Kopf und
+stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn
+sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte
+sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen
+inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies
+sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen
+brannten zwei hochrote Flecken.
+
+»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre
+forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson
+verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr
+Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch
+die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon
+allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn
+vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen,
+sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer
+hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt
+es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr
+zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen
+bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als
+alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt, aber
+da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die
+gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb
+hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er
+würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am
+Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender
+oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen
+hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen
+hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den
+ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich
+immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte«
+-- hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß
+auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß
+der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit
+einen vertieften Reiz verlieh.
+
+Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben
+sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich
+dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen --
+
+»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von
+dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig
+geblieben?« Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein,
+bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch
+ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar
+in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem
+Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der
+Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans
+Schlüsselloch, dann auch das Auge.
+
+»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel
+steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie,
+glücklich über ihre Schlauheit.
+
+»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder
+vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun
+hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem
+niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er
+mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er
+in Lebensgefahr gewesen, -- mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte
+er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu
+kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender
+See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos.
+
+»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot,
+sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller
+beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß
+still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz
+allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies
+zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen
+Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren,
+aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist
+denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer
+eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich
+in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, -- dann ging
+die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu
+einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der
+Kapitän wurde »quirrig[45]« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert
+besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, -- warum konnte er nicht dort
+wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht,
+weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die
+Gärten beinahe aneinander stießen? Es war nur gut, daß Stine so wenig
+Zeit zum Grübeln hatte, -- die bevorstehende Abreise hielt sie in
+Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen
+Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des
+Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich -- zumal, da die Tropen
+täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte
+sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in
+augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem
+aus der Waschbalje[46] der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das
+füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und
+brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht
+zu sehen, -- der ~Kisten~, denn der guten Schwester erschien es
+selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal
+eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder,
+wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn
+zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß
+Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie
+ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb
+scherzenden Anschuldigungen seines Schwagers sogleich reinigen können,
+aber -- und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung -- wenn man einem
+Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit.
+Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt
+eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war --
+Fräulein Dehn -- und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich
+Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres
+Mannes von der Zeugleine nahm -- stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf
+der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und
+freundlich an.
+
+»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer
+Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!«
+
+Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu
+helfen.
+
+»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?«
+
+Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber
+ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre
+Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte.
+»Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der
+Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.«
+
+Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das der Beutel für die
+Kneifen[47], Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn
+das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.«
+
+Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere
+Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig
+befühlte.
+
+»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie
+nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester.
+Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und
+in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n
+ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf
+Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er
+ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen
+da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da
+waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch
+so'n Ärger --«
+
+Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite
+musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt
+hatte.
+
+»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?«
+
+»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut
+-- ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.«
+
+»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?«
+
+»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem
+Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu -- nich mit
+Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er
+die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was
+'reinkommen soll, und sprechen tut er nich ~so~viel.« Die Frau tat
+einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man
+hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die
+Augen.
+
+»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit
+sanftem Vorwurf.
+
+Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie
+haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll
+das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all
+die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder
+mit getan.«
+
+»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte
+ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu
+ihr auf: »Gestern abend -- in vier Tagen wollen sie weg -- kommt
+mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste
+Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du
+sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein
+dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un
+ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹«
+
+»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein.
+Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert.
+
+»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie
+so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen
+sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich
+zu plätten --«
+
+»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester
+anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen
+Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen --« sie errötete und spielte
+mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau
+Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.«
+
+»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen
+kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll
+liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen
+sehen, daß ich es ganz gut machen werde. Wenn ich will, kann ich den
+ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna
+sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes
+Kleid und eine große Schürze -- ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit
+eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich
+sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch'
+ich den Rock«, sagte sie endlich.
+
+Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten
+verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den
+Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte
+sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.«
+
+Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte
+sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, -- Gott, es hätt'
+ja doch angehen können -- und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen
+gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.«
+
+Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand
+sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und
+bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden
+Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche
+Vorrichtung die dicken Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau
+Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe
+Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte
+sie.
+
+Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir,
+Ihr Bruder soll es nicht wissen! -- Ist er schon öffentlich verlobt,
+Frau Tönnies?«
+
+»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die
+ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n
+großen Slöpendriwer[48].«
+
+Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor.
+
+»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm
+'raus.«
+
+»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau.
+
+»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin
+eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?«
+
+Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich
+verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die
+Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es war am Ende gar
+kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende,
+langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm,
+und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei
+nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von
+Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen.
+
+Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief.
+Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte
+er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß.
+Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den
+Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich
+kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg
+sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom,
+der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen.
+Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen,
+und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor
+Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra
+schreien, -- aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen.
+Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von
+der glitzernden Fläche, die so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig
+weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer.
+
+Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, -- das waren keine
+Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen
+waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die
+Ritze. Ach so, der Briefträger war's, -- sie hörte ihn ans Fenster der
+Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die
+Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend.
+
+»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach
+der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen!
+Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich
+Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.«
+
+»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar
+Stunden hier an den Ärmeln zu tun.«
+
+»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte
+aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk'
+ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu
+sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das
+nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus
+sagen soll, -- ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders,
+wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung
+verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.«
+
+Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie
+die gute Frau noch gar nicht gesehen.
+
+»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm.
+
+»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, -- es is
+ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren[49], und der
+Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.«
+
+Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach
+dem Abendbrot, -- ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so
+zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen
+nach der Arbeit«, lachte sie.
+
+»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch
+nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau
+Tönnies davon, um sich anzukleiden.
+
+Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin
+Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu
+sich hereingucken.
+
+»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen Sommer hab' ich
+dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich
+man nich die Zeit lang werden, -- mein Bruder is das gar nich wert, daß
+--«
+
+»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin
+wieder allein.
+
+Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach
+Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen.
+Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die
+Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub
+bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine
+Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die
+Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen
+hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom
+Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling:
+die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus
+einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie
+zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte
+dabei. -- --
+
+»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen
+oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und
+stand auf den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber
+führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen
+Kopf da drinnen gezeigt.
+
+Das Mädchen stand sprachlos, -- das blaue Tuchgebäude war ihren Händen
+entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr
+in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen
+betroffen worden.
+
+»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am
+Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit
+belegter Stimme.
+
+Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«,
+stotterte sie.
+
+»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein
+unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die
+hervorbrach.
+
+»Stine ist aus.«
+
+»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!«
+
+»Sie müssen das Un-, -- den Südwester ja doch haben --«
+
+»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot
+und bestürzt, »Sie sind bei ~meinem~ Rock zu Gange?«
+
+Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte zu Boden, und der
+Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er
+der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht,
+daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin.
+
+»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte
+Antwort.
+
+»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte
+waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr
+schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der
+Waschbalje, hinter der sie stand.
+
+»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!«
+
+»Ach, Sie waren bei uns?«
+
+»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal -- allmählich 'mal -- Ihren
+Sonnenschirm wiederbringen -- sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe
+gewesen,« -- er errötete wie ein Knabe -- »ich mocht' immer nich
+'reinkommen.«
+
+»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht.
+
+Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge.
+
+»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,«
+platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das
+Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn
+müssen Sie das nich für ungut nehmen, denn kann das leicht geändert
+werden, -- das is all zum Abschrauben.«
+
+»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem
+schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und
+stürmte mit einem Seufzer davon.
+
+Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, -- richtig, da
+war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber
+was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes +M+
+und +H+? Überrascht wiederholte sie laut: »+M. H.+? +M.
+H.+?«
+
+Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin -- die andere
+Krücke.
+
+»Hier ist das andere -- wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte
+Stimme. Sie nahm es -- aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten
+Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit
+einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen
++M. H.+ zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende
+Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre
+Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh
+und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie
+hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit
+stürmisch festzuhalten. Das Mädchen richtete sich zuerst auf. »Nun muß
+ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest.
+
+»Das Beste weißt du noch nich.«
+
+»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn.
+
+»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger
+Zeit.«
+
+»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt.
+
+»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja
+auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja
+nicht wissen -- das kann ja sein -- vielleicht hab' ich Glück, daß sie
+mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie
+sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem
+Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich
+mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm
+die Augen naß wurden, ermannte sie sich.
+
+»Ich muß wohl ins Haus jetzt --« sie blickte an sich nieder -- »ich
+will mich schnell umziehen.«
+
+»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.«
+
+Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein
+kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.«
+Neben einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis
+sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere
+Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten.
+Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter
+Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und
+grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte
+das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem
+First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen
+rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach,
+aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.«
+
+Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande
+die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend.
+Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks,
+das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende,
+verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit
+den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten
+Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller
+Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und
+staunte hinunter und drückte sich fester die Hände.
+
+»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend,
+nachdenklich -- »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« -- --
+-- --
+
+Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine
+war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt,
+die Kinder bejubelten die neue Tante -- nur Kapitän Tönnies zeigte
+sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja
+schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein
+Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.«
+
+Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte
+beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte:
+»Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.«
+
+Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein
+bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein
+war.
+
+»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte
+sie befangen.
+
+»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar
+nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog
+sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine
+Weile ging er mit großen Schritten hin und her und ließ sie weinen.
+Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die
+Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter
+anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse,
+ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum
+zurück.
+
+»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was
+Unrechtes is es nich.«
+
+Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht,
+wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt.
+Es könnte sie nur ~glücklich~ machen, wenn sie's sähe, dies
+freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in
+heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen --
+aber der Kapitän zeigt's nicht -- er ist eben noch nie jemandem, auch
+seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen.
+
+
+
+
+ Balduin Groller,
+
+ Die Tante und der Onkel.
+
+ Eine Entlarvung.
+
+
+
+
+ Die Tante und der Onkel.
+
+
+ I.
+
+»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine
+Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch
+die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich
+auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen,
+und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner
+ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich
+stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas.
+Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen
+Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche
+Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet
+um einige beruhigende Zeilen
+
+ Dein alter treuer
+ Fridolin.«
+
+Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war
+ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, +Dr.+
+Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von
+Gerolstein seine guten Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf
+die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit
+Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die
+Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren,
+sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die
+auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen
+unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte.
+
++Dr.+ Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort
+hin, um es zu beantworten -- Zeit hatte er ja. Er schrieb:
+
+ »Mein lieber Junge!
+
+Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei,
+vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht
+erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast.
+Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis
+eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als
+Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre
+ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes
+antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe
+Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs
+Beobachtungszimmer. -- Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und
+hoffe noch auf eine gute Besserung.
+
+Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also
+~nicht~ ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm!
+Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen
+Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist
+der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben.
++Solamen miseris socios habuisse malorum.+ Ich weiß, man kann
+statt +miseris+ auch +miserum+ sagen; Du siehst also, ich
+bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich
+›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den
+Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner
+Verhältnisse ist er gerade großartig genug.
+
+Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ --
+das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich
+aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von
+Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit
+zu Zeit ein paar ~Ärzte~ Hungers stürben, so käme die Statistik
+gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das
+Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit
+stelle.
+
+Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres
+erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre,
+wegzusterben wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst
+auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist
+auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch
+nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir
+müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die
+Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu
+machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu
+verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen
+Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das
+heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein
+geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine
+Vorbedingungen -- dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man
+sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit -- nun, wir
+wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! -- aber Glück hast Du
+entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden
+also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden
+und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind
+sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen.
+
++Quae cum ita sint+ -- komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein
+würdiger Freund, und es fehlt mir nicht an Argumenten, eine große
+Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf
+weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst,
+und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir
+wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu
+arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und
+kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem
+Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten
+soll.
+
++Ad vocem+ Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht
+gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in
+Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß
+sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen
+können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter
+erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze
+Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in
+Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf
+eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger,
+Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit
+einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen
+Gefechtes von der Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit
+einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse
+erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe
+massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit
+hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht
+dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich
+habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen.
+
+Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig
+mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten
+Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen
+zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also
+die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie!
+
+ Dein schiefgewickelter Freund
+
+ Arnold.«
+
+Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte:
+
+»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden
+dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach
+Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet.
+
+ Dein F.«
+
+Die umgehende Antwort lautete:
+
+»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse
+Menschen, die von ihren Rechten einen unbescheidenen Gebrauch zu
+machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser
+~einen~ großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht
+ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt
+etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch
+weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür
+wäre ich sonst
+
+ Dein Freund A.«
+
+Darauf kam noch eine Erwiderung:
+
+»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade
+gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist
+zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt
+wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist?
+
+ Auf Wiedersehen!
+
+ Dein F.«
+
+Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen:
+
+»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und
+Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir
+wohl mündlich auseinandersetzen.
+
+ Ich drücke dich an meinen Busen!
+
+ Dein A.«
+
+
+
+
+ II.
+
++Cherchez la femme!+ hatte sich Arnold gedacht, als er, nach
+den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem
+Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen:
+
++Dr.+ Friedrich Bruckner -- von seinen Freunden immer nur Fridolin
+genannt -- hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital
+abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen
+Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem
+Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen
+großen Nichtstun bestehen. Fridolin -- wir zählen zu seinen Freunden
+und haben das Recht, ihn so zu nennen, -- Fridolin hatte sich für eine
+Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen.
+
+Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den
+Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung
+Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte
+aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht,
+das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort
+irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur
+schon ein bißchen lange her.
+
+Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf
+auszuschreiten, hatte er nicht; denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm
+ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen
+Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem
+Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es
+sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck,
+von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen
+lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße,
+die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins
+Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles
+Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu
+erblicken.
+
+Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen
+Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken.
+Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und
+sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es
+Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr
+verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land
+ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr
+gegen sich.
+
+Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes:
+in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im
+nächsten Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn
+herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte.
+Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und
+so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief:
+
+»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf
+die Bäuche!«
+
+Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem
+Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn.
+
+»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um -- schützen Sie --
+ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank
+ins Gras; sie war ohnmächtig.
+
+Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo
+er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein
+weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als
+alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und
+ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte
+sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute
+hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht.
+
+»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug.
+»Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen Kognak aus meiner Feldflasche. So
+ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.«
+
+»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge
+Dame mit matter Stimme.
+
+»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein
+Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können
+-- ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon
+abgerissen.«
+
+»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war
+nur so fürchterlich erschrocken.«
+
+»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die
+Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich
+denn für einen Mörder gehalten?«
+
+»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken
+bin, sondern was vorhergegangen ist -- es war entsetzlich!«
+
+»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In
+der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den
+Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin
+endlich auch ich da, -- mein Name ist +Dr.+ Friedrich Bruckner --
+und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen.
+Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie
+zu sterben, vollkommen überflüssig sind. Denn ich sehe -- leider! --
+keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.«
+
+»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins
+Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie
+wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß
+nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten --
+ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus
+meiner Tante geworden?«
+
+»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante
+sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine
+Blicke nach allen Richtungen hin schweifen.
+
+»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine
+Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.«
+
+Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem
+Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das.
+
+»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er.
+»Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt
+müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie
+sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr
+heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und
+vielleicht auch noch morgen quälen werden, während die Sache ganz
+bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt
+genügend ausruhen.«
+
+»Aber meine Tante --.«
+
+»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen,
+daß Sie sich krank machen.«
+
+»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!«
+
+»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen
+über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern
+sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die
+Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie
+sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.
+
+»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle,
+sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder
+aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu
+befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön
+sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?«
+
+»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.«
+
+»Das sehe ich. Ihr Aussehen -- alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt
+kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum
+Glück ist man nicht nur Arzt -- +homo sum+!«
+
+»So heißt ein Roman von Ebers.«
+
+»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein
+Roman hier ist mir lieber!«
+
+»Wenn nur die Tante --«
+
+»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie
+retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man
+kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und
+ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.«
+
+»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben.
+Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie
+sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar --«
+
+»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.«
+
+»Richtig; und ein Fenster hat sie auch --«
+
+»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter
+mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.«
+
+»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!«
+
+»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt.
+
+»Die war so -- ach Gott, wenn nur die Tante --!«
+
+»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!«
+
+»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie ßen wollte, da trugen
+die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß
+es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er
+ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit,
+sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.«
+
+»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?«
+
+»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.«
+
+»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?«
+
+»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, -- ach, du meine
+Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!«
+
+»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! -- Was geschah da?«
+
+»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes
+Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger
+transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes
+Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen,
+denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen
+konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht
+wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so
+mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an uns vorüberziehen zu
+lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der
+Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen
+Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr.
+Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen
+konnte, -- wie weit und wie lang, das weiß ich nicht -- und ich kam
+erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.«
+
+»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die
+Patientinnen in den Schoß fallen.«
+
+»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte
+Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir
+jetzt die Tante suchen.«
+
+»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission
+beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und --
+jetzt wollen wir die Tante suchen!«
+
+Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft
+darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in
+die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo
+seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des
+Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven
+Regun gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige
+medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war,
+drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes,
+liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt
+hatte.
+
+Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine
+Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte
+einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte
+nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit
+kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die
+richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu
+keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht
+aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie
+es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das
+Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber
+auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle
+Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende
+Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu.
+
+Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein
+unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe
+schwanken können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß
+er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es.
+
+Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische
+Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache
+Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts
+zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher
+Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also
+kombinieren.
+
+Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff
+wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als
+bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von
+fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen,
+daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden
+wird.
+
+Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente
+vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf
+auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die
+Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ,
+so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war
+immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal
+separat aufgerechnete Echo, das seine zärtlichen Rufe »Tante, teuerste
+Tante!« beantwortete.
+
+Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der
+Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte
+sein können, aber -- der Genius der Menschheit wird ersucht, hier
+sein Antlitz zu verhüllen, -- Fridolin erklärte dagegen auf das
+bestimmteste, daß zur ~Rechten~ etwas durch die Zweige geschimmert
+habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe.
+Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein
+Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in
+Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante.
+
+So sind die Männer! Und so ist die Welt!
+
+Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen
+war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer
+Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin
+sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der
+von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun
+zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte
+die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles
+in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein geholt
+werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im
+Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen
+begegnete -- es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin,
+alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war --, zu fragen, ob sie
+keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und
+bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu
+wollen.
+
+So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht
+gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin
+tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war
+bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem
+langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe
+nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer
+freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das
+wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut
+beraten, was nun weiter zu geschehen habe.
+
+»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich
+habe nicht einen Pfennig bei mir!«
+
+»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie
+werden mir zusehen!«
+
+Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden Sie mir aber doch auch
+geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!«
+
+»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.«
+
+»Die Tante wird Ihnen dann schon alles --«
+
+»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden
+zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen
+darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!«
+
+Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und
+die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken,
+mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im
+Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe.
+
+»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf
+einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt
+Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?«
+
+»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist
+klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres
+Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre
+gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die +p. t.+
+Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.«
+
+»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie
+schneiden herunter!«
+
+Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden
+hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die
+Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der
+Nacht nichts geschieht.«
+
+»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«,
+meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont
+aufsteigenden Mond deutend.
+
+»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe.
+Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für
+prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.«
+
+Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs
+Herz.
+
+»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich
+weiß nicht, was mit mir geschehen soll.«
+
+»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante
+heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.«
+
+»Glauben Sie wirklich?«
+
+»Ich möchte sagen, ich ~weiß~ es. Um diese Zeit werden Tanten
+nicht mehr gefunden.«
+
+»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt.
+
+»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?«
+
+»Das ist ja nur um so schlimmer!«
+
+»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich
+höflichst zu empfehlen!«
+
+»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!«
+
+»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!«
+
+»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank
+verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein --«
+
+»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein
+desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins
+klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen
+sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer
+Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie
+heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!«
+
+»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem
+Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante
+gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen.
+
+»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?«
+
+»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum verbeugen Sie sich denn?
+Da ist doch nichts so Großes dabei!«
+
+»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag
+zurück in die Pension?«
+
+»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist
+zugesperrt.«
+
+»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie
+abholte?«
+
+»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.«
+
+»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz;
+zurück nach Gerolstein?«
+
+»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach
+Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und
+schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.«
+
+»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich
+Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache
+ist nicht so einfach!«
+
+Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu
+ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.
+
+»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe
+ich sofort auf und davon! Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier
+in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?«
+
+»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten
+heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.«
+
+»Sie wissen nicht, wo?«
+
+»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt,
+und ich hatte nach nichts gefragt.«
+
+»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?«
+
+»Jawohl!«
+
+»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?«
+
+»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu
+kümmern; ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.«
+
+Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen
+sollte.
+
+»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das
+Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund
+der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige
+Vermutung kommen, was ~sie~ nun wohl anfangen wird. Was glauben
+Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?«
+
+»Ängstigen wird sie sich!«
+
+»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung wird nicht ausreichen,
+uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun.
+Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr
+die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach
+Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja
+etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos
+und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind,
+und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man
+es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist
+oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen
+sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben
+und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte
+ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube
+vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte
+zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher,
+als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin
+zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind.
+Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß
+wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹
+übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet ist, wird sich
+dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.«
+
+Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so
+wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach
+Dresden brachte.
+
+»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden
+zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom
+Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich
+entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen.
+
+»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin,
+»für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein.
+Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl
+nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein
+reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich
+immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber
+morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob
+sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.«
+
+»Ich habe keine Eltern mehr.«
+
+»Aber ein Heim haben Sie doch dort?«
+
+»Ja, bei meinem Onkel.«
+
+»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?«
+
+»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.«
+
+»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie
+sogar nur noch mich als Beschützer!«
+
+»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor.
+Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren
+so lieb zu mir -- wie soll ich Ihnen nur danken?«
+
+»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!«
+
+»Sie? Wofür denn?«
+
+»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der
+Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist
+eigentlich alles gesagt.«
+
+»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!«
+
+»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute.
+Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken
+haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn
+Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir
+verbracht zu haben?«
+
+»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur
+so!«
+
+»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach
+Gerolstein oder, wenn es gut geht, nach Wien, nach Frankreich, -- Gott
+weiß, wohin noch? -- mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen
+Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie
+wiedersehen!«
+
+»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über
+ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht
+bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen,
+durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den
+Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit
+stiller Freude.
+
+»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer
+Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst
+vergessen haben.«
+
+»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt.
+
+»Sie werden!«
+
+»Gewiß nicht!«
+
+»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf
+Nimmerwiedersehen auseinander sollen?«
+
+»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge
+Käthe.
+
+»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit
+sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die
+Idee blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde
+als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung
+geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer
+Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer
+Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren,
+daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es
+für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit
+einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch
+den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde,
+und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu
+verkümmern.
+
+»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit
+einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere
+Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen
+gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz
+andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem
+eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in
+Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die
+letzte Erinnerung an mich verwischt sein!«
+
+»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß
+nicht!«
+
+»Oh, ich weiß das besser!«
+
+»Das können Sie nicht besser wissen!«
+
+»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das
+Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!«
+
+»Jetzt bedauern Sie es auch noch!«
+
+»Habe ich nicht alle Ursache dazu?«
+
+»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das
+Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue
+mich an dem, was ist und was wirklich war.«
+
+»Fräulein Käthe?«
+
+»Herr Doktor?«
+
+»Ich möchte Ihnen etwas sagen.«
+
+»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.«
+
+»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?«
+
+»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.«
+
+»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja
+gleich unter Menschen! -- Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen
+voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so
+gar nichts angehen.«
+
+»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir --« sagte Käthe
+nun ängstlich stockend.
+
+»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte:
+Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher
+vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!«
+
+»Nein, das ist noch nicht unritterlich.«
+
+»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?«
+
+»Herr Doktor!«
+
+»Ist es unritterlich?«
+
+»N--ein -- ich glaube, -- es ist nicht unritterlich.«
+
+»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig -- ein ganz klein bißchen --
+gut sein können?«
+
+»Herr Doktor, -- ich bitte Sie --«
+
+»Ist es unritterlich?«
+
+»Ich weiß nicht, ob --«
+
+»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen
+gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!«
+
+»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!«
+
+Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen
+Abschiedskuß.
+
+»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste.
+
+»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen
+Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch.
+Käthe!«
+
+»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd
+still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem
+ihrigen nahebrachte.
+
+»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er
+leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!«
+
+Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er
+dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch
+unritterlich, sondern einfach natürlich. --
+
+»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob
+du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?«
+
+»Vielleicht!«
+
+»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen
+sollen?«
+
+»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen -- und mich finden!«
+
+Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante
+schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen.
+
+
+ III.
+
+So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß
+begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel
+war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen herabgesandt.
+Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch --
+von wegen der Tante! -- nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren
+voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder
+zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen
+die Formel gefunden: Du wirst mich suchen -- und mich finden!
+
+Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des
+berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe
+seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich
+einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren
+sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein.
+Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen
+Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund
+des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen
+Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte
+er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen
+Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte.
+
+Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand
+es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren,
+da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine
+Begegnung mit Käthe bringen. Gerolstein war nicht so groß, daß ein
+schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird
+Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes
+ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen
+würde.
+
+In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall
+sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte,
+sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm
+allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine
+ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit,
+die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem
+gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen.
+
+Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine
+herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter
+Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um
+ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der
+Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den
+offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber
+der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde
+Arnold. Das Schreiben lautete:
+
+»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen
+großartigen Kriminalfall vertieft. Zur vollständigen Vernichtung des
+Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. -- Der Geh.
+Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist
+glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als
+eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in
+Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit
+schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn
+Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten.
+
+ Dein wohlaffektionierter F.«
+
+Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu
+später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte
+darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den
+Rechtsanwalt +Dr.+ Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im
+Bette empfing.
+
+Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker
+der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt
+und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle
+Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich -- er hatte solche
+Schmerzen in der Seite -- eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer
+schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im
+Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs
+war eine stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle
+Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und
+das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch
+Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und
+wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen
+immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben
+Tage bei einem ~Früh~schoppen begehen konnten. Solche Bosheiten
+begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der
+Zivilisation erfreut.
+
+Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen:
+den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den
+»Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt
+war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen
+»Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der
+Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des
+Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das
+heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine
+oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben
+verbitterte.
+
+Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten?
+»Gerolsteiner Radfahrerklub ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum
+»Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten
+sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König
+Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im
+Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst
+gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, --
+es steckte eine große Bosheit dahinter.
+
+Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht
+beliebt -- das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind
+bei der Opposition niemals beliebt -- und sie setzte ihm zu mit
+Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit
+Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt«
+so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere +Numa
+Pompilius+, der zweite König Roms, und so oft +Numa Pompilius+
+im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt
+war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle
+Maßen wütend. Denn unter +Numa Pompilius+ war immer ~er~
+gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen
+aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre
+Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß
+eine hohe Behörde ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu
+niederträchtig.
+
++Numa Pompilius+ wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man
+hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen,
+um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr
+um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. +Egeria+
+war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und
+man wußte, daß auch der Gerolsteiner +Numa Pompilius+ von einer
+Gerolsteiner +Egeria+ beraten wurde.
+
+Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim
+war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung
+neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe
+hatte es ihm angetan.
+
+Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht,
+wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden
+wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie
+eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man;
+das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte
+und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil
+eine weise +Egeria+ da war, wurde ~er~ +Numa Pompilius+
+genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal
+aufgekommen war, da tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie
+schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen
+Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines
+etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten,
+glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie
+aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein
+nur so gegangen wäre!
+
+Jetzt war die Analogie mit +Numa Pompilius+ und +Egeria+ erst
+recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres
+Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier«
+auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit +Numa
+Pompilius+ nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch
+durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe
+Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des
+Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die
+seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten
+bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso
+streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die
+wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen
+Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer
+Befriedigung voraussetzten -- und da war dann eigentlich nichts mehr
+zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner
+unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die
+»Numidier« nun als eine Art Leibgarde für +Numa Pompilius+
+aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man
+sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer
+der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose
+zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und
+ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem
+auch noch grob anfuhr.
+
+Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern
+nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren
+in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein
+unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das
+erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war
+alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden.
+Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte
+auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war
+verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum
+er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte
+an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine
+Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war
+polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte
+nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war
+ganz in der rechten Stimmung dazu.
+
+So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten
+berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und
+Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die
+Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches
+Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung
+eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden
+Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das
+ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden.
+Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es
+war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald
+einsah, daß er als Doktor +juris+ hier nicht zu dem gewünschten
+Resultate gelangen werde.
+
+»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein +Medicinae+ Doktor
+her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.«
+
+»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende
+Ministerpräsident.
+
+»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier
+nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen
+Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein
+niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend
+rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine
++Dr.+ Bruckner?«
+
+Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch
+und fertigte das Schreiben an Fridolin ab.
+
+Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen.
+
+»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im
+klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene
+Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?«
+
+»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz
+gewaltig!«
+
+»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz
+haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße
+für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig
+zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz -- es ist nur
+natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was
+aber sagte der Attentäter?«
+
+»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte
+genau so wie ich, nur viel gröber.«
+
+»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie
+lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?«
+
+»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr
+geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen,
+auch noch verhöhnt!«
+
+»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns
+nicht gefallen zu lassen.«
+
+»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er
+liege auch nicht auf Rosen.«
+
+»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?«
+
+»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht
+auf die Gasse gehen!«
+
+»Das ist stark!«
+
+»Und dann -- sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das
+eigentlich, ein Pneumatik?«
+
+»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten
+Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.«
+
+»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich,
+das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine
+Laterne an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint,
+da ich doch keinen Pneumatik habe?«
+
+»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten -- ich glaube, der Mensch hatte
+die Vermessenheit, auf das -- das Embonpoint Ew. Exzellenz
+anzuspielen!«
+
+»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den
+Bauch hängen soll?«
+
+»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.«
+
+»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!«
+
+»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben
+werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon
+sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen
+schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose
+Ew. Exzellenz als +Corpus delicti+ produzieren, und +Dr.+
+Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über
+welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.«
+
+In diesem Moment meldete der Lakai, daß +Dr.+ Friedrich Bruckner
+um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden.
+
+»Ach, +lucus in fabula+!« sagte der Exzellenzherr, er sagte
+wirklich »+lucus+«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend
+hinzu.
+
+Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und
+seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er
+verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da
+richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine
+Wort:
+
+»Hinaus!«
+
+Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert:
+
+»Der Mann mit dem Pneumatik!«
+
+Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort
+eine junge Dame mit der Frage bestürmte:
+
+»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?«
+
+Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die
+junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse -- es
+war Käthe.
+
+»Käthe! Du -- Sie -- gnädiges Fräulein -- hier?«
+
+»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen.
+
+»Und der da drin ist dein -- Ihr -- unser Onkel?«
+
+»Natürlich!«
+
+»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!«
+
+»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.«
+
+»Und die Tante?«
+
+»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort.
+
+»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin
+ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!«
+
+Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation
+ein vorzeitiges Ende.
+
+
+ IV.
+
+»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime
+steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte.
+»So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum
+Velozipedfahren?«
+
+»Ich bitte dich -- in Gerolstein!«
+
+»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!«
+
+»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich
+bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich
+allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an
+dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.«
+
+»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!«
+
+»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze
+der lieben Straßenjugend von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel
+darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen
+ausgesucht.«
+
+»Was gedenkst du nun zu tun?«
+
+»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!«
+
+»Mensch, bist du verrückt?!«
+
+»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich
+bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß
+dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der
+Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht
+hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar
+noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu
+werfen.«
+
+»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der
+Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen
+bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer
+Radfahrer!«
+
+»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer
+Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den
+miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse,
+und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im
+Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig
+tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat.
+Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens
+auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die
+Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.«
+
+Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf
+zusammen.
+
+»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!«
+
+»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen
+›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen
+gefallen!«
+
+»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.«
+
+»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹
+begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.«
+
+»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß
+auf den Hals!«
+
+»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.«
+
+»Fridolin, man wird dich einsperren!«
+
+»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt!
+Übrigens -- die beste Art der Verteidigung ist -- anzugreifen. Ich
+werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann --«
+
+»Und dann?«
+
+»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!«
+
+»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum --
+Gerolstein?!«
+
+»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.«
+
+»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und
+verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!«
+
+»Eins schließt doch das andere nicht aus!«
+
+»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!«
+
+»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel
+nicht einen Schafskopf heißen!«
+
+»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade,
+daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen
+Sensationsprozeß daraus gemacht!«
+
+»Das kannst du ja noch, -- nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für
+mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt
+angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen
+zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden,
+du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu
+einer imposanten Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht
+schaden.«
+
+»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!«
+
+»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch
+nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen
+aufgelesen hast!«
+
+»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen
+Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es
+sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu
+prozessieren als für ihn.«
+
+»Ich könnte« -- fuhr der Rechtsanwalt fort -- »nun ganz gut das mir von
+ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung
+übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt
+hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt
+werde und sich in Wohlgefallen auflöse.«
+
+»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.«
+
+»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig
+entschuldigen.« --
+
+
+ V.
+
+So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn
+gedacht hatte. Herr Besenbeck, der gebietende Staatsmann, wollte
+von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich
+verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins
+Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen
+können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche
+gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug
+zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu
+fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn
+kennen lernen.
+
+Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins
+geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein
+abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der
+kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung
+zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen
+Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh,
+meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt
+riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte
+Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich
+selbst.
+
+Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht
+zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt.
+
+Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold doch für rätlich, die
+Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben.
+
+»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des
+Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich
+umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade
+der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei.
+
+»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich
+schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen
+gibt es keine Einwendungen.«
+
+»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben
+versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht
+retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse
+--«
+
+»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen
+Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse
+stattgefunden hat?«
+
+»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir
+gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.«
+
+»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon?
+Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die
+Schleiermachergasse nicht genannt werden.«
+
+»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige
+Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben
+an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als
+naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung
+in der Schleiermachergasse --«
+
+»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen
+nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand
+noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des
+Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich
+beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu
+bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand
+und an meine Instruktion zu halten.«
+
+»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.«
+
+Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte
+sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit
+den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines
+Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich
+mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In
+der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria,
+-- die schöne Baronin Waltersheim wohnte in der Schleiermachergasse!
+Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin
+nicht mehr schlimm werden.
+
+»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach
+einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß
+von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus
+geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch
+manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen,
+und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache
+vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß -- die
+Opposition zerschmettert haben!«
+
+Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem
+eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch
+sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte
+geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war.
+
+»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht
+wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele.
+Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen
+doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben
+sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern und
+das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der
+Lohn für unsere Mühe sein!«
+
+Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des
+Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm
+verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in
+zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch
+einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh
+tun wollte.
+
+Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der
+»Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt
+geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr
+ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches
+Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der
+Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst
+überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte.
+
+Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner
+letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau.
+Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem
+Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich
+noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder
+»regieren« gehen müsse.
+
+»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten
+das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze!
+Unsere Sache steht ausgezeichnet!«
+
+Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das
+Schriftstück vorzulesen, und Arnold las:
+
+ »~Gerolsteiner Radfahrerklub
+ ›Die Numidier‹.~
+
+ An Se. Hochwohlgeboren Herrn +Dr.+ Arnold Winter,
+
+ Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias
+ Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums
+ Gerolstein
+
+ in Gerolstein.
+
+ Hochgeehrter Herr!
+
+Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis
+erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz
+der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und
+Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es
+hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten,
+ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre
+Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein
+einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen
+vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem
+Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie
+Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen
+Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.«
+
+»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las
+weiter:
+
+»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir
+begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied
+~preisgeben~, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig
+ist, dem ~Strafverfahren anschließen~!«
+
+»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon
+haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!«
+
+»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig
+lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las:
+
+»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses,
+daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft
+werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung
+des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf
+der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn ~ein~
+Radfahrer schuldig ist, es doch nicht ~alle~ sind; wir wollen
+zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame Sache
+machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu
+zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere
+Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der
+nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur
+gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich
+nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich
+dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger
+Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der
+Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu
+umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve
+die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission
+in die ~Schleiermachergasse~ entsendet werden, damit sie den
+Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12
+in der ~Schleiermachergasse~.«
+
+»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. -- In dem Hause
+Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. -- Der junge
+Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter:
+
+»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden,
+des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an
+die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern, sich der
+Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur
+festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die
+Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln.
+--«
+
+»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12
+veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem
+Ingrimm. -- Arnold las weiter:
+
+»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht
+warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung
+zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf,
+Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich
+in die ~Schleiermachergasse~! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.«
+
+Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft.
+
+»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag
+soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren
+Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt,
+kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel
+führen: ›~Die Katastrophe in der Schleiermachergasse~‹ -- denn
+eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer
+müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit
+Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es soll ihnen gesagt werden, daß
+jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe,
+nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten
+nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren
+Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie
+Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die
+Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte
+er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des
+Staates erwägend -- und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher
+sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren
+Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz
+auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen,
+den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung
+hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu
+wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht
+einschlafen zu lassen.
+
+ Mit sportlichem All Heil!
+
+ +Dr.+ A. ~Wohlrab~, Präsident.
+ +Dr.+ Fr. ~Bruckner~, dzt. Schriftführer.«
+
+»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der
+Schriftführer heißt +Dr.+ Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe,
+der --«
+
+»Es scheint.«
+
+»Das ist stark!«
+
+»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst
+den Stab über sich bricht.«
+
+Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl
+etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des
+Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das
+nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein.
+
+Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als
+ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge
+beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr
+leutselig:
+
+»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu
+verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen
+Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen
+nachzugehen.«
+
+Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das
+Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte
+»abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, -- die Sache sei es
+ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn
+für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei;
+er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich
+daran doch gar nicht erinnern!
+
+Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer
+weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der
+gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt
+werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident,
+die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für
+wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit
+dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität.
+Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die
+entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine
+hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets
+eine nachdrückliche Förderung erfahren solle.
+
+»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man
+Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank
+und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die
+Leidenschaften zu entfesseln.«
+
+Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende
+und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm
+nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene
+gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen
+müsse.
+
+Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr.
+Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die
+»Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls,
+nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber
+der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft
+zu bringen.
+
+»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt.
+
+»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!«
+
+»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.«
+
+»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.«
+
+»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.«
+
+»Damit will er sich nicht mehr begnügen.«
+
+»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?«
+
+»Das würde er für ungesetzlich halten.«
+
+»Ja, was in aller Welt will er sonst?«
+
+»Er will seinen Prozeß.«
+
+»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug
+und berittenen Bannerträgern vielleicht?!«
+
+»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein
+Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.«
+
+»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten
+keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis,
+hören Sie -- um jeden Preis?!«
+
+»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich
+wage nicht --«
+
+»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!«
+
+»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich
+kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die
+Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich
+höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur
+von einem Familienmitgliede gefallen lassen.«
+
+»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und
+mir herzaubern!«
+
+»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies
+doch möglich wäre.«
+
+»Das ist ja ein kompletter Narr!«
+
+»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt --
+sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. -- +Dr.+
+Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von
+ihr wiedergeliebt.«
+
+Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann
+wieder von sich wie ein Blasebalg. Die mächtige Präsidentenglocke
+wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet,
+daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe.
+Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl.
+
+»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen
+Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn
+wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?«
+
+»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«,
+erwiderte Käthe.
+
+»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!«
+
+»Den würde ich allerdings nicht nehmen!«
+
+»Nicht?! Warum nicht?«
+
+»Weil ich keinen Prinzen will.«
+
+»So -- das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun
+aber kein Prinz wäre -- aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe,
+-- wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, -- kennst du einen
+Herrn +Dr.+ Friedrich Bruckner?«
+
+Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja!
+
+»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?«
+
+»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die
+Staatsräson da verlangen sollte --«
+
+Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund
+aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an
+die Brust.
+
+»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie
+ihn küßte.
+
+Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold
+hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte:
+
+»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und
+so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen
+Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde
+werden würden!«
+
+
+
+
+ Eine Entlarvung.
+
+
+Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend
+Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten
+pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein
+industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren,
+um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter -- seine
+einzige Tochter -- hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise
+angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren
+einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem
+entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind,
+im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles
+Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles
+natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst
+selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde.
+
+Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden
+exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte
+Carlo auftauchen. Er machte sich also schleunig auf und kam und
+sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten
+Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen
+noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer
+unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit
+herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte
+er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch
+zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt
+wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das
+er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den
+»Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt
+der Hinauswurf erfolgen.
+
+Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in
+der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten
+Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die
+beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen
+Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und
+starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem
+Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit
+gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen,
+mit wunder hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger
+Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von
+der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und
+machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken.
+Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen.
+
+»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.«
+
+»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte
+aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den
+gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe.
+
+»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften
+lassen kann.«
+
+»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich
+mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu
+wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei
+raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!«
+
+Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er
+dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen
+Zündhölzchenbehälter mit Feuer.
+
+»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.«
+
+»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht.
+Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!«
+
+»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.«
+
+»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind,
+beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich
+lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters
+zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat
+manchmal so seine kleinen Launen!«
+
+»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von
+Ihrem hohen Roß herabzusteigen.«
+
+»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.«
+
+»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg
+in Mähren.«
+
+»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in
+Abrede zu stellen.«
+
+»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben,
+achtundzwanzig.«
+
+»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir
+die achtundzwanzig geglaubt hat.«
+
+»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie
+zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!«
+
+»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf Jahre habe ich aus
+meinem Leben gestrichen, -- bleiben genau achtundzwanzig. Ich war
+berechtigt dazu. Denn -- sagen Sie selbst, Herr Rodebach -- so ein
+Leben in den Gefängnissen -- ist denn das wirklich ein Leben?!«
+
+»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem
+Zimmer zu jagen!«
+
+»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang,
+und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie
+also durchaus wollen -- bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen
+abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das
+wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal
+die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine
+bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, -- und
+Nervenschocks sind nicht billig!«
+
+»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der
+Verstand stehen!«
+
+»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf
+den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich
+gewählt haben. Ich fühle mich -- Sie wissen sehr wohl, aus welchen
+zarten Rücksichten --«
+
+»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort ~davon~ zu sprechen.«
+
+»-- verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer
+tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was
+Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen,
+europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben
+als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, --
+ich beschönige nichts -- die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern
+der Name Ihres Hauses -- reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu
+ungleich zu Ihren Ungunsten.«
+
+»Darin haben Sie allerdings recht!«
+
+»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und
+korrekt zu handeln.«
+
+»Der edle Stolz eines Gauners!«
+
+»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß
+Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich
+~Ihr~ Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als
+Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser
+für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge
+ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen
+Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja,
+es spricht sich besser, wenn --«
+
+»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre. Das Vergnügen, einen
+philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße
+genossen sein.«
+
+»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre
+Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie
+mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel
+eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in
+Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer
+noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern
+sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch
+einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach.
+Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden
+Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich
+damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt -- ich werde keinen unedlen
+Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen,
+vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven.
+Aber ich bitte -- entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es
+doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte
+Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter
+verlobt!«
+
+»Das ist erlogen!«
+
+»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten.
+Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der
+angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von
+schriftlichen Beweisen vorzulegen. -- Hat sich mit meiner Tochter
+verlobt, hat sie geküßt --«
+
+»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!«
+
+»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern.
+Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche
+Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und
+meiner nicht minder hochverehrten Braut.«
+
+Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte
+Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur
+Besonnenheit.
+
+»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren
+nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position
+als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen
+beweisen, daß Sie selbst ~mir~ die Mittel an die Hand gegeben
+haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen
+hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer
+gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin.
+Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment
+der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten Ehrenbeleidigung
+erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es
+gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes
+Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der
+Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.«
+
+»Auf alle Gefahr hin -- Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter
+Schurke!«
+
+»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere
+Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so
+würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern
+sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber
+hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da
+würden Sie heilig eingehen.«
+
+»Ich würde es darauf ankommen lassen.«
+
+»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der
+Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie
+irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten
+Angehörigen viel zu hoch.«
+
+»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!«
+
+»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht
+ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich -- ich habe das Herz Ihrer
+Tochter gewonnen!«
+
+»Reden Sie nichts davon!«
+
+»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar
+werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine
+Heilige. Sie hat mich liebgewonnen -- ich stelle es unter Beweis! --,
+und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht
+sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste
+Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem
+Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie
+nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und
+ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden
+ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben -- was weiß
+ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, -- da kann sie, wenn
+sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich
+haben ...«
+
+»Ein Vorurteil -- gegen einen Betrüger?!«
+
+»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht,
+daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung
+den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf
+ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der
+Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den -- Minder klugen.
+Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht
+anders im Kampf ums Dasein.«
+
+»Wie bereits erwähnt -- ein philosophischer Gauner!«
+
+»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und
+darum -- es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach --, trete ich zurück und
+gebe meine Ansprüche auf.«
+
+»Reden wir deutlich. Was kostet das?«
+
+»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt.
+Ferne sei es von mir --«
+
+»Keine Redensarten! Was kostet's?«
+
+»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft --«
+
+»Der Hochstapelei!«
+
+»Die Hochstapelei -- war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu
+hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche
+Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube
+ich das Auslangen finden zu können.«
+
+»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.«
+
+»Mit zweitausend Mark monatlich --«
+
+»Monatlich?!«
+
+»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen
+Ansprüchen mein Leben fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr
+Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen
+und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen
+Preis.«
+
+»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!«
+
+»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen.
+Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt
+erhalte.«
+
+»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie
+in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort
+verlautbaren lassen!«
+
+»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn
+ich diese Bedingung nicht einhalte.«
+
+»Wünschen Sie etwas Schriftliches?«
+
+»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe
+bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste
+Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.«
+
+»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen
+werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen
+sofort ab.«
+
+»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch anstandshalber eine kleine
+Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, -- ich bin
+momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht
+erlauben --«
+
+»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken.
+Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs -- Sie haben nicht schlecht
+gelebt, Hofmann!«
+
+»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich -- auf
+Ferien war.«
+
+»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!«
+
+Eine Verbeugung -- und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen
+weniger auf der Welt.
+
+ * * * * *
+
+Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein -- +esprit d'escalier+!
+Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben
+gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und
+Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst -- zu
+spät -- erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache
+übertragen hätte -- er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er
+war's auch so zufrieden.
+
+
+
+
+ Wolfgang Lenburg,
+
+ »Straße 27«.
+
+ Aus »Oberlehrer Müller«.
+
+
+ Mit Genehmigung der Verleger ~Gebrüder Paetel~ in ~Berlin~
+ aus ~W. Lenburg~ »~Oberlehrer Müller~«.
+ Gbd. M. 3.--
+
+
+
+
+ »Straße 27«.
+
+Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit
+dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der
+Beschämung.
+
+Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen
+können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn
+wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe
+des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber
+war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch
+hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie
+erster Stock.«
+
+Wer Berlin +W+, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu
+schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die
+Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar
+zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete,
+Rückkompanie und Kulturmangel.
+
+»Straße 27!«
+
+Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen Balkons zum
+Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und
+darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten
+Nasen.
+
+Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein
+Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im
+Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung
+nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes
+Einkommen und manche Nebeneinnahmen!«
+
+Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch
+meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem
+Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft!
+
+Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in
+der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich
+sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen.
+
+Welch törichter Aberglaube!
+
+Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe
+der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der
+Menschen zu roden.
+
+Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie hören, daß ich jetzt in
+der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist
+wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!«
+
+Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad,
+fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur
+stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen
+auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher
+ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« -- Rückzahlung bis 1930
+ausgeschlossen -- zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich
+noch nie von Rönne losgekommen.
+
+Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, -- aber
+es ist gar nicht so schlimm!«
+
+Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch
+nicht »da hinten«, sondern in Berlin +W+. Ja, ~wirklich~, in
+Berlin +W+, und dicht am Kurfürstendamm.
+
+Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen
+Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen
+Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd
+aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die
+Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite.
+
+»Holla, siebenundzwanzig -- vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der
+Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie
+steht's?«
+
+Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit
+meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter +Dr.+ Scherbe, ebenso
+überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich
+den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34
+mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne.
+
++Dr.+ Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend
+die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen
+Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie
+wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen.
+Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so
+wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht
+passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: ~bisher~.
+~Jetzt~ aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.«
+
+»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen
+Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›+nick-names+‹.«
+
+»Na, Verehrtester,« erwiderte +Dr.+ Scherbe mit beschwichtigender
+Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders
+denn als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen
+›Scherbengericht‹ zu danken? -- Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch
+als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich
+und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher
+Nummer.«
+
+»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen.
+
+»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein
+Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten
+Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens
+beantragt und durchgesetzt.«
+
+»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht
+fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.«
+
+»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber
+ein anderer, ~ganz~ neuer Beiname für Sie gewählt worden, und
+zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von ~mir~.«
+
+Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in
+finsteren Haß zu verwandeln.
+
+»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem
+Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine
+merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre
+Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die
+von den sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug
+ich für Sie den Namen ›~Der Taxameter~‹ vor.«
+
+»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit
+unverhohlenem Mißbehagen.
+
+»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd,
+»die Kerls haben ja ~so~ gelacht!« -- -- --
+
+
+
+
+ Straße 27 erhält endlich einen Namen.
+
+Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch
+bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald
+nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major
+hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen,
+doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit
+hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium
+niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen.
+
+Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel,
+Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier
+von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär
+a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen.
+
+Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern
+aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten
+und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso
+bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an
+sich geringfügigen Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man
+solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen
+Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück.
+Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein
+müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und
+Schusters nicht die schuldige Ehre an, »~Hans~-Sachs-Straße«
+aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn
+Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen
+Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten,
+die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den
+Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die
+Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem
+bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die
+Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt
+werden.
+
+Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen
+eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts
+gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er
+nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch
+die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle,
+den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum
+Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er
+selber müsse offen bekennen, daß er von der Mar~litt~ wohl schon,
+aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört
+hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch.
+
+Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja
+»einen Komponist schließen« und die Straße »~Marlitt~straße«
+nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein
+Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob
+die ~Marlitt~ eine Schuster~tochter~ war, so sympathisch
+ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf
+»Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde.
+
+Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar
+manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer
+vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände
+nur verwechselt hätten, und ~der Marlo~ und ~die Marlitt~
+möglicherweise ~eine~ Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen
+gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein
+Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer
+Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl
+er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht
+fassen, daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft
+aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so
+sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller
+und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine
+Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
+unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel,
+dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten
+Mamsell«.
+
+Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja,
+es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe
+aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden
+irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer
+Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten.
+
+Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner ~sämtlicher~
+Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe
+~noch~ Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und
+jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest.
+
+So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und
+der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin
+durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil
+schon recht fidelen Buchstaben namens der versammelten Bewohner der
+Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »~Marlittstraße~« zu
+benamsen, besonders »~in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine
+Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
+unserer Dichtkunst zu verdanken haben~«.
+
+Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht
+selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber
+Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den
+ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt.
+
+Wie der ~eigentliche~ und endgültige Schlußakkord jenes Abends
+geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist
+nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn
+noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und
+Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben.
+
+Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst
+am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich
+auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel
+widerspiegelte. --
+
+Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die
+Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des
+alten Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist
+er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine
+Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, -- ihm
+ist ein Söhnlein geboren.
+
+Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem
+braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig
+in der Marlittstraße wohnen muß.
+
+Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen
+Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen,
+und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat
+von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen
+versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische
+Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt.
+
+Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung:
+~Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße~.
+
+
+
+
+ Wir müssen ziehen.
+
+Schade!
+
+Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist!
+
+Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden
+würde.
+
+Aber schade ist's doch!
+
+Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer
+Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark
+mehr zahlen, -- das geht beim besten Willen nicht.
+
+»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen
+Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen
+zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches
+Eheleben begonnen haben.«
+
+Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und
+weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. --
+
+Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu
+können, das heißt -- noch bei ~Leb~zeiten.
+
+Ach, wir modernen Nomaden!
+
+Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem
+Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch
+einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht.
+
+Wo sie ihr Nest wohl hat? -- Sicher nicht an unserem Hause!
+
+Großstadt und Schwalbennest!
+
+Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja,
+~da~ war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem
+grünumrankten Vaterhause.
+
+Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater,
+der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich,
+wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, ~der~ hatte
+ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen
+gehörte!
+
+Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die
+vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft
+der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der
+Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und
+gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser
+schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher
+gefiederter Sängerchor!
+
+Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche
+Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und
+Gebieter hauste.
+
+Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde!
+
+Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht
+mein Herz in Sehnsucht schwellen.
+
+Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden
+und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die
+Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem
+Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie
+sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten,
+während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle
+Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der
+scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt.
+
+Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu
+werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine
+Wünsche ruhiger und immer ruhiger, -- bis sie ihn hinaustrugen aus dem
+Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft
+hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. -- --
+
+Und ~mich~ hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich
+sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem
+sonnigen Garten meiner Kindheit.
+
+Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem
+Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und
+ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's
+jetzt noch recht kämpfen.
+
+Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe
+Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein
+Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet
+hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt.
+
+Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. --
+
+Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen
+Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend
+entgegenhält.
+
+Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh
+hinausgeschaut in den linden Septembertag?
+
+»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben
+hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's nicht
+aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das
+Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« --
+
+Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen
+nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden
+von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend
+und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als
+wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten.
+
+Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken
+nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt
+»unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte
+zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch
+empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte.
+
+»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie
+wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz
+unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr
+Haupt an der Brust des Mannes barg?«
+
+»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr
+wohl.«
+
+»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint
+ihnen so hell wie uns eitel Lust und Freude aus den Augen des kleinen
+Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder
+zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten
+hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? --
+Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?«
+
+Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren
+Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an
+meiner Brust verborgen und antwortet nicht.
+
+Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen
+und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse
+andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein
+dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den
+Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen.
+
+»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau
+oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und
+haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen
+Wohnungswechsel freue!
+
+~Gewiß~ freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie
+ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und
+~das~ fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn wir
+eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich
+Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie.
+
+Wie schön, und welche Ersparnis!
+
+Oder wenn's nicht ~so~ ist, dann doch immerhin ~Aussicht~ auf
+Bäume und Gärten. Oder wenn's auch ~das~ nicht ist, so könnten
+wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und
+meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen.
+Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch
+unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist
+denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel
+meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus.
+
+Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in
+der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben ~zur
+großen Müdigkeit~, die ~erworben~ werden muß, um köstlich zu
+erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen
+darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.«
+
+»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche
+Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner
+literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du da froh und
+glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des
+täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern,
+deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!«
+
+»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich
+so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht
+mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte
+Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt.
+~Doch, doch~, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es
+gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft
+zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.«
+
+»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich
+anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar,
+ach, ~wenn's~ doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst
+gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach,
+und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde?
+Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und
+Macht gelangen. -- Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung,
+die dich niederdrückt?«
+
+»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren, seit welchen ich mich
+mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher
+entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann
+nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja,
+~fühlen~ kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir
+auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns
+entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich,
+~darstellend schaffen~ -- Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich
+wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige
+sind auserwählt. Und ~doch~ sollen einmal meine Lieder erklingen.
+Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme
+vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften
+Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen
+Glanz des Nachruhms hin.
+
+Und Geld?!
+
+Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein
+kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! -- Sieh, wenn wir
+uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser
+Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles ~irdische~ Gold
+entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig
+voran!« --
+
+ * * * * *
+
+Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung,
+um unseren Nachfolgern Platz zu machen.
+
+Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen
+ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! -- --
+
+Da klingelt es.
+
+Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall
+aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen
+Räumen uns umgibt?
+
+Soso, nur der Postbote ist's.
+
+Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt
+er mir?
+
+»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen,
+der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück.
+Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man
+~kann~ doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!«
+
+»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine
+ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung.
+
+Nein, -- es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist
+verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie
+nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte.
+
+Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz
+blaß aus.
+
+Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt
+hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß
+von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur
+über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den
+Transport verlohnen würden.
+
+»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen,
+Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734
+vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören ~uns~ nun.
+~Uns!!~ Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben
+reden!«
+
+»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen
+Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern,
+»Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen
+auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle
+Kulturaufgabe der Schule sein!«
+
+»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für
+mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer
+alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's
+eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches
+Denkmal setzte und über ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein
+Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?«
+
+»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern
+legend, »ach, dann wirst du ~doch~ vielleicht noch berühmt.«
+
+»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon
+zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.«
+
+»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so
+überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte,
+»das Publikum ~wird~ dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich
+an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu:
+
+ »Schon ~mir~ zuliebe.«
+
+
+
+
+ Johannes Trojan,
+
+ Wie man einen Weinreisenden los wird.
+
+ Kleine Leiden auf einer Landpartie.
+
+ Drei Gedichte.
+
+
+Mit Genehmigung der ~J. G. Cotta~schen Buchhandlung Nachfolger
+in ~Stuttgart~ und ~Berlin~: »Wie man einen Weinreisenden
+los wird« und »Kleine Leiden auf einer Landpartie« aus »~Johannes
+Trojan~, ~Das Wustrower Königsschießen~ u. a. Humoresken«.
+Gbd. M. 3,--.
+
+»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag« aus »~Johannes
+Trojan~, ~Gedichte~«. »Der Oberamtsrichter von Neckarsulm« aus
+»~Johannes Trojan~, ~Scherzgedichte~«. Gbd. M. 3,50.
+
+
+
+
+ Wie man einen Weinreisenden los wird.
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+
+Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß
+es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht
+unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die
+Firma ~J. G. Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich
+wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde,
+bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger
+Spannung erwartete ich den jungen Mann.
+
+Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck
+lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief
+ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!«
+Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl
+denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung
+setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten
+Hauses ~Pfropfenberg~ & Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere
+edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...«
+
+»Halt!« fiel ich ihm ins Wort -- »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?«
+
+»Jawohl«, erwiderte er.
+
+»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter
+denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen
+Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten!
+Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den
+Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten
+Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im
+Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im
+Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum,
+geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an
+Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in
+den Rhein zu stürzen.«
+
+Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte
+einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein
+Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein
+Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er
+eben das Wort ergreifen wollte, zuvor.
+
+»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?«
+
+»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...«
+
+»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich
+gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?«
+
+»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg & Comp., in dessen Auftrag
+...«
+
+»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie
+selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen
+anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den
+Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der
+Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter.
+Ich selbst -- Sie wissen, daß ich Käfersammler bin -- möchte manchmal
+mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier
+tauschen.«
+
+Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen
+Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie
+mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma
+Pfropfenberg & Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...«
+
+Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf
+an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich
+fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?«
+
+»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen.
+
+»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?«
+
+»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit.
+
+»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich.
+
+»~Meyer~ -- ~A. H. Meyer~!«
+
+»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald
+siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap
+führten, dort einen Herrn ~Meyer~ kennen, dem Sie sehr ähnlich
+sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt
+sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in
+keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend,
+besonders da auch der Name zutrifft. Dieser ~Meyer~ war
+Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine --
+warten Sie einmal -- richtig! eine geborene ~Kloppfleisch~. Ein
+prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen
+ist er auch natürlich älter geworden.«
+
+Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den
+eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir --«
+begann er noch einmal.
+
+»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?«
+
+»Ja!« stöhnte er.
+
+»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches
+Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich
+mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?«
+
+Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« -- rief er
+mit vor Ärger halb erstickter Stimme -- »ich muß mich Ihnen empfehlen.
+Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...«
+
+»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein
+anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus
+rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr
+vorstellte.«
+
+»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit.
+Wenn Sie einen Auftrag ...«
+
+»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt
+wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir
+uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule
+oder ...«
+
+Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das
+Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich
+in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße
+hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...«
+
+Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten
+Halteplatz für Droschken zu.
+
+Ob er wohl wiederkommen wird?
+
+
+
+
+ Kleine Leiden auf einer Landpartie.
+
+
+Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn
+die Rede auf Landpartien kam -- nein! über diese Vergnügungen bin
+ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter
+Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von
+Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang
+in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen
+und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige
+Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen.
+
+Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige
+Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe.
+
+Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen
+Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und
+versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann
+sie so nicht stehen, also sagen Sie mir schnell: was soll geschehen?
+Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt,
+die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine
+einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen
+Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von
+jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle
+auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich
+führen. Ein grausamer Barbar endlich -- ich verschweige seinen Namen,
+obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle -- gab den
+Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie
+werde schon von selbst nachgehüpft kommen!
+
+Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte
+meiner letzten Landpartie erzählen.
+
+Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius.
+Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna
+und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom
+Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein
+Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war
+ich und der neunte -- doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es
+war beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren,
+hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend
+ausbreiten sollte.
+
+Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann
+auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen
+absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten«
+angetreten.
+
+In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr
+romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen.
+Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot
+sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine
+große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich
+seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem
+Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes
+saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über
+der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten
+unten fand folgendes Wechselgespräch statt.
+
+»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte.
+
+»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es
+von oben.
+
+»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen
+Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.«
+
+»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker
+herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume?
+Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine
+wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es
+mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld
+auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück
+gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß
+man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom
+Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?«
+
+Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten,
+um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der
+an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei,
+betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er
+ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er
+entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen.
+
+Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn
+nicht der Steuerrat und der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen
+und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen
+Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der
+zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es
+denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen
+»draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat.
+Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen
+hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der
+Gesellschaft anzuschließen.
+
+Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht
+unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem
+eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich
+den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der
+lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte,
+vollständig ausgedacht und erlogen war.
+
+Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie
+einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß
+was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören.
+Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag
+machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß
+zu nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der
+Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie
+die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit
+er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte.
+
+Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains
+vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und
+spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen
+die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings
+recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns
+öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die
+gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und
+anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst.
+Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits
+waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu
+Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem
+Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf
+das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife
+Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches
+hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem
+alten Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum
+großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende
+Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen
+Richtungen hin gepriesen wurde.
+
+Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben,
+als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach
+Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen
+wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen
+Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über
+Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...«
+
+»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit
+sein.«
+
+»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie -- bis
+Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen
+höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig.
+Das macht zusammen noch keine Stunde.«
+
+»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat.
+
+»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will
+ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest
+ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender der in
+hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.«
+
+Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen
+wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen.
+
+Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist,
+sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn
+es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so
+war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich
+erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten,
+einen steglosen Bach -- den die Damen auf hineingelegten Steinen
+überschreiten mußten -- und einen Bruchacker zu passieren hatten.
+Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen
+Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der
+Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte
+er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über
+Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.«
+
+»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir
+noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an
+der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.«
+
+Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer
+menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain
+fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner,
+und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte
+Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag.
+
+Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte
+und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder
+Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe
+Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker
+fragend an.
+
+»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas
+mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch
+oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch
+das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen
+Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine
+sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits
+Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.«
+
+Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt
+erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als
+noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten.
+
+»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts
+abbiegen.«
+
+Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort
+ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige
+Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir
+in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo
+sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten
+versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese.
+Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen
+kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten
+Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging
+voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb.
+Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß.
+
+»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er.
+»Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.«
+
+»Ei, zum --« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte
+ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß
+derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf mein
+Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie!
+helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!«
+
+Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten
+Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein
+Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der
+einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte
+eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und
+anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief
+der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben
+wir endlich den Spitzbuben gefangen!«
+
+»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen.
+
+Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb
+gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich
+festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den
+Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt
+werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke
+die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es
+war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht
+der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um
+mich nach der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete,
+das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens
+Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß
+er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem
+Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der
+Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war.
+Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher
+inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns
+vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen
+Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich
+nachher bestätigt.
+
+Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich
+nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der
+Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte,
+bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus
+dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach
+dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde.
+
+Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich
+mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem
+Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das Jammern und
+Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt
+waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden
+Fuhrmannsschenke, anlangten.
+
+Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen,
+dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich
+der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu
+finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit
+nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?«
+sagte der Steuerrat.
+
+»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte
+Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.«
+
+»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das
+Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.«
+
+Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch
+Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach.
+
+»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen.
+
+»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker
+zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet!
+Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun
+sollen!«
+
+Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die
+Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich
+öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten
+Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde.
+Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt,
+von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert.
+
+»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde.
+
+»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte.
+
+Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich
+durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß
+er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte.
+Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals
+über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen
+geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte
+das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben
+zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«,
+schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als
+hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht,
+ob es der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich
+ihn auf keinem meiner beiden Arme.«
+
+»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich
+wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem
+strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich
+möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.«
+
+Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein
+wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine
+Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns
+auf den Weg nach der Bahnstation.
+
+Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns
+hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte
+die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun
+eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so
+oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken.
+
+Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen
+Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit
+ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir
+zu Hause an.
+
+Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen ging ich am Stock, ein
+ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß.
+
+Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese
+Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie
+werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines.
+Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den
+Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer -- lassen Sie
+ihn doch ja in der Kiefer sitzen!
+
+
+
+
+ Männertreue und Weiberkrieg.
+
+ +Veronica chamaedrys+ und +Ononis spinosa+.
+
+
+ ~Die Frau spricht~:
+
+ Es ist ein Kräutlein, heißt Männertreu,
+ In jedem Frühling blüht es aufs neu.
+ Am Waldrand steht es und auf der Au
+ Und Blumen trägt es, anmutig blau.
+ Doch pflückst davon du dir einen Strauß,
+ Nicht eine Blume bringst du nach Haus.
+ Herunter fallen sie gar geschwind,
+ Schon unterwegs weht sie ab der Wind.
+ Des Kräutleins Name, der ist nicht schlecht,
+ Und seinen Namen trägt es mit Recht.
+ Den Männern sag' ich es ins Gesicht:
+ ~So sind sie alle -- nur meiner nicht!~
+
+
+
+
+ ~Der Mann spricht~:
+
+ Ein Kräutlein ist Weiberkrieg genannt,
+ Das wächst auf Anger und Heideland.
+ Da siehst du blühen es weit und breit
+ Schön weiß und rot um die Sommerszeit.
+ Doch will ich raten dir: Laß es stehn!
+ Mit hundert Häkchen ist es versehn,
+ Verletzt die Hände dir, hemmt den Schritt,
+ Viel Ärger hast du und Not damit.
+ Das ist so recht ja der Weiber Art,
+ Ob sie auch lieblich sonst sind und zart,
+ Sie sind ein Kräutlein, das kratzt und sticht.
+ ~So sind sie alle -- nur meines nicht!~
+
+
+
+
+ Der Glückstag.
+
+
+ Ich war am Morgen
+ So frohen Mutes,
+ Als müßt' begegnen
+ Mir etwas Gutes.
+ Wohlan, es komme
+ Das Glück gegangen!
+ Bereit hier sitz' ich,
+ Es zu empfangen.
+
+ Da kam ein Brief,
+ Den die Post mir brachte,
+
+ Ich brach ihn auf, sah
+ Hinein und lachte.
+ Logierbesuch will
+ Ins Haus mir kommen:
+ Sei er mit Jubel
+ Denn aufgenommen!
+
+ Drauf kam ein Mann, um
+ Von mir zu borgen,
+ Obwohl ich selbst war
+ Bedrängt von Sorgen.
+ Daß er auf mich sein
+ Vertrauen setzte,
+ Rührt' mich, ich gab ihm
+ Sorglos das Letzte.
+
+ Nun eine Zeitung
+ Nahm in die Hand ich,
+ Darin auf mich was
+ Geschrieben fand ich,
+ Was Böses, Arges.
+ Wie das mich freute!
+ Seht, so beachten mich
+ Doch die Leute!
+
+ Ich war noch immer
+ Bei frohem Mute,
+
+ Als müßte kommen
+ Noch andres Gute.
+ Um mehr des Glückes
+ Noch zu empfangen,
+ Bin aus dem Haus ich
+ Hinausgegangen.
+
+ Da überfiel mich
+ Mit Donnerschlägen,
+ Mich Unbeschirmten,
+ Ein heft'ger Regen.
+ Dem Himmel dankt' ich,
+ Daß er uns schenkte
+ Willkommenes Naß
+ Und die Saaten tränkte.
+
+ Von einem Fenster-
+ Brett fiel ein bunter
+ Tontopf mit Nelken
+ Auf mich herunter.
+ Doch meinen Hut nur
+ Hat er zertrümmert,
+ Heil blieb ich selber
+ Und unbekümmert.
+
+ Nach Hause eilt' ich,
+ Da sah ich jagen
+
+ Scharf um die Ecke
+ 'nen Schlächterwagen.
+ Zu Boden riß er
+ Mich freilich nieder,
+ Doch kaum verletzt sprang
+ Empor ich wieder.
+
+ Allmählich wurde
+ Der Himmel heller;
+ Nach Hause hinkt' ich,
+ Stieg in den Keller,
+ Holt' eine Flasche
+ Mit gutem Weine.
+ Wohl mir, ich hatte
+ Just noch die eine.
+
+ Zusammen rief ich
+ Darauf die Meinen,
+ Mit mir im Jubel
+ Sich zu vereinen.
+ Kommt her und trinket,
+ Seid frohen Mutes!
+ Mir ist begegnet heut
+ So viel Gutes.
+
+
+
+
+ Der Oberamtsrichter von Neckarsulm.
+
+(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren
+verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer
+bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.)
+
+
+ Das war ein kernfest tüchtiger Mann,
+ Von dem man Bestes melden kann,
+ Von Gliedern stark, an Geist gesund,
+ Was Zier des Manns ist, war ihm kund.
+ In mancher Kunst war er geübt,
+ Und ob's noch solche Zecher gibt,
+ Wie er war -- zweifelhaft ist das!
+ Er saß so fest beim Römerglas,
+ Er war von echter deutscher Art,
+ So mild und doch wie Stahl so hart,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.
+
+ Einst kam er wandernd an den Rhein,
+ Der war beglänzt von hellem Schein,
+ Von untergehnder Sonne Glut.
+ »Fürwahr, ein Bad wär' gar zu gut!
+ Es kann ja gar so schlimm nicht sein,
+ Heut noch zu schwimmen durch den Rhein
+ Und wieder hier ans Land zurück --
+ Das nenn' ich noch kein Wagestück!«
+ Die Kleider wirft er ab sogleich
+
+ Und birgt sie unter dem Gesträuch,
+ Drauf in den Strom wirft er sich kühn,
+ Der faßt mit starken Armen ihn.
+ Er regt die Glieder frisch und keck,
+ Kommt anfangs auch recht gut vom Fleck;
+ Doch mählich wächst des Stromes Kraft,
+ Gewaltig wird er, riesenhaft,
+ Kämpft mit dem Mann und reißt ihn mit,
+ Hinunter wohl manch hundert Schritt;
+ Der wehrt sich auch, so gut er kann:
+ So kämpfen beide, Strom und Mann,
+ Und miteinander ringen sie,
+ Bis daß zuletzt mit vieler Müh'
+ Das andre Ufer er erreicht,
+ Der Mann. »Das war, bei Gott, nicht leicht!
+ Ich traf den Rhein nicht häufig so.«
+ Er spricht es, seiner Landung froh,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.
+
+ Da steht er nun am Uferrand,
+ Die Gegend ist ihm nicht bekannt.
+ Schon dunkel ist's, er nackt und bloß!
+ Traun, die Verlegenheit ist groß.
+ Zurück zu schwimmen durch den Rhein,
+ Darauf lass' sich ein andrer ein!
+ Er spürt, er weiß, das wär' nicht gut,
+ Ob's ihm auch sonst nicht fehlt an Mut.
+
+ Die Kleider drüben und der Fluß
+ Dazwischen -- o welch ein Verdruß!
+ Wohin jetzt lenkt er seinen Lauf?
+ Wer nimmt den neuen Adam auf?
+ Da sieht ein Licht er gar nicht weit,
+ Schleicht unterm Schirm der Dunkelheit
+ Hinan sich. »Ha, ein Wirtshaus! Dort
+ Helf' ich mir jetzt schon weiter fort.«
+ Er lauscht. »Horch! Heller Gläserklang!
+ Jetzt unverzagt! Jetzt nur nicht bang!«
+ Ein wenig öffnet er die Tür
+ Und ruft: »Ein Mann in Not ist hier!
+ Reicht, Freunde, mir, ich bitt' euch sehr,
+ Ein Bettuch oder Tischtuch her!
+ Das reicht zu meiner Rettung hin.
+ Habt keine Furcht vor mir, ich bin
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.«
+
+ Das Linnen wird ihm hingereicht,
+ Er hüllt sich ein darin -- nun gleicht
+ Er einem alten Römer fast.
+ Ins Zimmer tritt der werte Gast:
+ »Ihr Herrn, die ihr da sitzt beim Wein,
+ Verzeiht, daß ich so spät erschein'
+ Und in so seltsamem Kostüm!
+ Das macht des Rheines Ungestüm,
+ Der her mich ließ, doch nicht zurück.
+
+ Ein Licht erblickt' ich hier zum Glück
+ Und lenkte zu ihm meinen Schritt.
+ Wenn ihr's erlaubt, zech' ich jetzt mit.
+ Mich hat das Schwimmen müd' gemacht,
+ Mich überkam dabei die Nacht,
+ Nun schaudert mich bis tief ins Mark.
+ Wein her! Wein her! Mein Durst ist stark.«
+ Da stehn sie all ehrfürchtig auf,
+ Platz machend ihm. Der Wirt darauf
+ Bringt ihm den Wein und füllt sein Glas:
+ »Trinkt, lieber Herr! Wohl tu' Euch das!«
+ Er hebt das Glas und leert's und spricht:
+ »Der Rhein meint's doch so übel nicht,
+ Daß er mich warf an diesen Strand!
+ Hier fühl' ich mich in guter Hand;
+ Der Ort gefällt mir und der Wein.«
+ Er spricht's und schenkt sich fröhlich ein,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.
+
+ Da fiel beim Trunk manches gutes Wort,
+ Denn wackere Zecher saßen dort.
+ Der Wirt bedient mit allem Fleiß,
+ Daß von der Stirn ihm troff der Schweiß.
+ Sein Amt ihm harte Arbeit schuf,
+ Denn unaufhörlich scholl der Ruf
+ Von irgendeiner Seite her:
+ »Wein her! Wein her! Ich hab' nichts mehr.«
+
+ Als spät es ward, nach alter Sitt'
+ Man zu den bessern Sorten schritt,
+ Von Jahrgang sich zu Jahrgang schwang
+ Bis zu dem Wein von erstem Rang.
+ Da funkeln Augen, Wangen glühn,
+ Weinrosen purpurrot erblühn.
+ Nun sitzt erst da voll Herrlichkeit
+ Der Mann im weißen Römerkleid.
+ Vor sich die Flaschenburg erbaut,
+ Stolz er das Ganze überschaut
+ Und spricht mit Kraft und trinkt und trinkt.
+ Wie wohlgemut das Glas er schwingt,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!
+
+ Und wie es spät und später wird,
+ Die Eule schon zu Neste schwirrt,
+ Da wird doch manch ein Zecher still;
+ Die Hand nicht mehr gehorchen will,
+ Und wie ein Mohnhaupt regenschwer
+ Zur Seite sinkt, so hält nicht mehr
+ Sich aufrecht, von der Last gebeugt,
+ Manch Haupt, vom Weine schwer; es neigt
+ Sich auf den Tisch und ruht da fest,
+ Und ungetrunken bleibt ein Rest.
+ Die Hähne krähn, der Morgen graut,
+ Der Tag fahl in die Fenster schaut.
+ Da sitzt noch einer ganz allein,
+
+ Der Weißumhüllte, wach beim Wein.
+ Er füllt sein Glas und trinkt es leer --
+ »Will denn kein andrer trinken mehr?
+ Hat alles schon so früh versagt,
+ Da es ja doch erst eben tagt,
+ Und noch des Weins da ist genug?«
+ Er sprach's und tat manch tiefen Zug,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~.
+
+ Hell in die Fenster scheint der Tag,
+ Sich schier darob verwundern mag,
+ Was in der Gaststub' er erblickt.
+ Da schlafen, übern Tisch gebückt,
+ Alle bis auf einen -- dieser spricht:
+ »Jetzt duldet's mich hier länger nicht.
+ Kein Mensch ist da, der mit mir trinkt,
+ Das Schnarchen mir unlieblich klingt,
+ Des Weines find' ich auch nichts mehr;
+ Den Wirt zu wecken, scheint mir schwer,
+ Drum will ich gehn. Die hier ihr ruht,
+ Ihr Schläfer all, bekomm's euch gut!«
+ Er spricht's, von seinem Platze steht
+ Er auf und ohne Schwanken geht
+ Er hin zur Tür und tritt hinaus.
+ Wie sieht die Welt seltsamlich aus!
+ In Glut getaucht sind Wald und Bühl,
+ Und doch weht es ihn an so kühl --
+
+ Zum Ufer schreitet er sodann,
+ Da steht bei seinem Kahn ein Mann.
+ »Hier find' ich, was mir eben not,
+ Schau' einen Fährmann und ein Boot!
+ Freund, fahrt Ihr mich wohl übern Rhein?«
+ Der staunt, doch sagt er: »Steigt nur ein!«
+ Vollendet glücklich ist die Fahrt;
+ Die Kleider hat der Strauch bewahrt.
+ Sie anzulegen wird ihm leicht,
+ Das Lailach er dem Schiffer reicht.
+ »Bringt dies zurück dem Wirt im Stern,
+ Grüßt ihn und grüßt die guten Herrn,
+ Die ich dort antraf, jung und alt.
+ Dem Wirte sagt, ich käme bald
+ Ihm zu bezahlen meine Schuld --
+ Ein wenig wohl hätt' er Geduld.
+ Und dies hier ist für dich, mein Sohn!«
+ Er gibt dem Mann gar guten Lohn
+ Und geht davon aufrecht und stolz
+ Durch Feld und Flur, durchs duft'ge Holz
+ Grad' aus auf eine gute Stadt.
+ Welch einen tücht'gen Schritt er hat,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!
+
+ Er zecht nicht mehr vom vollen Faß,
+ Er schwingt nicht mehr das Römerglas,
+ Er atmet nicht mehr goldne Luft,
+
+ Längst ruht er schon in kühler Gruft.
+ Doch wo vereint beim goldnen Wein
+ Sitzt eine Zecherschar am Rhein,
+ Da wird um manche Mitternacht
+ In Ehren seiner noch gedacht.
+ Da heißt's: Klingt mit den Gläsern an!
+ Ihm gilt's! Das war ein wackrer Mann,
+ ~Der Oberamtsrichter von Neckarsulm~!
+
+
+ Druck und Einband von Hesse & Becker in Leipzig.
+
+
+
+
+Fußnoten:
+
+[1] »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt findet
+man nicht ihresgleichen.«
+
+[2] »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum mir diese
+Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?«
+
+[3] »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.«
+
+[4] »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!«
+
+[5] heiser.
+
+[6] wann.
+
+[7] Flut.
+
+[8] Lumpenpuppe.
+
+[9] Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe.
+
+[10] Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr.
+
+[11] Fußspuren.
+
+[12] naßwischen.
+
+[13] Bürste.
+
+[14] Lumpen.
+
+[15] Kessel.
+
+[16] steuern.
+
+[17] anschmeicheln.
+
+[18] Kapitän sein.
+
+[19] ihnen.
+
+[20] Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen.
+
+[21] unruhig.
+
+[22] Zeichen, daß die Flut eintritt.
+
+[23] Taschenkrebs.
+
+[24] Übereilen.
+
+[25] kleiner Damm.
+
+[26] Mittelamerika.
+
+[27] Affen.
+
+[28] Pantoffeln.
+
+[29] d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest.
+
+[30] Wer.
+
+[31] klug.
+
+[32] Scherz.
+
+[33] Der quer durch den Strom schifft.
+
+[34] Teil.
+
+[35] Launen.
+
+[36] Dicker.
+
+[37] Ruß.
+
+[38] Rahmtorten.
+
+[39] mit Petroleummotor.
+
+[40] Wie siehst du aus?
+
+[41] Bataten.
+
+[42] lügt.
+
+[43] Naseweis.
+
+[44] Rahm.
+
+[45] verdrießlich.
+
+[46] Trog.
+
+[47] Zeugklammern.
+
+[48] Spaßmacher.
+
+[49] schwärmen, herumlaufen.
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***
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+ Vom Köstlichen Humor | Project Gutenberg
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***</div>
+
+<div class="transnote">
+<p class="s3">Anmerkungen zur Transkription</p>
+<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Die Schreibweise und Interpunktion
+des Originaltextes wurden übernommen; offensichtliche Druckfehler sind
+stillschweigend korrigiert worden.</p>
+<p class="p0">Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p>
+</div>
+
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+</figure>
+
+<h1>Vom köstlichen Humor</h1><br>
+
+<p class="center">*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br>
+&nbsp;&nbsp;*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br>
+&nbsp;&nbsp;*&nbsp;&nbsp;&nbsp;&nbsp;*<br>
+&nbsp;*</p><br>
+
+<figure class="figcenter illowe3 padtop3 padbot5" id="signet">
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+
+<div class="chapter">
+<h2 class="nobreak" id="Inhalt">Inhalt.</h2></div>
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+<td class="tdl"></td>
+<td class="tdr">Seite</td>
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+<td class="tdl">Über Verfasser und Inhalt</td>
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+<tr>
+<td class="tdl"><em class="gesperrt">Carl Beyer</em>, Stanislaus Wetterwetzer</td>
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+<td class="tdl">&#8199;--"--,&#8199; Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_46">46</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"><em class="gesperrt">Ilse Frapan</em>, Dat Undeert</td>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"><em class="gesperrt">Balduin Groller</em>, Die Tante und der Onkel</td>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">&#8199;--"--,&#8199; Eine Entlarvung</td>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"><em class="gesperrt">Wolfgang Lenburg</em>, »Straße 27«. Aus »Oberlehrer Müller«</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_227">227</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl"><em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, Wie man einen Weinreisenden los wird</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_253">253</a></td>
+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">&#8199;--"--,&#8199; Kleine Leiden auf einer Landpartie</td>
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+<tr>
+<td class="tdl">&#8199;--"--,&#8199; Drei Gedichte:</td>
+<td class="tdr">&nbsp;</td>
+</tr>
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+<td class="tdl">
+<div class="mleft3">&#8199;Männertreue und Weiberkrieg</div>
+</td>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">
+<div class="mleft3">&#8199;Der Glückstag</div>
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+</tr>
+<tr>
+<td class="tdl">
+<div class="mleft3">&#8199;Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</div>
+</td>
+<td class="tdr"><a href="#Seite_280">280</a></td>
+</tr>
+</table>
+
+<hr class="full">
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span></p>
+</div>
+
+<h2 class="p2">Über Verfasser und Inhalt.</h2>
+
+<p>Auch in der schweren Zeit des Weltkrieges soll dem guten deutschen
+Humor eine bescheidene Stätte gewahrt bleiben: das Bedürfnis nach
+vorübergehender Entspannung wird sich immer wieder und bei vielen, im
+Felde und daheim, einstellen; weder ätzende Satire noch gewöhnliche
+Kalauer sind jetzt angebracht, wohl aber die harmlose Fröhlichkeit,
+deren Reich sich in diesem Bande von der Wasserkante nach Berlin, an
+den Rhein und die Donau erstreckt.</p>
+
+<p>Viele fühlten sich berufen, aber wenige sind auserwählt, in Reuters
+Fußstapfen zu treten. <em class="gesperrt">Carl Beyer</em>, der Pfarrer a. D., der in
+Rostock lebt, darf sich zu den wenigen rechnen; obwohl er durchaus
+nicht immer Dialekt schreibt und in den größeren Werken meist
+historische Stoffe behandelt — Reuters Geist und Humor steckt in dem
+Pfarrer, tiefes Gefühl und derbrealistische Darstellung verbinden
+sich, ihn zum rechten Volksschriftsteller zu erheben. Ein gutes
+Beispiel bietet die rührendkomische Gestalt des Stanislaus Wetterwetzer
+aus »Stane und Stine«, trefflich ergänzt durch den derbkomischen
+Kriegshelden von 1870, Wilhelm Pickhingst, den wir ein gut Stück
+auf seiner Fahrt nach dem Glücke, d. h. nach dem Eisernen Kreuze,
+begleiten. Auch ohne verbindenden Text wird sich der Zusammenhang
+leicht ergeben. —</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Ilse Frapans</em> »Undeert« aus der Novellensammlung »Zu Wasser und
+zu Lande« schließt passend an. Die Hamburger Meisterin niederdeutscher
+Kleinkunst verleugnet sich nicht: keine Staatsaktionen und Impressionen
+wirken aufregend, kleiner Leute Geschick wird ruhig erzählt, ohne
+aufdringlichen Witz mit stillvergnügtem behaglichen Humor unter
+glücklichster Verwendung des Dialektes, besonders lebendig in den
+Kinderszenen — am Schlusse »kriegen« sie sich. —</p>
+
+<p>Noch harmloser gibt sich die Erzählungskunst des Wieners <em class="gesperrt">Balduin
+Groller</em> in der noch nicht in Buchform<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> erschienenen humoristischen
+Novelle »Die Tante und der Onkel«. Es steckt Wiener Blut in der
+alltäglichen Geschichte, deren Kunst und Wirkung ausschließlich auf
+dem flotten Vortrage des burschikosen Schwerenöters beruht. Seine
+knappe Skizze »Die Entlarvung« behandelt ein gar bekanntes Thema,
+den Hochstapler und das ewig Weibliche, so gewandt, daß die Aufnahme
+gerechtfertigt scheint. In diesem Bande harmlos köstlichen Humors soll
+etwas leichtes Gepäck nicht fehlen.</p>
+
+<p>Dazu gehört auch <em class="gesperrt">Wolfgang Lenburgs</em> Skizzensammlung »Oberlehrer
+Müller« — unter dem Decknamen hat sich der weitbekannte Berliner
+Verlagsbuchhändler Wolfgang Mecklenburg verborgen —, aus der hier eine
+Reihe Skizzen zusammengestellt sind, die unter das Stichwort »Straße
+27« fallen. Der Außenseiter steht dem Zünftler weder an scharfer
+Beobachtung noch an lebendiger Wiedergabe des Geschauten nach. Die
+leichte Satire des gebildeten, gemütvollen Berliners verletzt nicht,
+der Oberlehrerton ist echt.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, der gelehrte Altmeister des Kladderadatsch, der
+auch für »kleine Leute« Ohr und Herz hat, wird mit dem ihm angewiesenen
+Platze zufrieden sein. Als Gelehrter geht er auf die Grundbedeutung
+des Wortes humor zurück: »Feuchtfröhlich und gescheut« ist Trojan,
+und so sind die Proben seines Humors, die den würdigen Schluß des
+Bandes bilden. Aus der Sammlung »Das Wustrower Königsschießen und
+andere Humoresken« wird namentlich der Triumph der Beredsamkeit: »Wie
+man einen Weinreisenden los wird« des Beifalls sicher sein; unter den
+Gedichten mag der Heldensang vom trunkfesten Oberamtsrichter manch
+bravem Zecher ein verständnisvolles Schmunzeln entlocken, auch die
+Hansimglückbearbeitung hat ihren Reiz, und die Moral des Liedes von der
+Männertreue und vom Weiberkriege wird Kennern und Kennerinnen, auch
+solchen, die es werden wollen, des Beifalls würdig scheinen.</p>
+
+<hr class="full">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span></p>
+
+<div class="chapter">
+<p class="s3 p4 center"><b>Carl Beyer</b>,</p><br>
+<p class="s2 center">Stanislaus Wetterwetzer.</p>
+<p class="s2 center">Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.</p><br>
+</div>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span></p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<p class="p0 center">Mit Genehmigung des Verlages <em class="gesperrt">Fr. Bahn</em> in <em class="gesperrt">Schwerin</em><br>
+i. Meckl. aus »<em class="gesperrt">C. Beyer, Stane und Stine</em>«, gbd.<br>
+M. 1.—, und aus »<em class="gesperrt">Wilhelm Pickhingsts Kriegs-<br>
+fahrten</em>«, kart. M. 1.—.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p>
+
+<h2>Stanislaus Wetterwetzer.</h2>
+
+<p>»Guten Tag, Herr Pastor! — Da bin ich, Herr Pastor!«</p>
+
+<p>Der Angeredete, der bei einer schwierigen Synodalarbeit beschäftigt war
+und in Gedanken versunken herein gerufen hatte, ohne den Eintretenden
+zu beachten, wurde in unwillkommener Weise aufgestört, zog schnell
+noch einige Male kräftig an seiner Pfeife, so daß sie unten in dem
+Schreibtischdunkel sichtbar glühte und gemütlich knisterte (es mußte
+also wohl ziemlich viel Stengeltabak drin stecken), stieß mächtig Rauch
+wie ein Dampfer aus und tauchte nun langsam und majestätisch aus Wolken
+auf. Er musterte den kleinen Mann, der ihn so vergnügt ansah, als wären
+sie alte Bekannte, und entdeckte auf den ersten Blick, daß er einen
+echten Landstreicher vor sich hatte.</p>
+
+<p>»Da sind Sie,« sagte er ruhig, paffte noch ein paarmal nachdrücklich
+und stellte bedächtig seine Pfeife beiseite. »Jetzt würde es sich nur
+darum handeln: Wer sind Sie und was wollen Sie?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span></p>
+
+<p>»O Herr Pastor,« der Landstreicher nahm seine ihm entfallene Mütze
+wieder auf und sandte dabei halb verschämt, halb lächelnd einen Blick
+von unten auf in das ruhige, feste Gesicht des Geistlichen. »Wissen Sie
+noch, Herr Pastor? — In Altstädt, Herr Pastor? — Weihnachten, Herr
+Pastor? — Da bin ich, Herr Pastor.«</p>
+
+<p>Jetzt kannte der Angeredete ihn. Nach Altstädt war er aus seinem
+Dorfe von dem dortigen Geistlichen zur Hilfe bei der gehäuften
+Weihnachtsarbeit gerufen worden und hatte einen Gottesdienst für die
+Gefängnisinsassen abgehalten. Er sah damals ein Dutzend Gesichter sich
+gegenüber, alte und junge, wettergehärtete und abgemagerte, weiche und
+leichtsinnige, finstere und gedankenlose; dann hatte er gesprochen,
+wie ihm zumute war, in Ernst und Bewegung, hatte die tief Gefallenen
+erinnert an ihre Jugend, an Mutter und Vater und die Weihnachten ihrer
+Kindheit, hatte ihnen erzählt, daß und wie die Gefangenen frei und los
+und ledig sein sollten, und sie aufgefordert, sich in neuer Geburt
+aufzurichten. Die Tat müßten sie selbst besorgen und nächst Gott sich
+auf sich selbst verlassen und nicht auf andere, den Rat würden gern
+andere (er selbst unter ihnen) geben, so gut man es vermöchte. Dem
+Willigen würde sich die hilfreiche Hand schon bieten usw. Über einige
+Gesichter war die Bewegung wie plötzliches<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> Blitzezucken gegangen, die
+meisten Gefangenen hatten Tränen in den Augen gehabt, einige hatten
+die Fäuste fest zusammengeballt; der kleine Mann, der jetzt vor ihm
+stand, war zappelnd hin und her gerückt und hatte die Beine in solcher
+Unruhe geschlenkert, daß der Gerichtsdiener, der neben ihm stand, ihm
+beruhigend die Hand auf die Schulter gelegt hatte. Vier Wochen waren
+seitdem vergangen, jene kleine Gemeinde der Armen und Gefangenen, der
+die Weihnachten das angenehme Jahr des Herrn nahe gebracht hatten,
+war seitdem aufgelöst oder abgelöst, der eine war hierhin, der andere
+dorthin gegangen, der letzte stand jetzt vor ihm.</p>
+
+<p>Die Prüfung hatte wohl etwas lange gedauert; ein feines Erröten
+glitt über das kleine, magere Gesicht, kurz und hastig wurde die
+Mütze geschlenkert, endlich sagte der Fremde: »Arbeiten möchte ich,
+Herr Pastor, bitt' schön. — Auf mich selbst kann ich mich gar nicht
+verlassen.« Es zuckte etwas von schmerzlicher Unruhe in seinen Zügen,
+er sah ängstlich und bittend den Geistlichen an. Die Mütze wanderte
+inzwischen von der rechten Hand in die linke, von dort hinten um
+den Rücken herum zurück, verschwand in einer Rocktasche und kam
+merkwürdigerweise aus einer Hosentasche wieder zum Vorschein.</p>
+
+<p>Der Pastor, der inzwischen überlegte, mußte unwillkürlich lächeln, denn
+offenbar hatte der Rock kein<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> Taschenfutter. »Nehmen Sie bitte Platz,«
+sagte er freundlich, denn er hatte seinen Entschluß gefaßt und griff
+nun zu seiner Pfeife. »Sieh, sieh, sie ist doch ausgegangen,« murrte
+er, zündete frisch an und schob dem Fremden einen Stuhl hin.</p>
+
+<p>»Wollen Sie mir einen Einblick in Ihre Vergangenheit gönnen, das
+heißt, nur soweit es Ihnen gut dünkt,« begann der Pastor, »und in der
+Gewißheit, daß alles bei uns beiden allein bleibt?«</p>
+
+<p>»Nichts zu verbergen, Herr Pastor, gar nichts Ehrenrühriges, Herr
+Pastor, nicht ein einziges Mal, Herr Pastor.«</p>
+
+<p>Dann sprudelte es heraus: Früh mutterlos — gelernt beim Vater als
+Kaufmann im Materialgeschäft — nach dessen Tode hier und dort
+beschäftigt, endlich dienstpflichtig — gerade noch so eben das Maß
+— allzu krumme Knie, die nicht durchzudrücken waren — stets Störung
+einer tadellosen Front — Strafen mit Nachexerzieren, — schlecht
+schießen, weil das Gewehr zu schwer — Kugel suchen, Tornister mit
+Steinen tragen — »das war zu viel, Herr Pastor, das ließ ich mir nicht
+gefallen, Herr Pastor, da ging ich weg, Herr Pastor.«</p>
+
+<p>»Das heißt, Sie desertierten.«</p>
+
+<p>»Herr Pastor, Herr Pastor, ich ging einfach weg, löste beim Pfandleiher
+meine Zivilsachen wieder ein, zog sie an und ging weg, irgendwohin
+auf ein Dorf,<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> und fing an, als Hofgänger zu arbeiten. In zwei Tagen
+hatten sie mich wieder. Natürlich steckten sie mich gründlich bei,
+Herr Pastor. Und dann ging's wieder los, Herr Pastor; und das ließ
+ich mir nicht gefallen und ging wieder weg — nein, Herr Pastor,
+nicht desertieren! Ich verkaufte meine Uhr und kaufte mir altes Zeug
+vom Trödler, das gerade noch in den Nähten zusammenhielt, hütete
+beim Bauern Schafe — zwei Wochen nur, da saß ich hinter Schloß und
+Riegel. Na, Herr Pastor,« der kleine Mann warf mit einer verächtlichen
+Bewegung die Erinnerung an den strengen Arrest beiseite — »als das
+vorbei war, ging das andere wieder los. Da desertierte ich, bei einer
+Felddienstübung an einem Waldrande, nahm alles mit, versenkte den
+Tornister in einen Teich und steckte Gewehr und Säbel unter das Laub,
+verschenkte den Rock an den ersten, der ihn haben wollte, und sodann
+weg. Nach drei Tagen eingefangen. — Fünf Jahre Zuchthaus, Herr Pastor!
+Zwei Jahre sind mir nachher erlassen. Nirgends fand der Zuchthäusler
+eine Stelle, Herr Pastor, lag auf der Landstraße, bettelte, wurde
+eingesteckt — dreimal — Herr Pastor, Herr Pastor — <em class="gesperrt">nur
+dreimal</em> in vier Jahren — sonst kam ich immer durch — und etwas
+Ehrenrühriges, Herr Pastor? Nie, Herr Pastor! Da können sie bei allen
+Gerichten herumfragen, Herr Pastor.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span></p>
+
+<p>»Und nun sind Ihnen die Augen aufgegangen über Ihre Lage?« fragte der
+Pastor, der den Versuch zur Läuterung der sittlichen Anschauungen auf
+später verschob.</p>
+
+<p>»Seit Weihnachten, Herr Pastor. Ich hab's versucht mit der Tat — das
+ist nichts geworden, Herr Pastor, — und nun komme ich um Rat, Herr
+Pastor, bitt' schön.«</p>
+
+<p>»Können Sie wohl einen Kuhstall ausdüngen?«</p>
+
+<p>»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht,« sagte der kleine Mann,
+indem er aufstand und seine Mütze aus dem Stiefelschaft herauszog.
+Er war schon zur Tür hinaus und über den halben Pfarrhof, natürlich
+in falscher Richtung, so daß der Pastor, der inzwischen seine Pfeife
+bedächtig in die Ecke gestellt hatte, ihn abrufen mußte.</p>
+
+<p>Beide gingen in das Viehhaus, wo zehn Kühe in zwei Reihen standen.
+Ein warmer Dunst quoll ihnen entgegen, den der Kleine mit Wittern und
+Schnüffeln begrüßte, als wäre er ihm höchst willkommen, dabei rieb
+er sich äußerst vergnügt die Hände und stopfte dann beim Eintreten
+seine Mütze hinter die Weste, als ob das die Höflichkeit vor den Kühen
+erfordere.</p>
+
+<p>»Stine!« rief der Pastor, indem er in der Tür stehend seinen Schlafrock
+vorsichtig zusammennahm. »Dor bring ick di 'nen jungen Minschen, de
+sall di<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> hüt bi't Utmessen helpen. Lat de Dör ok nich tau lang apen,
+dat de Käuh sick nich verküllen; tau Fierabend meld hei sick wedder bi
+mi.« Mit diesen Worten ging er davon.</p>
+
+<p>Die Gerufene, die offenbar beim Melken beschäftigt gewesen war,
+tauchte hinter einer Kuh empor, und beide Arbeitsgenossen maßen sich
+plötzlich mit weit aufgerissenen Augen. Stine war ein Mädchen im Anfang
+der Dreißiger und hatte eine Größe, mit der sie den höchsten Mann in
+der ganzen Gegend noch etwas überragte. Ihre Gestalt war ebenmäßig
+und kraftvoll, nicht junonisch, nein, echt altgermanisch. So mochten
+etwa die Zimbern-Weiber ausgesehen haben, die von der Wagenburg gegen
+die anstürmenden Römer stritten, nur daß sie ihr gelbes Haar nicht
+aufgelöst trug, sondern in dünnen Zöpfen und so aufgesteckt, daß es wie
+ein zerdrücktes Sperlingsnest aussah; in den Händen hatte sie keinen
+Wurfspieß und keinen Schild, sondern stützte sich auf eine nahestehende
+Dunggabel und trug einen Milcheimer. Ihre Arme waren bis weit über die
+Ellbogen zurück bloß, kräftig gerötet und im Umfange fast so stark wie
+ein Mannsschenkel. Aus dem von Gesundheit strotzenden Gesichte starrten
+ein Paar runde blaue Augen den Ankömmling an.</p>
+
+<p>Der war in seiner Art auch sehenswert. Er war 27 Jahre alt und
+dabei von Gestalt fein und zart<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> wie ein Knabe, in allen Bewegungen
+unglaublich geschmeidig und flink, jeden Augenblick Herr über alle
+Gliedmaßen. Seine Haare waren glänzend schwarz, schwarz seine
+lebendigen Augen und sein weicher Schnurrbart. Als er die mächtige
+Frau, die Beherrscherin des Kuhstalls, so gebietend vor sich sah,
+entfiel ihm fast das Herz. Endlich hörte er eine gutmütige Stimme: »Wo
+heißt du denn, min Jung?«</p>
+
+<p>»Stanislaus Wetterwetzer,« schoß es über seine Lippen.</p>
+
+<p>»Woans?« Die höchste Verwunderung drückte sich in dem Gesichte der
+Fragerin aus, denn ihr Mund stand etwas auf, so daß man die Zähne
+schimmern sah, starke, gesunde, tadellos weiße, und ihre strotzenden
+Wangen zogen sich in leisem Lächeln ein wenig breit.</p>
+
+<p>»Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen.«</p>
+
+<p>»Na, Stane Zedienen, nimm den Dunghaken, un denn man tau. Du kannst di
+'n por von min Tüffeln äwertrecken, süß versüpst du mi noch hier in den
+Stall. Un mak de Dör achter di tau.«</p>
+
+<p>Immer noch schüchtern rückte der Kleine vor. Als er aber die mächtigen
+Pantoffel sah, die wenigstens zwei Finger dicke Holzsohlen hatten (das
+Mädchen aber trug sie beim Schreiten über den schneebedeckten Hof
+noch mit leichtem, federndem<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> Gang), fand er seine muntere Stimmung
+wieder. Er besah sie von allen Seiten, fuhr mit der Hand hinein, als
+müßte er sie erst aufweiten, hob dann einen mit beiden Fäusten in die
+Höhe, anscheinend unter großer Anstrengung, und — wupp stülpte er ihn
+sich über den Kopf und sah unter dem Helm so harmlos vergnügt zu der
+Gebietenden empor, daß sie die Forke vor Überraschung fallen ließ, eine
+Hand in die Seite stemmte und herzlich lachte. Der kräftige Körper
+bewegte sich so, daß scheinbar die Stallwände erschüttert wurden.
+Stanislaus schoß vor, glitt anscheinend unter einer Kuh durch und
+überreichte mit einer hübschen Verbeugung die aufgehobene Forke. Stine
+sah ihn wohlgefällig an und faßte ihre freundliche Überzeugung zusammen
+in das Endurteil: »Einen dwatschen Hamel.« Damit wandte sie sich ab und
+ging wieder an die Arbeit.</p>
+
+<p>»Jung, dor in de Eck steiht de Dunghaken,« sagte sie über die Schulter
+vom Melkeimer her, als der Kleine unschlüssig stand. Er schoß darauf zu
+und schlug alsbald den Haken ein.</p>
+
+<p>Nachdem Stine die Kühe ausgemolken hatte, sah sie sich wieder nach dem
+Gehilfen um. Er rollte aus der äußersten Ecke des Stalles den Dung
+allmählich auf und zog mühsam an dem geballten Haufen.</p>
+
+<p>»Stane Zedienen, du büst woll katholsch?« sagte<span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span> sie verwundert. »Du
+fangst dat jo ganz bi't verkihrte Enn an.«</p>
+
+<p>Er stand still, sein Atem ging hastig, seine Augen musterten unsicher
+die Walze, die stetig unter seiner Anstrengung gewachsen war, dann fuhr
+er wieder über die Arbeit her. »Wird gemacht, Fräulein, wird gemacht,«
+versicherte er eifrig, spreizte seine kleinen Beine, spie in seine
+Hände und zog mit Leibeskräften.</p>
+
+<p>Stine schüttelte bedächtig den Kopf und sagte: »Einen unklauken
+Bengel.« Dann zündete sie die zwei Laternen an, hängte sie hier und
+dort an die Wand und fütterte und tränkte ihre Kühe weiter.</p>
+
+<p>Der Geistliche hatte sich inzwischen an seinem vom milden Lampenscheine
+beleuchteten Schreibtische wieder behaglich eingerichtet und schrieb
+soeben den Satz nieder: »Der Gedanke, daß ein ohne seine Schuld
+ungetauft gebliebener Mensch sollte wegen solchen Mangels in die Hölle
+verstoßen werden, ist für ein Christengemüt geradeso unerträglich
+wie der Gedanke, daß Gott sollte unter den Menschen willkürlich eine
+Auswahl treffen, die einen taufen lassen, um sie zu retten, die andern
+ungetauft lassen, um sie zu verderben.« Da kamen eilige Schritte über
+den Hof, er kannte schon dieses Klappern der Pantoffel, gleich darauf
+stürzte Stine, das Anklopfen vergessend, aber alter Gewohnheit gemäß
+auf Socken<span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span> — die Pantoffel blieben stets an der Haustür stehen — in
+die Stube und rief: »Herr Paster, kamens blot fixing nah den Stall.
+Uns' Jung will uns dod bliewen.«</p>
+
+<p>Die Pfeife fiel zu Boden, und der flatternde Schlafrock schien sich in
+Schwingen zu verwandeln, die den Pastor über den Hof trugen.</p>
+
+<p>»Ick kiek mi üm — dor liggt hei up sinen Hopen un rallögt,« berichtete
+Stine, gleichfalls beschwingt. »Nu heww ick em up minen Hüker in ein
+Eck sett, von de Kist föll hei mi enfach wedder run.«</p>
+
+<p>Die Laterne, die das rasche Mädchen eiligst in der Nähe aufgehängt
+hatte, bewegte sich noch und warf schwankende Lichter auf das blasse
+Gesicht des kleinen Mannes, der nur durch die Ecke aufrecht gehalten
+wurde; seine Hände hingen schlaff an jeder Seite herunter. Er sah den
+Pastor und Stine, die hinter diesem aufragte, mit traurigem Blick an,
+hob mühsam die Rechte und legte die ausgespreizten Finger an die Brust,
+schüttelte langsam den Kopf und ließ die Hand wieder sinken. Er wollte
+sichtlich sprechen, aber es gelang ihm nicht.</p>
+
+<p>»Hier kann hei nich bliewen,« sagte der Pastor, »wi will'n em up min
+Sofa rupdrägen.«</p>
+
+<p>»Herr Paster,« fiel Stine ein, »ick heww em twors hin'n und vörn irst
+awwischt, ihre ick em hensett heww, äwer up Sei ehren Sofa ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span></p>
+
+<p>»Stine, dit is'n Minsch un dat is'n Ding. För den Minschen sorg ick hüt
+abend, un du sorgst woll för dat Sofa morgen früh.«</p>
+
+<p>»Na, denn man tau,« sagte Stine und hob den Ermatteten mit Leichtigkeit
+auf. In der Nähe der Stalltür hing eine reine Schürze, die sie mit
+raschem Griff im Vorübergehen sich aneignete. »Dat is man blot Hut und
+Knaken, un so wat ward rute stött up de Landstrat,« murrte sie, als
+sie über den Hof ging, trotz ihrer Last und der großen Pantoffel mit
+federndem Schritte, und das Haupt des kleinen Mannes lag gegen ihre
+Brust gelehnt.</p>
+
+<p>Mit raschem Schwunge warf sie ihre große Schürze über das Sofa und
+bettete dann ihren Pflegling darauf. »Wes' man nich bang — ligg ganz
+stilling,« tröstete sie und streichelte mit ihrer harten Hand ihm
+sachte die Backe. »Uns' Herr Paster versteiht sick dorup, an den is'n
+Dokter verluren gahn. — Schad is't eigentlich dorüm,« setzte sie im
+Weggehen hinzu, sie meinte aber das Sofa.</p>
+
+<p>Der Pastor faßte den Puls des Kranken, prüfte, ob Anzeichen von Fieber
+vorhanden wären, fragte nach Schmerzen, der Kranke antwortete mit
+Kopfschütteln und legte seine ausgespreizte Hand — nicht etwa wieder
+auf die Brust, sondern etwas tiefer.</p>
+
+<p>»Haben Sie heute schon etwas gegessen?« fragte der Pastor alsbald
+verständnisvoll. Ihm antwortete<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> Kopfschütteln. »Gestern aber haben Sie
+doch gegessen?« Abermaliges Kopfschütteln. »Aber, Mann, warum haben
+Sie mir das nicht gleich gesagt?« rief der Pastor erschrocken. Ein
+Achselzucken und ein sprechender Blick, das hieß offenbar: »Dann hätten
+Sie mich für einen Bettler genommen.«</p>
+
+<p>»Er hat recht,« sagte der Pastor vor sich hin, als er zur Speisekammer
+eilte. Dort fand er seine Frau, die das Abendbrot rüsten wollte.</p>
+
+<p>»Sophiechen,« sagte er, während er hastig drei tüchtige Scheiben von
+dem breiten feinen Landbrot abschnitt, »hast du noch etwas von der
+Mettwurst?«</p>
+
+<p>»Aber wir essen ja gleich Pellkartoffeln mit Grieben, dein
+Lieblingsessen.«</p>
+
+<p>»Am Verhungern — und das in meinem eignen Hause,« murrte er im Zorn
+gegen sich selbst und fuhr tief in den Buttertopf.</p>
+
+<p>»Na, ich denke, du hast heute mittag in Grünkohl und Schweinskopf
+keinen Kummer kommen lassen.«</p>
+
+<p>»Ja, das ist es ja gerade. — Und dabei seit zwei Tagen nichts
+gegessen!« Er strich die Butter einen halben Finger dick auf.</p>
+
+<p>Die Frau sah ihn erschrocken an, er schwang das Messer heftig in der
+Luft, sie wich unwillkürlich langsam zurück nach der Tür.</p>
+
+<p>»Wo ist die Mettwurst?« Also er, zornig gegen sich selbst.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span></p>
+
+<p>»Dort hinten — hängt sie — an der Wand.« Sie flüsterte es mit
+absterbender Stimme.</p>
+
+<p>»Gib mir einen Liter Milch, aber schnell! — Verhungert und verdurstet
+bei meiner Arbeit!«</p>
+
+<p>»Ja doch — um Gottes willen ja —« Sie trat in die Küche zurück und
+füllte in der Verwirrung einen Topf mit Wasser. Er sah es, als er ihn
+in die Hand nahm, und schleuderte ihn ohne zu überlegen in die Ecke.</p>
+
+<p>»Milch, sag' ich! Soll einem Verhungernden nicht einmal ein Tropfen
+Milch gegönnt sein?« Er erhielt aus zitternder Hand das Begehrte und
+schoß mit dem Topfe zunächst davon, weil er bedachte, daß flüssige
+Nahrung einem Verhungerten zuerst zu reichen sei.</p>
+
+<p>Die junge Schwägerin der Pastorin, die gerade zum Besuch im Hause war,
+kam trällernd die Treppe herabgehüpft und tanzte in die Küche, um
+zu helfen. Da stand die Pastorin und rang die Hände, und die Tränen
+schossen ihr die Backen herab. »Kann so etwas sein?« flüsterte sie ganz
+kurlos. »Ich habe ihm niemals etwas angemerkt.«</p>
+
+<p>»Was ist denn geschehen?«</p>
+
+<p>»Ach, Anna, es liegt doch nicht etwa in der Familie? hast du je
+davon gehört?« Sie erzählte hastig, was Fürchterliches über sie
+hereingebrochen war. Beide erörterten noch mit zagenden Lippen den
+Fall, da<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> kam der Pastor wieder aus seiner Stube herausgestürmt, und
+die Frauen flüchteten unwillkürlich in den Verschlag, in dem die Besen
+usw. aufbewahrt wurden. »Schändlich, empörend!« sagte er, während er
+Brot, Butter und Messer sammelte. »Dabei kann sich einem das Herz
+umdrehen. Aber so geht es. Wir strömen über von Nächstenliebe mit
+Worten und predigen jeden Sonntag davon, und doch kann jemand unbemerkt
+neben uns verhungern. — Dieses halbe Brot wird noch in seinen Magen
+versinken, so schlingt der Mensch.«</p>
+
+<p>Die Hausfrau, die bei den ersten Worten angstvoll den Arm ihrer
+Schwägerin umklammert hatte, atmete auf und lachte plötzlich vergnügt:
+»Anna, er hat wieder einen eingefangen, den er futtert. Nun wollen wir
+nur gleich auf die Dachkammer gehen und das Bett in Ordnung bringen. Er
+behält ihn sicherlich während der Nacht hier.«</p>
+
+<p>Stanislaus Wetterwetzer saß inzwischen auf dem Sofa und spürte
+allmählich mit Behagen, wie frische Blutwellen ihn durchrieselten. Als
+er satt war, rieb sich der Pastor die Hände und wanderte auf und ab,
+freute sich offenbar, daß seine Prophezeiung eingetroffen war, das
+Brot war verschwunden. Nach einiger Zeit machte der Fremde den Versuch
+aufzustehen, fiel erst noch einmal zurück, stand dann und ging, nein,
+schlich zur Tür.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span></p>
+
+<p>»Wo wollen Sie denn hin?« fragte der Pastor erstaunt. »Wo ich her kam,«
+lautete die Antwort, die mit trübseliger Stimme gegeben wurde. »Ich
+bleibe doch nur ein Lumpenkerlchen.«</p>
+
+<p>Da lachte der Pastor: »Ausdüngen können Sie nicht, das sieht jeder,
+denn Sie tragen ja eine Stallschürze statt vorn auf dem Rücken. Aber
+können Sie auf dem Kirchhofe graben?«</p>
+
+<p>»Gruft graben, Herr Pastor? — Totengräber, Herr Pastor?« Es machte den
+Eindruck, als ob dem Entsetzten die Zähne klapperten.</p>
+
+<p>»Würde Ihnen doch nur wieder einstürzen. Nein, wir halten es hier so,
+daß die Nachbarn dem Verstorbenen die Gruft selber graben. Aber sehen
+Sie nur aus dem Fenster. Dort hinten liegt der Kirchhof im Mondschein,
+jener große Rasenplatz soll umgestochen und neu besamt werden, die
+Arbeit kann sofort beginnen, weil der Boden offen ist.«</p>
+
+<p>Stanislaus Wetterwetzer schnellte empor: »Wird gemacht, Herr Pastor,
+wird gemacht!« Er drehte sich um sich selbst und suchte seine Mütze,
+die er schließlich in einem Ärmel entdeckte, und schoß dann auf die Tür
+zu. Sicherlich hatte er im Sinn, noch denselben Abend im Mondschein an
+das Werk zu gehen.</p>
+
+<p>Lächelnd faßte ihn der Pastor bei der Schulter und schälte ihn zunächst
+aus der Hülle der Schürze, als hätte er eine große Zwiebel vor sich.
+»Satt sind Sie,<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> wenigstens bis morgen früh mag es wohl vorhalten. Nun
+schlafen Sie auf Ihrer Dachkammer nur aus, und morgen fangen Sie mit
+frischen Kräften an.« Er ging mit einem Lichte voran, und sein Gast
+folgte, indem er vor Erstaunen den Hals fast ausreckte. Das Bett auf
+der Dachkammer war fertig, der Pastor wies es an und drehte sich dann
+rasch herum. »Diese Nacht muß ich Sie noch einschließen, denn ich kenne
+Sie ja nicht genug. Aber lassen Sie es sich nur ohne Empfindlichkeit
+gefallen.« Sprach's, verschwand und schloß die Tür schnell zu, froh,
+daß er über eine unangenehme Erörterung rasch weggekommen war. Er stand
+schon an der Treppe, da klopfte es drinnen, und Stanislaus Wetterwetzer
+rief vergnügt: »Herr Pastor, Herr Pastor, das macht gar nichts. Ich
+habe eben aus dem Fenster gesehen — an der Dachrinne kann ich jeden
+Augenblick hinabklettern, wenn Feuer kommt.«</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen gedachte der Pastor seinem Gefangenen nicht früh
+aufzuschließen, sondern ihn erst ausschlafen zu lassen, und ging
+in seinem Zimmer auf und ab. Da hörte er wiederholt einen Spaten
+ausstoßen, trat an das Fenster und sah, daß Stanislaus Wetterwetzer
+schon kräftig bei der Arbeit war. Unwillkürlich mußte er lächeln, und
+als er hinausging, um sich nach ihm umzusehen, fand er Stine, wie sie
+aus der Stalltür eifrig nach dem Kirchhof ausspähte.<span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span> »Ick stah hüt
+morrn in de Käkendör,« sagte sie, »dunn kümmt hei mit einmal von baben
+an de Gat runmaracht, flink as 'n Kateiker. Ick denk, ick slah dreimal
+verlangs hen. Äwer as ick nu losleggen will, Herr Paster, wat seggt
+hei? ›Guten Morgen, Fräulein,‹ seggt hei, ›das machen Sie mal nach,‹
+seggt hei. Denkens mal an, Herr Paster, wat hei mi anmoden is, un dorbi
+so fidel as 'ne Maikatt. Ick wier as upn Mund slahn. Äwer Kaffee hett
+hei all kregen. Un nu towt hei dor wedder los, dat ick all uppaß, ob
+ick em nich wedder rin halen möt. Nimmt sön Jung äwer woll Vernunft
+an? Das macht gar nichts, säd hei mi baw int Gesicht. Na, mie makt dat
+nicks, äwer sön Jung kann einen doch duren in sinen Unverstand.«</p>
+
+<p>»'N schönen Jung,« sagte der Pastor lächelnd.</p>
+
+<p>»Nich wohr, Herr Paster? wat hett hei för swarte Ogen und wo glummen
+sei em lustig in den Kopp, wenn hei einen von ünnen so ankickt, un sone
+gnäterswarte Hor.«</p>
+
+<p>»Stine, hei is all säbenuntwintig Johr olt, wat du woll glöwst.«</p>
+
+<p>»Herr du meines Lewens, denn is dat jo woll 'n richtigen Mannsminsch?
+Un de utverschamte Kirl mod mi tau, ick sall vör em de Gat
+runklaspern?« Sie fuhr verlegen zurück und schloß die Stalltür
+hinter sich, und der Pastor grüßte den fleißigen Arbeiter über die
+Kirchhofsmauer hinüber. Der stieß den schweren<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> Manns-Spaten in den
+Grund und brach die Grassoden los, daß es aussah, als ob der Kirchhof
+brannte und er sollte dem Feuer durch Abgraben wehren. Dabei lachte er
+seelenvergnügt zu seinem Arbeitgeber hinüber, wenn er in die Luft oder
+auf einen Stein stieß. Kopfschüttelnd ging der Pastor zurück und nahm
+seine Arbeit auf. Als er nach einer halben Stunde zufällig aufhorchte,
+war von Stanislaus Wetterwetzers Spaten nichts mehr zu hören. Besorgt
+machte er sich auf, seinen Arbeiter aufzusuchen, und bemerkte, daß die
+mütterliche Sorge Stine schon wieder getrieben hatte, durch die ein
+wenig geöffnete Stalltür zu spähen. Aber den Fremden sah er nicht. Auf
+dem Kirchhofe angelangt, entdeckte er ihn endlich hinter einer dicken
+Linde, wie er mit jämmerlicher Miene seinen gekrümmten Rücken an dem
+Stamme gerade zu biegen versuchte. Dabei zitterten die Hände, daß sie
+den Spaten kaum halten konnten, auf den sie sich stützten.</p>
+
+<p>»Das wird auch nichts, Herr Pastor,« sagte er, »so ein armes Luderchen
+bin ich.« In seinen Augen blinkten Tränen.</p>
+
+<p>»Nun, nun,« beruhigte ihn der Geistliche, »alles will gelernt sein, und
+dazu gehört Geduld.«</p>
+
+<p>»Ja, das ist es ja, Herr Pastor,« schluchzte Stanislaus, »meine Geduld
+beim Arbeiten ist gerade so kurz und mürbe — wie — ein Regenwurm,
+Herr<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> Pastor. Wenn das nicht gleich geht, dann reißt sie ab, und ich
+werde kratzbürstig, und aus ist es, Herr Pastor.«</p>
+
+<p>»Einstweilen tragen Sie den Spaten wieder hin, wo Sie ihn hergeholt
+haben, und dann kommen Sie dort hinten zu dem Buschhaufen, die Zweige
+zu zerhacken, das ist etwas für Sie.«</p>
+
+<p>»Wird gemacht, Herr Pastor, wird gemacht.« Stanislaus trottete noch
+halb krumm, aber schon wieder getröstet ab und schwang bald ein
+leichtes Beil am Haublock. Lange Zeit war noch nicht vergangen, da
+sah der Pastor Stine über den Hof eilen und dann händeringend und
+ratlos vor dem kleinen Mann stehen, der auf dem Haublocke saß. »De
+unglücksel'ge Kretur hett sick jo woll de ganze Hand awhaugt,« rief
+sie ihrem Hausherrn entgegen. So schlimm war es nun freilich nicht,
+immerhin aber war die linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger drei
+Zentimeter lang aufgespalten, und das Blut lief an der Rechten, die die
+Wunde zusammenpreßte, in mehreren Rinnsalen herab.</p>
+
+<p>»Das macht gar nichts, Herr Pastor,« versicherte Stanislaus und
+versuchte krampfhaft zu lächeln, obwohl er ganz weiß aussah. »Der
+Schulze gibt mir einen Schein an das Rostocker Krankenhaus mit, Herr
+Pastor, denn eine Heimat habe ich nirgends, Herr Pastor. Wird alles
+ersetzt, Herr Pastor.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p>
+
+<p>»Stine, segg Krischan, hei sall furts anspannen, wi führen nah'n
+Dokter,« befahl der Pastor. »Sie kommen einstweilen in meine Stube,
+Wetterwetzer, damit ich Sie, so gut es geht, verbinde. Sind Sie bei mir
+krank geworden, so sollen Sie auch bei mir gesund werden.«</p>
+
+<p>Stine wußte mit Pferden gerade so gut umzugehen wie ein Knecht, sie
+schob den Wagen aus dem Schauer und half mit anspannen. Die Fahrt
+ging ab, der Doktor nähte mit drei innern und fünf äußern Nadeln und
+verhieß, da der Knochen nicht verletzt wäre, baldige Heilung. So war
+Stanislaus einstweilen zur Untätigkeit verurteilt. Aber das war nicht
+nach seinem Sinn. Am Nachmittage hörte die Pastorin ihre beiden Kinder,
+einen Knaben von drei und ein Mädchen von zwei Jahren, auf dem Gange,
+der das Haus der Länge nach durchzog, voll herrlichster Spiellust
+jauchzen und schreien. Neugierig sah sie hinaus. Da hatte der Fremde
+den Knaben auf seinem Nacken hocken, und dessen kleine Fäuste hatten
+ihn gar kräftig bei den schwarzen Haaren gepackt, das Mädchen saß
+im Wagen und lenkte ihr zweibeiniges Pferd am Zügel. »Hopp hopp —
+hü hott.« Stanislaus sah in das verdutzte Gesicht der Mutter. »Frau
+Pastor, Frau Pastor,« rief er eifrig, indem er den Wagen stehen ließ
+und auf seinen Kopf mit der gesunden Hand<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> zeigte, »ganz rein! ganz
+rein! Hopp hopp — hü hott!«</p>
+
+<p>An der Gosse brauchte er am nächsten Morgen nicht mehr hinabzuklettern,
+da er nicht mehr eingeschlossen wurde. Statt sich zu schonen, ließ er
+sich vom Beschäftigungsdrange früh hinaustreiben. In der Küche war
+große Unruhe. Die Hausfrau war in der Nacht von einem plötzlichen
+Krankheitsanfall überwältigt, und wenn man auch die Ungefährlichkeit
+kannte, so waren doch die Schmerzen groß, und das stillende Mittel,
+das sonst Linderung brachte, war nicht mehr in der Hausapotheke, der
+Knecht aber in der Morgenfrühe mit Korn abgefahren. Wer sollte nun zur
+Nachbarstadt? — Stanislaus Wetterwetzer, zu dienen. Er stand schon
+in der Haustür, so daß der Pastor ihn zurückrufen und zum Essen durch
+Befehl zwingen mußte. Mit einem Briefe und einigen Markstücken trabte
+der kleine Mann dann ab.</p>
+
+<p>Es verging die Zeit, die für gewöhnlich ein Fußgänger gebrauchte,
+um den Weg hin und zurück zu machen, und er kam nicht. Die Pastorin
+krümmte sich vor Schmerzen, der Hausherr wanderte, ingrimmig auf sich
+selbst und seine Vertrauenswilligkeit in so ernster Sache zürnend,
+von einem Zimmer in das andere, über den Hof auf die Landstraße, um
+Ausschau zu halten, und zurück. Mittag war<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> längst vorbei, da kam
+der Erwartete endlich an. Das Mittel war in der Altstädter Apotheke
+nicht vorhanden gewesen, selbst auf telegraphische Bestellung konnte
+es erst am nächsten Tage ankommen; da hatte sich Stanislaus nicht
+lange besonnen und war nach Rostock getrottet, drei Meilen hin und
+drei Meilen zurück in sieben Stunden. Und das Mittel war da und half
+sofort. »Herr Pastor — mit meinen Beinen — gar nicht tot zu kriegen!
+Das kommt vom Wandern. — Nur die Arme — Regenwürmer — mürbe —« da
+taumelte er dem zuspringenden Pastor in die Arme. »Blutverlust, Herr
+Pastor — armes Luderchen —, Herr Pastor — ich will — ich kann —«
+Sein Einreden half nichts, wieder mußte er zu Bett.</p>
+
+<p>Drei Tage lag er danieder. »Dor spelunkt Stane Zedienen warraftig all
+wedder rüm,« schalt dann Stine, die sich die Pflege nicht hatte nehmen
+lassen. »Süll dat einer woll glöwen, dat dat'n Mannsminsch is, dei
+sin por Sinn würklich tausamen hett? Inspunnen müßt man em.« Dabei
+schüttelte sie ihn gelinde am Schopf, als wäre sie der große Nikolaus
+und er der Kaspar, in der Nähe war eine eingegrabene Tonne, in der der
+Aufenthalt gewiß nicht weniger angenehm gewesen wäre, als in einem
+Tintenfasse. Er gab gar keine Antwort, sondern lachte sie von unten her
+vergnügt und vertrauensvoll<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> an, und vor solcher Art von Beredsamkeit
+verstummte sie errötend.</p>
+
+<p>Stanislaus Wetterwetzer hatte eine gute Haut zum Heilen und wurde
+gerade dann leistungsfähig, als der Pastor den letzten Satz seiner
+umfangreichen Arbeit geschrieben hatte: »Und so kommen wir zu dem
+Schlusse, daß wir bei Versuchen zur Lösung der schwierigen Frage uns
+stets in eine Sackgasse verrennen, also klug tun, die Lösung dem zu
+überlassen, den sie im Grunde allein etwas angeht. Gott hat schon
+ganz andere Schwierigkeiten gehoben, er wird auch wissen, wie seine
+Gerechtigkeit und Heiligkeit mit seiner Liebe und Güte im Einklang
+bleibt bei Behandlung der ohne ihre Schuld ungetauft verbliebenen
+Heiden und Kinder.« Sein viele Bogen langes Werk, in dem er von Petrus
+und Paulus an über Hieronymus und Augustinus, Luther und Chemnitz
+mühsam hinweggeklettert war, betrachtete er mit schiefen Seitenblicken.
+Denn so behaglich er sich unter den Kirchenvätern und Dogmatikern
+befunden hatte, jetzt entließen sie ihn aus ihrer würdigen Gesellschaft
+und wiesen ihn an die Reinschrift, das gefiel ihm sehr wenig. Da kam
+ihm der Gedanke, den Fremdling, der mit seinem Arbeitsdrange wieder
+allerlei Unheil anzurichten drohte, vor das Tintenfaß zu bannen, und
+der gelang. Der Abschreiber konnte und mochte Kladde lesen, zierlich<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span>
+und sauber schreiben, ja er brachte noch einige Fähigkeit Latein zu
+erraten aus seiner Schulzeit her zum Vorschein, nur griechische Schrift
+mißlang und sah aus, als ob ein Sperling mit Tintenfüßen über das weiße
+Papier gelaufen wäre.</p>
+
+<p>Zwei Monate saß Stanislaus Wetterwetzer an den Tisch in der
+Studierstube festgebannt. Er war während dieser Zeit mit allerlei
+zurechtgeschneiderten abgelegten Kleidungsstücken sauber ausstaffiert,
+Stine hatte ihm von der Wolle, die ihr alljährlich zukam, drei Paar
+Strümpfe gestrickt und zwar unter großer Mühe, denn wiederholt war
+der Füßling zu lang geraten, hatte sie sich doch heimlich geschämt,
+Kinderstrümpfe zu stricken. Als ihr Schützling wieder auf den Hof
+gelassen wurde, begann er ein seltsames Treiben. Überall machte er sich
+Beschäftigung, nagelte hier Latten, befestigte da Riegel, besserte den
+Steindamm, kalkte den Hühnerstall und brachte neue Stiegen an. Die
+Kinder wartete und hütete er mit Eifer. Jeder nutzte ihn, und jedem
+diente er. Aber seine Unruhe steigerte sich sichtlich, er bewegte sich
+nur noch laufend, stand dann plötzlich still und sah zum blauen Himmel
+auf, an dem die Sonne lachte, hielt die Hand vor die Augen und ließ den
+Schein rötlich durch die Finger dringen, seufzte, fuhr sich mit der
+Hand durch die Haare, horchte auf Meisen und Finken und warf plötzlich
+mit Steinen nach ihnen.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span></p>
+
+<p>»Herr Paster, ick glöw, nu knippt hei uns nächstens ut«, sagte Stine,
+die mit wachsendem Unbehagen und Mißtrauen dieses Gebaren begleitete.</p>
+
+<p>»Hei ward sick häuden,« lautete die Antwort, »em prickeln blot dei
+Wäldag.«</p>
+
+<p>»Herr Paster, hei hett nülich sin oll Lumpen utwuschen un dunn heimlich
+flickt, ick heww dat woll markt, dat ick dat nich sehn süll.«</p>
+
+<p>Eines Morgens war Stanislaus Wetterwetzer verschwunden. Sein neu
+angeschafftes Zeug lag sauber und ordentlich auf seiner Kammer, nur die
+geschenkten Strümpfe und seine alte Wanderkleidung hatte er mitgenommen.</p>
+
+<p>Stine hatte mit ihm ihre sonst unverändert gute Laune verloren und
+besann sich erst auf sich selbst, als sie entdeckte, daß sie ihrer
+Lieblingskuh Maikranz, die beim Melken nicht still stehen wollte, einen
+solchen Schlag mit dem Hüker versetzt hatte, daß er mitten durchbrach.
+Da erschrak sie von Herzensgrund, weinte sich aus und wurde wieder gut
+und freundlich, wie sie gewesen war.</p>
+
+<p>Der Sommer verging, die Herbststürme brausten über Land, und der Winter
+trat sein Regiment an. Als der Pfarrherr am Anfang Februar eines
+Morgens in seine Studierstube getreten war und eben den Stand des
+Thermometers am Fenster nachsah, kam Wetterwetzer gesprungen, er mochte
+ihn hinter<span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span> den gefrorenen Scheiben erkannt haben und schwenkte von
+ferne seine Mütze. Im nächsten Augenblicke schoß er schon durch die Tür
+und tanzte bald auf einem, bald auf dem andern Bein und rief: »Nun hab
+ich eins. — Nun hab ich eins, Herr Pastor, — ein so Kleines — so —
+so — so Kleines.« Er zeigte immer kleinere Maße, bis endlich etwa auf
+Handlänge.</p>
+
+<p>»Eins nur?« sagte der Pastor enttäuscht, denn er dachte an gewisse
+Vorgänge im Schweinestall. »Ich hatte auf ein Dutzend gerechnet.«</p>
+
+<p>Stanislaus lachte ganz übermäßig und schnellte in Freuden im Sprunge
+fast bis an die Decke. »Herr Pastor — Herr Pastor — Herr Pastor!«</p>
+
+<p>»Ja, Sie lachen, aber ein Spaß ist das gar nicht. Das Stück gilt
+zwanzig Mark heute, sage ich Ihnen.«</p>
+
+<p>Da stand der Kleine wie festgewurzelt: »Nein, das wird nicht verkauft,«
+sagte er langgezogen.</p>
+
+<p>»Natürlich wird es verkauft.«</p>
+
+<p>»Ich will alles tun, was der Herr Pastor sagt, aber das tu' ich nicht.«
+Er sah in diesem Augenblick geradezu bejammernswert aus. »Herr Pastor,
+mein Fleisch und Blut ...«</p>
+
+<p>Plötzlich sah der Pastor ziemlich bejammernswert aus, aber er fand sich
+schnell in die Lage, schüttelte die Schulter des Kleinen und machte
+dazu ein so drolliges Gesicht, daß Stanislaus bei jedem Ruck<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> seine
+glückliche Laune wieder näher kommen fühlte, sie fuhr beim letzten Ruck
+in ihn hinein, jetzt lachte er schallend über den Scherz, dessen Tiefe
+er freilich noch nicht verstand, jetzt wollte er seine Mütze irgendwie
+ein abenteuerliches Exerzitium durchmachen lassen, aber er schleuderte
+sie nur zwischen den Beinen durch, daß sie ihm von hinten gerade auf
+den Kopf flog, ohne daß er es recht merkte.</p>
+
+<p>»Ein so — so — so Kleines, Herr Pastor. — Ich bitt' schön, Sie
+müssen's mal sehen, Herr Pastor, — o bitt' schön, kommen Sie mit, Herr
+Pastor, — und Frau Pastorin auch und die Kinder auch.« — Er lief
+schon voran, aber besann sich: »Kühe sind besorgt, Herr Pastor. — Ich
+hab' eins, ich hab' eins. — Gemolken habe ich, Herr Pastor — ein so
+Kleines — ein so Kleines — Stine hat's mir in den letzten Wochen
+gezeigt, Herr Pastor, ein so — so — so Kleines, Herr Pastor — und
+alle haben sie zu fressen — Frau Pastorin und die Kinder — — —.«
+Er war nur still, weil er bei einem Sprunge mit dem Kopfe gerade gegen
+die Tür, die Frau Pastorin öffnete, gerannt war, daß es so dröhnte,
+als wollte er die bei Geburt eines Prinzen üblichen Kanonenschüsse
+nachahmen.</p>
+
+<p>Ob der Pastor nun wollte oder nicht, er mußte mit seiner Frau alsbald
+bei Stine einen Wochenbesuch machen. Auf dem Gange drehte Stanislaus<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span>
+sich um das Paar gerade so, wie der Mond sich um die Sonne dreht,
+voraus ging er rückwärts und zeigte sein volles Gesicht, dann kam
+letztes Viertel an der Seite der Pastorin, Neumond hinten, und mit dem
+ersten Viertel tauchte er an der Seite des Pastors wieder auf, und
+auf dem kurzen Wege zum Pfarrkaten hatte er alle Phasen mindestens
+zwanzigmal durchlaufen und noch lange nicht heruntergeschwatzt, was
+sein Herz füllte.</p>
+
+<p>Stine sah ihn erwartungsvoll an, als er eintrat. »Alles in Ordnung,
+Stine,« sagte er. »Kühe bis auf den letzten Tropfen ausgemolken. Darf
+ich sie 'reinbringen, Stine? Sie sind draußen, Stine.«</p>
+
+<p>Die glückliche Mutter machte ein ängstliches Gesicht, als wenn sie
+erwartete, daß der abenteuerlich veranlagte Mann ein paar Kühe als
+Abgeordnete des Stalles anbringen würde, aber glückstrahlend sah sie
+dann ihre Herrschaften eintreten.</p>
+
+<p>»Wasch di de Hänn, Stane.« Sie wußte ja sofort, was erfolgen würde. Er
+gehorchte, roch alsbald kräftig nach grüner Seife und übernahm nun so
+die Erklärung, indem er das Kind vorsichtig aufhob. »Herr Pastor, sehen
+Sie nur die Hände — wie eine Haselnuß — Frau Pastorin, die Füße — da
+— da — da — akkurat wie ein Frosch — und hier die Haare, oh, lang
+wie ein Finger und schwarz, ganz wie der Vater, ganz wie der Vater,
+das bin ich<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> nämlich, Frau Pastorin, und doch ist es 'n Mädchen, Herr
+Pastor, und das ist deins, Stine!« Er übergab es seiner Frau in sehr
+zarter Weise, damit sie es neben sich bette. Die Pastorin nahm ihn
+nun vor und bedeutete ihm, daß er die Tür hüten müßte und niemanden
+einlassen, wer es auch wäre. »Tu' ich auch nicht, tu' ich auch nicht,
+Frau Pastorin, aber ich meinte, daß das Kleine doch auch eigentlich
+Ihnen mit gehörte, Frau Pastorin.«</p>
+
+<p>»Nu knippt hei mi nich mihr ut, Herr Paster,« flüsterte Stine
+inzwischen dem Seelsorger zu.</p>
+
+<p>Stane schien sich zu verdoppeln. Er melkte und fütterte in Vertretung
+seiner Frau, kochte Wochensuppen, obgleich freundliche Nachbarinnen im
+Anfang soviel zuschickten, daß die größte Familie sich hätte sättigen
+können, rechnete, besserte aus, lief, schrieb — er war sogar des
+Nachts mehr außerhalb des Bettes als darin.</p>
+
+<p>Aber Stine entdeckte bald, daß ihn der Erfolg seiner Arbeit nicht
+befriedigte. Er saß eines Abends und rechnete mit Zahlenreihen auf
+einer Tafel, die seine Frau zum Andenken an ihre Schulzeit aufbewahrt
+hatte, löschte aus, rechnete von neuem und seufzte, ohne es zu wissen.</p>
+
+<p>»Du hest jo woll gor de Sorgenstütt ansett,« sagte sie freundlich,
+indem sie sanft seinen Ellbogen schüttelte, »wat is di? is di nich
+gaud?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span></p>
+
+<p>»Mir?« Stane fuhr sich durch die Haare und lachte gezwungen. »Ich
+rechnete nur aus, wie viel ich in der kommenden Woche zusammenbringen
+könnte.«</p>
+
+<p>»Dat 's doch kein grot Stück Arbeit? Mi dücht, dat schält nich väl,«
+sagte sie harmlos.</p>
+
+<p>Er errötete und sah Stine mit unsicherm Blick an. »Bei Leppelt eine
+Stube tapezieren und ölen, bei Ganzow das Staket vor dem Hause
+anstreichen, das sind so Nebeneinnahmen —«</p>
+
+<p>»Dat glöw ick woll, Stane, dat sei di wedder mal to'm Herümdwätern
+bruken willen, äwer dat büdelt nich. Ick heww mi dat so äwerleggt, ick
+gah tokamen Mandag wedder up Arbeit.«</p>
+
+<p>»Was willst du?« Er schnellte von seinem Sitz empor und trat hart an
+seine Frau heran, ohne daß diese von dem nahenden Unwetter etwas ahnte.</p>
+
+<p>»Ick kann hier doch nich ümmertau rümmer sitten, Stane, un mi utfaudern
+laten, as wir ick 'n Kind, wat 'n Lutschbüdel krigt? Dortau hew ick di
+doch nich friegt.«</p>
+
+<p>»Was nicht? Wozu nicht? Wozu denn? Sprich doch! Wirst du gleich?«</p>
+
+<p>»Äwer, Stane, wat tast du so an mi rümmer? du büst doch 'n richtigen
+Quirrbregen.« Noch nahm Stine alles von der gemütlichen Seite auf und
+erlustigte sich innerlich an seinen vergeblichen Versuchen, sie durch
+Rütteln zu erschüttern. »Wotau ick di friegt<span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span> heww? du süst mi nich up
+de Landstrat vermisquemen. As du dat letzte Mal wedder kemst, haddst du
+all orig 'n Knick weg.«</p>
+
+<p>»Und ich? Und ich? Und ich? Ich soll hier sitzen und mich von dir
+ernähren lassen? Das soll ich, Stine? — Soll ich das, Stine?« Er fuhr
+einige Male wie ein Rammbock gegen sie an, ihre Standhaftigkeit machte
+ihn nur wütender.</p>
+
+<p>»Ja natürlich, Stane. Dauh doch nich so, as sühst mi woll, hier steiht
+de Pump!« Unwillkürlich nahm Stine einen festern Ton an, denn es reizte
+sie sein unvernünftiges Gebaren, und sie fühlte sich unerschütterlich
+im Recht, wenn sie beanspruchte, ihren Mann zu ernähren. Aber im
+nächsten Augenblick fuhr sie erschrocken zusammen. Ihr Stane war drei
+Schritte zurückgeprallt, seine Augen schossen Blitze. Wütend schlug er
+mit der Faust auf den Tisch und schrie: »Was soll ich, Stine? Meiner
+Frau mein täglich Brot aus der Hand nehmen? Ein Kind in die Welt setzen
+und seinen Unterhalt von mir abschieben? Ist das nicht so, als sollte
+ich mit ihm um die Wette lutschen? — Was soll ich, Stine? Mich vor
+meiner eigenen Tochter schämen? Und alle Leute sollen mit Fingern
+auf mich zeigen und sagen, daß ich ein Kerl sei, der sein Haus nicht
+erhalten könnte? Ich sage dir, Stine, du bleibst zu Hause! — Zu Hause
+bleibst du! Weib, bin ich hier Herr im Hause oder du?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span></p>
+
+<p>Bei jeder Frage schien er zu wachsen, nach jedem Schlage auf den Tisch
+schnellte er höher zurück, in seinen Augen loderte eine Glut, die
+anscheinend alles um sich in Flammen setzen wollte. Stine sah das und
+fiel immer kleiner und kleiner in sich zusammen.</p>
+
+<p>»Äwer, Stane,« bat sie schließlich flehend, »so si doch nich so. Ick
+bün jo ganz klicksch. Stane, ick bidd di um Gottes willen, ick dauh
+jo allens, wat ick sall. Stane, min leiw Stane« — die große Frau
+schluchzte, und die Tränen rannen in Strömen über die Backen. Der so
+dringlich Beschworene maß erst noch mit heftigen Schritten das Zimmer,
+stand still, sah die Weinende an, ging wieder auf und ab, aber kam
+allmählich näher, als ob ihn der Strudel unwiderstehlich anzöge, und
+endlich glitt er in ihn hinein, und Stine war glücklich, daß sie ihren
+Stane wieder hatte, und versicherte immer wieder von neuem, nun sei
+alles wieder »will un woll«. Sie holte die Kleine herbei, damit diese
+doch sähe, was für einen fleißigen Vater sie hätte; aber die Kleine
+hatte auch schon ihren Kopf für sich, sah durchaus nicht auf den Vater,
+sondern nur auf einen bestimmten Punkt an der Mutter; und als die
+Mutter endlich auch von ihrer Tochter besiegt wurde, lachten die Eltern
+schon einträchtig miteinander über ihr täglich sich erneuerndes Glück.</p>
+
+<p>Stane ging wieder auf Arbeit und schonte sich<span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span> nicht, aber er wurde
+blaß und blasser, magerer, hinfälliger, so daß es allen Leuten auffiel.
+Stine bat und flehte ihn an, sie arbeiten zu lassen — nein, er sagte
+bestimmt, er hätte eine Familie, und er als Mann müßte sie ernähren.
+Da nahm sich der Schulze, der das Haus des Retters seines Sohnes nie
+aus dem Auge verloren hatte, der Sache an. Er sprach eines Tages beim
+Pastor vor und entwickelte den Plan, dem kleinen Mann eine für ihn
+geeignete Arbeit zuzuweisen. Ein Kaufmann oder Händler wohnte noch
+nicht in dem großen Dorfe, obwohl sich dort ein Geschäft recht gut
+erhalten könnte, wenn es Stadtpreise für Ware nähme. Die Knechte würden
+dann nicht mehr so oft sich im Stadtladen betrinken, die Mädchen nicht
+am Abend spät noch mit dem Handkorb über die Landstraße gehen, das
+Geld bliebe im Orte, jedermann wäre den beiden gut usw. Er wüßte, das
+Stanislaus Wetterwetzer rechnen und schreiben könnte wie der Lehrer,
+und Buch führen wie ein Kaufmann, und sich auf Waren gut verstände.
+Darum wolle er, der Schulze, gern eine größere Summe für den Anfang
+vorstrecken. Um die Zinsen und den Abtrag wäre ihm nicht bange. Die
+Stube im Katen müßte allerdings zum Laden eingerichtet werden, aber es
+ginge dem Sommer zu, da behülfen sich die Leute wohl, und Lagerraum
+fände sich in der Nachbarschaft, wenn der Herr Pastor<span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span> nur beim
+Einrichten helfen wollte, dann müßte es gehen; aber die Schulzenfrau
+dürfte ja nichts von dem Gelde wissen, nicht, als ob sie den beiden
+Leuten nicht Vertrauen schenkte, aber die sollte ihr Gebiet frei haben
+und mit Schweinsköpfen und Speckseiten und Würsten und Brot einstweilen
+behaglich weiter an dem Glück des Paares bauen.</p>
+
+<p>So wurde Stane ein Händler. Einige schlugen ihm als Firma vor
+»Stanislaus Dasmachtgarnichts,« andere »Stane Wirdgemacht,« Stine
+wollte am liebsten öffentlich den rechten Namen ihres Mannes
+»Stanislaus Zedienen« auf dem Schilde anerkannt sehen.</p>
+
+<p>Bald mußte ein größeres Haus bezogen werden, und in den dazugehörigen
+Stallräumen quiekte und brummte es, dort hatte Stine das Regiment, vor
+allem aber auch im Hause über die wachsende Kinderschar, über drei
+Knaben, alle blond und groß wie die Mutter, so daß der älteste mit zehn
+Jahren schon den Vater überragte, und zwei Mädchen, klein und zart und
+schwarz wie der Vater. Und wer das Glück von Stane und Stine sehen
+will, der muß sie besuchen, wenn der Vater die Kinder auf der Mutter
+aufbaut, daß das Gebäude wie ein Turm dasteht. Stane lacht und Stine
+lacht, dann aber fällt der Bau auseinander.</p>
+
+<hr class="full">
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span></p>
+</div>
+
+<h2>Aus Wilhelm Pickhingsts Kriegsfahrten.</h2>
+
+<p>Mit solchen Betrachtungen ging Wilhelm Pickhingst von dannen in die
+Winternacht hinaus und kam diesmal in die rechte Richtung und gerade
+auf den gesuchten Ort zu. Er forschte nach dem Oberst, fand ihn aber
+nicht und hatte damit seine Schuldigkeit seiner Meinung nach reichlich
+getan.</p>
+
+<p>Doch nun, wohin in der Nacht? Dort lag eine Scheune; aber als er die
+Tür öffnete, sah er den Raum vollständig gefüllt, wie die Heringe lagen
+die Soldaten da nebeneinander und schliefen oder hockten Rücken an
+Rücken, die Füße nach allen vier Winden gekehrt, und putzten oder aßen.
+Sein erster Versuch einzudringen wurde mit einem heillosen Donnerwetter
+abgewiesen. Nun denn — um die Scheune herum, um im Notfalle sich mit
+einem Hofhunde um seine Hütte zu balgen. Halt! Da stöhnt etwas! Wilhelm
+Pickhingst stand wie angenagelt und horchte. Doch nein, er irrte sich
+wohl nur. Abermals ein Stöhnen, recht wie ein Mensch in großer Not.
+Dort ermordete man wohl jemanden, der Ton kam aus einem Winkel, der
+durch zwei<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> Gebäude und einen Schuppen ganz versteckt gehalten wurde.
+Vorsichtig hinan, dort liegt Stroh, unter dem Stroh bewegt es sich
+und stöhnt, am Ende ein kranker Kamerad, der hier hilflos liegt. Ein
+Griff — und das Stroh fliegt beiseite. »Ist hier jemand krank?« Keine
+Antwort. Eine leise Mahnung mit dem Kolben: »Oui iii ok, ok, ok!« Ein
+Schwein fuhr heraus und grunzte ihn mißmutig an. Mit einer Verwünschung
+sprang er zurück, aber überlegte bald, ob er nicht das Lager mit dem
+Tiere teilen sollte. O nein, das wäre doch zu würdelos; was würde man
+sagen, wenn man ihn hier am nächsten Morgen träfe. Halt, plötzlich
+durchzuckte ihn ein prächtiger Gedanke.</p>
+
+<p>Er drängte das Schwein in eine Ecke und kitzelte es mit dem
+Seitengewehre, daß es sofort seine Willigkeit zu allen Zumutungen
+mit hallendem Ouiiiii bekräftigte. Auf dem Hofe blieb noch alles
+still. Abermals etwas kräftig die Spitze angewandt. Ein entsetzlich
+gellender Schrei, der nachdrücklich in die Länge gezogen wurde. Da
+öffnete sich plötzlich die Scheunentür, und ein Dutzend Soldaten
+sprang heraus und schaute neugierig über den Hof. Jetzt galt's! Das
+Schwein schlug auf seine Ermunterung einen Triller nach dem andern.
+Von allen Seiten stürzten Mannschaften herbei in der Annahme, daß hier
+beim Schweineschlachten noch irgendein gutes Stück zu<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> erschnappen
+sei. Als sie suchend ihm nahe waren, ließ er das Tier los, es fuhr
+wie aus dem Lauf geschossen über den Hof, und Wilhelm Pickhingst
+drückte sich an den Wänden davon und suchte sich unter den leeren
+Plätzen in der Scheune einen passenden aus, während nach einiger Zeit
+die übrigen zurückkamen, murrend, daß die leichtfüßige Bestie ihnen
+ins Feld entkommen sei. Anscheinend lag Wilhelm Pickhingst schon in
+tiefem Schlafe und ließ sich durch einige redlich gemeinte Püffe nicht
+ermuntern. »Ich habe Schwein gehabt«, dachte er vergnügt. »Jetzt mag
+ich das Pech damit dauernd los geworden sein.«</p>
+
+<p>Am nächsten Morgen machte er sich zunächst hinter die Mauer, wo er
+allein war, und verzehrte seine Vorräte bis auf eine letzte Rinde,
+denn wer konnte wissen, wann sich wieder die Gelegenheit zum Essen
+fand. Dann meldete er sich bei dem Grenadierbataillon, da niemand mit
+Sicherheit angeben konnte, wohin von Les Cohernieres aus zunächst sein
+Bataillon gehen würde, und erhielt Erlaubnis, sich bis auf weiteres
+anzuschließen. Lombron war schon geräumt, es ging nach St. Corneille
+vorwärts. Unterwegs zogen sich die Marschierenden in langen Kolonnen
+auseinander, weil es galt, sich zwischen den Hecken durchzuwinden. Als
+bei dieser Gelegenheit sich einmal vorne irgendein Hindernis, eine
+Barrikade<span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span> oder ein Verhau zeigte, versuchte man Umgehung, und der Zug
+erklomm infolgedessen den nächsten nördlichen Abhang.</p>
+
+<p>Oben angekommen, ergab sich auch hier die Unmöglichkeit, weiter zu
+rücken, man mußte sich also aufs Warten legen, bis das Hindernis
+weggeräumt war. Da erblickte man in ziemlicher Entfernung einen
+französischen Reiter, offenbar einen Kürassier, der unbeweglich still
+auf seinem Platze hielt und fortwährend die Reihen musterte. Die
+übrigen kümmerten sich nicht um ihn, aber Wilhelm Pickhingst hatte
+auf die Reiter seit einem bestimmten unvergeßlichen Abenteuer bittern
+Haß geworfen. Er drängte sich also zu dem Hauptmanne durch und bat um
+Erlaubnis, den Burschen auf den Trab zu bringen. »Meinetwegen!« hieß
+es. »Aber halten Sie sich nicht zu lange auf, es geht weiter, sobald
+da vorne aufgeräumt ist.« Mit einigen Sprüngen nahm Wilhelm Pickhingst
+vollends die Höhe und marschierte nun gerade auf seinen Gegner zu.
+In Schußweite stellte er sich an und hob sein Gewehr und zielte. Der
+Bedrohte rührte sich nicht. »Ha,« dachte Wilhelm Pickhingst, »der hat
+am Ende das Schießen nur bei den Franzosen kennen gelernt, da soll er
+einmal einen Mecklenburger sehen. Will ihm lieber noch etwas näher
+rücken.« Abermals hielt er und zielte. Der andere dachte nicht an den
+Rückzug.<span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span> »Das scheint ein mutiger Bursche. Um den wäre es schade.
+Ich will mir diesmal aber sicher einen Gefangenen greifen. Noch etwas
+näher — und dann dem Pferde, das ohnehin nur ein elender Schinder ist,
+gerade auf den Kopf!« Getan, wie gedacht. Ein Knall. Der Gaul lag mit
+dem Reiter am Boden. Jetzt fing Wilhelm Pickhingst an zu laufen, denn
+der Kürassier zappelte gewaltig und sprang auf, und als er den Feind
+sein Gewehr wieder laden und mutig anrücken sah, rückte er aus. Die
+Treffsicherheit schien Eindruck auf ihn gemacht zu haben.</p>
+
+<p>Nun war die Strecke, über die er fliehen mußte, vom Sturme der letzten
+Tage ganz kahl geweht und, da es am Morgen stark geglatteist hatte,
+sehr unsicher für den Fuß, er glitt aus und strauchelte und kam
+schlecht fort. Das Pferd hatte gewiß mit geschärften Eisen besser
+laufen können. Wilhelm Pickhingst konnte noch schwerer auf seinen
+Holzschuhen vorwärts dringen, plötzlich warf er sie beiseite, alle
+beide fast mit einem Wurfe, und nun ging es auf stumpfen Socken hinter
+dem andern drein. Der erkannte seine Bedrängnis und strebte mit Hast
+einer Hecke zu, die sich in seiner Nähe entlang zog, dachte wohl,
+sich hinter ihr zu verbergen und am Ende gar durch eine Lücke sich zu
+verteidigen. Plötzlich fuhr Wilhelm Pickhingst etwas durch den Sinn,<span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span>
+und er beflügelte seinen Fuß zu rasender Hast, daß er wie der Wind
+dahin flog, hier war ja eine Gelegenheit — der Kürassier war ein
+baumlanger Kerl mit mächtigen Beinen — sollte er ihn niederschießen?
+Haben mußte er ihn jetzt, es koste, was es wolle — doch nein, so
+von hinten, das ging nicht an. Wenn der Kerl nur standhalten wollte,
+Bajonett und Pallasch gegeneinander war ein ehrlicher Kampf. »Halt,
+Feigling!« schrie er. Der andere sah sich um, Wilhelm Pickhingst drohte
+ihm mit angelegtem Gewehre und brüllte: »Steh', du Hund!« Hui, hatte
+der andere noch nicht gelaufen, so setzte er jetzt an. Nun kletterte er
+den Wall hinauf, er glitt zurück, ein zweiter Anlauf brachte ihn besser
+auf die Krone, nun kroch er in eine Lücke. Wilhelm Pickhingst machte
+einen verzweifelten Sprung und packte mit beiden Fäusten die Hacken
+der großen Stiefel und hielt sie wie mit eisernen Klammern fest und
+stemmte sich mit der ganzen Leibeswucht gegen den Wall. Der andere aber
+zog auch, nur nach entgegengesetzter Richtung, was er konnte. Da gab
+es nur eine Vermittelung, die Stiefel übernahmen sie, sie ließen die
+langen Beine frei. Wilhelm Pickhingst schoß rücklings auf dieser, der
+Kürassier kopflings auf jener Seite vom Wall.</p>
+
+<p>Aber die kostbaren Stiefel, das Ziel seines Angriffs, hatte Wilhelm
+doch erobert, ein Blick, oh,<span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span> sie hatten eine wunderbare Größe! Und
+die Schäfte waren noch weit länger als an seinen unvergeßlichen
+früheren Stiefeln, und so heil und ganz und so vorzüglich geschmiert!
+Er vergaß in der Bewunderung völlig den Franzosen, nahm sein Gewehr
+auf und ging davon, mit den Stiefeln immer liebäugelnd. Da weckte
+ihn ein Ruf aus seiner Betrachtung. Jenseits auf der Höhe stand der
+Kürassier, und diesseits stand er. Und der Franzose tanzte und sprang
+auf seinen Socken, als wollte er sagen: Ȁtsch, ich bin doch noch
+davon gekommen.« Und Wilhelm Pickhingst war so überglücklich, daß
+ihn die Sache eigentlich freute, er nahm sein Gewehr in die eine und
+beide Stiefel in die andere Hand und tanzte und sprang auch, als wenn
+er sagen wollte: »Ätsch, ich habe doch deine Stiefel!« Den Franzosen
+schien das zu ärgern, er machte allerlei höhnische Bewegungen, und den
+Deutschen schien das zu reizen, denn er stellte seine Stiefel nieder
+und nahm ihn aufs Korn. Der Franzose schämte sich wohl jetzt seiner
+früheren Flucht, er schlug die Arme ineinander und schaute verächtlich
+drein, und der Deutsche schämte sich, den Wehrlosen abzutun, obwohl er
+ihn prächtig vor dem Rohre hatte, er setzte sein Gewehr bei Fuß. Der
+Franzose hob die Faust und tat so, als wenn er jemanden durchdreschen
+wollte, und der Deutsche winkte ihm, er<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> sollte nur kommen. Der
+Franzose schnallte seinen Pallasch ab, hob ihn hoch und legte ihn auf
+den Boden, den Küraß dazu. Der Deutsche verstand ihn sehr schnell, hob
+sein Gewehr und legte es nieder. Der Franzose nahm sein Messer aus der
+Tasche, zeigte es und warf es fort; der Deutsche machte es mit seinem
+Messer auch so. Jetzt schüttelte der Franzose die Hände und zeigte,
+daß er nichts mehr habe und deutete auf seine Faust als einzige Waffe.
+Der Deutsche machte es genau nach, dann gingen beide in angemessene
+Entfernung von ihren Waffen, und als der Franzose sich erst überzeugt
+hatte, daß er es mit einem ehrlichen Gegner zu tun hatte, da war er
+auch schon wie der Blitz von seiner Höhe herunter und zurück durch die
+Hecke und auf den freien Platz, den das Glatteis so schön deckte. Beide
+waren auf Socken, und so standen sie fest, und die Bedingungen waren
+gleich, nur daß der Kürassier einen Kopf länger war als der gedrungene
+Deutsche. Jetzt maßen sie sich mit den Blicken, plötzlich fuhren sie
+aufeinander zu wie zwei bissige Hunde. Im nächsten Augenblick hatte der
+Franzmann den Boden unter sich verloren, ein Ruck, und er saß auf —
+nun — Wilhelm Pickhingst sah kaltblütig an seinen schmerzverzogenen
+Lippen, daß er unter dem oberen Ende seiner Schenkelknochen durchaus
+kein richtiges Polster hatte. Der Geworfene erwartete offenbar,<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> daß
+er erbärmlich durchgebläut würde, aber Wilhelm Pickhingst dachte in
+seinem ehrlichen Gemüte gar nicht daran, seinen Sieg auszubeuten.
+Ein brüllendes Gelächter aus mehreren hundert Kehlen erschallte, das
+Bataillon konnte den Kampfplatz recht gut überschauen, kleinere Leute
+kletterten größeren auf die Schulter, einige erstiegen Bäume, und alle
+riefen und jauchzten vor Vergnügen. Da schnellte der lange Bursche mit
+einer erstaunlichen Gewandtheit wieder in die Höhe, sprang hierhin und
+dorthin und schüttelte mit dem Kopfe und schlenkerte mit den Armen und
+gab durch sehr seltsame Stellungen zu verstehen, daß er noch einen
+regelrechten Ringkampf begehrte. »Na, denn man zu, Kamerad!« sagte
+Wilhelm Pickhingst und zog seinen Mantel aus, wobei der Franzose sehr
+höflich ihm behilflich war. Beide traten sich noch einmal gegenüber,
+der Franzose verneigte sich, und Wilhelm Pickhingst machte einen
+Kratzfuß, und dann kamen sie mit angezogenen Ellbogen sich näher, oh,
+Wilhelm Pickhingst war in diesen Dingen nicht unerfahren, er wußte, daß
+sein Gegner auf seine Größe und seine unglaubliche Gewandtheit rechnete
+und seinem Griffe möglichst ausweichen würde, er stellte sich also
+fest und paßte scharf auf, und als der Kürassier nun plötzlich anfuhr,
+duckte er sich, faßte dessen dürre Schenkel, ganz gleich, ob Hose oder
+Haut, hob ihn<span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span> mit seiner Bärenkraft, und hup — da machte er ihm
+einen regelrechten Hosenlupf und hatte ihn hoch und warf ihn auf den
+Rücken, daß es krachte. Abermals tosender Beifall, der den Unterlegenen
+auffallend schnell auf die Beine brachte.</p>
+
+<p>»<em>Ah, grand respect! — Une main vigoureuse! Dans le monde entier
+on ne trouve pas son pareil</em>«<a id="FNAnker_1" href="#Fussnote_1" class="fnanchor">[1]</a>, sagte er würdevoll grüßend,
+nahm die mächtige, breite Faust in seine Rechte und betrachtete sie
+staunend. Wilhelm Pickhingst schüttelte ihm die Hand und entgegnete:
+»Na, Kamerad, darum keine Feindschaft nicht!« Wie es gemeint war, sagte
+der treuherzige Klang, der Franzose verstand's genau, wurde plötzlich
+wieder gelenkig, legte die Hand aufs Herz, schüttelte gleichfalls
+dem Gegner seine Rechte, sprang wieder zurück und begann nun in der
+genauesten Weise das Bild des Kampfes zu wiederholen, nur daß er
+versuchte, seinen Gegner darzustellen, legte an, setzte ab, schüttelte
+mit dem Kopfe, zum Schluß hob er seine langen Arme bewundernd hoch.
+Er wußte also ganz genau, daß der Deutsche nur aus Großmut nicht
+geschossen hatte. Plötzlich besann er sich und fragte etwas, was wie
+<em>Cognac</em> klang und sicher so wie <em>boire</em>. Wilhelm Pickhingst<span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span>
+spitzte die Ohren, zeigte durch Achselzucken, daß er nichts zu trinken
+besaß. Der Franzose schob ihn in seinen Mantel zurück, gab ihm sein
+Gewehr in die Hand, hob ihm das Messer auf, faßte ihn beim Arm und
+trottete mit ihm ab, dorthin, wo das Pferd erschossen lag. An einer
+Satteltasche hing eine bauchige Kürbisflasche unversehrt, die schwang
+er triumphierend in die Luft, entkorkte sie, trank und reichte sie
+dem Mecklenburger. O ja, das war ein Tropfen! Der Franzose sah ihn
+erwartungsvoll an, und als Wilhelm Pickhingst nickte und sich die Brust
+klopfte, lachte er vergnügt aus vollem Halse, trank und gab und gab
+und trank, und im Handumdrehen war die Flasche, die sicherlich einen
+Liter faßte, leer. Wilhelm Pickhingst mußte es dulden, daß ihm die
+Flasche zur Erinnerung an seinen Riemen gehängt wurde. Nun aber, als
+das Feuer durch die Adern rann, ward der Franzose springend lebendig;
+Wilhelm Pickhingst saß, ehe er es sich versah, auf dem Gaul und mußte
+es leiden, daß der andere ihm die Stiefel anzog. Er ließ es sich
+gravitätisch gefallen wie ein Pascha von drei Roßschweifen, der über
+zehn Sklaven zum Ankleiden verfügte; es war ihm ein unbeschreibliches
+Wohlbehagen, als er die Stiefel an seinen Füßen fühlte und bemerkte,
+daß sie paßten und gar nicht drückten. Aber er mußte zurückkehren zum
+Bataillon, der Hauptmann wurde sonst ungeduldig;<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> verlegen sah er auf
+die Socken seines Gegners, da fielen ihm seine Holzschuhe ein; jetzt
+faßte er den andern bei dem Arm und brachte ihn zu der Stelle, wo er
+sie abgeworfen, und zog sie nun seinerseits ihm an. Hui, welche Freude
+für den Kürassier! Er tanzte wahrhaftig mitten auf dem Feld, he, hup,
+da hatte er beide Schuhe in den Händen, nachdem er sie mit geschickten
+Würfen in die Luft geschleudert hatte, und klappte sie zusammen und
+flötete eine lustige Melodie dazu. Wilhelm Pickhingst hatte aber keine
+Zeit mehr, er bot ihm die Hand und sagte adieu. Ja, da kam er schön an!
+»<em>Qu'est-ce que vous voulez? Moi, je suis votre prisonnier, monsieur!
+Pourquoi pour moi cette honte? En face de votre bataillon?</em>«<a id="FNAnker_2" href="#Fussnote_2" class="fnanchor">[2]</a>
+und dabei warf der Franzose sich in eine Haltung, als müßte er mit
+seinen Blicken seinen stämmigen Gegner niederstrecken. Prisonnier! Das
+eine Wort verstand Wilhelm Pickhingst, und das übrige dachte er sich
+hinzu. Er nickte gemütlich und sagte: »<em>Eh bien, allons, camerade,
+vous êtes mon prisonnier.</em>«<a id="FNAnker_3" href="#Fussnote_3" class="fnanchor">[3]</a> Der Franzose zog die Schuhe wieder
+an, und so wanderten<span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span> beide Arm in Arm dem Bataillon zu, bei dem man
+sie mit dem tollsten Jauchzen begrüßte. Der Franzose neigte sich wie
+ein Schauspieler, der gebührende Huldigungen entgegennimmt — gleich
+darauf ging der Zug vorwärts, er immer mitten drin, wie wenn er schon
+lange in den Reihen der Deutschen gefochten habe. Nachdem nun aber
+aus allen kleinen Gehöften am Wege die Marodeurs und entmutigten
+Franzosen massenweise zusammengetrieben waren, sollten die Gefangenen
+nach rückwärts geschafft werden, und der Kürassier mußte sich trennen,
+umarmte den neuen Freund, schüttelte die Hände dutzendweise und
+schied offensichtlich ungern. Wie ein Marschall ging er zwischen den
+Jammergestalten seiner Landsleute und warf nur verächtliche Blicke um
+sich.</p>
+
+<p>St. Corneille und das davor liegende Schloß wurden gestürmt, und als
+Wilhelm Pickhingst gerade in der besten Arbeit war, sah er seitwärts
+sein Bataillon auftauchen. — »Kiek mal, Wilhelm Pickhingst hett sin
+Kriegsstäwel wedderfunn!« sagte Jochen Langpaap, der ihn zuerst gewahr
+wurde, und verzog seinen Mund von einem Ohr zum andern, während er
+lud und gleich darauf schoß. »Un ick segg: Wat tom Daler slagen is,
+kann up dei Dur nich vörn Schilling utgäwen warrn.« — Abermals ein
+Schuß. Die Kunde pflanzte sich mit Windeseile<span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span> fort, alle wollten
+Wilhelm Pickhingst sehen, aber Wilhelm Pickhingst ging im Kampfe
+nach vorne. Darum mußten alle folgen, und nicht eher fand man Muße,
+sich seine Erfahrungen auftischen zu lassen, als bis man in einem
+Chateau am späten Abend zur Ruhe kam. Einige Grenadiere konnten die
+Wundergeschichte vom Erwerbe der Stiefel, die er erzählte, bestätigen,
+und Wilhelm Pickhingst versicherte schließlich, getragen durch die
+allgemeine Anerkennung, unermüdlich, nun stände es baumfest, daß sein
+Pech endlich von ihm weichen werde, das Eiserne Kreuz sollte und mußte
+sein werden.</p>
+
+<p>Auf einer Grenzstation mußte der Zug halten und erst die sich
+verzögernde Abfahrt eines andern abwarten. Wilhelm Pickhingst
+kletterte mühsam aus dem Wagen und ging vor demselben auf und ab im
+Sonnenschein, während aus dem andern Zuge Hunderte von neugierigen
+Franzosengesichtern schauten. Dort gingen Gefangene zurück in die
+Freiheit.</p>
+
+<p>Am Zuge entlang marschierten Männer aus der Bedeckungsmannschaft,
+offenbar mit geladenen Gewehren, um etwaigen feindseligen Ausbrüchen
+der zügellosen Gesellschaft, die niemals freiwillig Gehorsam leistete,
+nachdrücklich begegnen zu können. Spottreden über den kranken Prüssien
+flogen hinüber, Schimpfworte, die Wilhelm Pickhingst wohl verstand,
+aber nicht beachtete. Plötzlich wurde es<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> an dem einen Wagen laut.
+Mit flinkem Griff öffnete ein langer Franzose die Tür, sprang hinaus
+und eilte, beide Arme hoch wie Mühlenflügel schwingend, auf Wilhelm
+Pickhingst zu. »Halt!« und ein bedenklicher Anschlag des Gewehres
+ertönte hinter ihm — es kümmerte ihn nicht — »Halt!« unmittelbar
+darauf zum zweiten Male, die Franzosen schrien warnend aus dem Wagen
+heraus. Wilhelm Pickhingst verstand den furchtbaren Ernst der Lage,
+vergaß seine Schwäche, und mit der alten Behendigkeit stand er bei dem
+Franzosen und wollte ihn aufhalten, als dieser ihm plötzlich um den
+Hals fiel und küßte und küßte und klopfte und die Hand schüttelte. —
+Mit Geistesgegenwart drängte ihn Wilhelm Pickhingst sofort so, daß er
+ihn gegen eine nachgesandte Kugel, die das letzte Halt nur zu schnell
+rufen konnte, deckte und winkte dann der Wache ab. Und nun ergab sich
+ein lebendiger Vorgang. Der Franzose machte in einer Minute den ganzen
+Kampf auf dem Felde draußen noch einmal durch, legte an und schoß das
+Pferd tot, warf seine Holzschuhe aus (er trug sie immer noch) und
+lief auf Socken, ergriff die Stiefel (Wilhelm Pickhingst hatte nicht
+von ihnen gelassen, selbst nicht, als die Truppe neu eingekleidet
+war) und zog sie aus, d. h. bildlich, eröffnete die Herausforderung
+zum Ringkampf, ließ sich werfen, d. h. auch nur bildlich, denn
+der<span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span> Bahnsteig war hart gepflastert. Schließlich entdeckte er die
+Kürbisflasche — da wurden seine Augen hell, und jetzt hielt Wilhelm
+Pickhingst, der sich vor Freude über seinen Gefangenen ganz gesund
+fühlte, es an der Zeit, seinerseits in die Handlung einzugreifen. Er
+trank ihm zu und gab die Flasche hin, und der andere trank sie mit
+einem Zuge leer, schüttelte sich aber heftig; der eine gab, was er an
+Zigaretten hatte, und das war nicht wenig, weil seine Kameraden ihn
+beim Abschiede im letzten Liebesdienste versorgt hatten, und der andere
+steckte alles ein. Inzwischen war einer aus der Begleitungsmannschaft,
+die verwundert dem Schauspiele zugesehen hatte, herangekommen und
+winkte dem Franzosen. Der tat, als ob er nichts sähe, sondern
+schauspielerte weiter. Der Soldat faßte ihn bei der Schulter und drehte
+ihn herum, aber der Franzose glitt, nachdem er kaum einige Schritte
+gemacht hatte, unter der Hand weg, holte aus irgendeiner Tasche einen
+schmutzigen Fetzen Papier und rief: »<em>Votre nom, votre nom, mon brave
+camerade!</em>«<a id="FNAnker_4" href="#Fussnote_4" class="fnanchor">[4]</a> Wilhelm Pickhingst begriff ihn und schrieb Namen und
+Adresse genau auf, dann ein rascher Abschied fürs Leben, der eine ging
+hierhin, der andere dorthin, und die Züge dampften davon.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span></p>
+
+<p>Auf der nächsten Station konnte Wilhelm Pickhingst nicht mehr
+aussteigen, auf der dritten schüttelte ihn das Fieber, auf der vierten,
+auf der ein Lazarett sich fand, wurde er zurückgelassen, weil er
+phantasierte.</p>
+
+<p>Mehrere Monate rang seine kräftige Natur gegen die Krankheit, bis er
+endlich derselben Herr wurde und nun in die Heimat entlassen werden
+konnte. — In Schwerin mußte er kurzen Aufenthalt nehmen, und als er so
+durch die Straßen ging, dachte er daran, wie er sich früher in Gedanken
+seinen Einzug in die Residenz vorgestellt hatte und wie ihn eigentlich
+alle seine Hoffnungen betrogen hatten. Die Begegnenden standen still
+und sahen ihm nach, er trug seine hohen Stiefel und die Kürbisflasche
+und den Schnurrbart, und er glaubte, daß alle ihm seine trüben
+Erfahrungen von der Stirn lesen könnten. Endlich mußte das Unglück
+ihm noch jenen guten Freund, den er einst beim Anfange des Krieges im
+Garnisonsorte angetroffen hatte, in den Weg führen, und dieser konnte
+es sich nicht versagen, mit etwas anzüglichem Tone zu fragen: »Na,
+Wilhelm, wo ist denn das Eiserne Kreuz?«</p>
+
+<p>Er sah den Mann an und sah um sich — es war am Markte, und viele
+Menschen standen in der Nähe — am liebsten hätte er ihn durch das
+Asphaltpflaster hindurch mitten in den Grund getrieben.<span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span> »Du Hans
+Narr,« zischte er grimmig, »das wartet wohl nur darauf, daß du deine
+langen Ohren in ihrer natürlichen Größe ausreckst, um sofort daran
+gehängt zu werden, denn die Dümmsten haben ja immer das größte Glück.«
+— Weg war er in die Seitengasse hinein und dann zum Bahnhofe und so
+nach Hause.</p>
+
+<p>Wenn er nun auch nicht durch bekränzte Pforten einzog, so doch durch
+ein Spalier von glückseligen Mienen und offenen Armen. Und als er,
+schon etwas sanfter gestimmt, seine Stube bezog, fand er dort zunächst
+eine sehr große Kiste mit Kognak, die von seinem Kürassier-Freunde über
+England geschickt war, und sodann einen dicken Brief vom Regimente, der
+ihm, weil man nicht erfahren hatte, wo er unterwegs geblieben, hierher
+nachgesandt war. Mit Befremden öffnete er ihn, da fiel ihm das Eiserne
+Kreuz entgegen. Die Offiziere und seine ganze Kompagnie gratulierten.
+Er aber fühlte, daß seine Knie zitterten, und setzte sich und küßte es
+und zerdrückte eine Träne in seinem Auge.</p>
+
+<p>Das ist die Geschichte von Wilhelm Pickhingst, und wer sie nicht
+glaubt, der mag ihn selbst fragen (aber vorsichtig, denn der hat noch
+heute allerlei empfindliche Stellen, und das nicht bloß an den Füßen).
+Er kann sich die Siegeszeichen ansehen, aber mag ja nicht glauben, daß
+noch etwas von<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> dem Kognak übrig ist; ein gut Teil hat Jochen Langpaap
+zugesandt erhalten. Und der Rest? Nun — man frage sich selbst, wie man
+es mit demselben an seiner Stelle würde gemacht haben.</p>
+
+<hr class="full">
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p>
+
+<p class="s3 p4 center"><b>Ilse Frapan,</b></p><br>
+
+<p class="s2 center">Dat Undeert.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p>
+
+<p class="p0 center">Mit Genehmigung der Verleger <em class="gesperrt">Gebrüder Paetel</em> in<br>
+<em class="gesperrt">Berlin</em> aus <em class="gesperrt">Ilse Frapan</em> »<em class="gesperrt">Zu Wasser und zu Lande.</em>«<br>
+Geb. M. 5.50.</p><br>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span></p>
+
+<h2>Dat Undeert.</h2>
+</div>
+
+<p>»Hurra! hurra! hurra! das' recht, Mietje, schrei du man orrendlich mit!
+Un nu mal op engelsch: <em>hep! hep! hep! hurrah!</em>«</p>
+
+<p>»Nee, Hinrich, auf engelsch kann ich das nich,« riefen ein paar
+Kleinkinderstimmen aus dem dicht am Gartenzaun zusammengedrängten
+fröhlichen Haufen.</p>
+
+<p>Der größte Junge beugte sich zu den kleineren Geschwistern: »Kannst es
+nich, Mietje? kannst es nich, Jasper? Na, denn man wieder auf deutsch:
+ein, zwei, drei, hurra! Mußt auch orrendlich deinen Hut schwenken,
+Jasper! Süh, so gehört sich das! Und noch einmal: ein, zwei, drei,
+hurra!«</p>
+
+<p>Sechs weiße Strohhüte mit flatternden schwarzen Bandendchen wurden von
+sechs hellen, rundlichen Flachsköpfen gerissen und im Kreise geschwenkt
+und gedreht. Die drei Mädchen unter ihren sechs Brüdern streckten die
+Puppen in die Höhe und salutierten damit hinaus auf die in hohlen
+Wellen gehende blauschwarze Elbe, über die wie weiße Silberpunkte die
+Möwen hin und her schossen. Ein starker Sturm aus Süd fegte über den
+Blankeneser Strand, und<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> unter dem grollenden grauen Gewitterhimmel
+standen unbekümmert die hurraschreienden Kinder auf ihrem kleinen,
+festuntermauerten Bollwerk über dem Fußweg.</p>
+
+<p>»Und noch einmal! Und noch einmal!«</p>
+
+<p>Die neun jungen Kehlen, zwischen zwölf und zwei Jahren, klangen
+schon etwas rauh von Wind und Wetter und dem angestrengten Rufen. Es
+galt, den lauten Zusammenhall von schlagenden Wellen und rauschenden
+Bäumen und flirrendem Sand zu überschreien. Ein wuchtiges Klatschen
+und Flügelschlagen klang über ihren Köpfen: das war die aufgezogene
+Flagge vor dem Hause. Wer unten an dem Bollwerk vorüberging, sah nur
+einen Augenblick verwundert auf die geputzte jubelnde Gruppe; dann,
+mit einem verständnisvollen Lächeln schritt er weiter. Eben schob sich
+der dicke Polizeidiener heran: die Hände auf dem Rücken gefaltet,
+das behagliche Bäuchlein voraus, und vorn, im geöffneten Rocke,
+allerlei bedeutungsvolle weiße Papiere, auf denen der unstet zuckende
+Sonnenschein glänzte. Er blieb stehen, blickte lachend hinauf und
+sagte: »Na, Vadder schall woll hüt opkamen, un ji wölt em herschreen,
+wat?«</p>
+
+<p>»Ja!« erwiderte der hellstimmige Chor, und Hinrich, der Sprecher und
+Älteste, setzte hinzu: »Wir üben uns da nu 'n büschen auf ein; die
+Kleinen können das je sonst nich.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span></p>
+
+<p>»Ja, Mietje hat woll vorig Jahr noch nich mitgerufen.«</p>
+
+<p>»Nee! da war sie je man fünfviertel!«</p>
+
+<p>»Na, Gören, denn gröhlt man nich to dull, — sünst sünd ji an' Enn'
+hesch<a id="FNAnker_5" href="#Fussnote_5" class="fnanchor">[5]</a>, wenn't an't Klappen kummt! Wanneer<a id="FNAnker_6" href="#Fussnote_6" class="fnanchor">[6]</a> schall Vadder denn
+opkamen?«</p>
+
+<p>»Hüt Nahmiddag oder morgen fröh, mit de Tide<a id="FNAnker_7" href="#Fussnote_7" class="fnanchor">[7]</a>.«</p>
+
+<p>»Nee, nee, heut Nachmittag soll er kommen,« riefen die älteren Mädchen
+und drängten sich heran, und Mietje schüttelte den großen weißlichen
+Lockenkopf und wiegte mütterlich ihre unförmliche Plünnenpuppe<a id="FNAnker_8" href="#Fussnote_8" class="fnanchor">[8]</a> in
+den dicken rotmarmorierten Ärmchen.</p>
+
+<p>»Morgen früh släft sie noch, denn tann sie ihn nich dut'n Tag sagen.«</p>
+
+<p>»Giev mi 'mal so'n lüttje Mettwust her,« scherzte Petersen und griff
+nach dem Arm der Kleinen.</p>
+
+<p>»Nee! Sie is mich andewachsen! Laß sie man gern los, sie tönnt man
+leicht 'mal abreißen,« sagte Mietje ängstlich und versteckte sich
+hinter dem Ältesten. Der schlug ihr seinen Jackenflügel übern Kopf und
+drückte sie zärtlich an sich. »Dumme Mietje!« Und dann kommandierte er
+ungeduldig von neuem: »Ein, zwei, drei —«</p>
+
+<p>»Na denn man los, Gören! Aber die Flagge<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> habt ihr 'n büschen zu früh
+aufgezogen, die reißt noch entzwei bei dem Wind!«</p>
+
+<p>All die neun Augenpaare flogen zu dem schlanken Fahnenschaft, der sich
+palmengleich elastisch hin und her bog.</p>
+
+<p>»Die deutsche Flagge reißt nich!« Hinrich steckte beide Hände in die
+Hosentaschen und stellte sich breitbeinig auf. »Und wenn Sie die
+Stange meinen, das 'n echten Bambus, den hat mein Onkel Hartig selbst
+mitgebracht.«</p>
+
+<p>Eins der Mädchen steckte den Fuß halb durch den Zaun: »Herr Petersen,
+wir haben alle neue Stiefel an.«</p>
+
+<p>»Und neue Hüte auf!« rief die Schwester.</p>
+
+<p>Hinrich schob sie auf die Seite: »Ach was, die Deerns klöhnen immer
+so'n Unsinn, — nee, Herr Petersen, ich krieg' 'n kleinen wilden Hund
+von Feuerland, wo die Lehmänner<a id="FNAnker_9" href="#Fussnote_9" class="fnanchor">[9]</a> wohnen!«</p>
+
+<p>»Mama steckt reine Gardinen auf.«</p>
+
+<p>»Ach, Anna immer mit ihrem Kram! Nee, Petersen, hören Sie 'mal, der hat
+denn gar keine Haare.« Aber Anna ließ sich nicht abweisen. »Wir essen
+denn Rochen mit Specksauce, das mag Papa so gern.«</p>
+
+<p>»Dat glöw ick woll, ji könt woll lachen. Wie heißt denn dein Papa sein
+Schiff, lütt Jung?«</p>
+
+<p>»Maria da Gloria,« schrie blitzschnell der neunstimmige<span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span> Chor, sogar
+Mietje hatte keinen Augenblick gezögert, wenngleich der Name etwas
+undeutlich herauskam.</p>
+
+<p>Gewichtigen Schritts spazierte Petersen weiter, während die Kinder nun
+zur Abwechselung ein Lied intonierten: »Ich hab' mich ergeben mit Herz
+und mit Hand!«</p>
+
+<p>»O, da kommt Fräulein Dehn, Hinrich, laß doch, i gitt<a id="FNAnker_10" href="#Fussnote_10" class="fnanchor">[10]</a>, sei doch
+'mal still, wir wollen doch Tante Manga guten Tag sagen.«</p>
+
+<p>Es war ein schlankes junges Mädchen, das in einem hellblumigen
+Musselinkleid und kleinem weißen Strohhut herangeflattert kam. Die
+Kinder, voran Anna, die elfjährige, stürzten ihr so stürmisch entgegen,
+daß sie sie fast umrannten. »Kommen Sie zu uns?«</p>
+
+<p>»Tante Manga, kommst du zu uns?«</p>
+
+<p>»Nein, ich will den Schirm tragen.«</p>
+
+<p>»Und ich trag' die Tasche, nich?«</p>
+
+<p>»Fräulein, Tante, Papa kommt heute auf!«</p>
+
+<p>»Papa und Onkel Hartig!«</p>
+
+<p>»Heute Nachmittag oder morgen früh!«</p>
+
+<p>»Komm mit 'rein! Komm mit 'rein.«</p>
+
+<p>»Nein, pfui, nich stehn bleiben, Tante Manga! Warum willst du denn nich
+'rein kommen?« so rief und schwirrte es durcheinander.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span></p>
+
+<p>Das junge Mädchen war stehen geblieben, eine plötzliche
+Unentschlossenheit lag auf ihrem lieblichen, weichen Gesichtchen, das
+ganz rot übergossen aussah.</p>
+
+<p>»Nein, pfui, ich ruf' Mama, wenn du nich 'rein kommen willst!« Mit
+eigensinnigem Kopfnicken lief Anna durch den Garten und ins Haus,
+während sich die Gruppe der Kinder mit Manga Dehn in der Mitte langsam
+der Gartentreppe zuschob.</p>
+
+<p>Eine junge Frau in einem blauen Morgenkleide, dem man es ansah, daß es
+für festliche Zeiten gespart ward, kam mit einem Hammer in der Hand
+hinten ums Haus herum und blickte suchend und etwas ängstlich über den
+Garten.</p>
+
+<p>»Da steht sie, Mama, da unten, und nu will sie nich herein,« rief
+Anna in angeberischem Ton. Die gesunden roten Backen der jungen
+Frau erbleichten: »Fräulein Dehn, Sie bringen doch keine schlechten
+Nachrichten?« Und hastig eilte sie auf die Plattform und blickte
+hinunter.</p>
+
+<p>»Ach Gott nein, wieso denn?«</p>
+
+<p>Manga Dehn kam ihr nun schnell entgegen und schüttelte ihre Hand. »Ich
+wollte nur 'mal mein Versprechen wahr machen und auf ein paar Tage
+heraus kommen, aber jetzt — und nun haben Sie gedacht — o wie dumm
+von mir.«</p>
+
+<p>Frau Tönnies lachte schon wieder. »Wissen Sie, wenn ich jemand von der
+Dampfergesellschaft seh',<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> krieg' ich's immer mit der Angst, und weil
+Ihr Vater doch nu der Inspektor is — das geht uns Seemannsfrauen allen
+so, 'n büschen bange is man doch immer.«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen entschuldigte sich mit herzlichen Worten. Auf der
+Schwelle wollte sie nicht weiter.</p>
+
+<p>»Die Kinder sagen, Ihr Mann kommt — sehn Sie, Frau Tönnies, darum
+wollt' ich gleich wieder umkehren. Ich komm 'n andermal.« Sie streckte
+ihr die Hand hin. Die Kapitänsfrau errötete leicht, sie hatte ehrliche
+dunkelblaue Augen, und die wurden ein bißchen unsicher.</p>
+
+<p>»Ja, mein Mann kommt heute.«</p>
+
+<p>»Denn will ich Sie auch gar nicht aufhalten.«</p>
+
+<p>»Ach was, nu kommen Sie man 'rein, Sie kommen ja ganz von Altona,
+nich?« Sie zog die schwach Widerstrebende hinter sich drein ins Haus
+und gleich in die Stube, in der sie ohne viel Umstände flugs wieder die
+Leiter bestieg.</p>
+
+<p>»Setzen Sie sich man in die Ecke beim Ofen, da is es am kühlsten, ich
+muß man noch oben die Falle an den beiden Fenstern aufstecken. Ja, was
+glauben Sie woll, wie lange wir hier nu schon rein machen? Vierzehn
+Tage sag' ich Ihnen! Aber nu is es auch pükfein. Alles abgeseift, bis
+auf'n Boden! Nee, so'n Seemann is eigen, wissen Sie, und Mietje hat
+noch miteins dazwischen die Wasserpocken gehabt — na überhaupt, so
+neun, das is 'ne kleine Horde!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span></p>
+
+<p>Plötzlich musterte sie von dem hohen Aussichtspunkt herunter den gelben
+Fußboden, und Erschrecken flog über ihre Züge: »Herrjes, sind die Gören
+das gewesen? Ich mein' die Tappsen<a id="FNAnker_11" href="#Fussnote_11" class="fnanchor">[11]</a> da bei der Tür und beim Sofa;
+können Sie sie sehn, Fräulein Dehn? Wenn man eben meint, man hat nu
+alles rein —«</p>
+
+<p>»Kann ich das nicht aufwischen?« Dienstfertig stand das junge Mädchen
+auf.</p>
+
+<p>Die Frau lachte: »Je, Sie mit Ihren feinen Händen, und denn zu Besuch
+gehn und Stuben fäulen<a id="FNAnker_12" href="#Fussnote_12" class="fnanchor">[12]</a>!«</p>
+
+<p>»Ich tu' es furchtbar gern!« beteuerte errötend die Kleine, und ehe
+eine Antwort kam, war sie schon draußen und kehrte mit Leuwagen<a id="FNAnker_13" href="#Fussnote_13" class="fnanchor">[13]</a> und
+Fäuel<a id="FNAnker_14" href="#Fussnote_14" class="fnanchor">[14]</a> zurück.</p>
+
+<p>Wohlgefällig blickte Frau Tönnies auf die nette zierliche Figur, die
+entschlossen ihr Kleid aufschürzte und das feuchte Geschäft gewandt
+beendete.</p>
+
+<p>»Is mir aber wirklich unangenehm, und ich hätt' es auch nicht gelitten
+— bloß, weil mein Mann kommt —«</p>
+
+<p>»Wie Sie sich wohl freuen!« rief das junge Mädchen mit leuchtenden
+Augen. Frau Tönnies kam von der Leiter herunter und atmete tief auf.</p>
+
+<p>»Oha!« sagte sie, »je das is wahr, das Kommen<span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span> is immer schön, wenn man
+das alte Weggehn nicht wär! Nu noch das andere Fenster.«</p>
+
+<p>Plötzlich klopfte sie aufgeregt an die Scheibe. »Es regnet! Große
+Tropfen. Hereinkommen!« Sie winkte den Kindern zu, die sämtlich ihre
+rotkarierten Taschentücher gezogen und sie sich über die Hüte gebunden
+hatten. »Herrjes, und sie haben alle neues Zeug an!« rief anteilsvoll
+das junge Mädchen, »ich hol' sie!«</p>
+
+<p>»Aber man ja nich in die Stuben! Sie können in die Küche gehn, da wird
+zuletzt aufgescheuert«, schrie die geschäftige Hausfrau hinter ihr her.</p>
+
+<p>Kathrin, die in der Küche an einem großen Grapen<a id="FNAnker_15" href="#Fussnote_15" class="fnanchor">[15]</a> klärte, war nicht
+sehr erbaut über das Getrappel, das da auf einmal zur Tür herein kam.
+»Ick kann se hier nich brucken! Se fat allens an! Kiek, Jasper het
+all de Hann' an de Wichsschachtel swatt makt, un Mietje geiht an de
+Watertünn! Wat schall ick denn egentlich? Schall ick hier klären, oder
+schall ick Gören möten<a id="FNAnker_16" href="#Fussnote_16" class="fnanchor">[16]</a>?« fragte sie mürrisch.</p>
+
+<p>»Und in die Stuben tragen sie zu viel Sand hinein!« sagte Manga
+gedankenvoll und blickte auf die roten Klinker des Küchenbodens. Dann
+auf einmal lachte sie und rief: »Zieht 'mal alle eure Stiefel aus!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Was</em> sollen wir?« Nur die älteren begriffen sofort den Grund
+dieser Verordnung. Aber Friedje, Phitje, Jasper und Mietje wollten die
+neuen Stiefel durchaus nicht hergeben und schrien und strampelten, als
+Kathrin Gewalt anwendete.</p>
+
+<p>»So, und jetzt 'mal alle ganz leise auf Strumpfsocken hinter mir her,
+wir wollen Mama überraschen,« befahl Fräulein Dehn. Das sah schon
+spaßhafter aus, und die Überraschung gelang fast nur zu gut, denn Frau
+Tönnies wäre beim Anblick der geisterhaft leise heranschleichenden
+Kinderschar fast von der Leiter gefallen. Aber Manga beruhigte sie und
+versprach, auch die Kinder ruhig zu halten, indem sie ihnen Geschichten
+erzähle. Die Frau war mit den Gardinen fertig geworden; sie kam heran
+und drückte die Hand der Helferin. »Nu sehn Sie 'mal, wie sich das
+alles so macht!« sagte sie. »Was hätt' ich bloß anfangen sollen, wenn
+Sie nicht gekommen wären! Wußten Sie denn gar nicht, daß die Maria da
+Gloria heute aufkommt? Ihr Vater hat doch gewiß auch 'ne Karte aus
+Antwerpen gekriegt?«</p>
+
+<p>Manga Dehn blickte zu Boden. »Ach, meinen Sie, daß Papa mir alle Karten
+zeigt, die er kriegt? Aber nun muß ich weg, — es wäre rücksichtslos —
+wo Sie sich so lange nicht gesehen haben —«</p>
+
+<p>»Nein, Tante Manga soll hier bleiben!« riefen die Kinder.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span></p>
+
+<p>Die Kapitänsfrau nickte ihr zu: »Na, Sie können sich woll denken, daß
+ich doch nich viel von meinem Mann hab'. Die vierzehn Tag', drei Wochen
+sind immer gleich um, und die neun Gören lassen mich gar nicht an ihn
+'ran.« Sie breitete ihre Arme aus, so weit sie reichten, die drei
+Jüngsten und der Älteste gingen gerade hinein: »Wer sitzt woll auf Papa
+sein Schoß?«</p>
+
+<p>Hinrich rief: »Mietje!« Anna schrie: »Jasper!« Die übrigen sieben
+riefen einfach: »Ich!«</p>
+
+<p>Phitje gab Thedje einen Schubs: »Ich sitz' denn auf das eine Bein!«</p>
+
+<p>Guschen stieß Klaus auf die Seite: »Und ich sitz' auf das andere Bein!«</p>
+
+<p>Friedje drängte Jürgen zurück: »Und ich sitz' denn auf das — noch
+andere!«</p>
+
+<p>»He! he!« lachte Jürgen, »drei Beine hat Papa gar nich!«</p>
+
+<p>Alle stimmten in das Gelächter ein, nur Friedje ließ die Lippe hängen.
+Er wandte sich an seine Mutter: »Auf was für'n Bein soll ich denn
+sitzen?«</p>
+
+<p>Frau Tönnies streichelte seinen Kopf: »Friedje sitzt denn auf Onkel
+Hartig sein', der hat ja gottlob auch noch zwei Beine.«</p>
+
+<p>Klaus meldete sich schleunig für das vakante zweite, und nun hieß es:
+»Mit mein' Onkel Hartig kann<span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span> man überhaupt viel besser spielen, mit
+dem kann man 'n büschen albern!«</p>
+
+<p>»Kennst du Onkel Hartig auch, Tante Manga?« fragte Anna, sich an die
+Besucherin schmiegend, die etwas verwirrt auf den hellen Scheitel des
+Kindes niedersah, aber keine Antwort gab.</p>
+
+<p>»Ja, Sie kennen ihn doch, meinen Bruder Hartig, nich Fräulein Dehn? Er
+ist ja erster Offizier auf der Maria da Gloria.«</p>
+
+<p>»Ich weiß wohl — und der ist so vergnügt? Das hab' ich noch gar nicht
+gewußt — wenn ich ihn 'mal gesehen habe — er kam ja öfter zu Papa,
+denn hat er immer so ernst ausgesehen —«</p>
+
+<p>»So ehrbar getan, nich?« lachte Frau Tönnies, »ja wissen Sie, Ihr Papa,
+das is je auch gewissermaßen sein Vorgesetzter, und da in is mein
+Bruder nu komisch — sich annögeln<a id="FNAnker_17" href="#Fussnote_17" class="fnanchor">[17]</a> oder gute Worte geben, das kann
+er nich, das kann ich auch nich.«</p>
+
+<p>»Und ich möcht' es nicht leiden!« rief das Mädchen mit Überzeugung.</p>
+
+<p>»Er steht sich da vielleicht selbst in Lichten mit,« sagte Frau
+Tönnies eifrig, »aber so is er nu 'mal, er könnt' all lang drei Reifen
+haben<a id="FNAnker_18" href="#Fussnote_18" class="fnanchor">[18]</a>, wenn er da 'n büschen auf zu laufen wüßte, aber er sagt
+immer gleich: meinst', ich will einem da um zu<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> Füßen fallen? ich werd'
+noch früh genug Kap'tän, — besorg' du mir man 'n kleine nette Frau,
+denn da kann ich mich nich mit abgeben.«</p>
+
+<p>Manga Dehn hatte ganz vertieft zugehört und war mechanisch immer hinter
+der Frau hergegangen, die mit einem Wischlappen noch einmal wieder über
+die spiegelblanke Mahagonikommode fuhr und nun das sauber gearbeitete
+Schiffsmodell, das darauf stand, einer vorsichtigen Reinigung unterzog.</p>
+
+<p>»Das hat Hartig gemacht, das is der ›James Watt‹, wo er als
+Schiffsjunge gedient hat.«</p>
+
+<p>»O bitte, lassen Sie mich das abwischen,« sagte Fräulein Dehn schnell,
+— »die Kinder können wohl wieder hinaus, es regnet nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Ach ja, Mama, und denn ziehn wir die alten Stiefels an, und die neuen
+Hüte setzen wir auch erst auf, wenn die Tide kommt, eher tut es ja gar
+nich nötig!« Überglücklich liefen sie hinaus, als Kinder der freien
+Luft, die sie waren. Ihr Jauchzen und Hurraschreien begann von neuem.</p>
+
+<p>Bald war es Zeit zum Mittagessen, es hatte schon zwölf geschlagen;
+freilich — gekocht war nicht viel, nur ein großer Topf voll
+Buchweizengrütze in Buttermilch, mit Sirup gesüßt; die Hauptmahlzeit
+kommt erst, wenn Papa da ist!</p>
+
+<p>Frau Tönnies genierte sich sehr, das junge Mädchen zu diesem
+frugalen Mittagbrot einzuladen, aber<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> gerade, als Fräulein Dehn den
+Küchenzettel erfahren hatte, bat sie darum, einen Teller voll mitessen
+zu dürfen. Der Geschmack ist ja so verschieden, und übrigens — die
+Schleswig-Holsteiner essen alle gern Buchweizengrütze. Frau Tönnies
+faßte das hübsche bereitwillige Mädchen scharf ins Auge — sie konnte
+sich gar nicht recht erinnern, sie zum Bleiben eingeladen zu haben,
+und Manga Dehn hatte doch nur einen Augenblick ins Haus treten wollen.
+Sonderbar!</p>
+
+<p>»Nu wird auch woll bald mein alter Onkel kommen,« sagte die
+Kapitänsfrau, »dreimal hat er schon gefragt, ob Tönnies noch nich da
+is. Gleich den ersten Abend stellt der Alte sich ein, und denn kommt er
+jeden Tag, so lange mein Mann hier is. Mein Bruder hat ihm das schon
+'mal gesagt: ›Onkel, sie müssen sich auch 'mal allein haben‹, aber
+wissen Sie, was der Alte denn antwortet: ›Ach, dat is ehr<a id="FNAnker_19" href="#Fussnote_19" class="fnanchor">[19]</a> je nu
+all wat Oles, dat hebbt se nu nich mehr nödig.‹« Verdrießlich kellte
+die Frau ihrem Ältesten noch einen Löffel voll auf. »Mir auch noch
+'n orrendlichen Klacks<a id="FNAnker_20" href="#Fussnote_20" class="fnanchor">[20]</a>,« riefen die anderen. Klatsch, klatsch,
+klatsch, einen Löffel Grütze auf jeden Teller, bis die große Terrine
+leer war.</p>
+
+<p>»Nu muß ich aber wirklich weg,« sagte Manga<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> Dehn, der es bei der
+Erzählung sehr ungemütlich geworden war, »seien Sie mir nur nicht böse,
+daß ich so lange geblieben bin.«</p>
+
+<p>»Im Gegenteil war mir sehr angenehm; 'n Tasse Kaffee sollten Sie man
+noch mittrinken, Fräulein, Sie haben mir ja so wunderschön geholfen.«</p>
+
+<p>Fräulein Dehn steckte mit niedergeschlagenen Augen ihre langen
+Filethandschuhe wieder in die Tasche.</p>
+
+<p>»Ja, wenn ich Ihnen noch 'was helfen kann, Frau Tönnies, denn kann ich
+am Ende noch 'n Augenblick bleiben. Wann läuft das Wasser auf?«</p>
+
+<p>Frau Tönnies blickte unwillkürlich durchs Fenster; die Weiden mit
+ihrem grauen, dünnen, kritzlichen Astwerk wurden wild hin und her
+geschleudert, es donnerte fast ununterbrochen in der Ferne.</p>
+
+<p>»Um drei,« sagte sie nachdenklich, »vor fünf kann die Maria da Gloria
+nich hier sein, — das heißt, wenn sie hier vorbeikommt, denn is sie je
+noch lang nich hier, denn muß sie je noch nach Hamburg rauf, und bis
+mein Mann denn hier is und mein Bruder, kann das sieben, nee, acht,
+neun werden.«</p>
+
+<p>»Ach, die armen Kinder!« murmelte das Mädchen, »die freun sich ja ganz
+ab.«</p>
+
+<p>»Das tut ihnen nichts, das müssen sie von früh auf gewohnt werden, —
+ja, ich hab' doch die letzte Nacht nicht so recht geschlafen. Können
+Sie sich das denken?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span></p>
+
+<p>Die hübschen braunen Augen des jungen Mädchens bekamen einen warmen
+Schein; sie nickte eifrig.</p>
+
+<p>»Wenn er man bloß heut abend noch kommt, sonst geh' ich heut nacht gar
+nich zu Bett. Nee, denn zieh' ich mich nich aus. Denn bin ich doch zu
+hiddelig<a id="FNAnker_21" href="#Fussnote_21" class="fnanchor">[21]</a>, was soll ich denn im Bett tun.«</p>
+
+<p>»Es muß schrecklich ängstlich sein!« Manga seufzte, und so natürlich,
+als ob sie diese Angst schon vollkommen teile. Frau Tönnies sah sie
+wieder prüfend an.</p>
+
+<p>»Heiraten Sie man keinen Seemann, Fräulein Dehn.«</p>
+
+<p>Ein schuldbewußtes Rot stieg dem Mädchen in die Wangen. »Warum meinen
+Sie?« — »Bitte, Frau Tönnies, kann <em class="gesperrt">ich</em> nich heute aufwaschen?«
+bat sie dann mit Innigkeit, »Kathrin braucht auf die Art nicht vom
+Klären wegzugehn.«</p>
+
+<p>Was will sie? dachte die Frau. Laut sagte sie: »Mit dem Kleid? Na,
+freuen Sie sich, daß Sie keine Mama zu Hause haben, die Sie ausschelten
+kann.«</p>
+
+<p>»Sie leihen mir eine Küchenschürze! O ich wollte, ich hätte meine Mama
+noch, Sie können sich gar nicht denken, wie still es bei uns zugeht;
+Papa ist nicht für Geselligkeit, manchmal kommt die ganze<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> Woche kein
+Mensch, und meine zwei Schwestern sind noch so dumm.«</p>
+
+<p>»Na, Sie werden doch nicht weinen?«</p>
+
+<p>Frau Tönnies faßte das Mädchen freundlich in den Arm: »So'n kleine
+resolvierte fixe Deern! Nee, es is wirklich schön, daß Sie hier sind,
+der Tag war nich so lang, und man spricht sich die Aufregung 'n büschen
+vom Herzen 'runter.« Manga blickte sie dankbar an.</p>
+
+<p>»Nu sollten Sie 'n kleine Idee schlafen, Frau Tönnies. Wenn die Ewer
+sich drehn<a id="FNAnker_22" href="#Fussnote_22" class="fnanchor">[22]</a>, sag' ich Ihnen Bescheid. Ich will unter der Zeit Kaffee
+machen.«</p>
+
+<p>Die Frau legte sich wirklich aufs Sofa, doch sprang sie bald wieder auf
+und ging zu dem jungen Mädchen in die Küche. »Ich hab' doch keine Ruhe.
+Wenn sie man nich Nebel gehabt haben heut nacht. Ende August geht das
+schon los! Na, Sie werden ja auch ganz blaß, — ist da woll am Ende 'n
+Passagier mit, der — —.«</p>
+
+<p>Fräulein Dehn schüttelte den Kopf: »Ich glaube auch, man muß immer was
+um die Ohren haben, dann vergeht die Zeit am besten. Wenn er nur erst
+da wäre, nicht?«</p>
+
+<p>Frau Tönnies rief die Kinder zum Kaffee, Jürgen legte eine rotbraune
+Krebsschale vor das Fräulein hin.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span></p>
+
+<p>»Kiek, du, das 'n Tasch<a id="FNAnker_23" href="#Fussnote_23" class="fnanchor">[23]</a>, die schenk' ich Onkel Hartig. Was schenkst
+du ihm, Tante Manga?«</p>
+
+<p>»Ich habe nichts.« Fräulein Dehn zeigte ihre leeren Hände, die der
+Kleine aufmerksam betrachtete.</p>
+
+<p>»Aber du hest Geld <em class="gesperrt">in</em> de Tasch!« platzte lachend Hinrich heraus,
+»das' noch besser.«</p>
+
+<p>»Hinrich!« rief die Mutter verweisend, »sei doch nich so vorlaut!«</p>
+
+<p>Der Junge war in einer Laune des Übermuts. »Je, nu rufst du Hinrich,
+und dabei hast du es selbst gesagt, Mutter.«</p>
+
+<p>Frau Tönnies wurde blutrot.</p>
+
+<p>»Zu wem sollt' ich das woll gesagt haben?«</p>
+
+<p>»Zu Onkel Hartig! das letztemal, als er hier war, ich weiß es ganz gut,
+hab' es selbst gehört.« Der Junge war nun auch rot geworden, seine
+weiße Stirn bis unter die Haare; trotzig hielt er den zürnenden Blick
+der Mutter aus. Als sie ihn über den Tisch hinüber schlagen wollte,
+faßte Fräulein Dehn ihre Hand. »Ach, Frau Tönnies, es tut ja nichts, —
+lassen Sie ihn doch, er ist ja gar nicht unartig gewesen.«</p>
+
+<p>Hinrich sprang mit Tränen in den Augen von seiner halbgeleerten Tasse
+auf und stellte sich in die Ecke.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p>
+
+<p>»Das is recht, da gehörst' auch hin!« rief die Frau. Nun lief der
+Gekränkte zur Tür hinaus. Mietje schrie: »Hinrich,« und wollte ihm
+nach, aber die Mutter führte das Kind an der Hand zurück.</p>
+
+<p>»Er is 'n büschen verzogen, weil er der Älteste is,« Frau Tönnies
+blickte verstimmt nach der Tür, »er is je auch sonst ganz vernünftig
+soweit, aber — wenn man kein Wort sprechen kann — ohne daß die Gören
+—«</p>
+
+<p>»Ich will ihn hereinholen, heute ist doch solch'n Festtag!« bat Manga,
+und eh' die Mutter es hindern konnte, war sie ihm nach. Er stand am
+Gitter des Hühnerstalles, die Hände in den Hosentaschen geballt.
+Tränenspuren im Gesicht. Das junge Mädchen wollte ihm den Arm um den
+Hals legen, er schob sie weg, ohne sich umzusehen. »Ich meinte all, es
+wär' Mama,« murmelte er, »sie hat es doch gesagt.«</p>
+
+<p>»Komm, Hinrich, sei artig! Du — wenn du es doch so gut gehört hast —
+was hat denn Onkel Hartig geantwortet?« Sie zog ihn an der Hand zu sich
+heran.</p>
+
+<p>»Onkel hat bloß gesagt, das wär' ihm Pudding.« Der Junge lachte
+unwillkürlich, tat aber gleich wieder ernst.</p>
+
+<p>Manga Dehn sah ihn mit einem befriedigten<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> Lächeln an; plötzlich nahm
+sie seinen runden Kopf in beide Hände und küßte ihn herzhaft auf die
+glatte Stirn zwischen den Augen.</p>
+
+<p>»Sag' du nur immer die Wahrheit, mein Jung! Mama is gar nicht mehr
+böse.«</p>
+
+<p>Hinrich sah sie halb lachend, halb verschmitzt an: »Na, wat is nu los?«
+brummte er, sich über die Stirn wischend.</p>
+
+<p>»Sieh 'mal zu, Hinrich, ich glaube, nu kommt die Flut! Lauf 'mal voraus
+an 'n Strand, wir kommen alle nach.«</p>
+
+<p>Der Junge entsprang ihr in großen Sätzen, obgleich es noch zu früh
+war; im Hineingehen kamen ihr auch schon die übrigen Kinder entgegen.
+Fräulein Dehn ging gerade auf Frau Tönnies zu, die mit krauser Stirn
+die Tassen ineinander stellte.</p>
+
+<p>»Und nun machen Sie kein böses Gesicht, kommen Sie auf den Balkon;
+haben Sie nicht eine Arbeit für mich?«</p>
+
+<p>»Ach, Sie sind sehr freundlich; herrjes ja, ich hab' 'n Dutzend feine
+Taschentücher für meinen Mann, aber Sie wissen woll, ich hab' sie auf
+der Maschine gesäumt, und nu hängen noch all die alten Fäden beizu; die
+muß ich befestigen.«</p>
+
+<p>Auf dem Balkon über den Kronen der Espen, die keinen Augenblick Ruhe
+gaben, war es windig, aber doch nicht schwül, wie im Zimmer. Und die<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span>
+Luft war so schmeckbar frisch und so voll von Gerüchen. Teer, Laub,
+Tang, nasser Sand, Heu, Fische, Reseda, Levkoyen und Tauwerk, — alles
+duftete durcheinander, so stark es konnte.</p>
+
+<p>»Hier ist es schön!« Manga blickte entzückt über die weite, grün
+umrahmte Wasserfläche, die dunkel und drohend genug aussah. »Ich möchte
+immer in Blankenese bleiben.« Sie guckte schnell beiseite, als das
+heraus war.</p>
+
+<p>»Ja, Fräulein Dehn, heiraten Sie 'n Blankneser, das is die beste
+Richtigkeit.« Frau Tönnies war auch befangen; nach einer Weile sagte
+sie, die Augen fest auf ihrer Arbeit: »Nee, ich muß Ihnen noch sagen,
+wie das zusammenhängt! Das scheniert mich, daß Sie nu am Ende denken —
+— und sehn Sie 'mal, mein Bruder Hartig is je so'n komischer Mensch!
+Wenn nu mein Mann ankommt, und ich lauf' ihm denn entgegen, — drinnen
+auf 'n Vorplatz, denn '<em class="gesperrt">raus</em>kommen darf ich nich, nee — das mag
+er nich, — denn spitzt mein Bruder immer von junges Brautpaar und
+so, und es is ja auch wahr, bei uns Seemannsfrauen bleibt es immer
+neu, weil wir man immer so'n kurze Zeit zusammen sind, und denn in 'n
+Ruff<a id="FNAnker_24" href="#Fussnote_24" class="fnanchor">[24]</a> wieder weg. ›Nimm dir auch eine,‹ sag' ich denn immer, und er
+sagt denn: ›Da hew ick keen Tied to.‹«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span></p>
+
+<p>Manga Dehn hatte ganz das Aufziehen des Fadens vergessen, und ihre
+kleine feste Hand zitterte.</p>
+
+<p>»Hat er denn so schrecklich viel zu tun?« fragte sie halblaut.</p>
+
+<p>»Ach, keine Idee! Er is 'n Bangbüx! Er is man bloß ängstlich, daß er
+sich 'n Korb holen könnte; 'n büschen großschnutig is er immer gewesen,
+aber so ganz in aller Heimlichkeit.« Frau Tönnies griff verstohlen nach
+Mangas Arm: »Na, Sie wissen woll, man macht 'mal Spaß, und so sagte ich
+denn: Wenn du die kleine Dehn, den Inspektor seine Tochter, kriegen
+könntest, das wär' 'mal nett.«</p>
+
+<p>»Ach, Frau Tönnies, er mag mich ja nich leiden,« flüsterte das junge
+Mädchen, und große Tränen traten ihr in die Augen; sie wendete sich ab.</p>
+
+<p>Die Frau hatte gar nicht den Kopf erhoben, hatte nichts gesehn.</p>
+
+<p>»Ich kann nich klug aus dem Jung werden, — ich glaube, es is bloß,
+weil Sie nu die Tochter von dem Inspektor sind! ›Meinst, ich will mich
+da anschmeicheln?‹ sagt er, ›komm mir nich mit so'n Kram. Lieber bleib'
+ich Junggesell, als daß ich mir nachsagen laß, ich bin einem darum zu
+Füßen gefallen.‹«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen klappte die Schere auf und zu, sie sah sehr traurig
+aus.</p>
+
+<p>»Na, Frau Tönnies, nu will ich nach Hause<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> gehn. Ich glaube, die Ewer
+drehn sich schon.« Sie stand auf und zog ihre schwarzen Filethandschuhe
+aus der Tasche.</p>
+
+<p>Die Kapitänsfrau erhob sich gleichfalls. »Herrjes, is' wahr? Kommen
+Sie, wir holen 'mal flink das Fernrohr, — ach, bleiben Sie man, bis
+das Schiff vorbeikommt! was wollen Sie nu miteins weglaufen!«</p>
+
+<p>Die Kinder riefen und winkten vom Strand herauf. Frau Tönnies zog das
+Mädchen eilig an der Hand nach: »Wir setzen uns in'n Sand, zwischen
+die Weiden, kommen Sie.« Ein paar seegrasgefüllte Bankkissen wurden
+auf den feuchten Strand gelegt, das niedrige Weidengesträuch, an dem
+schon viele gelbe Blätter hingen, deckte den Rücken. Der Wind war
+hoch. Abgerissene Kirschbaumzweige und Grasbüschel wurden in Menge
+angetrieben. »Die kommen von der Lühe, gegenüber, ja das heißt mit
+Recht: Kirschenland.«</p>
+
+<p>Die Kinder umringten sie, wollten alle zugleich durchs Fernrohr
+sehen. Zwischen der Mutter und Hinrich hatte eine stumme Aussöhnung
+stattgefunden, der Junge ließ sich jetzt dienstfertig als Tisch und
+Stützpunkt für das Teleskop gebrauchen.</p>
+
+<p>»Fräulein, Sie müssen aber orrendlich mit Hurra schreien!«</p>
+
+<p>»Und tüchtig wedeln!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span></p>
+
+<p>»Ob Papa woll'n <em>blue-light</em> abbrennt, wenn er vorbei kommt?«</p>
+
+<p>»Ach, Schnack, das tut er ja bloß nachts.«</p>
+
+<p>»Mama, ich möcht gern 'n paar Steine in die Elbe smeißen, aber denn
+geht es nich, denn wird sie zu voll!«</p>
+
+<p>»Läuft die ganze Elbe über,« meinte der kleine Jasper.</p>
+
+<p>»Paßt auf, jetzt kommt 'n großer Kasten! Ach so, es is bloß die
+›Cobra‹! Hui, wie voll: das krimmelt und wimmelt orrendlich! Wahrt jug,
+die macht Wellen! Dat giwt natte Fäut!«</p>
+
+<p>Alles flüchtete zwischen die Weiden hinein, der älteste Junge aber
+sprang plötzlich in ein kleines Fischerboot auf dem Strande, das mit
+zwei Knaben besetzt war und trieb es mit ein paar kräftigen Stößen
+weiter ins Fahrwasser hinaus.</p>
+
+<p>»Hinrich! Hinrich! was machst du?« rief Manga Dehn. Frau Tönnies
+lächelte wohlgefällig.</p>
+
+<p>»Lassen Sie ihn man, wenn die Wellen so hohl gehn, denn hätt' das Boot
+leicht umschlagen können hier im flachen Wasser. So was muß er all
+wissen, dafür is er 'n Seemannssohn.«</p>
+
+<p>Als die Brandung vorüber war, die hoch hinauf ein schäumendes
+lehmfarbenes Wasser trieb, kehrte der Junge mit dem Boot zurück.</p>
+
+<p>»Kiek, Mutter, wieviel Land uns das abreißt!<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> Unser Stack<a id="FNAnker_25" href="#Fussnote_25" class="fnanchor">[25]</a> liegt
+schon ganz draußen. Onkel Hartig sagt es auch immer. Du, wenn Vater
+jetzt grade gekommen wär', ich wär' dreist 'n büschen nach ihm 'ran
+gerudert.« Schiffe auf Schiffe kamen, atemlos pustende Schlepper,
+hinter denen herrliche Vollschiffe entlang glitten. Lange, langweilig
+aneinandergekoppelte Schuten voll Sand, — Schlick, der weiter drunten
+im Strombett ausgebaggert worden, kaum mit dem Bord übers Wasser
+ragend, eine eintönige graue Linie. Der kleine weiße Stader Dampfer,
+als richtiger Elbomnibus voll von Passagieren, kam zweimal, abwärts und
+aufwärts vorüber; die Finkenwärder Fischerewer mit ihren roten, die
+Blankeneser mit ihren weißen Segeln huschten mit schnellem Flügelschlag
+hin und her.</p>
+
+<p>»Das ist 'n Woermannscher, 'n Afrikaner, der große graue Dampfer, der
+da kommt! Wenn nu man endlich auch die ›Maria da Gloria‹ käme!« Die
+Kinder traten von einem Fuß auf den andern, um ihre Ungeduld irgendwie
+auszulassen, nur die kleinsten wühlten friedlich im Sande, und die
+Mutter blickte fast ununterbrochen durchs Fernrohr. Das junge Mädchen
+hatte sich unbemerkt in den Hintergrund zurückgezogen und sah in
+sehnsüchtiger Erwartung nach Westen, da wo der Himmel mit dem<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> Wasser
+zusammenrann. Ein lichtes, gelblich-graues Gewölk schwebte dort umher,
+durch das von Zeit zu Zeit die Sonne heiß leuchtend hervorbrach.</p>
+
+<p>Schräg fielen ihre Strahlen über die Wolken, es sah aus, als regne
+es in der Ferne. Wo der Schein durch die Lücken der Dunstmassen das
+Wasser traf, bildete er glänzende Lichtinseln, so scharf umgrenzt,
+so blendend, daß die Augen tränten, wenn sie darauf trafen. Endlich
+verschwammen alle Lichtflecke ineinander, und die ganze ferne Elbe
+erschien wie ein geschliffener Schild von Stahl. Ein leichtes schwarzes
+Rauchfähnchen kräuselte empor, als ob dort hinten der alte Stromgott
+sich eine Nachmittagszigarre angezündet habe, — der Himmel war klar
+geworden.</p>
+
+<p>»Papa kommt! Papa kommt! das is die ›Maria da Gloria!‹ Gewiß, Mutter,
+das sind die zwei Schornsteine, siehst du's denn nicht? Die zwei
+schwarzen Schornsteine! Anna, hol' unsre neuen Hüte, aber schnell!
+Die ›Maria‹ hat Fahrt! Der Wind hilft auch mit, der is ganz westlich
+geworden.</p>
+
+<p>Sollen wir auf das Bollwerk laufen oder hier stehen bleiben, Mutter?
+Da, jetzt grüßt sie schon! Junge, wie fein sie sich gemacht hat!
+Mietje kuck, da kommt Papa! Lauter Wimpel und Flaggen! Kriegt eure
+Taschentücher raus! So, nu man los: Hurra! hurra! hurra! Und noch
+einmal — — und<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> noch einmal! Siehst du Papa? Mutter, ich kann sehn,
+wie er den Mund aufmacht, wenn er hurra schreit! Da, auf 'm Achterdeck!
+Und Onkel Hartig schwenkt seinen Panama, siehst es woll, Jürgen? Hurra!
+hurra! hurra!«</p>
+
+<p>Es war ein herzerquickender Anblick, das sauber gemalte, schwarz
+und rot leuchtende Dampfschiff, tief im Wasser, denn es kam voller
+Fracht, alle Rahen behangen mit Wimpeln und Fähnchen, die in der
+Abendsonne strahlten. Es war ein herzerquickender Lärm, das Heulen
+der Dampfpfeife, und das Hurraschreien hüben und drüben, dort aus den
+kräftigen Männerkehlen, die jubelnd den grünen Heimatstrand begrüßten,
+hier die hellen Kinderstimmen, in die sich die der Mutter zaghaft nur
+mischte, denn Frau Tönnies weinte dabei und hielt Mietje empor, hoch
+auf dem Arm, und das waren zwei gewichtige Hindernisse zum vollen
+Ausschreien, die Rührung und das unruhig sich hin und her werfende Kind.</p>
+
+<p>Ganz langsam, unter fortwährendem Hurrarufen zog sich das Schiff
+heran; nun war es gerade der Gruppe am Strand gegenüber, nun schon
+ein bißchen weiter links, nun immer mehr links, nun war nur noch der
+hintere Schornstein unverkürzt zu sehen, nun glühte die Sonne auf der
+Reederflagge am Toppmast, nun auf der Hamburger am Hintersteven, daß
+die drei Türme auf dem blutroten Grunde wie<span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span> Silber glänzten, nun
+verhallte allmählich das Pfeifen der Sirene, nun kamen langsam die
+ersten Wellen vom Schlag der Schraube herübergerollt, und nun war bald
+alles versunken in dem goldgrauen Nebel, hinter dem Hamburg liegt, und
+nur ein dünnes schwärzliches Rauchwölkchen stand jetzt noch eine Weile
+im Osten, wie es vorher im Westen gestanden.</p>
+
+<p>»Na, gottlob, gottlob!« seufzte Frau Tönnies und drückte Mietje noch
+einmal an sich, ehe sie das Kind auf den Boden setzte. »Nu man flink,
+Kinder, daß ihr die neuen Stiefel ankriegt, und ich muß den Rochen
+aufsetzen — in zwei Stunden kann Papa und Onkel Hartig hier sein.«
+Plötzlich schien ihr etwas einzufallen. Sie kehrte auf halbem Wege um.
+»Hinrich, mein guten Jung, wo is denn Fräulein Dehn geblieben?«</p>
+
+<p>Als ob sie die Frage gehört, tauchte Manga Dehn aus dem Weidengestrüpp
+weiter oben auf. Ihre Backen waren glühend rot, und die Sonne machte
+ihre braunen Augen ganz durchscheinend; Hinrich starrte sie bewundernd
+an.</p>
+
+<p>»Frau Tönnies, ich bin auch so — so recht glücklich. Sie haben solchen
+guten Mann, Frau Tönnies.«</p>
+
+<p>»Ach ja, einen guten Mann habe ich,« sagte die Kapitänsfrau und
+lächelte tränenselig, »und sehen Sie, man kann doch jedesmal von
+Glück sagen, wenn einer wohl und munter wiederkommt von das alte<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span>
+Zentral«<a id="FNAnker_26" href="#Fussnote_26" class="fnanchor">[26]</a>. Sie mußte ihre Tränen abwischen. »Und Sie sind auch so'n
+liebevolles Fräulein, und wenn das nach mir ginge — haben Sie meinen
+Bruder gesehen? Er hatte 'n weißen Hut auf.«</p>
+
+<p>»Ich hab' alles gesehen! Das ganze Schiff! Adieu, Frau Tönnies, nu
+wünsch' ich viel Vergnügen, und grüßen Sie Ihren guten Kapitän, und
+wenn Sie allein sind« — Manga blickte blinzelnd zu Boden — »denn
+komm' ich 'mal wieder.« Sie drückte ihr die Hand, küßte Mietje und
+streichelte die andren. »Halt' dich gut, Hinrich, 'djüs Anna! Nein,
+nicht mitgehn, seht lieber zu, daß ihr Mama was helfen könnt, die hat
+noch viel zu tun! Meinen Sonnenschirm? Ach laßt nur, den kann ich mir
+'n andermal holen.«</p>
+
+<p>Einen Augenblick stutzte sie bei ihren eigenen Worten, ein schelmischer
+Blick flog aus ihren hübschen klugen Augen in das arglose gesunde
+Frauengesicht vor ihr, das zu allem »ja« nickte. Dann flatterte das
+sommerliche Kleidchen wieder den Strandweg entlang, leuchtete noch
+einmal als weißrosige Blüte zwischen den schwarzen Männerröcken auf der
+Dampfschiffbrücke, und dann nahm der kleine Stader Dampfer sie auf, der
+sich eben mit einem klagenden Abschiedswinseln in Bewegung setzte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span></p>
+
+<p>»Schade, Hartig is man dumm, sonst so'n kleine nette Deern,« sagte Frau
+Tönnies vor sich hin, während sie den ungestalten eckigen Fisch in
+Stücke zerhieb und große Hände voll Salz in den bereitstehenden Grapen
+mit siedendem Wasser warf. »Wenn der Rochen nu man nich zäh is! Wenn
+sie nu man nich eher kommen, als bis er gar is!«</p>
+
+<p>Nein, Frau Tönnies hatte alles gut berechnet — der Fisch war
+butterweich, und das erste Lob des Kapitäns bei seiner Heimkehr galt
+der Kochkunst seiner Blankeneserin, die doch einzig in der Welt solche
+Fische zu kochen verstehe! Es war ein beglücktes Wiedersehn und ein
+prächtiges gemeinsames Mahl; alle Kinder mit um den Tisch und Mietje
+auf ihres Vaters Schoß; das wollte der Kapitän nicht anders, denn die
+»kleine dumme Deern« hatte sich vor seinem großen Bart gefürchtet und
+durchaus Onkel Hartig Papa nennen wollen. Onkel Hartig hatte zwar auch
+einen großen blonden Bart, aber seine lustigen blauen Augen hatten
+nicht den durchdringenden Blick des Kapitäns Tönnies, und seine Stimme
+war weich und leise, während der Schwager auch zu Hause und mit den
+Kindern das Kommandieren nicht lassen konnte. Neben dem kurzbeinigen,
+braunen Tönnies sah der lange und breitschulterige Hartig Holert wie
+ein großer Junge aus, obgleich sein Kopf mit dem krausen blonden Haar<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span>
+etwas Löwenartiges hatte. Nur in der Haltung, hintenüber gebeugt,
+die Hände in den Taschen, lag ein eigensinniges Selbstbewußtsein,
+daß seinem Fortkommen von Jugend auf hinderlich gewesen. Die Furcht,
+daß er irgend jemand »zu Füßen fallen solle«, wie er es ausdrückte,
+um eines Vorteils willen, hatte zur Folge, daß er auch die kleinste
+Verbindlichkeit des Benehmens scheute und wortkarg und trotzig vor
+allen denen begegnete, die seine Vorgesetzten waren und ihn hätten
+fördern können. So war es denn auch gekommen, daß er nun unter dem
+Schwager als erster Steuermann diente. Hier war wenigstens keine
+Gelegenheit, »sich anzuschmeicheln«.</p>
+
+<p>»Smart is er nich, dein Bruder Hartig,« sagte Tönnies oft zu seiner
+Frau, »wenn er nich so'n fixer Kerl wär', mit ›<em>Smartness</em>‹
+hätt' er sich nich bis zum Offizier gebracht; aber da wird er nu woll
+auch stehn bleiben.« Aber wenn seine Frau dann bekümmert aussehen
+wollte, strich er ihr übers Gesicht: »Sei man still, das' all man
+halb so schlimm, du bist je auch nich smart und hast mich doch zum
+Mann gekriegt.« Und dann lachten sie zusammen und erzählten sich zum
+wievielten Male die Geschichte ihrer Liebe am Bord des »Fotheringay«,
+wo er noch zweiter Steuermann war und sie nach Plymouth fuhr, um ihre
+Verwandten zu besuchen.</p>
+
+<p>»Wenn du denn morgens so früh schon auf Deck<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> warst und immer so
+patent angezogen und mit 'n Arbeit in der Hand, — Junge, sag' ich zu
+mir, das' n' kleine süße, stille Deern, das gibt 'n saubere, fleißige
+Frau. Kein büschen seekrank, keine Anstellerei, wie die meisten
+Passagierinnen das machen, die immerlos stöhnen oder kreischen oder
+lachen wie die richtigen Grienaapen<a id="FNAnker_27" href="#Fussnote_27" class="fnanchor">[27]</a>, — du, solche hätt' ich
+nich genommen, und wenn sie 'n Sack voll Geld gehabt hätt'! Morgens
+Klock zehn noch in der Kabine auf der faulen Haut, und um Mittag kaum
+die Nase 'rausgestreckt, mit ungemachtem Haar und Morgenrock und
+Schlarren<a id="FNAnker_28" href="#Fussnote_28" class="fnanchor">[28]</a> auf'n Deck 'rumzufaulenzen, wie wir diesmal 'n paar
+wieder gehabt haben! ›Kapitän, hier zieht es! und hier rollt das Schiff
+zu sehr, und hier stößt die Maschine,‹ weet Gott wat all! — Bloß 'n
+büschen freundlicher hätt'st mit mir sein können, ich wußt' ja gar
+nich, wie ich da eigentlich an war. Ich hab' immer an meinen Knöpfen
+abgezählt: mag sie dich leiden oder mag sie dich nich. Aber zuletzt im
+Kartenzimmer —«</p>
+
+<p>»Wie du die Sonne genommen hattest<a id="FNAnker_29" href="#Fussnote_29" class="fnanchor">[29]</a>,« fiel Frau Tönnies glücklich
+ein.</p>
+
+<p>»Ja, daß du da immer 'reinkamst — wo du nichts verloren hattest, und
+denn gleich weggeguckt,<span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span> wenn <em class="gesperrt">ich</em> die Tür aufmachte — schwubb
+den Kopf umgedreht! Aber daß du rot geworden warst, hatt' ich doch
+gesehen.«</p>
+
+<p>Viel Zeit freilich zu diesen vergnüglichen Rückblicken und vertrautem
+Beisammensein hatte das Ehepaar nicht. Die ersten vierzehn Tage
+vergingen wie ein Tag und waren reich durch Bewegung und Arbeit
+ausgefüllt. Tönnies und Holert hatten mit dem Löschen der Fracht
+vollauf zu tun, mußten täglich an der Hamburger Börse erscheinen
+und wegen neuer Ladung mit den Reedern verhandeln, es gab neue
+Anmusterungen zu besorgen, — endlich mußte das Schiff ins Dock
+gebracht werden, weil es gar zu stark »angewachsen« war.</p>
+
+<p>»Ganze Buschen sitzen an'n Boden, daß man das Schiff gar nich mehr
+durchs Wasser schleppen kann«, erzählte Hartig seinem ältesten Neffen,
+der immer um ihn herum war. »Weißt nich, was das is? Na, ihr könnt
+uns 'mal morgen an Bord besuchen, mit alle Mann hoch. Wat seggst du,
+Kaptein?« Er schlug seinem Schwager kräftig auf die Schulter. Ein
+weniger gedrungener Mann als Tönnies wäre wohl unter der Liebkosung
+zusammengeknickt. Der aber wandte sein braunes Gesicht lächelnd herum:
+»<em>All right</em>, wenn Onkel Holert euch da traktieren will?«</p>
+
+<p>»Ho, das wollen wir woll kriegen! Was, Hinrich?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span></p>
+
+<p>Hartig war den Kindern gegenüber von unerschütterlicher Munterkeit.
+Sie waren seine Lieblinge, denn zu ihnen durfte man freundlich sein,
+ohne daß es aussehen konnte, als »würfe man mit der Wurst nach dem
+Schinken«. Sie vergaßen zu danken, wenn er ihnen etwas schenkte, aber
+sie sprangen vor Freude, wenn er sie mitnahm oder sich sonst mit ihnen
+beschäftigte. Dagegen war der Riese machtlos. Auch heute war großer
+Jubel. Frau Tönnies strahlte mit ihren Kindern um die Wette. Ein
+Besuch an Bord der »Maria da Gloria« gehörte zu den seltenen Genüssen
+ihres einfachen Lebens, aber unerbeten, ganz von selbst mußte es
+kommen. Darin war sie wie ihr Bruder. »Wenn ich das Papa sag', und
+nachher is ihm das nich recht, und er sagt am Ende doch ja, weil er
+uns das nich abschlagen mag, denn is mir das furchtbar unangenehm;
+ich tu' das ja tausend gern, und die Kinder sind da ja ganz auf
+versteuert, daß sie ihrem Papa sein Schiff besehn wollen, aber den
+Mund mag ich mir da nich um verbrennen.« Frau Tönnies graute vor der
+Möglichkeit des »Mundverbrennens« ebensosehr, wie ihrem Bruder vor dem
+Fußfall; man sah es auch ihren Lippen an, sie waren immer ein bißchen
+schmal zusammengedrückt, was ihrem sonst so offenem Gesicht einen
+ängstlich-vorsichtigen Ausdruck gab. Nun aber legte<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> sie mit großer
+Genugtuung die Ausgehkleider der Kinder zurecht und prüfte ihr eigenes
+neues Schwarzseidenes, das, wie sie lobend hervorhob, so »dick und so
+hart wie'n Brett sei, was den Stoff anbetreffe«.</p>
+
+<p>Hartig Holert guckte gedankenlos mit in den Kleiderschrank; auf
+einmal aber bekamen seine Augen Leben. Er faßte mit der breiten Hand
+vorsichtig in die Ecke des Schrankes und brachte zwischen Daumen und
+Zeigefinger ein zierliches, spitzenbesetztes Sonnenschirmchen mit einem
+weißen Griff heraus, auf dem ein goldenes <em>M. D.</em> glänzte.</p>
+
+<p>»Hallo!« sagte er, und eine Art von Rührung, von Wiedersehensfreude lag
+in dem Ausruf.</p>
+
+<p>Frau Tönnies nahm ihm das kleine Ding mit ängstlicher Eile ab.
+»Herrjes, Hartig, brich man bloß den Schirm nich kaputt. Der hört
+Fräulein Dehn zu.«</p>
+
+<p>Hartig fuhr von dem Schrank zurück und schüttelte erschrocken seine
+Hand. Ob im Ernst oder Scherz, das war seinem Gesichte nicht anzusehen.</p>
+
+<p>»So is dat! Na, kannst es je man gleich sagen, Stine.« Und mit großen
+Schritten machte er sich aus dem Staube. Die Treppe knarrte unter
+seinem Gewicht. Plötzlich schien seiner Schwester ein Einfall zu kommen.</p>
+
+<p>»Hartig, hör doch 'mal!« Obgleich er schon auf<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> der vierten
+Treppenstufe hielt, reichte sein großer heller Kopf doch noch bis in
+den dämmrigen Vorplatz, als er sich umwandte.</p>
+
+<p>»Na, Stine, min Deern?«</p>
+
+<p>»Du, ich denk' eben, sie hat ihn hier vergessen, aber nu braucht sie
+ihn am Ende — du bist ja bei Inspektor Dehn bekannt.«</p>
+
+<p>Hartig sah sehr einfältig drein. »Ja, denn laß sie ihn man holen. Wat
+geiht mi dat an?«</p>
+
+<p>»Kannst ihn nich mit hin nehmen, Jung?«</p>
+
+<p>Holert kam eine Stufe näher. »Ja, das wär' nüdlich, Stine, ich nu so
+mit'n seidenen Sonnensegel überm Kopf! Haben Sie sonst noch Smerzen,
+Madam?« Er lachte, daß die Bruthenne, die im oberen Bodenraum auf ihren
+Eiern saß, vor Schrecken vom Nest flog und laut gackerte. Frau Tönnies
+lachte auch, wollte sich's aber nicht merken lassen.</p>
+
+<p>»Achhott, Jung, wenn ich ihn dir nu fein in Seidenpapier einwickel',
+und du gibst ihn bloß ab?«</p>
+
+<p>Holert wurde ernst. »Stine, du büst je woll 'n beten dull! Wat hew ick
+mit so'n Kram to kriegen? Mit den Inspektor dor heet dat: goden Dag und
+goden Weg.« Er zog mit der Hand eine schnurgerade symbolische Linie
+zwischen sich und dem Inspektor durch die Luft. »Adjüs, Stine!«</p>
+
+<p>Er ging aber nicht, sondern wiegte sich, die Hände in den Taschen, auf
+den Zehenspitzen auf und ab.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span></p>
+
+<p>Seine Schwester stellte sich ganz mit dem Gesicht in den Schrank hinein
+und strich an ihrem seidenen Kleide herum.</p>
+
+<p>»'n kleine nüdliche Deern is das so weit, Hartig.«</p>
+
+<p>Der Seemann legte die Hand ans Ohr und kniff ein Auge zu. »Wokein<a id="FNAnker_30" href="#Fussnote_30" class="fnanchor">[30]</a>,
+Stine?«</p>
+
+<p>»Herrjes, Jung, Inspektor Dehn seine Tochter.«</p>
+
+<p>»Er hat ja drei Stück, Deern.«</p>
+
+<p>»Ach, Hartig, die zwei andren gehn ja noch in Schule.« Frau Tönnies
+sprach beharrlich in den Kleiderschrank, so daß ihre Stimme einen
+dumpfen fernen Klang bekam.</p>
+
+<p>Hartig Holert rüttelte am Treppengeländer und pfiff gedankenvoll vor
+sich hin.</p>
+
+<p>»Du, Jung, ich glaub', sie mag dich leiden.« Der Steuermann brach in
+ein heftiges gezwungenes Lachen aus.</p>
+
+<p>»Wat du klok<a id="FNAnker_31" href="#Fussnote_31" class="fnanchor">[31]</a> büst.«</p>
+
+<p>»Ich glaub' das ganz gewiß.« Stine hätte ihre Mitteilung unterstützen
+können, wenn sie zu Hartig hingegangen wäre und den Arm um seinen
+Hals gelegt hätte, — aber sich mit seinem Bruder handgemein machen,
+das war in ihrer Familie keine Mode. Er schien auch schon übergenug
+von der Vertraulichkeit zu haben, denn er machte ein paar<span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span> Schritte
+treppabwärts. Doch kehrte er noch einmal um und sagte obenhin: »Na,
+heb' den Schirm man gut auf — wenn die Gören bei den Schrank gehn —«</p>
+
+<p>Frau Tönnies warf sich in die Brust: »Meine Gören sollten bei meinen
+Kleiderschrank gehn? Der is ja immer zugeschlossen.«</p>
+
+<p>Der große Mensch sah vor sich nieder. »Sonst, wenn er da am Ende nich
+sicher steht — —«</p>
+
+<p>»Herrjes, setz' du ihn weg!« rief die Schwester erfreut, und eilig
+wollte sie ihn ihm in die Hand drücken. Aber, sei es, daß er aus
+Verlegenheit nicht zugreifen mochte, oder daß ihm das Ding zu
+zerbrechlich aussah, — das Schirmchen fiel zu Boden, und der hübsche
+weiße Griff mit den goldenen Anfangsbuchstaben sprang entzwei. Frau
+Tönnies schlug die Hände zusammen, Hartig wurde blaß und blickte
+hilflos auf das Unheil. Dann sah er seine Schwester an, und eine rote
+Wolke zog über seine ungebräunte Stirn.</p>
+
+<p>»Bün ick dat west?« murmelte er sehr erschrocken. »Is dat lüttje
+nüdliche Dings ganz entzwei?«</p>
+
+<p>Er getraute sich nicht, die Stücke aufzusammeln, Frau Tönnies tat es
+und stieß dabei bedauernde Seufzer aus. »Er stand da nu so gut! Hätt'
+ich ihn doch stehn lassen!« Dann, als sie ihres Bruders reuevolle Miene
+sah, der den Kopf hängen<span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span> ließ, als sei ihm ein Unglück widerfahren,
+richtete sie sich stramm auf: »Dat kann woll wedder makt warr'n. Komm,
+mein Jung, bring' ihn man miteins hin! Bei Klintwort im Laden, oben in
+der Hauptstraße.« Sie suchte hastig ein Papier hervor.</p>
+
+<p>Der Seemann stand noch eine Weile bedenklich und kopfschüttelnd. »Ick
+wull dat nu recht good maken, und nu mutt mi düt passieren.« Die
+Schwester schob ihm das Päckchen untern Arm. »Je, denn mutt ick da je
+nu doch woll mit los.« Seufzend und mit spitzen Fingern trug er das
+verhängnisvolle Paket in seine Kammer.</p>
+
+<p>»Tönnies,« sagte abends die Kapitänsfrau, als sie mit ihrem Mann allein
+war, »is es dir recht, wenn ich morgen die kleine Dehn mitnehmen tu'?
+Sie hat mich da all immer um gebeten.«</p>
+
+<p>Der Kapitän nickte bereitwillig. »Ein Frauenzimmer mehr oder weniger,
+da kommt es denn auch nicht auf an. Und Dehn seine is 'n kleine hübsche
+Deern, das bringt Glück an Bord.«</p>
+
+<p>Frau Stine räusperte sich: »Wenn das so meinem Bruder seine Frau werden
+täte, Tönnies?«</p>
+
+<p>Der Mann lachte. »Aha, nu soll der auch dran glauben. Je, hör' 'mal,
+Stine, er sagte neulich, er hätte schon 'ne Braut.«</p>
+
+<p>»Wo kann's angehn!« Die Frau wurde rot vor ärgerlicher Überraschung.
+Sie wollte es durchaus<span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span> nicht zugeben. »Er hat da woll man seine
+Putzen<a id="FNAnker_32" href="#Fussnote_32" class="fnanchor">[32]</a> mit betrieben; er kann das so natürlich machen, als wenn das
+sein Ernst is, und denn nachher is' doch man all 'n Jux gewesen.«</p>
+
+<p>Das nahm nun der Kapitän beinah krumm, daß Hartig Holert, der so gar
+nicht smart war, ihn hätte zum Narren haben können! »Stine, was ich dir
+sag', er hat da 'ne Photographie in seinem Taschenbuch und beguckte sie
+gerade sehr genau, als ich in seine Kammer kam.«</p>
+
+<p>»Hast du sie denn gesehn? Wie sah sie denn aus, Tönnies?« Stine rückte
+unruhig näher.</p>
+
+<p>»Je, zeigen wollt' er sie ja nich, er is ja so'n ollen
+Dwarsdriever<a id="FNAnker_33" href="#Fussnote_33" class="fnanchor">[33]</a>, de ümmer na sin eegen Kopp gahn mutt. Als ich da mehr
+von wissen wollte, sagte er, die Sache wär' nämlich, die Braut wüßte da
+noch gar nichts von ab, aber mit ihm wär' allens in Richtigkeit.« Die
+Gatten lachten um die Wette.</p>
+
+<p>»Wenn du auf der ›Maria da Gloria‹ 'n Heiratskontor einrichten willst,
+denn such' dir man 'n ander Paar aus — din Broder hett all sin
+Bekummst<a id="FNAnker_34" href="#Fussnote_34" class="fnanchor">[34]</a>,« meinte Tönnies.</p>
+
+<p>»Ehe er die drei Reifen nich hat, eher heirat'<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> er nich,« sagte Stine
+zuversichtlich, »dafür kenn' ich ihn.«</p>
+
+<p>»Denn ward he woll sitten blieben, — he hett dulle Küren<a id="FNAnker_35" href="#Fussnote_35" class="fnanchor">[35]</a>.« Mit
+einem bedeutsamen Gähnen unterbrach der Kapitän die Unterhaltung. — —</p>
+
+<p>Am andern Morgen wanderte ein langer Zug, Frau Tönnies mit allen
+Neunen, nach dem Pinnasberge am Hamburger Hafen, um Fräulein Dehn
+abzuholen. Der Kapitän und der Steuermann, die schon um sieben Uhr
+früh nach Hamburg gefahren waren, wollten sie auf den Vorsetzen an
+der Landungsbrücke treffen, wie die Kinder dem jungen Mädchen jubelnd
+entgegenschrien.</p>
+
+<p>»Erst sind wir mit 'n Stader Dampfer von Blanknese 'raufgefahren, und
+nu fahren wir mit der Ringbahn nach'm Steinhöft, und denn fahren wir
+mit 'n Fährdampfer nach'n Dock auf'n Reiherstieg 'rüber! Mit drei
+Dinger fahren wir heute, Tante Manga!«</p>
+
+<p>»Junge, das is fein!« rief Klaus und schnalzte mit der Zunge.</p>
+
+<p>»Ja, ich freu' mir da auch recht zu«, sagte der kleine stämmige Jasper
+mit bedächtigem Händefalten.</p>
+
+<p>»Jasper Dickwust<a id="FNAnker_36" href="#Fussnote_36" class="fnanchor">[36]</a>!« lachten und spotteten die Kinder und tanzten um
+den drolligen Kleinen herum.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span></p>
+
+<p>Manga Dehn war fast ebenso wirbelig wie die Kinder. Sie sagte nicht
+viel, aber in ihren braunen Augen sprühten helle Goldpünktchen, und
+ein lebhaftes Rosenrot färbte die runden Wangen. Im Nu hatte sie ihr
+graues Hauskleidchen abgestreift und das blumige, helle übergeworfen.
+Ein weißer Strohhut mit einer schönen Straußenfeder, die einmal ein
+seefahrender Onkel direkt aus Afrika mitgebracht, deckte den glänzenden
+Flechtenknoten; die weiße Stirn mit den krausen braunen Löckchen war
+frei.</p>
+
+<p>»Wie süß von Ihnen, daß Sie mich mitnehmen wollen!« Manga umarmte
+Frau Tönnies, aber die Sache gelang nur zur Hälfte; die Gegenbewegung
+fehlte, Stine war nicht impulsiv.</p>
+
+<p>»Na, fragen brauchen Sie gar nich, ob Sie mit dürfen, nich?« fragte sie
+etwas abwehrend. »Ihr Papa is im Kontor und Ihre Schwestern in Schule,
+und das Mädchen kocht das Mittagessen! Süh so, Fräulein Dehn kann woll
+lachen.«</p>
+
+<p>Manga entschuldigte sich sehr wegen ihrer bequemen Verhältnisse. »Schön
+soll es sein? Furchtbar langweilig ist es, Frau Tönnies! Aber ohne
+Mädchen, das will Papa nicht, dann wär' ich ja ganz allein.«</p>
+
+<p>Das halbdunkle, steifmöblierte Zimmer war kein richtiger Hintergrund
+für die helle mädchenhafte Gestalt; das fiel wohl auch Frau Tönnies
+auf. Sie musterte bedenklich das sommerliche Kleid.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span></p>
+
+<p>»Herrjes, so hell sind Sie? Nee, ich bin ganz dunkel, ich bin immer für
+das Praktische. Ziehn Sie man lieber 'n Regenmantel über, auf den alten
+Fährdampfern is das immer furchtbar schmutzig, nichts wie Sott<a id="FNAnker_37" href="#Fussnote_37" class="fnanchor">[37]</a>!«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen ließ die Lippe hängen; schönes Wetter, eine liebe
+Begegnung in Aussicht, und dazu — einen Regenmantel! »Ich nehm' ihn
+übern Arm,« sagte sie mit abbittendem Lächeln, — »und nun noch den
+Sonnenschirm!«</p>
+
+<p>Frau Tönnies wurde verlegen. »Je, mitgebracht hab' ich ihn nich,«
+platzte sie heraus, »weil —«</p>
+
+<p>Aber natürlich nicht! Wer konnte Frau Tönnies so etwas zumuten!
+Fräulein Dehn war ganz entsetzt bei dem bloßen Gedanken daran und sah
+durchaus keine Notwendigkeit ein, den Sonnenschirm fürs erste wieder zu
+bekommen.</p>
+
+<p>»Nehmen Sie meinen so lange«, bemerkte die Frau, die von der
+Vorstellung des zerbrochenen Schirms gepeinigt wurde, und durch
+dies Anerbieten, das natürlich nicht angenommen ward, einen wahren
+Dankeswirbel in der bewegten Seele des jungen Mädchens verursachte.</p>
+
+<p>Mietje zwischen den zwei Erwachsenen, Jasper zwischen den ältesten
+Kindern, die fünf anderen im<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> Gänsemarsch hinterdrein, so langten sie
+endlich bei den Männern an, die mit etwas genierten Gesichtern den Hut
+zogen.</p>
+
+<p>»Mama, Onkel hat zwei große weiße Tüten, da sind gewiß Kuchen in«,
+flüsterte Anna.</p>
+
+<p>»Rohmtorten<a id="FNAnker_38" href="#Fussnote_38" class="fnanchor">[38]</a>«, sagte Jürgen in Phitjes Ohr. Ein erwartungsvolles
+Lächeln sprang von einem Kindergesicht aufs andere über. »Jasper,
+Dickwust, zieh' deine Beine 'n büschen nach, Onkel hat Rohmtorten.«</p>
+
+<p>Kapitän Tönnies begrüßte Fräulein Dehn mit viel Galanterie, trat sofort
+an ihre Seite und nahm sie, lebhaft sprechend und lachend, ganz in
+Beschlag. Nach den Kindern sah er nicht viel hin — auf der Straße und
+vor Fremden fand er oft, daß neun Kinder zu haben doch ein bißchen
+unschicklich sei. Hartig war halb durch Tönnies', halb durch eigene
+Schuld weit hinten geblieben und steckte mit befangener Miene seiner
+Schwester die Kuchentüten zu: »Nu trag' du sie man, nu mag ich das nich
+mehr.« Und dann flüsterte er, ganz beklommen: »Du, sag' ihr man nich,
+daß ich ihren Schirm kaputt gemacht hab', sonst geh' ich direkt nach
+Hause.«</p>
+
+<p>Beim Einsteigen ins Fährboot waren Tönnies und Manga Dehn die ersten;
+sie saßen schon auf<span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span> den niedrigen Holzbänken, über deren Unsauberkeit
+der Kapitän eine laute Rede hielt, als die übrigen dazu kamen. Hartig
+mit Mietje auf dem Arm warf einen kurzen unmutigen Blick auf Tönnies'
+glänzendes Antlitz, dann stellte er sich am entgegengesetzten Ende des
+kleinen Dampfers mit dem Rücken gegen die Maschine und sah starr in das
+gelbgraue Wasser, das hier und da von schwimmendem Petroleum in allen
+Regenbogenfarben spielte. Hinrich stand neben ihm, aber heute bekam er
+nur kurze Antworten. Er folgte mit den Augen einem winzigen Fahrzeuge,
+das schnell wie ein summender Käfer mit rotstreifigen Flügeldecken
+zwischen den massigen, schweren, dunklen Schiffskörpern dahinschoß.</p>
+
+<p>»Guck 'mal, Onkel, so'n kleine Petroleumbarkaß<a id="FNAnker_39" href="#Fussnote_39" class="fnanchor">[39]</a>, die möcht' ich
+woll haben, kost' man 12 bis 15000 Mark, sagt Papa.« Und als der sonst
+so freundliche Hartig stumm blieb, verstummte auch der Knabe, bis das
+Boot am Werftplatz landete. Immer noch war der Kapitän mit dem Fräulein
+voran — Manga aber verlangsamte zuweilen ihren Schritt und schien nur
+mit halbem Ohr zu hören. Sie blickte nicht mehr so munter wie vorhin;
+oft wandte sie den Kopf. »Ihre Frau ist so weit zurückgeblieben, wir
+müssen wohl 'n bißchen warten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p>
+
+<p>»Ach, Stine läuft mir nicht weg,« lachte Tönnies, »die Frauenzimmer
+sind anhängliche Geschöpfe, kommen Sie man.«</p>
+
+<p>»Die kleinen Kinder —« begann das Fräulein und sah sich abermals um.</p>
+
+<p>»Die sind auch an Brot gewöhnt, die wollen woll zulaufen, <em>go
+ahead, go ahead</em>!« Er machte eine seiner kurzen energischen
+Kopfbewegungen, die sowohl ihr wie den Kindern galt. Das Mädchen
+gehorchte mechanisch, mußte auch, um Tönnies' Worte zu verstehen,
+dicht neben ihm bleiben. Denn der ohrenbetäubende Lärm, der von den
+vielen Ambossen, besonders aber vom Maschinenhause hertönte, zerriß die
+Unterhaltung, wenn man sich nur ein wenig voneinander entfernte. Dazu
+zwangen die Schienengeleise, die quer über die Arbeitsstätte liefen,
+die aufgestellten Maschinen in vollem Betriebe, die Eisenplatten und
+Schraubenschäfte, die den nassen Boden bedeckten, fortwährend zum
+Ausbiegen, Sichbücken, Zurseitespringen. »Wir machen das so«, sagte
+der Kapitän zuletzt und zog Manga Dehns Arm, den er schon längere Zeit
+festgehalten, durch den seinigen, ohne die allerliebste Schmollmiene
+der Kleinen zu beachten. »So können Sie nich fallen und mir nich
+auskratzen, was Sie, glaub' ich, furchtbar gern möchten. Nu, Augen
+geradeaus, da haben wir die ›Maria da Gloria‹, da steht sie, frei auf<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span>
+den eisernen Schlagbetten, — en anständiger Kasten, was?«</p>
+
+<p>Beim Anblick des riesigen, in frischem rotem und schwarzem Anstrich
+leuchtenden Dampfers, der sich wie ein hohes Haus vor ihren Augen
+aufbaute, brachen die Kinder in ein verwundertes Jubeln aus. Nun blieb
+auch der Kapitän stehn und lachte den Nachkommenden entgegen: »Na, wie
+gefällt euch das junge Brautpaar?« sagte er mit einem schadenfrohen
+Blinzeln zu Hartig hinüber, indem er Mangas widerstrebenden Arm mit
+Herausforderung fester unter den seinen schob.</p>
+
+<p>Frau Tönnies nickte süßsäuerlich. »Süh, das is ja nett, denn bin ich
+woll ganz ausgetan?« Es sollte ein Scherz sein, aber er wäre ihr besser
+gelungen, wenn das junge Mädchen nicht das helle Kleid angehabt hätte,
+— sie sah ein bißchen zu niedlich aus. Hartig Holert aber, mit vor
+Unmut wetterleuchtender Stirn, wandte die Augen ab, als ob ihm der
+Augenblick weh tue.</p>
+
+<p>»Komm, Hinrich, du wolltest ja sehen, was an so'n Schiff anwächst,
+guck, hier liegt es noch, all die rötlichen Dinger, Seepocken heißen
+sie.«</p>
+
+<p>Er nahm den Jungen an die Hand, und der ganze Zug marschierte rund um
+den Kiel, zuletzt drunter durch, um die Kalkgehäuse aufzusammeln, die
+muschelartigen feingerippten Zapfen, die den<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> Kupferboden des Schiffes
+bedeckt hatten und nun abgekratzt worden waren. Mit einem plötzlichen
+Entschlusse, der ihr alles Blut ins Gesicht trieb, zog Manga Dehn ihren
+Arm aus dem des Kapitäns und trat zu den Kindern.</p>
+
+<p>»Zeigt mir das auch 'mal, bitte, Hinrich.«</p>
+
+<p>Tönnies tat, als wolle er sie wieder einfangen: »Fräulein Dehn, wahren
+Sie sich bloß vor meinem Steuermann«, warnte er laut.</p>
+
+<p>»Warum?« rief das junge Mädchen, den Kopf aufwerfend, daß all die
+Löckchen um ihre Stirn bebten.</p>
+
+<p>»O, das is'n böser Mensch, der is so furchtbar hinter den nüdlichen
+Mädchen her. Is' nich wahr, Hartig?«</p>
+
+<p>»Gott sei Dank, nee!« brummte Holert mit grober Stimme, indem er
+die Handvoll Balanusschalen zurückzog, die er gerade dem Fräulein
+hatte zeigen wollen. In etwas gesunkener Stimmung gingen sie den Weg
+zurück, bis zu der Treppe, die über eine hohe, lange, frei in der
+Luft schwebende Brücke auf das Schiff führte. Stine trug Mietje,
+Hartig hob Jasper auf seinen Arm, der Kapitän, die Hände auf dem
+Rücken, marschierte voran, Manga Dehn führte Phitje und Jürgen und
+klammerte sich mehr an die Kinder, als daß es umgekehrt gewesen wäre.
+Als sie das Deck betraten, kam ihnen bellend und<span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span> freudewinselnd der
+kleine graubraune fuchsköpfige Hund entgegen, den sie aus Südamerika
+mitgebracht hatten.</p>
+
+<p>»Die Feuerländer Hunde bellen auch? Wie merkwürdig! Alle Hunde sprechen
+eine Sprache! Denk' 'mal, Mama.«</p>
+
+<p>»Nu trinken wir 'mal erst Kaffee,« sagte der Kapitän, der mit dem
+Betreten seines schwimmenden Hauses auch die Vaterrolle wieder aufnahm,
+»nu man alle in den Speisesaal; Stine, gib den Kuchen her, der Steward
+kann ihn auf'n Teller legen.«</p>
+
+<p>Hartig schmiß eine Tüte klatschend auf den Tisch, Tönnies lachte
+spöttisch und mißbilligend. »Was spielst du denn heute für 'n
+Zwickel<a id="FNAnker_40" href="#Fussnote_40" class="fnanchor">[40]</a>?« sagte er halblaut zu ihm.</p>
+
+<p>Ein breites: »Lat mi in Ruh'!« war die Antwort. Verstohlen blickte er
+dabei nach dem Mädchen, das die Schlingpflanzen auf dem Marmortischchen
+bewunderte und sich gleichzeitig vor dem Spiegel, den die grünen
+Blätter einrahmten, den Hut abnahm und das Haar glättete.</p>
+
+<p>Plötzlich hörte er ihre Stimme in ganz ergriffenem Tone sagen: »Bitte,
+was sind denn das für Gewächse, Herr — Herr Holert?«</p>
+
+<p>Er blinzelte heftig vor Überraschung, sein Gesicht<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> erhellte sich.
+»<em>Sweet potatoes</em><a id="FNAnker_41" href="#Fussnote_41" class="fnanchor">[41]</a>, Fräulein Dehn«, sagte er unbehilflich über
+die Schulter weg.</p>
+
+<p>Manga steckte einen losgegangenen Zopf fest. »Sehn Sie 'mal, kommen sie
+aus <em class="gesperrt">diesen</em> Knollen?«</p>
+
+<p>Nun mußte er doch an ihre Seite treten. »Ja, da wachsen sie 'raus,
+und denn so hoch.« Beide erhoben die Augen und erblickten sich
+nebeneinander im Spiegel, beide mit errötenden, frohbeklommenen
+Gesichtern. Einen kurzen, verräterischen Augenblick sahen sie sich in
+die Augen, prüfend, vorsichtig.</p>
+
+<p>Da schlug Kapitän Tönnies seinem Schwager von hinten auf den Rücken.
+»Junge, verguck' dich nich! Fräulein Dehn, lassen Sie sich nichts
+weismachen, he lüggt<a id="FNAnker_42" href="#Fussnote_42" class="fnanchor">[42]</a>.«</p>
+
+<p>Der Steuermann sah Tönnies ins Gesicht, als könnt' er ihn erwürgen.
+Sein Humor war ihm gänzlich abhanden gekommen. Es war gerade keine
+Liebkosung, was er murmelte, wie er beiseite trat.</p>
+
+<p>»Pfui, Kapitän Tönnies,« sagte Manga leise, »das ist gar nicht nett von
+Ihnen. Herr Holert hat es übelgenommen.«</p>
+
+<p>Diese Vorstellung amüsierte den kleinen braunen Mann außerordentlich.
+»Na ward' good! Nu krieg' ich noch Ausschelte zu! Was ich Ihnen sag',
+Fräulein, der Mann is gefährlich! Wenn er so steht und<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> die Zunge im
+Mund hält, — denn is das viel ärger, als wenn ein anderer Ihnen den
+Sirop fingerdick aufstreicht, glauben Sie mir.«</p>
+
+<p>Der Kaffee erschien, hereingetragen von einem freundlich grinsenden
+jungen Mulatten, über dessen Anblick die Kinder fast die Rahmtorten
+vergaßen. Fräulein Dehn setzte sich dicht neben Frau Tönnies mit dem
+unerschütterlichen Vorsatz, ihr nicht wieder von der Seite zu weichen,
+ein Vorsatz, der in Gestalt eines kleinen trotzigen und kampfmutigen
+Lächelns gegen den braunen Kapitän beständig um ihre roten Lippen
+schwebte und sie für Hartig zu einem reizenderen Anblick machte als je.</p>
+
+<p>Tönnies war sehr liebenswürdig nach rechts und links. »Stine, dein
+Kaffee schmeckt besser, alles was recht is«, bemerkte er zu seiner
+Frau. »Junge, bedien' dich, du weißt ja selbst, daß es bezahlt is«,
+damit schob er seinem Schwager den Kuchenteller zu. —</p>
+
+<p>»Das haben wir schon wieder 'mal gehabt«, seufzte Stine, als sie sich
+erhoben. Mit aufmerksamen Blicken, wie um sich alles recht einzuprägen,
+ging sie umher. Der Kapitän hatte sich allmählich zu ihr gefunden. »Ich
+muß auch 'mal in deine Kammer, Tönnies«, sagte sie sanft.</p>
+
+<p>»Ja, das tu' du man, da find'st du 'n ganze bekannte Gesellschaft.« Er
+öffnete die spiegelblanke Tür und zog sie mit sich herein. Manga sah
+das<span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span> Ehepaar vor dem bankartigen Sofa stehen; die Wand darüber war ganz
+mit Photographien bepflastert.</p>
+
+<p>»So sahst du damals aus, Stine.«</p>
+
+<p>»So sah ich damals aus.«</p>
+
+<p>»Und das kriegte ich mit auf meine Hochzeitsreise, die ich man leider
+allein machen mußte.«</p>
+
+<p>»Und da bist du als Bräutigam.«</p>
+
+<p>Leise schlich das junge Mädchen von der Tür weg und zog ein paar der
+Kinder mit sich, die hineingewollt hatten.</p>
+
+<p>»Scht! Papa und Mama haben was zu sprechen.«</p>
+
+<p>Bald aber wurde sie gerufen: »Fräulein Dehn, gucken Sie 'mal, da war
+Hinrich zwei Jahr, sieht er nich ganz aus, wie Mietje jetzt?« Und der
+Kapitän hielt sein jüngstes Kind auf den Armen und wiegte es auf und
+ab, und Stine verglich es mit der Photographie.</p>
+
+<p>Inzwischen schlenderte der Steuermann auf dem Deck umher und witschte
+alle Augenblicke in seine Kajüte. Dort auf dem festgeschrobenen
+Tischchen lag ein Paket, ein Gegenstand in rosa Seidenpapier
+gewickelt, länglich schmal. Den mußte er immer betrachten, betasten,
+— zweimal hatte er ihn schon draußen gehabt, ihn aber immer wieder
+zurückgetragen. Als er das geheimnisvolle Etwas wieder einmal mit
+zärtlichen und doch scheuen Blicken liebkoste,<span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span> stolperte Anna herein
+und wollte durchaus wissen, ob das etwas Mitgebrachtes für sie sei. Mit
+desperater Miene drängte er das Kind hinaus und verschloß die Kammer
+hinter sich, — den Schlüssel versenkte er tief in die Tasche. Anna
+betrachtete ihn aufmerksam: »Onkel, du hast heute immer 'n roten Kopf,
+und Tante Manga hat auch 'n roten Kopf, — ich weiß aber woll warum!«
+setzte sie mit schlauem Gesicht hinzu.</p>
+
+<p>Ungnädig schob der Mann die Kleine beiseite: »Klooksnut<a id="FNAnker_43" href="#Fussnote_43" class="fnanchor">[43]</a>.«</p>
+
+<p>»Ich weiß es doch! Ich weiß es doch! Von Tante Manga weiß ich es doch!
+Etsch, etsch, Tante Manga!« Sie umsprang das Fräulein, das zufällig
+herangekommen war und eine Belehrung über den Schraubenschaft haben
+wollte, dessen Tunnel drunten im Schiffsraum aufgedeckt lag, weil daran
+gearbeitet wurde.</p>
+
+<p>»Ich weiß, warum du so'n roten Kopf hast!« schrie ihr das Kind
+entgegen, »soll ich es 'mal sagen?«</p>
+
+<p>»Komm, du bist unartig!« Aber es war vergebens, daß ihr der Mund
+zugehalten ward. »Weil du all den Rohm<a id="FNAnker_44" href="#Fussnote_44" class="fnanchor">[44]</a> in deine Tasse gegossen
+hast, und weil Onkel gar nichts gekriegt hat, kein büschen Haut«,
+rief Anna mit vor Bosheit funkelnden Augen.<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> Aber nun setzte es einen
+Klaps. Wenn Hartig einmal zuschlug, geschah es nicht allzu sanft, — —
+weinend zog sich der Naseweis hinter einen der Ventilatoren zurück, die
+wie Riesentrompeten aus dem Deck aufragten.</p>
+
+<p>»Hab' ich Ihnen wirklich alles weggenommen?« fragte Manga und machte
+ein ganz verlegenes Gesicht. Aber der Steuermann ging gar nicht auf den
+Unsinn ein.</p>
+
+<p>»Nee, Fräulein, das kriegen wir woll, fallen Sie bloß nicht über
+den Kohlenbunker! Je, was ich sagen wollte, möchten Sie nich mal
+mitfahren?« Der bewegte Ton sagte viel mehr, als die Worte.</p>
+
+<p>»O, Herr Holert —« sie legte die Hände zusammen.</p>
+
+<p>»Wollen Sie mal das Navigationszimmer sehen? Ach — aber das kennen Sie
+ja alles! Na, schad't nix — sehn Sie, hier sitzt man oft eingesperrt,
+fünf, sechs Tage, Tag und Nacht, wenn wir Nebel haben auf der Nordsee
+oder im Kanal, oder wenn sonst schlechtes Wetter is. Und schlecht
+Wetter is ja Gott sei Dank oft, sonst wär' es auch zu langweilig.« Er
+lächelte sanft, während er seine große Gestalt kampfbereit reckte. Dann
+schlug er die Augen nieder. »Die Sache is man, solange einer nich als
+Oberster auf der Kommandobrücke steht, solange darf er ja nich seinen
+Mund aufmachen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span></p>
+
+<p>»O darum —« fiel Manga ein. Ein dankbarer Blick traf sie warm und
+verwirrend.</p>
+
+<p>»Und sehn Sie, Fräulein, das kommt ja vor, daß einer kein Glück hat und
+bleibt sein lebelang auf denselbigen Stand bestehn —«</p>
+
+<p>»Harrijees!« erscholl plötzlich die joviale Stimme des Kapitäns, »der
+is all wieder bei dem jungen Mädchen! Nu guck einer den Steuermann an,
+der hat's hintern Ohren, dat segg ick ja.« Stine wollte ihren Mann
+zurückzupfen, aber er ließ sich nicht halten. »Nee, laß mich doch,
+jetzt muß der Fuchs aus'm Loch heraus! Fräulein Manga, soll ich Ihnen
+was sagen? Ihnen geht er mit Rohmtorten unter die Augen und spielt hier
+Musche Nüdlich, sowie man den Rücken dreht, und in seinem Taschenbuch
+auf dem wärmsten Platz hat er ein Bild von —«</p>
+
+<p>»Halt deinen Mund, Kaptein!« rief Hartig drohend und fäusteballend.</p>
+
+<p>Tönnies rümpfte die Lippe: »Hier bin ich Herr, min goode Jung! Kannst
+keinen Spaß verstehn, Stüermann? Jawoll, Fräulein, er hat 'ne Braut,
+tun Sie man nich, als wenn Sie mir dafür den Kopf abreißen wollten.«</p>
+
+<p>»Du lügst ja«, sagte Holert mit weißen Lippen.</p>
+
+<p>»Hartig, mußt nich!« bat ihn seine Schwester.</p>
+
+<p>»Wenn es nich wahr is, denn zeig' doch 'mal das Bild in deinem
+Taschenbuch!« reizte der Kapitän.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span></p>
+
+<p>Hartig unterdrückte einen Fluch. »Es is ja man Spaß gewesen.« Er
+versuchte zu lachen.</p>
+
+<p>»Dat segg ick ja, Tönnies«, fiel ängstlich die Frau ein.</p>
+
+<p>»Spaß? Na, denn zeig' doch das Bild!« Hartig warf einen flehenden Blick
+nach dem jungen Mädchen, aber Manga guckte über den Schiffsbord nach
+dem Werftplatz, als gehe <em class="gesperrt">sie</em> nicht im geringsten an, was hier
+gesprochen wurde.</p>
+
+<p>»Dat muchst du woll, — ward aber nix ut!«</p>
+
+<p>»Denn zeig' es Fräulein Dehn mal!« höhnte der Kapitän. Das Mädchen
+wendete sich halb gegen sie.</p>
+
+<p>»O meinetwegen sollen Sie sich nicht bemühen.« Eine hastige kleine
+Handbewegung nach der Uhr: »Ich muß auch wohl nach Hause, sonst kommt
+Papa früher als ich zu Tisch.«</p>
+
+<p>»Ja, so bei kleinem müssen wir auch woll —« begann Stine
+niedergeschlagen. Die großen starren Augen der Kinder, die wohl auch
+fühlten, daß hier aus dem Scherz Ernst geworden war, trieben sie zum
+Aufbruch.</p>
+
+<p>Manga Dehn ging eiligen Schrittes hinunter in den Speisesaal, wo noch
+ihr Hut lag. Auf der Treppe sah sie sich ein ganz klein wenig um, ob
+ihr niemand folge, doch war keiner zu sehen. Sie schluchzte ein-,
+zweimal, rieb heftig ihre Augen, drückte sich<span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span> den Hut auf den Kopf und
+stieg wieder aufs Verdeck, geblendet von der Sonne, wie es schien, denn
+sie hatte nun die Krempe tief in die Stirn geschoben. Diesmal hatte
+sie nicht in den Spiegel gesehen. Der Kapitän und seine Frau schienen
+inzwischen auch eine kleine Auseinandersetzung gehabt zu haben, Tönnies
+sah nicht ganz so selbstgewiß aus wie gewöhnlich, und auf Stines Backen
+brannten zwei hochrote Flecken.</p>
+
+<p>»Danke vielmal! Danke für alles«, sagte Manga herantretend. Ihre
+forschenden Augen hatten schon bemerkt, daß die Hauptperson
+verschwunden war. »Nun will ich den Regenmantel überziehen. Danke, Herr
+Tönnies, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann ganz allein.« Auch
+die Rückbegleitung über den Werftplatz verbat sie sich. Sie finde schon
+allein zurück und wolle Frau Stine nicht hetzen. Sowie sie freie Bahn
+vor sich sah, brachen die Tränen hervor, aber zwischen den schwarzen,
+sie neugierig anstarrenden Schiffsbauleuten schluckte sie tapfer
+hinunter, was ihnen hätte auffallen können. Auch auf dem Fährboot galt
+es, sich zusammennehmen, und nun gar zu Hause, wo der Vater mit ihr
+zusammen eintraf. Und dann waren die Schwestern da, und sie mußte ihnen
+bei den Schularbeiten helfen und mit ihnen Puppenzeug nähen. Erst als
+alles in der Wohnung schlief, hätte sie Zeit zum Weinen gehabt,<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> aber
+da war der erste Kummer vorbei, und ganz andere Gedanken kamen ihr, die
+gar nicht traurig waren. Sie wollte den Mann, den sie nun einmal lieb
+hatte, lieb behalten, das schwor sie sich zu mit gefaltenen Händen. Er
+würde doch nicht schlechter darum, weil er eine andere liebte? Und am
+Ende ist es nicht einmal wahr, dachte sie zuletzt in neu erwachender
+oder nie ganz erstorbener Hoffnung. »Wenn einer von den beiden gelogen
+hat, warum soll es gerade Hartig gewesen sein, der so offene Augen
+hat, wie ein Knabe, und der überhaupt der allerbeste Mensch ist, den
+ich kenne! Kapitän Tönnies dagegen ist durchaus nicht so nett, wie ich
+immer gedacht habe, und wenn er doch 'mal mein Schwager werden sollte«
+— hier mußte Manga Dehn über sich selbst lachen, und so kam es, daß
+auch die letzte Spur der Tränen von ihren Wimpern verschwand, und daß
+der Morgen ein heiteres Gesichtchen vorfand, dem die warme Innigkeit
+einen vertieften Reiz verlieh.</p>
+
+<p>Die Frauen wissen sich eben am besten mit der Liebe abzufinden. Lieben
+sie nicht für einen andren, so lieben sie für sich und sind glücklich
+dabei, wenigstens in der Jugend. Die Männer dagegen —</p>
+
+<p>»Wo ist Onkel?« riefen die Kinder, als sie zögernd und unwillig von
+dem schönen Schiffe Abschied nehmen sollten. »Wo ist Onkel Hartig
+geblieben?«<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> Und sie guckten in den Maschinenraum, den der Schornstein,
+bis auf einen Gang rundherum, mit seinem großen roten Schmerbauch
+ausfüllte, in das Rauchzimmer mit den bequemen Ledersofas, ja sogar
+in die luftige, aus Sparren zusammengeschlagene Fruchtkammer auf dem
+Halbdeck und in die schwarzen Kohlenbunker. Plötzlich lief Anna mit der
+Miene eines horchenden Kobolds an seine Kammer und legte ihr Ohr ans
+Schlüsselloch, dann auch das Auge.</p>
+
+<p>»Onkel hat sich eingeschlossen, er macht gar nicht auf! Der Schlüssel
+steckt inwendig, ich hab' es ganz deutlich gesehen«, berichtete sie,
+glücklich über ihre Schlauheit.</p>
+
+<p>»Er hat woll was zu tun«, sagte die Mutter und trieb die Kinder
+vorwärts. Daß sie nicht sehen konnten, was Hartig Holert zu tun
+hatte, war freilich gut. Längelang ausgestreckt lag er auf seinem
+niedren Bette und weinte wie ein kranker Säugling. Freilich besaß er
+mächtige Glieder und ein unerschrockenes Herz. Mehr als einmal war er
+in Lebensgefahr gewesen, — mit kaltblütiger Entschlossenheit hatte
+er schnell das Zweckmäßige erkannt und ausgeführt. Mit Gefühlen zu
+kämpfen, statt mit widrigem Winde, blindmachendem Nebel und brüllender
+See, das war er nicht gewohnt. Hier war er wehrlos.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span></p>
+
+<p>»Wo is Onkel Hartig?« fragten die Kinder, als daheim, beim Abendbrot,
+sein Platz am Tische leer blieb und Stine schweigend seinen Teller
+beiseite stellte. Es war nicht so heiter wie sonst; die Mutter saß
+still und der Vater machte viele laute Witze, über die er nachher ganz
+allein lachen mußte, denn die Kinder verstanden sie nicht. Tönnies
+zog seiner Frau, da sie nicht hinhörte, alle Nadeln aus dem wollenen
+Gestrick und schlug Anna mit der halbfertigen Unterjacke um die Ohren,
+aber es half alles nicht, sie wurden nicht lustiger davon. »Wo ist
+denn eigentlich Onkel Hartig?« fragten den nächsten Tag und immer
+eindringlicher die Kinder, und schließlich kam es heraus, daß er sich
+in St. Pauli ein Zimmer für vierzehn Tage gemietet habe, — dann ging
+die Maria da Gloria wieder auf ihre weite Fahrt. Über den Grund zu
+einer so außerordentlichen Maßregel sprachen die Gatten nicht, aber der
+Kapitän wurde »quirrig<a id="FNAnker_45" href="#Fussnote_45" class="fnanchor">[45]</a>« und Stine hatte oftmals rote Augen. Holert
+besaß ja ein eigenes Haus in Blankenese, — warum konnte er nicht dort
+wohnen, wenn er seinem Schwager aus dem Wege gehen wollte? Vielleicht,
+weil das Haus nur einige Treppen höher lag, als Tönnies', weil die
+Gärten beinahe aneinander stießen? Es war<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> nur gut, daß Stine so wenig
+Zeit zum Grübeln hatte, — die bevorstehende Abreise hielt sie in
+Atem. Da gab es zu bessern, zu flicken, Strümpfe zu stopfen, vor allen
+Dingen zu waschen. Was sich in acht Monaten in der Wäschekammer des
+Kapitäns angesammelt hatte, es war unglaublich — zumal, da die Tropen
+täglich doppelt das frische Weißzeug verlangen. Das tanzte und blähte
+sich im Winde auf den Leinen an der Strandbleiche, das schimmerte in
+augenblendendem Weiß von dem kurzen Grase, das quoll immer von neuem
+aus der Waschbalje<a id="FNAnker_46" href="#Fussnote_46" class="fnanchor">[46]</a> der zwei eifrigen Helferinnen hervor, das
+füllte die Umgebung des Hauses mit Seifengeruch und feuchtem Qualm und
+brenzligem Plättdunst, und immer war noch der Boden der Kisten nicht
+zu sehen, — der <em class="gesperrt">Kisten</em>, denn der guten Schwester erschien es
+selbstverständlich, daß sie auch den Bruder versorgte, bis einmal
+eine junge Frau die Last auf ihre Schultern nähme. Und immer wieder,
+wenn sie an diese Zukünftige dachte, kehrte ihr Wunsch zu Manga Dehn
+zurück. An die Braut im Taschenbuch hatte sie keinen Glauben, und daß
+Hartig das besprochene Bild trotzdem nicht zeigen wollte, konnte sie
+ihm völlig nachfühlen. Freilich hätte er sich damit von all den halb
+scherzenden Anschuldigungen<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> seines Schwagers sogleich reinigen können,
+aber — und darin teilte sie ihres Bruders Empfindung — wenn man einem
+Menschen gut ist, fordert man von ihm keinen Beweis der Ehrlichkeit.
+Das hatte Fräulein Dehn auch nicht getan, Fräulein Dehn war überhaupt
+eine kleine fixe Deern, die so leicht nicht irre zu machen war —
+Fräulein Dehn — und mitten in diesen Gedankensprüngen, denen sich
+Stine überließ, während sie die blauen Tuchröcke und Westen ihres
+Mannes von der Zeugleine nahm — stand plötzlich Manga Dehn vor ihr auf
+der Bleiche und sah sie mit ihren klugen braunen Augen schelmisch und
+freundlich an.</p>
+
+<p>»Herrjes, wo kommen Sie her!« rief Frau Tönnies in angenehmer
+Überraschung. »Nee, mich müssen Sie nich angucken, ich seh' so aus!«</p>
+
+<p>Das junge Mädchen begann trotz der Handschuhe beim Wäscheabnehmen zu
+helfen.</p>
+
+<p>»Sind Ihre Herren schon wieder weg, Frau Tönnies?«</p>
+
+<p>Sie hielt zwar den Beweis in Händen, daß dem nicht so war, aber
+ein ganz klein wenig Heuchelei ist doch am Ende keine Sünde. Ihre
+Überraschung war auch nur mäßig, als Frau Stine die Frage verneinte.
+»Mich wundert bloß, daß Sie über die Ankunfts- und Abgangszeiten der
+Dampfer von Ihrer Linie so wenig unterrichtet sind.«</p>
+
+<p>Ja, wie sollte Manga Dehn das wissen? »Ist das<span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span> der Beutel für die
+Kneifen<a id="FNAnker_47" href="#Fussnote_47" class="fnanchor">[47]</a>, Frau Tönnies?« fragte sie eifrig. »Mein Gott, was ist denn
+das für'n Riesenrock, der hier hängt? Das is ja 'n wahres Gebäude.«</p>
+
+<p>Die Kapitänsfrau seufzte, während sie das unendlich lange und schwere
+Kleidungsstück aus blauem Tuch, mit Flanell gefüttert, sorgfältig
+befühlte.</p>
+
+<p>»Gottlob, endlich is er trocken! Der hat 'n Gewicht! Na, wissen Sie
+nich, was das is, Fräulein Dehn? Das is meinem Mann sein Südwester.
+Wenn das Wetter so recht furchtbar schlecht is, auf der Nordsee und
+in der Magelhanstraße, dann wird der angezogen! Wenn mein Mann so'n
+ganzen Tag auf der Kommandobrücke steht und die Seen man immer so auf
+Deck sprützen! Der is immer ganz steif von Sott und Seewasser, wenn er
+ihn mitbringt. Wissen Sie, wie meine Waschfrauen ihn nennen? Die sagen
+da bloß ›dat Undeert‹ zu, weil sie ihn so schlecht regieren können, da
+waschen sie immer mit zwei Mann an, 'n halben Tag. Und nu hab' ich noch
+so'n Ärger —«</p>
+
+<p>Frau Tönnies brach plötzlich ab, das junge Mädchen von der Seite
+musternd, das spielend die Hand in den dicken weiten Ärmel gesteckt
+hatte.</p>
+
+<p>»Hat Ihr Bruder keinen solchen Rock? Haben den nur die Kapitäne?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span></p>
+
+<p>»Na, wenn Sie selbst von ihm anfangen, Fräulein Dehn, denn is das gut
+— ich dachte, das wär' Ihnen vielleicht unangenehm.«</p>
+
+<p>»O, warum meinen Sie das, Frau Tönnies?«</p>
+
+<p>»Ja, ich mein' man! Mein Bruder is ganz komisch seit dem Tag auf dem
+Schiff! Wir haben immer soviel von'nander gehalten, aber nu — nich mit
+Augen kriegt man ihn zu sehen, und wenn er 'mal kommt, denn guckt er
+die ganze Zeit nach der Uhr oder nach der Tür, immer als wenn da was
+'reinkommen soll, und sprechen tut er nich <em class="gesperrt">so</em>viel.« Die Frau tat
+einen tiefen Seufzer. »Wenn sie man erst in gutem wieder weg wären, man
+hat bloß sein Unangenehmes von den Mannsleuten.« Sie wischte sich die
+Augen.</p>
+
+<p>»O, Frau Tönnies, Sie hatten sich doch so gefreut!« rief Manga mit
+sanftem Vorwurf.</p>
+
+<p>Die Frau setzte die Arme in die Hüften. »Mein liebes Fräulein, Sie
+haben gut sprechen, Sie sitzen da nich so zwischen wie ich. Ich soll
+das doch man all bereißen, und ich tu' das ja auch von Herzen gern, all
+die Jahre, was sag' ich, all die Jahren hab' ich das für meinen Bruder
+mit getan.«</p>
+
+<p>»Was ist denn passiert, liebe Frau Tönnies?« Das junge Mädchen legte
+ihr freundlich den Arm um die Schultern. Die Frau sah weinerlich zu
+ihr auf: »Gestern abend — in vier Tagen wollen sie<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> weg — kommt
+mein lieber Hartig angewackelt: ›Ja, Stine, so und so, und eine Kiste
+Wäsche, die hab' ich rein vergessen, aber nu mach' man zu, daß du
+sie noch gewaschen kriegst.‹ Rehrsch stand dabei: ›Ick kunn mi rein
+dodargern,‹ sagt sie, ›nu kummt de ook noch an mit sin ol Undeert, un
+ick kann nich, ick mutt op'n Süllbarg ut Waschen gahn.‹«</p>
+
+<p>»Aber er muß den Rock doch haben,« fiel das Mädchen voll Eifer ein.
+Frau Tönnies schnäuzte sich bekümmert.</p>
+
+<p>»Is all recht gut, aber das geht man nich. Erst stolpert er 'rum wie
+so'n Drömklas, und nu kommt er damit zu Gange. Die zwei Waschfrauen
+sind die ganze Woche versagt, und ich mit Kathrin haben noch reichlich
+zu plätten —«</p>
+
+<p>»Aber was soll er denn in dem schlechten Wetter ohne den Südwester
+anfangen?« Mitleid und Unruhe spiegelten sich in Mangas zärtlichen
+Augen. »Er hat es doch nu 'mal vergessen —« sie errötete und spielte
+mit einer Windenranke, die an der Dornhecke aufgeklommen war. »Frau
+Tönnies, bitte, lassen Sie mich das Untier waschen.«</p>
+
+<p>»Achhott, Fräulein Dehn,« rief die Kapitänsfrau und gab ihr einen
+kleinen Stoß, »schnacken Sie doch nich.« Aber das Mädchen sah sie voll
+liebreicher Entschlossenheit an. »Es ist mein Ernst, und Sie sollen
+sehen, daß ich es ganz gut machen werde.<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> Wenn ich will, kann ich den
+ganzen Tag hier bleiben, Papa kommt nicht zu Tisch, und Berta und Minna
+sind heute bei Großmutter eingeladen. Geben Sie mir nur ein altes
+Kleid und eine große Schürze — ist schon Feuer im Waschhaus?« Und mit
+eiliger Miene riß sie den Hut herunter. Frau Tönnies sträubte sich
+sehr. »Wenn Sie doch helfen wollen, denn plätten Sie mit, denn wasch'
+ich den Rock«, sagte sie endlich.</p>
+
+<p>Aber Manga Dehn schüttelte eigensinnig das Köpfchen. Nein, das Plätten
+verstand sie weniger, dagegen würde ihr's gar keine Mühe sein, den
+Südwester rein zu bekommen. »Mit dem größten Vergnügen,« wiederholte
+sie fröhlich, »o ich habe Kräfte, das wissen Sie nur nicht.«</p>
+
+<p>Die Kapitänsfrau ließ sie endlich gewähren. »Ich denk' auch so,« sagte
+sie, »wenn Sie nu 'n Seemann geheiratet hätten, — Gott, es hätt'
+ja doch angehen können — und da wär' gerade keine Hilfe zu kriegen
+gewesen, dann hätten Sie das am Ende auch 'mal selbst getan.«</p>
+
+<p>Manga nickte aus Leibeskräften. Eh' eine Viertelstunde verging, stand
+sie, in ein Aschenbrödel verwandelt, im luftigen Waschhause und
+bürstete und seifte an dem ungebärdigen Kleidungsstück mit sprühenden
+Augen und dunkelroten Backen. Sie hatte durch eine sinnreiche
+Vorrichtung die dicken<span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span> Falten ausgebreitet vor sich, und wenn Frau
+Tönnies zuweilen nach ihr sah, freute sie sich, wie die »kleine fixe
+Deern« so gut allein fertig wurde. »Na, wenn das Hartig sähe«, sagte
+sie.</p>
+
+<p>Die niedliche Wäscherin hielt inne. »Bitte, das versprechen Sie mir,
+Ihr Bruder soll es nicht wissen! — Ist er schon öffentlich verlobt,
+Frau Tönnies?«</p>
+
+<p>»Ach, glauben Sie doch den dummen Kram nich, Fräulein Dehn«, war die
+ärgerliche Antwort. »Hartig hat 'mal wieder Jux gemacht! Er is 'n
+großen Slöpendriwer<a id="FNAnker_48" href="#Fussnote_48" class="fnanchor">[48]</a>.«</p>
+
+<p>Ein befreites heiteres Lachen scholl hinter der Waschbalje vor.</p>
+
+<p>»Was er nicht sagen will, das kriegt man, glaub' ich, nicht aus ihm
+'raus.«</p>
+
+<p>»Hat er Ihnen schon den Sonnenschirm wiedergebracht?« sagte die Frau.</p>
+
+<p>»Den Sonnenschirm? Nein!« versetzte hocherstaunt das Mädchen. »Ich bin
+eigentlich deswegen hergekommen. Und den hat Herr Holert?«</p>
+
+<p>Frau Tönnies fühlte nach ihren Lippen, sie hatte das Gefühl, sie sich
+verbrannt zu haben. »Na so«, sagte sie, schnell weggehend, und ließ die
+Kleine mit ihrer Arbeit und ihrem Grübeln zurück. Es<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> war am Ende gar
+kein Grübeln zu nennen, so wenig wie ihr die schwere, anstrengende,
+langwierige Wäscherei eine Mühe deuchte. »Er hat meinen Sonnenschirm,
+und ich wasche seinen Rock«, weiter war es nichts, und diese zwei
+nüchternen Sätze bedeuteten ihr gleichwohl einen wahren Abgrund von
+Seligkeit, und sie ward nicht müde, sie sich immer wieder vorzusagen.</p>
+
+<p>Kaum gönnte sie sich Zeit zum Essen, als Frau Tönnies zu Mittag rief.
+Der Kapitän war zum Glück nicht da, so kurz vor der Abfahrt hatte
+er bis gegen Abend in Hamburg zu tun. Die Sonnenstunden waren heiß.
+Gerade aufs Waschhaus fielen die senkrechten Strahlen, und in den
+Blättern des Efeus, der das kleine weiße Bauwerk umrankte, rührte sich
+kein Lüftchen. Die Tür stand weit offen, über den Waschtrog hinweg
+sah man bei jedem Aufblick den glanzumflossenen bläulichen Strom,
+der hinauszieht, hinaus ins Meer, mit seinen großen breiten Wellen.
+Bald wird er auch die »Maria da Gloria« wieder dort hinuntertragen,
+und Kapitän und Steuermann werden an der rechten Stelle sein. Vor
+Blankenese wird die Dampfpfeife grüßen, die Mannschaft wird Hurra
+schreien, — aber die Nachgebliebenen am Strande, die werden weinen.
+Das Mädchen fühlte ihre Augen übergehen. Sie mußte sie abwenden von
+der glitzernden Fläche, die<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> so viel Frohsinn und Kraft gleichgültig
+weggleiten ließ in das rauhe, verräterische Meer.</p>
+
+<p>Ein Schritt auf der Gartentreppe erschreckte sie, — das waren keine
+Kindertritte, die dort den ganzen Vormittag herauf- und hinabgelaufen
+waren. Mit der nassen Hand zog sie die Tür zu und spähte durch die
+Ritze. Ach so, der Briefträger war's, — sie hörte ihn ans Fenster der
+Wohnstube klopfen und Frau Tönnies rufen. Bald darauf erschien die
+Kapitänsfrau bei der Waschbalje, eine Karte schwenkend.</p>
+
+<p>»Fräulein Dehn, nu denken Sie 'mal, nu soll ich mit meinem Mann nach
+der Elbschloßbrauerei. Er schreibt mir eben, wir wollen uns da treffen!
+Wenn Sie fertig wären, könnten Sie 'n büschen mitgehn, denn nehm' ich
+Hinrich und Anna auch mit; sonst laß ich die Gören zu Haus.«</p>
+
+<p>»Nein, ich bin nicht fertig, Frau Tönnies, ich hab' noch 'n paar
+Stunden hier an den Ärmeln zu tun.«</p>
+
+<p>»Na, und ich soll nu so vom Plätten weglaufen!« Die Frau lachte
+aufgeregt. »Wissen Sie, ich würd' es gar nich tun, aber denn denk'
+ich wieder so: wie selten kannst 'mal mit deinem Mann ausgehn, und nu
+sollst ihm das abschlagen? Und denn kann ich das nich und kann das
+nich!« Sie lachte wieder. »Ach Gott, und wenn ich das nu geradeaus
+sagen<span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span> soll, — ja, ich geh' gern 'mal mit meinem Mann los! Besonders,
+wenn die Gören nicht mit sind! Das is denn, als wenn wir wieder jung
+verheiratet wären. Tönnies sagt das auch immer.«</p>
+
+<p>Manga blickte sie freundlich und verwundert an. So vergnügt hatte sie
+die gute Frau noch gar nicht gesehen.</p>
+
+<p>»Wie freut mich das für Sie!« rief sie warm.</p>
+
+<p>»Aber Ihretwegen, Fräulein, is mir das furchtbar unangenehm, — es is
+ja die verkehrte Welt, die Hausfrau geht aus Schwieren<a id="FNAnker_49" href="#Fussnote_49" class="fnanchor">[49]</a>, und der
+Besuch muß die Arbeit tun! Nee, es geht nich.«</p>
+
+<p>Natürlich überzeugte das Mädchen sie, daß es ausgezeichnet gehe. »Nach
+dem Abendbrot, — ich esse mit den Kindern, und Kathrin ist ja so
+zuverlässig, fahr' ich nach Hause und werde wohl wie ein Dachs schlafen
+nach der Arbeit«, lachte sie.</p>
+
+<p>»Und ich plätt' gern 'mal die Nacht durch, da kommt es mir denn auch
+nich auf an!« Leichtfüßig wie ein ganz junges Mädchen hüpfte Frau
+Tönnies davon, um sich anzukleiden.</p>
+
+<p>Manga Dehn hörte sie zum Abschied die Kinder ermahnen, Kathrin
+Verhaltungsregeln geben und sah noch einmal ihre geputzte Gestalt zu
+sich hereingucken.</p>
+
+<p>»Heute bin ich auch in Hell, nich einmal den ganzen<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> Sommer hab' ich
+dies lila Kleid angehabt! Schade, daß Sie nich mitgehn. Lassen Sie sich
+man nich die Zeit lang werden, — mein Bruder is das gar nich wert, daß
+—«</p>
+
+<p>»Ich tu' es gern! Viel Vergnügen!« Dann blieb die kleine Wäscherin
+wieder allein.</p>
+
+<p>Herrlich wurde der Himmel, wie die Sonne sich senkte. Gradeaus, nach
+Süden, stand er voll roter Wolken, klar und hochgelb war er im Westen.
+Wie ein ungeheurer, in schönen Falten wogender, seidener Mantel war die
+Elbe; hier blau mit kupferroten Punkten, dort seegrün mit Goldstaub
+bestreut. An der Brüstung des Gartens versuchten die Wellen eine kleine
+Brandung zu schlagen und plätscherten und spritzten hoch hinauf. Die
+Stimmen der Kinder verklangen in der Ferne, in den hohen Birnbäumen
+hinter dem Waschhaus zwitscherten die Spatzen, eine Walzermelodie vom
+Süllberg tänzelte durch die Stille wie ein ausgelassener Schmetterling:
+die schrillen Töne einer Handharmonika fuhren manchmal dazwischen aus
+einem der verankerten Fischerewer, an denen die bleichen Lichtlein wie
+zitternde Sterne entglommen. Manga Dehn horchte, wusch und träumte
+dabei. — —</p>
+
+<p>»Na, Fräulein, was machen Sie denn da?« fragte es plötzlich zum kleinen
+oberen Fenster herein. Hartig Holert war über den Berg gekommen und
+stand auf<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> den letzten Stufen der Treppe, die am Waschhaus vorüber
+führte. Ein zufälliger Blick hatte ihm den von Abendlicht übergossenen
+Kopf da drinnen gezeigt.</p>
+
+<p>Das Mädchen stand sprachlos, — das blaue Tuchgebäude war ihren Händen
+entglitten, Tränen der Scham und des jähen Erschreckens traten ihr
+in die Augen. Ihr Herz war schwer, als sei sie über einem Verbrechen
+betroffen worden.</p>
+
+<p>»Das is doch keine Arbeit für Sie!« sagte der Steuermann, nun am
+Türeingang. »Was haben Sie da vor?« Er sprach leise, ungläubig, mit
+belegter Stimme.</p>
+
+<p>Manga erhob zaghaft den Blick. »Ich wollte Ihrer Schwester helfen«,
+stotterte sie.</p>
+
+<p>»Und Stine leidet das?« Er versuchte die Stirn zu runzeln, aber ein
+unwillkürliches Lächeln umspielte seinen Mund. Es war die Freude, die
+hervorbrach.</p>
+
+<p>»Stine ist aus.«</p>
+
+<p>»Auch noch! Süh, das is ja nett! Und Sie können hier waschen!«</p>
+
+<p>»Sie müssen das Un-, — den Südwester ja doch haben —«</p>
+
+<p>»Was?« rief der Steuermann und trat einen Schritt näher, nun auch rot
+und bestürzt, »Sie sind bei <em class="gesperrt">meinem</em> Rock zu Gange?«</p>
+
+<p>Eine lange Pause folgte. Das Mädchen blickte<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> zu Boden, und der
+Steuermann sah stramm und unentwegt in die Waschbalje, als ob nun er
+der Ertappte sei. »Sehn Sie 'mal! Das hatt' ich ja gar nich gedacht,
+daß Sie auch waschen können,« murmelte er vor sich hin.</p>
+
+<p>»Die Ärmel sind noch nicht ganz rein«, war die ebenso gemurmelte
+Antwort.</p>
+
+<p>»Achhott, das kann ich ja gar nich verlangen!« Die ungeschickten Worte
+waren von einem so warmen Ausblick begleitet, daß sie dem Mädchen sehr
+schön vorkamen. Sie lächelte. Hartig legte die Hände auf den Rand der
+Waschbalje, hinter der sie stand.</p>
+
+<p>»Darum sind Sie nich zu Hause gewesen heute!«</p>
+
+<p>»Ach, Sie waren bei uns?«</p>
+
+<p>»Ich mußte Ihnen doch endlich 'mal — allmählich 'mal — Ihren
+Sonnenschirm wiederbringen — sechsmal bin ich all auf Ihrer Treppe
+gewesen,« — er errötete wie ein Knabe — »ich mocht' immer nich
+'reinkommen.«</p>
+
+<p>»Ach, Herr Holert!« rief Manga froh überrascht.</p>
+
+<p>Er guckte angelegentlich in die Seifenlauge.</p>
+
+<p>»Ich weiß nämlich nich, ob Sie Ihren Sonnenschirm nu so leiden mögen,«
+platzte er endlich heraus, »am Ende mögen Sie das nich!« Und als das
+Mädchen ihn fragend ansah, erhob er beschwichtigend die Hand: »Denn
+müssen Sie das nich für<span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span> ungut nehmen, denn kann das leicht geändert
+werden, — das is all zum Abschrauben.«</p>
+
+<p>»Wie?« lispelte das Mädchen. Er fuhr aus der Tür, kam mit einem
+schmalen, langen Paket zurück, drückte es Manga in die Hände und
+stürmte mit einem Seufzer davon.</p>
+
+<p>Lächelnd und zitternd riß die Kleine die Hülle herunter, — richtig, da
+war ihr Schirm, ihr Schirm mit dem weißen Griff und dem Monogramm. Aber
+was für Buchstaben waren denn das? Ein goldenes verschlungenes <em>M</em>
+und <em>H</em>? Überrascht wiederholte sie laut: »<em>M. H.</em>? <em>M.
+H.</em>?«</p>
+
+<p>Zum Fenster herein kam eine Hand, ein Päckchen darin — die andere
+Krücke.</p>
+
+<p>»Hier ist das andere — wie Sie das nu wollen«, sagte eine erstickte
+Stimme. Sie nahm es — aber sie öffnete kaum, an ihrem erglühten
+Gesichtchen erkannte er, daß sie begriffen hatte. Nun hob sie mit
+einem Schelmenblick die weiße Krücke mit dem blanken, nagelneuen
+<em>M. H.</em> zu dem Fenster empor und machte eine kleine winkende
+Bewegung. Augenblicklich war er drinnen, ihre Augen suchten sich, ihre
+Arme streckten sich einander entgegen, mit einem Laut zwischen Weh
+und Entzücken fielen sie sich hinter der Waschbalje um den Hals. Sie
+hatten sich zu lange nacheinander gesehnt, um nun nicht die Gewißheit
+stürmisch festzuhalten. Das Mädchen<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> richtete sich zuerst auf. »Nun muß
+ich aber den Rock fertig waschen.« Hartig hielt sie fest.</p>
+
+<p>»Das Beste weißt du noch nich.«</p>
+
+<p>»Doch, das Beste weiß ich!« Und sie schmiegte sich wieder an ihn.</p>
+
+<p>»Ich fahr' nich mit der ›Maria‹. Der Rock hat noch drei Tage länger
+Zeit.«</p>
+
+<p>»Ach, das Weggehn!« seufzte das Mädchen verwirrt.</p>
+
+<p>»Ich komm' wieder, Manga! Du, Kaptän Sundblad is krank, alt is er ja
+auch, ich fahr' probeweise als Kapitän der ›Holsatia‹, und man kann ja
+nicht wissen — das kann ja sein — vielleicht hab' ich Glück, daß sie
+mich ganz behalten!« Enttäuscht blickte er sie an: »Und nun freut sie
+sich nich mal, daß ihr Mann Kaptän is! Meinst, ich wär' sonst mit dem
+Monogramm angekommen?« Er rüttelte sie ein bißchen am Arm. »Wenn ich
+mit dir könnte!« sagte sie mit fließenden Tränen. Dann, als auch ihm
+die Augen naß wurden, ermannte sie sich.</p>
+
+<p>»Ich muß wohl ins Haus jetzt —« sie blickte an sich nieder — »ich
+will mich schnell umziehen.«</p>
+
+<p>»Kommst du gleich wieder? Ich zeig' dir noch was.«</p>
+
+<p>Und als sie in ihren eigenen zierlichen Sommerkleidern zum Vorschein
+kam, wies er die Stufen hinter dem Waschhause hinauf: »Da oben.«
+Neben<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> einander erklommen sie die schiefen holprigen Steinstufen, bis
+sie zu einem großen grünen verwilderten Garten anlangten, ohne andere
+Blumen, als ein paar wilde Mohnkelche, die sich im Abendwind wiegten.
+Aber an der Hecke standen große Obstbäume und in der Mitte, unter
+Obstbäumen, ein niedriges weißgraues Häuschen mit einer grünen Tür und
+grünen Fensterladen. Lebhafter aber, als der tote Anstrich schimmerte
+das moosige Schindeldach, gelbgrün und bräunlich, und gerade auf dem
+First blühten zwei Kornblumen, und Hartig faßte nach der kleinen
+rotgewaschenen Hand: »Guck, Manga, das is dein Haus. Klein und einfach,
+aber solide. Alles im Tagelohn gebaut, hat mein Vater gesagt.«</p>
+
+<p>Ein unvergleichlicher Rundblick tat sich auf. Rechts am Strande
+die grünen und roten Dächer des Dorfes, in Terrassen aufsteigend.
+Nach links, halb versteckt von den Baumkronen des Bauerschen Parks,
+das Dörfchen Mühlenberg. Vorn aber der große, still flutende,
+verkehrsreiche Strom, dunkelblau jetzt, nach Sonnenuntergang, mit
+den ziehenden Schiffen und den sternengleich leuchtenden verstreuten
+Lichtern an den vor Anker liegenden Fischerewern. In stiller
+Feierlichkeit, mit verschlungenen Armen stand das junge Paar und
+staunte hinunter und drückte sich fester die Hände.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p>
+
+<p>»Anderswo is all nich Blankenese,« sagte Hartig kopfnickend,
+nachdenklich — »das is es, darum kommen wir auch immer wieder.« — —
+— —</p>
+
+<p>Der Vater des Mädchens gab unverhofft schnell seine Einwilligung, Stine
+war so glücklich, als habe sie statt des Bruders einen Sohn verlobt,
+die Kinder bejubelten die neue Tante — nur Kapitän Tönnies zeigte
+sich äußerst verdutzt und infolgedessen bedenklich. »Der Mensch hat ja
+schon eine Braut,« rief er endlich erbost, »visitieren Sie doch sein
+Taschenbuch, das ist ja woll das wenigste, was Sie verlangen können.«</p>
+
+<p>Aber Hartig ließ sich nicht wieder aus der Fassung bringen. Er steckte
+beide Hände in die Taschen, machte eine Schelmenmiene und sagte:
+»Wokein? Ick? As ick? Ach, Tönnies, dat bün ick je gor nich west.«</p>
+
+<p>Auch Manga Dehn hatte lächelnd und zuversichtlich abgewehrt. Ein
+bißchen ernster wurde ihr Gesicht, als sie mit ihrem Verlobten allein
+war.</p>
+
+<p>»Was hat er eigentlich damals und heute mit dem Bilde gemeint?« fragte
+sie befangen.</p>
+
+<p>»O gor nix! Mußt nich so neugierig sein, Manga. Soll ich denn gar
+nichts für mich behalten?« Seine blauen Augen flimmerten. Da zog
+sich das Mädchen in eine Ecke zurück und brach in Tränen aus. Eine
+Weile ging er mit großen<span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span> Schritten hin und her und ließ sie weinen.
+Plötzlich riß er seine Brieftasche heraus, gab sie Manga und wollte die
+Stube verlassen. Aber Manga litt es nicht. Ohne das Taschenbuch weiter
+anzusehen, drängte sie es ihm wieder auf: »Bitte, sei mir nicht böse,
+ich will es gar nicht.« Mit freudiger Genugtuung nahm er sein Eigentum
+zurück.</p>
+
+<p>»Zu unserer silbernen Hochzeit sollst es haben! Das' früh genug. Was
+Unrechtes is es nich.«</p>
+
+<p>Und dabei hat sich Manga Dehn beruhigt und weiß noch heute nicht,
+wer es ist, dessen Bild ihr hartnäckiger Mann auf dem Herzen trägt.
+Es könnte sie nur <em class="gesperrt">glücklich</em> machen, wenn sie's sähe, dies
+freundliche Mädchenbild mit den hängenden Zöpfen, das Hartig Holert in
+heimlichem Übermut seiner Schwester einst aus dem Album genommen —
+aber der Kapitän zeigt's nicht — er ist eben noch nie jemandem, auch
+seiner Frau nicht, zu Füßen gefallen.</p>
+
+<hr class="full">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p>
+<div class="chapter">
+<p class="s3 p4 center"><b>Balduin Groller,</b></p>
+</div>
+<p class="s2 center">Die Tante und der Onkel.</p>
+<p class="s2 center">Eine Entlarvung.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span></p>
+
+<h2 class="nobreak">Die Tante und der Onkel.</h2>
+</div>
+
+<h3>I.</h3>
+
+<p>»Lieber Alter! Es ist hohe Zeit, vernünftig zu werden. Meine
+Examina habe ich, wie Du weißt, längst mit Glanz bestanden, auch
+die Spitalspraxis habe ich glücklich hinter mir. Nun will ich mich
+auf eigene Rechnung und Gefahr als Heilkünstler seßhaft machen,
+und nicht länger soll der großen Öffentlichkeit der Segen meiner
+ärztlichen Kunst vorenthalten bleiben. Wo läßt man sich nieder? Ich
+stimme für Gerolstein; dort bist wenigstens Du, das ist schon etwas.
+Wäre dort etwas zu machen? Erfreut Ihr Euch eines recht zahlreichen
+Krankenbestandes; gibt es erfreuliche Aussichten auf irgendwelche
+Pestilenzien, oder seid Ihr dort alle beklagenswert gesund? Es bittet
+um einige beruhigende Zeilen</p>
+
+<p class="r15">Dein alter treuer</p>
+<p class="r5">Fridolin.«</p><br>
+
+
+<p>Der »liebe Alte«, an den vorstehende Zeilen gerichtet waren, war
+ein junger Rechtsanwalt, Verteidiger in Strafsachen, <em>Dr.</em>
+Arnold Winter, der dem verbrecherischen Teile der Menschheit von
+Gerolstein seine guten<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> Dienste zur Verfügung hielt. Im Hinblick auf
+die Zukunftshoffnungen der beiden Freunde muß es aber hier schon mit
+Betrübnis ausgesprochen werden, daß im Großherzogtum Gerolstein die
+Menschen nicht nur von einer unausstehlich robusten Gesundheit waren,
+sondern daß sie sich auch einer Tugendhaftigkeit befleißigten, die
+auf die Dauer einen jungen ungeduldigen Verteidiger in Strafsachen
+unfehlbar zur Verzweiflung bringen mußte.</p>
+
+<p><em>Dr.</em> Arnold Winter setzte sich nach Empfang des Schreibens sofort
+hin, um es zu beantworten — Zeit hatte er ja. Er schrieb:</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">»Mein lieber Junge!</span><br>
+</p>
+
+<p>Als ich den Ausdruck Deiner Herzensmeinung las, daß es hohe Zeit sei,
+vernünftig zu werden, habe ich mich einer lebhaften Besorgnis nicht
+erwehren können, daß Du nun wieder einen tollen Streich vorhast.
+Die Sache war von vornherein verdächtig, und daß meine Besorgnis
+eine nur zu wohlbegründete war, das zeigte sich dann sofort, als
+Du die Absicht aussprachest, Dich in Gerolstein anzusiedeln. Wäre
+ich selbst ein vernünftiger Mensch, so müßte ich Dir folgendes
+antworten: Trinke zunächst einige Gläser Wasser, und dann verschreibe
+Dir ein beruhigendes Mittel, hierauf begib Dich freiwillig aufs
+Beobachtungszimmer. — Ich halte den Fall für keinen unheilbaren und
+hoffe noch auf eine gute Besserung.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p>
+
+<p>Da ich aber in erster Linie Dein Freund und Gesinnungsgenosse, also
+<em class="gesperrt">nicht</em> ein vernünftiger Mensch bin, so sage ich einfach: komm!
+Ich müßte ein schlechter Freund sein, wenn ich Dir bei einem dummen
+Streiche meine schätzbare Mithilfe versagen wollte. Auch bei mir ist
+der Wunsch der Vater des Gedankens; ich möchte Dich bei mir haben.
+<em>Solamen miseris socios habuisse malorum.</em> Ich weiß, man kann
+statt <em>miseris</em> auch <em>miserum</em> sagen; Du siehst also, ich
+bin ein gemeldeter Binsch. Letzteres soll ein Witz sein und eigentlich
+›gebildeter Mensch‹ heißen. Du rümpfst die Nase und findest den
+Witz etwas mäßig, aber ich versichere Dich, für unsere Gerolsteiner
+Verhältnisse ist er gerade großartig genug.</p>
+
+<p>Ich werde Dich also hier haben, und ›das freut dem Schwerte sehr‹ —
+das Schwert bin ich. Vor gar zu argen Enttäuschungen möchte ich Dich
+aber doch bewahrt wissen. Der allgemeine Gesundheitszustand ist ein von
+Deinem Standpunkte aus überaus beklagenswerter und wenn nicht von Zeit
+zu Zeit ein paar <em class="gesperrt">Ärzte</em> Hungers stürben, so käme die Statistik
+gar nicht zu ihrem Recht, die mit Fug beanspruchen darf, daß auch das
+Großherzogtum Gerolstein sein Kontingent zur allgemeinen Sterblichkeit
+stelle.</p>
+
+<p>Wir sind aber unserer so wenige der getreuen Untertanen unseres
+erlauchten Herrscherhauses, daß es höchst unpatriotisch von uns wäre,
+wegzusterben<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> wie die Fliegen. Das tun wir nicht; und das darfst
+auch Du uns nicht verargen; denn mit ganz toten Gerolsteinern ist
+auch Dir nicht gedient. Ganz und gar aussichtslos ist die Sache doch
+nicht für Dich, nur muß sie richtig in die Hand genommen werden. Wir
+müssen uns von vornherein auf den Standpunkt stellen, das Du die
+Gerolsteiner nicht brauchst, sondern daß sie sich eine Ehre daraus zu
+machen haben, wenn Du die Gewogenheit hast, ihnen ein Purgiermittel zu
+verschreiben. Du bist jung und hast die Mittel, mit einem gediegenen
+Glanz aufzutreten, dann mit einem gewissen Glanz zuzuwarten, und das
+heißt nichts anderes, als sich mit einem gewissen Glanz den Anschein
+geben, als hätte man furchtbar viel zu tun. Es gibt gewisse kleine
+Vorbedingungen — dann geht alles. Jung muß man sein, schön muß man
+sehn, und Glück muß man haben. Jung bist Du; die Schönheit — nun, wir
+wollen nicht streiten, sagen wir also: so so! — aber Glück hast Du
+entschieden, denn Du bist vollständig unvermählt. Dir zuliebe werden
+also die töchtergesegneten Mütter Gerolsteins zwar auch krank werden
+und mit Vergnügen auch ihre Männer und Kinder krank machen. Es sind
+sogar künstlich erzeugte Epidemien nicht ganz ausgeschlossen.</p>
+
+<p><em>Quae cum ita sint</em> — komm, siehe, siege! Du siehst, ich bin Dein
+würdiger Freund, und es fehlt<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> mir nicht an Argumenten, eine große
+Dummheit, die Du vorhast, zu beschönigen. Ich mache mich sogar auf
+weitere und größere Dummheiten gefaßt, wenn Du einmal hier sein wirst,
+und erkläre jetzt schon meine freundschaftliche Bereitwilligkeit, Dir
+wacker zur Seite stehen und tapfer mittun zu wollen. Solltest Du es zu
+arg treiben, so weißt Du, daß ich Verteidiger in Strafsachen bin, und
+kennst meine Adresse. Ich garantiere Dir eine Verteidigungsrede vor dem
+Schöffengericht, die Dir einen hohen künstlerischen Genuß bereiten soll.</p>
+
+<p><em>Ad vocem</em> Verteidiger in Strafsachen! Du hast mich gar nicht
+gefragt, wie's mir geht. Oh, mein Freund! Wenn ein Verteidiger in
+Strafsachen so lange und so schöne Briefe schreibt!! Glaubst Du, daß
+sich hier die Leute zu einem halbwegs anständigen Meuchelmord aufraffen
+können oder wenigstens zu einem reputierlichen Totschlag unter
+erschwerenden Umständen? Keine Idee! Unsere Gauner bringen unsere ganze
+Rechtswissenschaft in Mißkredit, und mein großartiges Talent ist in
+Gefahr, zu verkümmern. Haben die Römer die Rechtswissenschaft darum auf
+eine so hohe Stufe gebracht, haben Savigny, Mittermayer, Glaser, Unger,
+Ihering darum gelehrt und gewirkt, daß ich mich, wenn's hoch kommt, mit
+einer nächtlichen Ruhestörung, mit einer in der Hitze des häuslichen
+Gefechtes von der<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> Hausfrau in ihrer Ehre gekränkten Köchin oder mit
+einem Schafskopf, der ein Taschentuch zieht, wo er eine eiserne Kasse
+erbrechen könnte, herumschlagen muß? Ich sage Dir, mein Junge, ich habe
+massenhaft Zeit, und wenn ein Verteidiger in Strafsachen so viel Zeit
+hat, so sollte er sich eigentlich aufhängen, oder er muß seine Zuflucht
+dazu nehmen, sehr lange und sehr geistreiche Briefe zu schreiben. Ich
+habe mich, wie Du siehst, zu letzterem entschlossen.</p>
+
+<p>Noch ein Argument für die Dummheit, an welcher ich mich nun mitschuldig
+mache: Du kommst aus der Reichshauptstadt. Das wird den guten
+Gerolsteinern riesig imponieren. Mehr weiß ich mit dem besten Willen
+zugunsten Deiner Absichten und meiner Wünsche nicht vorzubringen. Also
+die Erfolge warten auf Dich: Komm und hole sie!</p>
+
+<p class="r15">Dein schiefgewickelter Freund</p>
+
+<p class="r5">Arnold.«</p><br>
+
+<p>Zwei Tage später erhielt Arnold folgende Karte:</p>
+
+<p>»! Jeder Mensch hat das Recht, einmal im Leben einen entscheidenden
+dummen Streich zu begehen. Es ist beschlossene Sache, ich komme nach
+Gerolstein. Nächste Woche wird gestartet.</p>
+
+<p class="r5">Dein F.«</p><br>
+
+<p>Die umgehende Antwort lautete:</p>
+
+<p>»!! Gewiß hat jeder Mensch gewisse Rechte, aber es gibt gewisse
+Menschen, die von ihren Rechten<span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span> einen unbescheidenen Gebrauch zu
+machen pflegen. Versuche doch nicht, mir einzureden, daß es bei dieser
+<em class="gesperrt">einen</em> großen Dummheit sein Bewenden haben werde. Man kommt nicht
+ohne Grund nach Gerolstein, um sich da seßhaft zu machen. Da steckt
+etwas dahinter, und ich sehe in der zukünftigen Zeiten Schoße noch
+weitere pyramidale Dummheiten schlummern. Je ärger, desto besser; wofür
+wäre ich sonst</p>
+
+<p class="r5">Dein Freund A.«</p><br>
+
+<p>Darauf kam noch eine Erwiderung:</p>
+
+<p>»Es ist doch gut, daß Du Dich nicht aufgehängt hast. Wäre schade
+gewesen! Deine Vermutungen zeigen, daß Du ein brauchbarer Kriminalist
+zu sein scheinst. Dein Verdacht ist vollkommen begründet; es steckt
+wirklich etwas dahinter. Was kann das sein, Du großer Kriminalist?</p>
+
+<p class="r15">Auf Wiedersehen!</p>
+
+<p class="r5">Dein F.«</p><br>
+
+<p>Abgeschlossen wurde dieser Briefwechsel durch folgende Zeilen:</p>
+
+<p>»Ich weiß genug. Wenn sie nur wenigstens schön ist. Diskreten Rat und
+Hilfe sollst Du bei mir finden. Die mildernden Umstände willst Du mir
+wohl mündlich auseinandersetzen.</p>
+
+<p class="r15">Ich drücke dich an meinen Busen!</p>
+<p class="r5">Dein A.«</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop"><div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span></p>
+
+<h3>II.</h3>
+</div>
+
+<p><em>Cherchez la femme!</em> hatte sich Arnold gedacht, als er, nach
+den Motiven für einen hervorragend dummen Streich forschend, zu dem
+Schlusse kam: Da steckt etwas dahinter, und das war so gekommen:</p>
+
+<p><em>Dr.</em> Friedrich Bruckner — von seinen Freunden immer nur Fridolin
+genannt — hatte seine Zeit als Sekundar-Arzt im städtischen Hospital
+abgedient, und aus Freude darüber bewilligte er nun sich selbst einen
+Urlaub. Man war im Hochsommer, das Wetter war schön, und alles war dem
+Unternehmen günstig. Das Unternehmen aber sollte in einem achttägigen
+großen Nichtstun bestehen. Fridolin — wir zählen zu seinen Freunden
+und haben das Recht, ihn so zu nennen, — Fridolin hatte sich für eine
+Reise in die Sächsische Schweiz entschlossen.</p>
+
+<p>Er war allein ausgezogen, hatte die Bastei »bestiegen« und den
+Lilienstein, hatte sich persönlich von der Uneinnehmbarkeit der Festung
+Königstein und von der Tiefe des Festungsbrunnens überzeugt und hatte
+aus wissenschaftlichem Interesse sogar das große Irrenhaus besucht,
+das dort irgendwo bei Pirna auf oder an dem Sonnenstein liegt. Dort
+irgendwo herum muß es liegen; ich habe es selbst gesehen, es ist nur
+schon ein bißchen lange her.</p>
+
+<p>Die Nachmittagssonne brannte heiß hernieder; ein Interesse, scharf
+auszuschreiten, hatte er nicht;<span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span> denn die Sächsische Schweiz gefiel ihm
+ganz gut, und er war nicht sicher, ob er sie nicht durch einen scharfen
+Marsch sehr bald hinter sich haben würde; so gab er denn gern einem
+Ruhebedürfnis nach, als er ein verlockendes Plätzchen entdeckte, wo es
+sich voraussichtlich gut ruhen ließ. Es war ein winziger Rasenfleck,
+von Haselstauden umgeben, die genügenden Schatten boten. Das Plätzchen
+lag in einer Vertiefung ganz in der Nähe der wohlgepflegten Bergstraße,
+die aber von Buschwerk an der Seite bestanden und so von Fridolins
+Ruhestätte aus für das Auge verdeckt war. Ebenso war sein stilles
+Versteck in der Tiefe neben der Straße von dieser selbst aus nicht zu
+erblicken.</p>
+
+<p>Da lag er nun auf dem Rücken im Grase, blickte zum wolkenlosen
+Himmel empor und machte sich im übrigen ganz vernünftige Gedanken.
+Er überlegte, wie und wo er nun seine ärztliche Praxis beginnen und
+sich auf die eigenen Füße stellen solle. In der Hauptstadt gab es
+Ärzte genug, und er hatte verhältnismäßig wenig Bekanntschaften. Sehr
+verlockend waren da die Aussichten nicht. Sollte er irgendwo aufs Land
+ziehen oder Badearzt werden? Beides hatte vieles für und noch mehr
+gegen sich.</p>
+
+<p>Während er so nachsann, begab sich etwas Sonderbares und Unerwartetes:
+in den Sträuchern ihm zu Häupten raschelte es plötzlich, und im
+nächsten<span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span> Augenblicke fiel oder sprang etwas mit voller Wucht auf ihn
+herab, was sich bei näherer Besichtigung als eine junge Dame entpuppte.
+Der Anprall, den Fridolin auszuhalten hatte, war kein sehr sanfter, und
+so klang denn auch seine Stimme nicht sehr freundlich, als er ausrief:</p>
+
+<p>»Erlauben Sie, mein Fräulein, man springt doch nicht den Leuten so auf
+die Bäuche!«</p>
+
+<p>Die junge Dame war neben ihm ins Gras gesunken und blickte mit dem
+Ausdruck der Todesangst und des Entsetzens auf ihn.</p>
+
+<p>»Um Gottes willen!« rief sie atemlos. »Ich bitte um — schützen Sie —
+ach, ich kann nicht mehr!« Dann schloß sie die Augen, und ihr Kopf sank
+ins Gras; sie war ohnmächtig.</p>
+
+<p>Fridolin erhob sich rasch und bettete sie bequem auf jene Stelle, wo
+er selbst gelegen; dann warf er einen Blick hinauf, ob da noch ein
+weiterer Segen von oben nachfolgen werde, und wandte sich nun, als
+alles still blieb, der Ohnmächtigen zu. Das Unerwartete der Lage und
+ihre Abenteuerlichkeit beschäftigte ihn zunächst gar nicht, er fühlte
+sich in diesem Augenblicke nur als Arzt. In weniger als einer Minute
+hatte er die Bewußtlose wieder zu sich gebracht.</p>
+
+<p>»So, mein Fräulein«, sprach er sie an, als sie die Augen aufschlug.
+»Jetzt nehmen Sie ein Tröpfchen<span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span> Kognak aus meiner Feldflasche. So
+ist's gut! Und nun machen Sie es sich so bequem als es nur geht.«</p>
+
+<p>»Ich danke, mir ist jetzt schon wieder ganz wohl«, erwiderte die junge
+Dame mit matter Stimme.</p>
+
+<p>»Sie sehen mich doch noch immer an wie ein abgestochenes Hühnchen, mein
+Fräulein. Lockern Sie nur ruhig am Kleid, was Sie noch lockern können
+— ich bin Arzt. Einen Knopf am Halse da habe ich Ihnen ohnedies schon
+abgerissen.«</p>
+
+<p>»Es ist wirklich nicht mehr nötig; es wird mir schon besser. Ich war
+nur so fürchterlich erschrocken.«</p>
+
+<p>»Nun, Gott sei Dank,« sagte Fridolin beruhigend, »jetzt kehrt schon die
+Farbe wieder. Wer wird denn auch gleich so erschrecken! Haben Sie mich
+denn für einen Mörder gehalten?«</p>
+
+<p>»Es war nicht nur das, obschon ich auch darüber zu Tode erschrocken
+bin, sondern was vorhergegangen ist — es war entsetzlich!«</p>
+
+<p>»Beruhigen Sie sich nur, Fräulein«, sagte Fridolin lächelnd. »In
+der Sächsischen Schweiz wandelt man doch etwas sicherer, als in den
+Abruzzen. Es gibt hier wirklich keine Räuber und Mörder, und jetzt bin
+endlich auch ich da, — mein Name ist <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner —
+und mein starker Arm wird Sie vor allen weiteren Gefahren beschützen.
+Es scheint aber, daß mein Heldenmut und meine besten Absichten, für Sie
+zu sterben, vollkommen überflüssig<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> sind. Denn ich sehe — leider! —
+keine Gefahren; es rührt sich nichts weit und breit.«</p>
+
+<p>»Ich heiße Käthe Selters«, erwiderte die junge Dame, zunächst Fridolins
+Vorstellung beantwortend; dann fuhr sie ängstlich fort: »Hören Sie
+wirklich nichts? Ach, ich habe eine solche Angst ausgestanden! Ich weiß
+nicht, soll ich Ihnen erst danken oder erst um Entschuldigung bitten —
+ich bin ganz verwirrt. Vor allem aber: wo ist meine Tante; was ist aus
+meiner Tante geworden?«</p>
+
+<p>»Eine Tante haben Sie auch? Da wollen wir doch gleich nach der Tante
+sehen!« Fridolin kroch die Böschung zur Straße hinauf und ließ seine
+Blicke nach allen Richtungen hin schweifen.</p>
+
+<p>»Fräulein Käthe!« rief er hinunter. »Es ist weit und breit weder eine
+Tante noch sonst irgendein Menschenskind zu sehen.«</p>
+
+<p>Käthe wollte sich darauf rasch erheben, aber Fridolin, der mit einem
+Sprunge wieder bei ihr war, verhinderte das.</p>
+
+<p>»Sie dürfen jetzt nicht aufstehen, Fräulein Käthe«, dekretierte er.
+»Ihr kleiner Ohnmachtsanfall hat nicht viel zu bedeuten, aber jetzt
+müssen Sie doch ein Viertelstündchen ruhig sitzen bleiben. Wenn Sie
+sich jetzt gleich wieder gewaltsam aufraffen, dann werden sich sehr
+heftige Kopfschmerzen einstellen, die Sie heute den ganzen Tag und
+vielleicht auch noch<span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span> morgen quälen werden, während die Sache ganz
+bedeutungslos und ohne Nachwirkung bleiben wird, wenn Sie sich jetzt
+genügend ausruhen.«</p>
+
+<p>»Aber meine Tante —.«</p>
+
+<p>»Ihre Tante ist gewiß eine ausgezeichnete Dame und wird nicht wollen,
+daß Sie sich krank machen.«</p>
+
+<p>»Es könnte ihr aber etwas geschehen sein!«</p>
+
+<p>»Tanten geschieht gewöhnlich nichts; ich weiß das.« Käthe mußte lachen
+über den mit solcher Sicherheit vorgebrachten Erfahrungssatz. So gern
+sie nun auch gleich wieder aufgebrochen wäre, so taten ihr doch die
+Ruhe und das Gefühl der Sicherheit nach dem Schrecken so wohl, daß sie
+sich bestimmen ließ, noch ein Weilchen sitzen zu bleiben.</p>
+
+<p>»Dazu kommt noch,« fuhr Fridolin fort, »daß ich Ihnen einfach befehle,
+sich vor allen Dingen erst ein bißchen zu erholen, ehe wir wieder
+aufbrechen. Ich bin Arzt, und in gewissen Fällen hat der Arzt mehr zu
+befehlen als der Kaiser. Einen solchen Fall haben wir hier, also: schön
+sitzen geblieben! Wollen Sie noch einen Schluck Kognak?«</p>
+
+<p>»Nein, ich danke. Mir ist jetzt wirklich schon ganz gut.«</p>
+
+<p>»Das sehe ich. Ihr Aussehen — alle Achtung, Fräulein Käthe! Als Arzt
+kann ich nur noch ein geringes Interesse für Sie aufbringen, aber zum
+Glück ist man nicht nur Arzt — <em>homo sum</em>!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span></p>
+
+<p>»So heißt ein Roman von Ebers.«</p>
+
+<p>»Allen Respekt vor Ihrer Literaturkenntnis, Fräulein Käthe, aber mein
+Roman hier ist mir lieber!«</p>
+
+<p>»Wenn nur die Tante —«</p>
+
+<p>»Ja, die Tanten! Ich kann der Tante nicht helfen, weil ich jetzt Sie
+retten muß. Jetzt verlange ich nur noch zehn Minuten Aufenthalt. Man
+kann doch nicht bescheidener sein. Jetzt erzählen Sie, aber ruhig und
+ohne sich aufzuregen, was Sie eigentlich so in Schrecken versetzt hat.«</p>
+
+<p>»Ach, es war schrecklich, und den ganzen Ausflug hat es uns verdorben.
+Wir wollten uns die Festung Königstein ansehen. Sie wissen, daß sie
+sehr merkwürdig ist. Sie ist nämlich uneinnehmbar —«</p>
+
+<p>»Jawohl, und hat einen sehr tiefen Brunnen.«</p>
+
+<p>»Richtig; und ein Fenster hat sie auch —«</p>
+
+<p>»Allerdings ein Fenster, bei welchem August der Starke zwei Trompeter
+mit je einer Hand über den Abgrund hinausgehalten hat.«</p>
+
+<p>»Und dann die Geschichte mit den silbernen Kanonenkugeln!«</p>
+
+<p>»Die kenne ich noch nicht«, gestand Fridolin beschämt.</p>
+
+<p>»Die war so — ach Gott, wenn nur die Tante —!«</p>
+
+<p>»Die Geschichte von den silbernen Kanonenkugeln will ich wissen!«</p>
+
+<p>»Als Napoleon I. die Festung Königstein beschie<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> ßen wollte, da trugen
+die Kanonen nicht bis hinauf zur Festung. Da dachte sich Napoleon, daß
+es vielleicht mit silbernen Kanonenkugeln besser gehen werde, und er
+ließ silberne Kanonenkugeln gießen, aber die flogen auch nicht so weit,
+sondern fielen alle in die Elbe, wo sie jetzt noch liegen.«</p>
+
+<p>»Das ist ja eine ungemein belehrende Geschichte; ist sie auch wahr?«</p>
+
+<p>»Unser Führer aus Schandau hat sie uns erzählt.«</p>
+
+<p>»Er persönlich? Dann wird sie wohl wahr sein. Nun und weiter?«</p>
+
+<p>»Wie wir nun den Weg hinaufgingen, die Tante und ich, — ach, du meine
+Güte, da fällt mir wieder die Tante ein!«</p>
+
+<p>»Jetzt hübsch bei der Stange geblieben! — Was geschah da?«</p>
+
+<p>»Da hörten wir von weitem schon ein unaufhörliches, entsetzenerregendes
+Geschrei. Die Tante meinte, daß da wahrscheinlich ein Wahnsinniger
+transportiert werde, denn es gäbe hier in der Nähe ein großes
+Irrenhaus. Wir waren sehr erschrocken und wußten uns nicht zu helfen,
+denn das markerschütternde Geschrei kam immer näher. Zurücklaufen
+konnten wir nicht, denn der Wagen, in welchem der Irrsinnige gebracht
+wurde, war schon sichtbar, und er hätte uns sicher eingeholt, und so
+mußten wir dem Wagen entgegengehen, um ihn an<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> uns vorüberziehen zu
+lassen. Wir zitterten beide, und die Tante war ganz blaß. Da, als der
+Wagen in unsere Nähe kam, da entsprang der Wahnsinnige plötzlich seinen
+Wärtern und lief auf uns zu. Weiter weiß ich eigentlich nichts mehr.
+Ich hörte noch die Tante aufschreien, und dann lief ich, was ich laufen
+konnte, — wie weit und wie lang, das weiß ich nicht — und ich kam
+erst zu mir, als ich hier neben Ihnen im Grase lag.«</p>
+
+<p>»Der Himmel meint es gnädig mit mir,« sagte Fridolin, »er läßt mir die
+Patientinnen in den Schoß fallen.«</p>
+
+<p>»Ach, ich bin so glücklich, daß Sie da sind, Herr Doktor!« erklärte
+Käthe treuherzig. »Vollenden Sie Ihr gutes Werk und helfen Sie mir
+jetzt die Tante suchen.«</p>
+
+<p>»Ihr Aussehen zeigt mir, Fräulein Käthe, daß meine ärztliche Mission
+beendet ist. Lassen Sie sich den Vorfall nicht zu nahe gehen und —
+jetzt wollen wir die Tante suchen!«</p>
+
+<p>Das Aussehen Käthes! Fridolin hatte sich jetzt erst volle Rechenschaft
+darüber gegeben. So jung er war, so hatte er sich doch schon ganz in
+die richtige ärztliche Anschauungsweise eingelebt, und er sah, wo
+seine Hilfe in Anspruch genommen wurde, immer nur mit dem Auge des
+Arztes, der im Dienste selbst ästhetischen oder sonstigen subjektiven
+Regun<span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span> gen sehr wenig zugänglich ist. Jetzt aber, da der schwierige
+medizinische Fall als vollkommen abgetan und erledigt anzusehen war,
+drang es ihm doch ins Bewußtsein, was das für ein gottbegnadetes,
+liebliches Geschöpf sei, das ihm da der Himmel von oben herab gesandt
+hatte.</p>
+
+<p>Er war sich früher nie recht klar darüber geworden, ob seine
+Schwärmerei für Blond größer sei oder für Schwarz. Er selbst hatte
+einen kastanienbraunen Vollbart und kastanienbraunes Haar und wußte
+nur das eine, daß er sich für seine Person niemals in eine Dame mit
+kastanienbraunem Haar verlieben könnte, aber ob Blond für ihn die
+richtige Komplementärfarbe sei oder Schwarz, darüber hatte er zu
+keiner Entscheidung gelangen können. Nun war ihm plötzlich ein Licht
+aufgegangen, und das gleich in voller Glorie. Er begriff nicht, wie
+es da überhaupt ein Schwanken habe geben können. Blond allein ist das
+Richtige, und Schwarz ist vollkommen überflüssig auf der Welt. Aber
+auch Blond an sich tat es nicht; es gehörten die herrliche, anmutvolle
+Gestalt Käthes, ihre lieben, guten, blauen Augen, ihre blühende
+Gesichtsfarbe und der süße Mund dazu.</p>
+
+<p>Mit einem Male war es ihm ungeheuer klar geworden, daß er ein
+unglaublicher Esel gewesen sei, wenn er in diesem Punkte habe
+schwanken<span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span> können. Er hatte nur die eine Entschuldigung für sich, daß
+er es nicht besser gewußt habe; jetzt aber wußte er es.</p>
+
+<p>Sie machten sich jetzt also auf, die Tante zu suchen. Die Sächsische
+Schweiz ist nicht groß, aber deshalb ist es doch keine so einfache
+Sache, in ihr Tanten zu suchen. Straße auf und Straße ab war nichts
+zu sehen, und Käthe vermochte durchaus nicht anzugeben, nach welcher
+Richtung die Tante wohl gelaufen sein konnte. Man mußte also
+kombinieren.</p>
+
+<p>Eine Kavallerieabteilung, meinte Fridolin, würde sowohl beim Angriff
+wie auf der Flucht, wenn sie die freie Wahl hat, lieber bergauf als
+bergab dahinstürmen; man hat aber keinen Grund, dasselbe auch von
+fliehenden Tanten vorauszusetzen. Man muß im Gegenteil eher annehmen,
+daß eine in die Flucht geschlagene Tante sich lieber bergabwärts wenden
+wird.</p>
+
+<p>Käthe konnte gegen diese Annahme keine stichhaltigen Argumente
+vorbringen, und so schritten denn die beiden zu Tale, immer scharf
+auslugend, ob sie die Verlorene nicht erspähen könnten; aber die
+Bemühungen blieben erfolglos. Fridolin tat noch ein übriges und ließ,
+so laut er nur konnte, seine schöne Stimme erschallen, aber es war
+immer nur das den Reisenden der Sächsischen Schweiz nicht einmal
+separat aufgerechnete Echo, das seine<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> zärtlichen Rufe »Tante, teuerste
+Tante!« beantwortete.</p>
+
+<p>Einmal, wo der Weg sich gabelte, da zeigte sich zur Linken in der
+Ferne, wie Käthe wahrnahm, etwas, was ganz gut eine Tante hätte
+sein können, aber — der Genius der Menschheit wird ersucht, hier
+sein Antlitz zu verhüllen, — Fridolin erklärte dagegen auf das
+bestimmteste, daß zur <em class="gesperrt">Rechten</em> etwas durch die Zweige geschimmert
+habe, was ganz und gar einen tantenmäßigen Charakter gehabt habe.
+Die Menschen sind schlecht. Was Fridolin gesehen hatte, das war ein
+Omnibus, aber keine Tante, und Fridolin, der Ruchlose, hatte es in
+Wahrheit überhaupt nicht sehr dringend mit der Auffindung der Tante.</p>
+
+<p>So sind die Männer! Und so ist die Welt!</p>
+
+<p>Als man dann endlich nach einem längeren Dauerlauf darauf gekommen
+war, was die Weisen aller Zeiten schon wußten, daß zwischen einer
+Tante und einem Omnibus ein großer Unterschied ist, da war Fridolin
+sofort dienstfertigst bereit, umzukehren und auf dem anderen Wege der
+von Käthe angedeuteten Spur nachzugehen. Er glaubte, das beruhigt tun
+zu können; denn inzwischen war viel Zeit vergangen, und er taxierte
+die Schnelligkeit einer fliehenden Tante ziemlich hoch. Es war alles
+in allem ziemlich unwahrscheinlich geworden, daß sie noch ein<span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span> geholt
+werden könnte. Dabei tat Fridolin doch immer ungeheuer eifrig im
+Suchen, und er verfehlte nicht, jedes sächsische Bäuerlein, das ihnen
+begegnete — es verschlug ihm auch nichts, wenn es gerade eine Bäuerin,
+alt oder jung, oder sonst ein Menschenskind war —, zu fragen, ob sie
+keine Tante gesehen hätten. Käthe schämte sich dann immer furchtbar und
+bat ihn schließlich, diese Nachforschungen freundlichst einstellen zu
+wollen.</p>
+
+<p>So dämmerte der Abend heran, und die Tante war noch immer nicht
+gefunden. Käthe war dem Weinen näher als dem Lachen, aber Fridolin
+tröstete sie tapfer, und er konnte es leicht tun; denn er war
+bei weitem nicht so wehmütig gestimmt wie sie. Sie waren von dem
+langen Suchen müde und hungrig geworden, und so konnte Käthe
+nichts Ernstliches dawider haben, als Fridolin vorschlug, in einer
+freundlichen Gastwirtschaft an der Elbe, die jetzt in Sicht war, das
+wohlverdiente Abendbrot einzunehmen. Dabei könne man ja ganz gut
+beraten, was nun weiter zu geschehen habe.</p>
+
+<p>»Das sage ich aber gleich,« erwiderte Käthe auf diesen Vorschlag, »ich
+habe nicht einen Pfennig bei mir!«</p>
+
+<p>»Das tut nichts; dann werde eben nur ich gut essen und trinken, und Sie
+werden mir zusehen!«</p>
+
+<p>Käthe sah ihren Begleiter an. »Etwas werden<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> Sie mir aber doch auch
+geben«, sagte sie schüchtern. »Ich bin sehr hungrig und sehr durstig!«</p>
+
+<p>»Wenn Sie brav sind, dürfen Sie schon mithalten, Fräulein Käthe.«</p>
+
+<p>»Die Tante wird Ihnen dann schon alles —«</p>
+
+<p>»Jetzt lassen Sie mir endlich die Tante aus dem Spiel! Wir werden
+zusammen essen, und bei dieser Gelegenheit werde ich gleich Erfahrungen
+darüber sammeln, was es heißt, eine Frau ernähren!«</p>
+
+<p>Fridolin hatte lauter gute Sachen bestellt, und sie waren auch gut, und
+die Flasche Moselblümchen, die sie zu ihrem herrlichen Mahle tranken,
+mundete ihnen auch ganz ausgezeichnet. Sie saßen an einem Tische im
+Freien unter einer Linde und hatten freien Ausblick auf die Elbe.</p>
+
+<p>»Schön ist's da!« rief Käthe, die in voller Lebensfreudigkeit auf
+einige Minuten all ihre Sorge samt der Tante vergessen hatte. »Gefällt
+Ihnen die Sächsische Schweiz auch so gut?«</p>
+
+<p>»Oh, auf die Sächsische Schweiz lasse ich nichts kommen! Sie ist
+klein, aber so nett und reinlich! Sie nimmt, immer innerhalb ihres
+Taschenformates, so kühne und so romantische Anläufe. Wenn man ihre
+gewagten Formationen ansieht, möchte man immer die <em>p. t.</em>
+Reisenden ersuchen, nichts von der Sächsischen Schweiz abzubrechen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span></p>
+
+<p>»Sie schneiden wenigstens nicht auf,« sagte Käthe lachend, »Sie
+schneiden herunter!«</p>
+
+<p>Fridolin erklärte: »Wenn ich bei der Regierung etwas dreinzureden
+hätte, so würde ich ein großes Etui machen lassen, und damit die
+Sächsische Schweiz jeden Abend sorglich zudecken lassen, daß ihr in der
+Nacht nichts geschieht.«</p>
+
+<p>»Und den Mond würden Sie wahrscheinlich frisch versilbern lassen«,
+meinte Käthe, auf den gerade mit voller roter Scheibe am Horizont
+aufsteigenden Mond deutend.</p>
+
+<p>»Nein, der ist echt und dauerhaft genug versilbert, Fräulein Käthe.
+Warten Sie nur noch ein Viertelstündchen, und Sie werden sehen, was für
+prächtigen silbernen Schein er auf die Elbe werfen wird.«</p>
+
+<p>Jetzt, da vom Mond gesprochen wurde, fiel Käthe ihre Lage wieder aufs
+Herz.</p>
+
+<p>»Um des Himmels willen!« rief sie, »die Nacht bricht heran, und ich
+weiß nicht, was mit mir geschehen soll.«</p>
+
+<p>»Das müssen wir eben jetzt vernünftig überlegen. Denn daß wir die Tante
+heute noch finden, das glaube ich nun selber nicht mehr.«</p>
+
+<p>»Glauben Sie wirklich?«</p>
+
+<p>»Ich möchte sagen, ich <em class="gesperrt">weiß</em> es. Um diese Zeit werden Tanten
+nicht mehr gefunden.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p>
+
+<p>»Was soll ich nun aber tun?« sagte das junge Mädchen verzweifelt.</p>
+
+<p>»Vor allen Dingen nicht weinen! Bin ich denn nicht da?«</p>
+
+<p>»Das ist ja nur um so schlimmer!«</p>
+
+<p>»Ah, um so schlimmer? Das wußte ich nicht. Dann habe ich die Ehre, mich
+höflichst zu empfehlen!«</p>
+
+<p>»Aber, Herr Doktor, so bleiben Sie doch sitzen! Mein Gott!«</p>
+
+<p>»Sie haben mich beleidigt; ich gehe!«</p>
+
+<p>»Ich habe Sie nicht beleidigt; ich bin Ihnen ja so zu Dank
+verpflichtet! Sehen Sie denn nicht ein —«</p>
+
+<p>»Ich sehe alles ein, wenn Sie mir versprechen, nicht wieder so ein
+desperates Gesicht zu machen, wie eben jetzt. Wir müssen jetzt ins
+klare kommen, was wir mit Ihnen anfangen, und wo wir Sie unterbringen
+sollen. Stellen wir einmal den Tatbestand fest: Sie kamen mit Ihrer
+Tante aus Dresden. Wir fahren nach Dresden zurück, und ich bringe Sie
+heim. Sie sehen, das Unglück ist nicht gar so groß!«</p>
+
+<p>»Ich habe ja gar kein Heim in Dresden! Ich war in Dresden in einem
+Pensionat, und da ich diesem nun entwachsen war, ist die Tante
+gekommen, mich herauszunehmen«, erklärte das junge Mädchen.</p>
+
+<p>»Wo ist sie denn hergekommen, die Tante?«</p>
+
+<p>»Aus Gerolstein; wir sind Gerolsteiner. Warum<span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span> verbeugen Sie sich denn?
+Da ist doch nichts so Großes dabei!«</p>
+
+<p>»Alle Achtung vor Gerolstein! Weiter; Sie könnten doch auf einen Tag
+zurück in die Pension?«</p>
+
+<p>»Das geht nicht; die Ferien haben begonnen, das Pensionat ist
+zugesperrt.«</p>
+
+<p>»Die Sache wird kritisch. Wo hat denn Ihre Tante residiert, als sie Sie
+abholte?«</p>
+
+<p>»In einem Hotel; ich glaube, es hieß ›Zum Kronprinzen‹.«</p>
+
+<p>»Und wohin wollten Sie jetzt, nach genossener Sächsischer Schweiz;
+zurück nach Gerolstein?«</p>
+
+<p>»Oh, bewahre! Da wollten wir nach Wien, dann nach Salzburg, nach
+Tirol, dann in die wirkliche Schweiz, darauf nach Paris und London und
+schließlich über Holland und die Rheinstädte zurück nach Gerolstein.«</p>
+
+<p>»Es ist nicht wenig, was Sie da vorhaben! Und da irgendwohin soll ich
+Sie nun bringen: nach Tirol, nach London oder nach Holland? Die Sache
+ist nicht so einfach!«</p>
+
+<p>Käthe bot das Bild der vollsten Ratlosigkeit; unschlüssig sah sie zu
+ihrem Gefährten auf, und dabei schossen ihr die Tränen in die Augen.</p>
+
+<p>»Nicht weinen, Fräulein Käthe!« rief Fridolin verweisend, »sonst gehe
+ich sofort auf und davon!<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> Untersuchen wir weiter: Wo hatten Sie hier
+in der Sächsischen Schweiz Station gemacht?«</p>
+
+<p>»Nirgends; wir sind heute früh von Dresden abgefahren, und wir wollten
+heute in der Sächsischen Schweiz übernachten.«</p>
+
+<p>»Sie wissen nicht, wo?«</p>
+
+<p>»Nein. Die Tante war die Reisemarschallin; sie hatte alles bestimmt,
+und ich hatte nach nichts gefragt.«</p>
+
+<p>»Ihr Gepäck ist inzwischen nach Wien vorausgeschickt worden?«</p>
+
+<p>»Jawohl!«</p>
+
+<p>»Sie wissen aber nicht, an welches Hotel?«</p>
+
+<p>»Ich weiß es nicht! Ich war so kindisch, mich um gar nichts zu kümmern;
+ich habe mich von der Tante einfach mitnehmen lassen.«</p>
+
+<p>Fridolin überlegte; er wußte in der Tat nicht, was nun geschehen sollte.</p>
+
+<p>»Wenn man nur«, nahm er nach einer Weile wieder das Wort, »das
+Vergnügen hätte, die Frau Tante zu kennen, dann könnte man auf Grund
+der Kenntnis ihrer Charakteranlage vielleicht auf eine richtige
+Vermutung kommen, was <em class="gesperrt">sie</em> nun wohl anfangen wird. Was glauben
+Sie, Fräulein Käthe, daß die Tante jetzt tun wird?«</p>
+
+<p>»Ängstigen wird sie sich!«</p>
+
+<p>»Das dürfte richtig sein, aber diese Vermutung<span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span> wird nicht ausreichen,
+uns auf ihre Spur zu leiten. Überlegen wir: Sie kann verschiedenes tun.
+Die Sächsische Schweiz noch weiterhin zu besichtigen, dazu dürfte ihr
+die Lust vergangen sein. Sie könnte also die Reise fortsetzen und nach
+Wien fahren, in der Hoffnung, daß Sie nachkommen würden. Das hätte ja
+etwas für sich. Wenn man aber bedenkt, daß Sie vollständig mittellos
+und dann auch im unklaren über das eigentliche Wiener Reiseziel sind,
+und die Tante das auch wohl weiß oder doch vermuten kann, so muß man
+es als nahezu gewiß ansehen, daß sie nicht nach Wien gefahren ist
+oder fahren wird ohne Sie. Sie könnte auch auf den Gedanken gekommen
+sein, nach dem verunglückten Anfang den ganzen großen Plan aufzugeben
+und direkt nach Gerolstein zurückzufahren. Damit hätte sie die Flinte
+ins Korn geworfen, und das tun Tanten gewöhnlich nicht. Ich glaube
+vielmehr, daß auch sie überlegen wird, worauf wohl ihre geliebte Nichte
+zunächst verfallen könnte, und da, denke ich, liegt nichts näher,
+als daß die geliebte Nichte mit möglichster Beschleunigung dahin
+zurückkehren wird, von wannen Sie beide heute morgen aufgebrochen sind.
+Ich denke demnach, daß wir jetzt nach Dresden zurückfahren, und daß
+wir Sie zunächst der Obhut der Gattin des Hoteliers vom ›Kronprinzen‹
+übergeben. Da in der Regel jeder Hotelier verheiratet<span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span> ist, wird sich
+dort gewiß eine solche Gattin vorfinden.«</p>
+
+<p>Käthe hatte in ihrer Trübsal nichts Besseres vorzuschlagen, und so
+wurde denn der nächste Zug bestiegen, der sie nach kurzer Fahrt nach
+Dresden brachte.</p>
+
+<p>»Wenn nun aber die Tante nicht auf den Gedanken verfällt, nach Dresden
+zurückzufahren?« meinte Käthe ängstlich, als sie in Dresden vom
+Bahnhof ihre Schritte nach dem Hotel lenkten; Käthe hatte es nämlich
+entschieden abgelehnt, für die kurze Strecke einen Wagen zu benutzen.</p>
+
+<p>»Dann ist das Unglück noch immer nicht groß,« beruhigte sie Fridolin,
+»für die Nacht werden Sie bei der Wirtin geborgen und behütet sein.
+Kommt bis morgen von der Tante kein Lebenszeichen, dann wird wohl
+nichts anderes übrigbleiben, als daß Sie nach Hause, nach Gerolstein
+reisen. Das ist eine Fahrt von wenigen Stunden, und übrigens bleibe ich
+immer in der Nähe zu Ihren Diensten bereit. Jedenfalls werden wir aber
+morgen in aller Frühe an Ihre Eltern in Gerolstein telegraphieren, ob
+sie etwas vom Verbleib der Tante wissen.«</p>
+
+<p>»Ich habe keine Eltern mehr.«</p>
+
+<p>»Aber ein Heim haben Sie doch dort?«</p>
+
+<p>»Ja, bei meinem Onkel.«</p>
+
+<p>»Ach, beim Gatten unserer vortrefflichen Tante?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span></p>
+
+<p>»Nein, sie ist die Schwester meines Onkels.«</p>
+
+<p>»Sie sind so allein auf der Welt, Fräulein Käthe! Und nun haben Sie
+sogar nur noch mich als Beschützer!«</p>
+
+<p>»Es ist ein Glück, daß Sie sich meiner angenommen haben, Herr Doktor.
+Ich wäre sonst in einer fürchterlichen Verlegenheit gewesen. Sie waren
+so lieb zu mir — wie soll ich Ihnen nur danken?«</p>
+
+<p>»Zu bedanken habe ich mich bei Ihnen, Fräulein Käthe!«</p>
+
+<p>»Sie? Wofür denn?«</p>
+
+<p>»Oh, für eine ganze Masse! Zunächst dafür, daß Sie überhaupt auf der
+Welt sind; das ist ein ausnehmend hübscher Zug von Ihnen. Und damit ist
+eigentlich alles gesagt.«</p>
+
+<p>»Sie machen sich lustig über mich, Herr Doktor!«</p>
+
+<p>»Bin ich ein Unmensch? Nein, Fräulein Käthe, mir ist sehr ernst zumute.
+Ich werde Ihnen eine der schönsten Erinnerungen meines Lebens zu danken
+haben. Der Tag war so schön! Sagen Sie selbst, Fräulein Käthe, wenn
+Sie von der Tante absehen, tut es Ihnen leid, diese Stunden mit mir
+verbracht zu haben?«</p>
+
+<p>»O nein, Herr Doktor, leid tut es mir gar nicht, ich fürchte mich nur
+so!«</p>
+
+<p>»Es ist doch schade, daß die Welt so groß ist. Morgen fahren Sie nach
+Gerolstein oder, wenn es<span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span> gut geht, nach Wien, nach Frankreich, — Gott
+weiß, wohin noch? — mich wird mein Beruf nach irgendeinem anderen
+Erdenwinkel verschlagen. Wir werden uns also höchstwahrscheinlich nie
+wiedersehen!«</p>
+
+<p>»Das ist aber schade!« sagte Käthe leise, und dann erschrak sie über
+ihre Worte und wurde ganz rot. Fridolin konnte letzteres aber nicht
+bemerken, denn sie schritten nun durch ein kleines Birkenwäldchen,
+durch welches der Weg vom Neustädter Bahnhof nach der Stadt führte. Den
+Sinn der Äußerung griff aber Fridolin doch auf, und er erfüllte ihn mit
+stiller Freude.</p>
+
+<p>»Sie werden drei Monate auf der Reise sein«, nahm er nach einer
+Weile wieder das Wort. »Bis Sie zurückkommen, werden Sie mich längst
+vergessen haben.«</p>
+
+<p>»Nein, Herr Doktor, das werde ich nicht!« erklärte Käthe bestimmt.</p>
+
+<p>»Sie werden!«</p>
+
+<p>»Gewiß nicht!«</p>
+
+<p>»Ist es nun nicht jammerschade, Fräulein Käthe, daß wir so auf
+Nimmerwiedersehen auseinander sollen?«</p>
+
+<p>»Können Sie nicht einmal nach Gerolstein kommen?« fragte die kluge
+Käthe.</p>
+
+<p>»Wer weiß, ob das jemals möglich sein wird!« erwiderte Fridolin mit
+sehr tragischem Ausdruck, obschon ihm gerade in diesem Momente die
+Idee<span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span> blitzartig auftauchte, daß er früher in Gerolstein sein werde
+als Käthe. Sein Freund Arnold fiel ihm ein; damit war eine Anknüpfung
+geboten, und so reifte in einem Augenblicke ein Entschluß in einer
+Lebensfrage, die ihn so lange beschäftigt hatte, ohne daß er zu einer
+Entscheidung hätte kommen können. Er war sehr rasch mit sich im klaren,
+daß er seine Zelte in Gerolstein aufschlagen werde, aber er hielt es
+für angemessen, darüber jetzt noch nichts verlauten zu lassen. Mit
+einer Regung von Entzücken hatte er es wahrgenommen, daß Käthe durch
+den bevorstehenden Abschied von ihm selbst elegisch gestimmt wurde,
+und er war nicht selbstlos genug, sich die Freude dieses Eindrucks zu
+verkümmern.</p>
+
+<p>»Wer weiß, ob wir uns im Leben jemals wiedersehen!« rief er mit
+einem Seufzer, trotzdem er sich im stillen schon jubelnd die sichere
+Freude des Wiedersehens ausmalte. »Ihnen freilich ist das vollkommen
+gleichgültig, Fräulein Käthe; Sie werden in Wien und in Paris an ganz
+andere Dinge zu denken haben als an Ihren armen Reisegefährten, dem
+eine freundliche Laune des Geschickes gestattete, einige Stunden in
+Ihrer Nähe zu sein; und wenn Sie zurückkommen, dann wird auch die
+letzte Erinnerung an mich verwischt sein!«</p>
+
+<p>»Ich werde Sie wirklich nicht vergessen, Herr Doktor, ganz gewiß
+nicht!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span></p>
+
+<p>»Oh, ich weiß das besser!«</p>
+
+<p>»Das können Sie nicht besser wissen!«</p>
+
+<p>»Es ist doch so, wie ich sage. Ich bin ein phänomenaler Pechvogel! Das
+Schicksal hätte Sie mir nicht über den Weg schicken sollen!«</p>
+
+<p>»Jetzt bedauern Sie es auch noch!«</p>
+
+<p>»Habe ich nicht alle Ursache dazu?«</p>
+
+<p>»Ich denke und fühle anders als Sie, Herr Doktor. Ich mache mir das
+Herz nicht schwer mit dem, was vielleicht hätte sein können; ich freue
+mich an dem, was ist und was wirklich war.«</p>
+
+<p>»Fräulein Käthe?«</p>
+
+<p>»Herr Doktor?«</p>
+
+<p>»Ich möchte Ihnen etwas sagen.«</p>
+
+<p>»Ich fürchte mich in diesem Wäldchen, es ist so finster.«</p>
+
+<p>»Jetzt fürchten Sie sich schon wieder! Bin ich denn nicht da?«</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, ich möchte wieder unter Menschen sein.«</p>
+
+<p>»Und gerade davor fürchte ich mich! Fräulein Käthe! Wir kommen ja
+gleich unter Menschen! — Ich glaube, wir sollten Abschied nehmen
+voneinander, bevor wir unter all die fremden Leute kommen, die uns so
+gar nichts angehen.«</p>
+
+<p>»Herr Doktor, Sie waren bisher so ritterlich mit mir —« sagte Käthe
+nun ängstlich stockend.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span></p>
+
+<p>»Ist das unritterlich, wenn ich Ihnen zum Abschied sagen möchte:
+Fräulein Käthe, Sie sind das reizendste Menschenskind, das mir bisher
+vorgekommen ist. Ist das unritterlich? Antworten Sie!«</p>
+
+<p>»Nein, das ist noch nicht unritterlich.«</p>
+
+<p>»Ist es unritterlich, wenn ich Ihnen sage, daß ich Sie sehr lieb habe?«</p>
+
+<p>»Herr Doktor!«</p>
+
+<p>»Ist es unritterlich?«</p>
+
+<p>»N—ein — ich glaube, — es ist nicht unritterlich.«</p>
+
+<p>»Wenn ich Sie frage, ob Sie mir ein wenig — ein ganz klein bißchen —
+gut sein können?«</p>
+
+<p>»Herr Doktor, — ich bitte Sie —«</p>
+
+<p>»Ist es unritterlich?«</p>
+
+<p>»Ich weiß nicht, ob —«</p>
+
+<p>»Sie können sich's ja vereinfachen, können sagen, daß ich Ihnen
+gleichgültig bin; dann sind Sie von aller Verlegenheit befreit!«</p>
+
+<p>»Das möchte ich nicht sagen, Herr Doktor!«</p>
+
+<p>Damit hatte er aber auch schon ihre Hand gefaßt und flehte nun um einen
+Abschiedskuß.</p>
+
+<p>»Das geht nicht!« erklärte Käthe auf das bestimmteste.</p>
+
+<p>»Ich versichere Sie, es geht; es kommt nur auf einen Versuch an! Sehen
+Sie, weit und breit ist kein Mensch, und stockfinster ist es auch.
+Käthe!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span></p>
+
+<p>»Ich sage ja so schon nichts mehr«, erwiderte sie und hielt zitternd
+still, als er seinen Arm um ihre Schulter legte und sein Gesicht dem
+ihrigen nahebrachte.</p>
+
+<p>»Jetzt wäre es unritterlich, wenn ich ihn mir nehmen wollte,« sprach er
+leise zu ihr, »du mußt ihn mir freiwillig geben, Käthe!«</p>
+
+<p>Und sie gab ihn, zitternd zwar, aber doch freiwillig, und als er
+dann sich noch einige dazu nahm, da war das weder ritterlich noch
+unritterlich, sondern einfach natürlich. —</p>
+
+<p>»Jetzt bist du mir verfallen, Käthe! Jetzt mußt du mich lieb haben, ob
+du willst oder nicht. Nun, habe ich recht?«</p>
+
+<p>»Vielleicht!«</p>
+
+<p>»Ist dir nicht bange, Käthe, daß wir jetzt weltenweit auseinandergehen
+sollen?«</p>
+
+<p>»Wenn du mich lieb hast, dann wirst du mich suchen — und mich finden!«</p>
+
+<p>Als sie dann nach einigen Minuten im Hotel anlangten, da war die Tante
+schon da. Sie war ganz munter und hatte nur etwas verweinte Augen.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+<h3>III.</h3>
+
+<p>So war Fridolin nach Gerolstein geraten. Man wird seinen Entschluß
+begreifen. Der Himmel hatte ihm, gerade da er schwankte und im Zweifel
+war über seine Zukunftspläne, ein zu deutliches Zeichen<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> herabgesandt.
+Er hatte Käthe von seinen Absichten nichts verraten; sie hatten auch —
+von wegen der Tante! — nicht verabredet, sich zu schreiben. Sie waren
+voneinander geschieden in gegenseitigem Vertrauen, daß sie doch wieder
+zusammenkommen würden. Käthe hatte für das zuversichtliche Vertrauen
+die Formel gefunden: Du wirst mich suchen — und mich finden!</p>
+
+<p>Sehr entzückt war Fridolin von Gerolstein, der Hauptstadt des
+berühmten Großherzogtums, gerade nicht. Er hatte sich dort mit Hilfe
+seines Freundes eingerichtet und gab sich alle Mühe, sich ordentlich
+einzuleben, um nach Verlauf von drei Monaten, wenn Käthe zurückkehren
+sollte, schon ein vollkommener und gerechter Gerolsteiner zu sein.
+Vor Arnold, seinem besten Freunde, hatte er aus seinem sommerlichen
+Abenteuer in der Sächsischen Schweiz, dem eigentlichen Beweggrund
+des raschen Entschlusses seiner Übersiedelung, und aus seinen
+Glückshoffnungen kein Geheimnis gemacht; nur den Namen Käthes wollte
+er nicht preisgeben, so sehr auch sein Freund Arnold, aus praktischen
+Gründen, wie er sagte, ihn zu wissen begehrte.</p>
+
+<p>Es ging also soweit ganz gut in Gerolstein, nur etwas langweilig fand
+es Fridolin. Aber die Zeit verging doch, und als drei Monate um waren,
+da war er ganz gewaltig aufgeregt; denn nun konnte ihm jeder Tag eine
+Begegnung mit Käthe bringen.<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> Gerolstein war nicht so groß, daß ein
+schönes Mädchen dort lange unentdeckt hätte bleiben können. Die wird
+Augen machen! Fridolin lächelte, als er sich die Überraschung Käthes
+ausmalte, wenn sie ihn so ganz unvermutet in Gerolstein wiedersehen
+würde.</p>
+
+<p>In seiner Unruhe und Aufregung der Erwartung kam ihm ein Zwischenfall
+sehr gelegen, der nicht nur seinen Gedanken eine Ablenkung schaffte,
+sondern auch günstige Aussichten für die Zukunft bot. Schon war es ihm
+allerdings gelungen, sich für die verhältnismäßig sehr kurze Zeit eine
+ganz annehmbare ärztliche Praxis zu verschaffen, aber die Gelegenheit,
+die sich ihm nun eröffnete, war ganz danach angetan, ihn mit einem
+gewaltigen Ruck vorwärts zu bringen.</p>
+
+<p>Er sah gerade zum Fenster seines Ordinationszimmers hinaus, als er eine
+herrschaftliche Equipage vor seinem Hause halten sah. Ein livrierter
+Bedienter sprang vom Bock und stand zwei Minuten später vor ihm, um
+ihm einen Brief zu überreichen. Schon der Umschlag verriet, daß der
+Brief aus dem Ministerpräsidium herrühre, und der Briefbogen trug den
+offiziellen Vermerk des hohen Ministerpräsidiums. Geschrieben war aber
+der Brief nicht vom Ministerpräsidenten, sondern von seinem Freunde
+Arnold. Das Schreiben lautete:</p>
+
+<p>»Ich bin soeben beim Ministerpräsidenten und mit ihm in einen
+großartigen Kriminalfall vertieft.<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> Zur vollständigen Vernichtung des
+Übeltäters brauchen wir aber auch einen ärztlichen Befund. — Der Geh.
+Hof-, Staats- und Medizinalrat, der hier zu intervenieren hätte, ist
+glücklicherweise auf Urlaub, und da habe ich mir denn erlaubt, Dich als
+eine wahre Leuchte der Wissenschaft zu empfehlen. Wirf Dich also in
+Deinen schönsten Frack, sodann in den Galawagen, den wir Dir hiermit
+schicken, und lasse Dich schleunigst bei Sr. Exzellenz dem Herrn
+Ministerpräsidenten Besenbeck melden, wo wir Dich erwarten.</p>
+
+<p class="r5">Dein wohlaffektionierter F.«</p><br>
+
+<p>Sr. Exzellenz dem Herrn Ministerpräsidenten war am Tage vorher zu
+später Abendstunde etwas sehr, sehr Unangenehmes passiert. Er hatte
+darauf eine schlechte Nacht verbracht und ließ gleich am Morgen den
+Rechtsanwalt <em>Dr.</em> Arnold Winter zu sich bescheiden, den er im
+Bette empfing.</p>
+
+<p>Der Fall war kritisch: Ein Radfahrer hatte den generalgewaltigen Lenker
+der inneren und äußeren Politik Gerolsteins über den Haufen gerannt
+und ihm dabei nicht nur einen unheilbaren Riß in die ministerielle
+Hose beigebracht, sondern auch wahrscheinlich — er hatte solche
+Schmerzen in der Seite — eine Rippe gebrochen. Er hatte die Radfahrer
+schon lange auf dem Zuge, und das nicht ohne Grund; denn alles Böse im
+Staate kam von den Radfahrern. Der Bestand des dortigen Radfahrerklubs
+war eine<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> stete Verhöhnung der Großmachtsstellung Gerolsteins. Alle
+Augenblicke hatten sie Gerolsteiner Meisterschaften auszuschreiben, und
+das waren lauter Infamien. Einmal war es die Meisterschaft »Quer durch
+Gerolstein«, dann die Meisterschaft »Um das Großherzogtum herum«, und
+wenn sie des Morgens gestartet hatten, so waren sie mit ihren Kämpfen
+immer so rasch fertig, daß sie die Siegesfeier noch immer an demselben
+Tage bei einem <em class="gesperrt">Früh</em>schoppen begehen konnten. Solche Bosheiten
+begeht man nicht in einem Kulturstaate, der sich der Segnungen der
+Zivilisation erfreut.</p>
+
+<p>Das war aber noch nicht einmal alles. Gerolstein besaß zwei Zeitungen:
+den »Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger« und das »Morgenblatt«. Den
+»Staats-, Hof- und Haus-Anzeiger«, der so gut ministeriell gesinnt
+war, wollte aber kein Mensch lesen, und das kam wieder dem unbequemen
+»Morgenblatt« zugute. Und wie ein Unglück nie allein kommt, mußte der
+Redakteur des »Morgenblattes« gleichzeitig auch der Präsident des
+Gerolsteiner Radfahrervereins sein. Man mußte nur wissen, was das
+heißt! Damit war die ganze Radfahrerei eine politische, und zwar eine
+oppositionelle Sache geworden, die Sr. Exzellenz Tag für Tag das Leben
+verbitterte.</p>
+
+<p>Wissen Sie, welchen Namen die Radfahrer ihrem Vereine beigelegt hatten?
+»Gerolsteiner Radfahrerklub<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> ›Die Numidier‹!« »Die Numidier?« Warum
+»Die Numidier«? Die alten Numidier an der Nordküste Afrikas hatten
+sicher keine Ahnung vom Veloziped, und ganz gewiß hatten weder König
+Masinissa, noch Jugurtha und Juba Radfahrer als Ordonnanzen mit im
+Felde. Warum also »Numidier«? Ein vernünftiger Mensch konnte von selbst
+gar nicht darauf kommen, aber in Gerolstein wußte man es ganz gut, —
+es steckte eine große Bosheit dahinter.</p>
+
+<p>Se. Exzellenz der Ministerpräsident war bei der Opposition nicht
+beliebt — das ist nun einmal nicht anders; Ministerpräsidenten sind
+bei der Opposition niemals beliebt — und sie setzte ihm zu mit
+Keulenschlägen, wo es anging, und wo das nicht anging, wenigstens mit
+Nadelstichen. Keine historische Persönlichkeit wurde im »Morgenblatt«
+so oft und mit solcher Vorliebe erwähnt wie der wackere <em>Numa
+Pompilius</em>, der zweite König Roms, und so oft <em>Numa Pompilius</em>
+im Leitartikel oder im Feuilleton oder unter den Tagesnotizen erwähnt
+war, lachte ganz Gerolstein, und nur Se. Exzellenz war über alle
+Maßen wütend. Denn unter <em>Numa Pompilius</em> war immer <em class="gesperrt">er</em>
+gemeint. Die verruchten Zeitungsschreiber hatten ihm den Spitznamen
+aufgebracht und diesen auch gleich eingebürgert; dabei waren aber ihre
+Beziehungen immer so fein und immer auch scheinbar so harmlos, daß
+eine hohe Behörde<span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span> ihnen nicht recht zu Leibe konnte. Es war geradezu
+niederträchtig.</p>
+
+<p><em>Numa Pompilius</em> wäre ja an sich ein Ehrentitel gewesen, aber man
+hatte dem Herrn Minister diesen Titel nicht darum taxfrei verliehen,
+um damit seine staatsmännische Einsicht zu kennzeichnen, sondern mehr
+um die Quelle seiner politischen Weisheit anzudeuten. <em>Egeria</em>
+war eine sehr geschätzte Quellgöttin des römischen Altertumes, und
+man wußte, daß auch der Gerolsteiner <em>Numa Pompilius</em> von einer
+Gerolsteiner <em>Egeria</em> beraten wurde.</p>
+
+<p>Ministerpräsident Besenbeck war Witwer; die schöne Baronin Waltersheim
+war Witwe. Der Ministerpräsident hatte ein etwas zur Verfettung
+neigendes, im übrigen aber tieffühlendes Herz, und die schöne Witwe
+hatte es ihm angetan.</p>
+
+<p>Er hätte ihr auch schon längst die Hand zum ewigen Bunde gereicht,
+wenn seine zarten Beziehungen zu ihr nicht voreilig ruchbar geworden
+wären. Man kannte die schöne Baronin in Gerolstein und wußte, daß sie
+eine geistvolle Frau sei, die Neigung zur Politik habe. Das wußte man;
+das übrige war Kombination, daß nämlich sie den Minister beherrschte
+und daß so eigentlich sie über Gerolstein herrschte. Also nur, weil
+eine weise <em>Egeria</em> da war, wurde <em class="gesperrt">er</em> <em>Numa Pompilius</em>
+genannt, aus keinem anderen Grunde. Als aber der Name einmal
+aufgekommen war, da<span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span> tat der Exzellenzherr in seiner Erbitterung, wie
+schon so oft in seinem Leben, das Ungeschickteste, was in dem gegebenen
+Falle zu tun war. Anstatt kurzen Prozeß zu machen und die Dame seines
+etwas zur Fettsucht neigenden Herzens vom Fleck weg zu heiraten,
+glaubte er seine Beziehungen zu der schönen und klugen Frau, ohne sie
+aufzugeben, möglichst verheimlichen zu sollen. Als ob das in Gerolstein
+nur so gegangen wäre!</p>
+
+<p>Jetzt war die Analogie mit <em>Numa Pompilius</em> und <em>Egeria</em> erst
+recht hergestellt. Unter solchen Umständen erregte es ein heiteres
+Aufsehen, als sich eines schönen Tages der Radfahrerklub »Die Numidier«
+auftat. Man wußte zwar auch in Gerolstein, daß die Numidier mit <em>Numa
+Pompilius</em> nichts zu tun hatten, aber die Ideenverbindung war doch
+durch den Klang der Namen hergestellt, und das genügte. Die hohe
+Behörde hatte allerdings den Versuch gemacht, der Konstituierung des
+Klubs Schwierigkeiten in den Weg zu legen und Einsprache gegen die
+seltsame Bezeichnung der »Numidier« zu erheben, aber die Proponenten
+bestanden auf ihrem Vorhaben unter dem Hinweis, daß sie ebenso
+streitbar und tapfer »im Dienste des Vaterlandes« sein wollten wie die
+wirklichen Numidier, über welche sie die erforderlichen historischen
+Kenntnisse bei der hohen Behörde in vollem Umfange mit patriotischer
+Befriedigung voraussetzten — und da war<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> dann eigentlich nichts mehr
+zu machen. Der Verein mußte bewilligt werden. Die guten Gerolsteiner
+unterhielten sich aber vortrefflich bei dem Gedanken, daß sich die
+»Numidier« nun als eine Art Leibgarde für <em>Numa Pompilius</em>
+aufspielten, obschon sie dieser bitter haßte. Nach alledem kann man
+sich denken, wie der Herr Ministerpräsident es aufnahm, als ihn einer
+der »Numidier« nächtlicherweile über den Haufen rannte, ihm die Hose
+zerriß, wobei auch noch das ministerielle Knie aufgeschunden wurde, und
+ihm nicht nur eine Rippenverletzung beibrachte, sondern ihn zu alledem
+auch noch grob anfuhr.</p>
+
+<p>Der Ministerpräsident war in einer Stimmung, die den Radfahrern
+nichts Gutes verhieß. Das eine stand bereits fest, daß das Radfahren
+in Gerolstein eingeschränkt, die Fahrfreiheit zugestutzt, der Verein
+unter scharfe polizeiliche Kontrolle gestellt werden sollte. Das
+erforderte das öffentliche, das Staatsinteresse Gerolsteins. Das war
+alles selbstverständlich und sollte von Amts wegen besorgt werden.
+Damit sollte es aber nicht abgetan sein. Der Ministerpräsident gedachte
+auch als Privatkläger und Privatbeschädigter aufzutreten. Er war
+verletzt, beschädigt, beleidigt worden, und er sah gar nicht ein, warum
+er sich das von einem »Numidier« gefallen lassen sollte. Er hatte
+an der Laterne des Fahrrades durch welches er umgestoßen war, eine<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span>
+Nummer bemerkt, es war die Nummer 88; der Mann zu dieser Nummer war
+polizeilich leicht zu ermitteln, und an diesem Unglücksmenschen wollte
+nun der Generalgewaltige von Gerolstein seinen Zorn auslassen; er war
+ganz in der rechten Stimmung dazu.</p>
+
+<p>So ward am Morgen nach dem Zusammenstoße Arnold zum Ministerpräsidenten
+berufen, damit er die Vertretung des Privatklägers und
+Privatbeschädigten vor den Gerichten übernehme. Arnold nahm die
+Sache sehr ernst. Der Fall bot zwar kein besonderes juristisches
+Interesse, aber man bekommt doch nicht alle Tage die Vertretung
+eines Ministerpräsidenten. Er ließ sich von dem im Bette liegenden
+Privatbeschädigten den Vorfall genau erzählen und besah sich dann das
+ministerielle Knie. Es war tatsächlich ganz erheblich aufgeschunden.
+Auch an die Untersuchung der lädierten Rippe machte er sich, aber es
+war da ein so starkes Bäuchlein über dieselbe gelagert, daß er bald
+einsah, daß er als Doktor <em>juris</em> hier nicht zu dem gewünschten
+Resultate gelangen werde.</p>
+
+<p>»Exzellenz!« sagte er feierlich, »da muß ein <em>Medicinae</em> Doktor
+her! Wir brauchen ein ärztliches Zeugnis, das wir den Akten beilegen.«</p>
+
+<p>»Mein Hausarzt ist leider verreist«, erwiderte der rachedürstende
+Ministerpräsident.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p>
+
+<p>»Das tut nichts, Exzellenz. Es ist vielleicht sogar besser, wenn hier
+nicht der Hausarzt interveniert. Darf ich für diesen Fall den jungen
+Arzt herzitieren, der sich vor einigen Monaten erst in Gerolstein
+niedergelassen hat und dessen wissenschaftliche Bedeutung so auffallend
+rasch auch in Hofkreisen anerkannt und gewürdigt worden ist; ich meine
+<em>Dr.</em> Bruckner?«</p>
+
+<p>Exzellenz nickte Gewährung, und Arnold ging darauf an den Schreibtisch
+und fertigte das Schreiben an Fridolin ab.</p>
+
+<p>Während man nun auf den Arzt wartete, wurde der Fall weiter besprochen.</p>
+
+<p>»Über die Körperverletzung«, äußerte Arnold, »werden wir ja bald im
+klaren sein. Darf ich Exzellenz nun bitten, Näheres über die erlittene
+Ehrverletzung mitzuteilen. Welcher Art waren die Ehrenbeleidigungen?«</p>
+
+<p>»Als wir beide auf der Straße lagen, da schimpfte ich natürlich ganz
+gewaltig!«</p>
+
+<p>»Natürlich! Das muß auch der Prozeßgegner begreiflich finden. Exzellenz
+haben die Rechtswohltat der mildernden Umstände im weitesten Maße
+für sich; der Schrecken, die Aufregung, der Unmut über die mutwillig
+zugefügten Verletzungen, der körperliche Schmerz — es ist nur
+natürlich, daß man da nicht erst nach gewählten Ausdrücken sucht. Was
+aber sagte der Attentäter?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p>
+
+<p>»Das weiß ich eigentlich nicht mehr genau. Er schrie und schimpfte
+genau so wie ich, nur viel gröber.«</p>
+
+<p>»Viel gröber! Das ist ganz gut; damit kommt er uns in die Laube. Wie
+lauteten die zu inkriminierenden Beschimpfungen?«</p>
+
+<p>»Das weiß ich so genau nicht mehr. Eigentlich hat er nicht so sehr
+geschimpft, als mich, nachdem er mich schon über den Haufen geworfen,
+auch noch verhöhnt!«</p>
+
+<p>»Verhöhnt! Das ist ausgezeichnet! Auch Verhöhnungen brauchen wir uns
+nicht gefallen zu lassen.«</p>
+
+<p>»Er meinte, ich solle nicht so schreien, als ob ich am Spieße stäke, er
+liege auch nicht auf Rosen.«</p>
+
+<p>»Unverschämt! Aber es kam dann wohl noch ärger?«</p>
+
+<p>»Und ob! Dann sagte er: mit so einem Bauche sollte man überhaupt nicht
+auf die Gasse gehen!«</p>
+
+<p>»Das ist stark!«</p>
+
+<p>»Und dann — sagen Sie einmal, Herr Doktor, was ist denn das
+eigentlich, ein Pneumatik?«</p>
+
+<p>»Soviel ich weiß, nennt man die mit der Luftpumpe aufgeblähten
+Hohlreifen so, auf welchen die Radfahrer neuestens fahren.«</p>
+
+<p>»Dann verstehe ich die Sache nicht recht. Und dann sagte er nämlich,
+das nächste Mal, wenn ich abends wieder ausginge, sollte ich mir eine
+Laterne<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> an meinen Pneumatik hängen! Was hat der Mensch nur gemeint, da
+ich doch keinen Pneumatik habe?«</p>
+
+<p>»Exzellenz, ich wage kaum anzudeuten — ich glaube, der Mensch hatte
+die Vermessenheit, auf das — das Embonpoint Ew. Exzellenz anzuspielen!«</p>
+
+<p>»Was? Der Schuft will doch nicht etwa, daß ich mir eine Laterne an den
+Bauch hängen soll?«</p>
+
+<p>»Es scheint in der Tat, daß so etwas Ähnliches gemeint war.«</p>
+
+<p>»Lieber Doktor, den Menschen müssen wir festsetzen!«</p>
+
+<p>»Ich glaube wohl, daß wir ihm die Lust zu schlechten Witzen vertreiben
+werden; er soll an uns denken! Wir werden die Ehrenbeleidigung, obschon
+sie sonnenklar ist, nicht einmal so dringend brauchen. Wir kommen
+schon mit der Sach- und Körperbeschädigung durch. Wir werden die Hose
+Ew. Exzellenz als <em>Corpus delicti</em> produzieren, und <em>Dr.</em>
+Bruckner wird uns hoffentlich ein ärztliches Parere aufsetzen, über
+welches jener gemeingefährliche Mensch nichts zu lachen haben wird.«</p>
+
+<p>In diesem Moment meldete der Lakai, daß <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner
+um die Ehre bitte, vorgelassen zu werden.</p>
+
+<p>»Ach, <em>lucus in fabula</em>!« sagte der Exzellenzherr, er sagte
+wirklich »<em>lucus</em>«. »Ich lasse bitten!« fügte er dann wohlwollend
+hinzu.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span></p>
+
+<p>Fridolin trat ein. Er war mit seinem schönsten Fracke angetan, und
+seine Krawatte strahlte in blütenweißer Pracht und Herrlichkeit. Er
+verneigte sich sehr tief, und als er sich wieder aufrichtete, da
+richtete sich auch Se. Exzellenz im Bette auf und schrie nur das eine
+Wort:</p>
+
+<p>»Hinaus!«</p>
+
+<p>Fridolin stand wie angedonnert da, dann sagte er resigniert:</p>
+
+<p>»Der Mann mit dem Pneumatik!«</p>
+
+<p>Der nächste Moment fand ihn wieder im Vorzimmer draußen, wo ihn sofort
+eine junge Dame mit der Frage bestürmte:</p>
+
+<p>»Nun, Herr Doktor, wie steht es mit dem Onkel?«</p>
+
+<p>Er stand bei diesen Worten noch einmal wie angedonnert da, und die
+junge Dame erklärte, als sie ihn erkannte, daß sie umfallen müsse — es
+war Käthe.</p>
+
+<p>»Käthe! Du — Sie — gnädiges Fräulein — hier?«</p>
+
+<p>»Jawohl, ich bin hier zu Hause!« entgegnete das junge Mädchen.</p>
+
+<p>»Und der da drin ist dein — Ihr — unser Onkel?«</p>
+
+<p>»Natürlich!«</p>
+
+<p>»Bitte! Gar so natürlich ist das meiner Ansicht nach nicht!«</p>
+
+<p>»Er ist aber einmal mein Onkel, und mein Vormund dazu.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span></p>
+
+<p>»Und die Tante?«</p>
+
+<p>»Ist seine Schwester«, lautete die ebenso überraschende Antwort.</p>
+
+<p>»Das ist schön von ihr. Was aber den Onkel und Vormund betrifft, so bin
+ich soeben von ihm mit Glanz hinausgeworfen worden!«</p>
+
+<p>Das Erscheinen eines Lakais im Vorzimmer bereitete dieser Konversation
+ein vorzeitiges Ende.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<h3>IV.</h3>
+
+<p>»Aber, du Unglücksrabe!« rief Arnold, als er bald nach der im Keime
+steckengebliebenen ärztlichen Konsultation zu Fridolin hereinstürmte.
+»So etwas muß einem Menschen doch gesagt werden! Wie kommst denn du zum
+Velozipedfahren?«</p>
+
+<p>»Ich bitte dich — in Gerolstein!«</p>
+
+<p>»Gut, aber dann sagt man mir's doch wenigstens!«</p>
+
+<p>»Ich hatte dich in den letzten Tagen nicht gesehen, und tatsächlich
+bin ich erst seit einigen Tagen Radfahrer. Ein großer Künstler bin ich
+allerdings noch nicht; ich hatte erst drei Lektionen genommen und an
+dem kritischen Abend allein meine erste Ausfahrt versucht.«</p>
+
+<p>»Ein Anfänger fährt doch nicht im Finstern spazieren!«</p>
+
+<p>»Ich tat es absichtlich, um nicht durch meine vorauszusehenden Stütze
+der lieben Straßenjugend<span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span> von Gerolstein ein erfreuliches Schauspiel
+darzubieten. Ich hatte mir auch nur entlegene, menschenleere Straßen
+ausgesucht.«</p>
+
+<p>»Was gedenkst du nun zu tun?«</p>
+
+<p>»Ich gedenke Se. Exzellenz gerichtlich zu belangen!«</p>
+
+<p>»Mensch, bist du verrückt?!«</p>
+
+<p>»Durchaus nicht. Der Ehrenbeleidigungsprozeß wird ihm angehängt! Ich
+bin ›Numidier‹, und das bin ich der Radfahrerschaft schuldig. Es muß
+dem Pöbel, stehe er so hoch wie er wolle, beigebracht werden, daß der
+Radfahrer nicht vogelfrei ist, und daß nicht der erste beste das Recht
+hat, einem harmlosen Radfahrer in den Weg zu laufen und ihm dann gar
+noch, wenn ein Zusammenstoß erfolgt ist, eine Injurie an den Kopf zu
+werfen.«</p>
+
+<p>»Mein lieber Fridolin, ich glaube, es rappelt bei dir! Der
+Ministerpräsident ist der erste beste, und du, der ihm die Rippen
+bricht, bist ein harmloser Radfahrer. Wirklich, ein angenehmer
+Radfahrer!«</p>
+
+<p>»Ich bin unschuldig. Mich zwingt die Polizei, eine Laterne mit einer
+Nummer an mein Rad zu hängen, aber sie kümmert sich nicht um den
+miserablen Stand der Straßenbeleuchtung in der Schleiermachergasse,
+und wenn der Herr Ministerpräsident seinen ausführlichen Bauch im
+Finstern spazieren führen will, so soll er das auf dem Bürgersteig<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span>
+tun, nicht aber auf der Fahrstraße, auf der er nichts zu suchen hat.
+Oder wenn er doch dort lustwandeln will, so soll er sich wenigstens
+auch eine Laterne an den Bauch hängen. Ich bin nicht verpflichtet, die
+Ministerpräsidenten auch im Finstern von weitem zu erkennen.«</p>
+
+<p>Arnold schlug bei diesem respektlosen Bericht die Hände über dem Kopf
+zusammen.</p>
+
+<p>»Aber, Menschenskind!« rief er entsetzt. »Ich glaube, du rasest!«</p>
+
+<p>»Nicht im mindesten! Er hat mich einen ›Schafskopf‹ genannt und einen
+›unverschämten Menschen‹. Das lasse ich mir unter keinen Umständen
+gefallen!«</p>
+
+<p>»Du wirst dir eben auch kein Blatt vor den Mund genommen haben.«</p>
+
+<p>»Oh, ich war sehr höflich. Ich habe mich mit einem ›alten Esel!‹
+begnügt; das reicht ja aus für solche Fälle.«</p>
+
+<p>»Oh, du heiliger Strohsack! Wir kriegen den schönsten Hochverratsprozeß
+auf den Hals!«</p>
+
+<p>»Ich will nicht hoffen, daß ich durchaus etwas verraten habe.«</p>
+
+<p>»Fridolin, man wird dich einsperren!«</p>
+
+<p>»Oho! Für eine Ehrenbeleidigung wird man nicht gleich eingesperrt!
+Übrigens — die beste Art der Verteidigung ist — anzugreifen. Ich
+werde ihn zuerst verklagen, lasse ihn verurteilen, und dann —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p>
+
+<p>»Und dann?«</p>
+
+<p>»Und dann werde ich ihn um die Hand seiner Nichte bitten!«</p>
+
+<p>»Nur?« Arnold glaubte vom Sessel fallen zu müssen. »Also darum —
+Gerolstein?!«</p>
+
+<p>»Jawohl, nur darum! Jetzt weißt du wenigstens alles.«</p>
+
+<p>»Das ist in der Tat ungemein sinnreich. Ihn erst verklagen und
+verurteilen lassen und ihn dann um die Hand seiner Nichte bitten!«</p>
+
+<p>»Eins schließt doch das andere nicht aus!«</p>
+
+<p>»Höre, Fridolin, du gehörst wirklich in ein Tollhaus!«</p>
+
+<p>»Warum denn? Ich lasse mich auch von meinem zukünftigen Schwiegeronkel
+nicht einen Schafskopf heißen!«</p>
+
+<p>»Da muß etwas geschehen; die Sache muß beigelegt werden. Schade,
+daß gerade du der Übeltäter bist. Ich hätte da einen so schönen
+Sensationsprozeß daraus gemacht!«</p>
+
+<p>»Das kannst du ja noch, — nur zu! Ich spreche ganz im Ernst. Für
+mich wäre es ja auch sehr nützlich gewesen, wenn ich da als Arzt
+angekommen wäre. Der großartige Hinauswurf hat die schönsten Hoffnungen
+zunichte gemacht. Du bist ja aber nicht auch hinausgeworfen worden,
+du sitzest jetzt im Rohr, schneide Pfeifen! Bausche die Sache nur zu
+einer imposanten<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> Affäre auf. Dir wird's nützen, und mir kann es nicht
+schaden.«</p>
+
+<p>»Nein, lieber Freund, gegen dich führe ich keine Prozesse!«</p>
+
+<p>»Das wäre ein lächerliches Opfer. Die Ministerpräsidenten liegen doch
+nicht alle Tage so auf der Straße herum. Sei froh, daß du einmal einen
+aufgelesen hast!«</p>
+
+<p>»Das verstehst du nicht. Es hat auch vieles für sich, einen
+Ministerpräsidenten zum Prozeßgegner zu haben. In Gerolstein ist es
+sogar für mich gewiß praktischer, gegen den Ministerpräsidenten zu
+prozessieren als für ihn.«</p>
+
+<p>»Ich könnte« — fuhr der Rechtsanwalt fort — »nun ganz gut das mir von
+ihm verliehene Mandat in seine Hände zurücklegen und deine Vertretung
+übernehmen, aber das, was für mich praktisch und nützlich wäre, kommt
+hier nicht in Betracht. Wir müssen trachten, daß die Sache beigelegt
+werde und sich in Wohlgefallen auflöse.«</p>
+
+<p>»Den ›Schafskopf‹ lasse ich aber nicht auf mir sitzen.«</p>
+
+<p>»Der ist, meine ich, hinlänglich kompensiert. Man wird sich gegenseitig
+entschuldigen.« —</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<h3>V.</h3>
+
+<p>So leicht war aber der Ausgleich doch nicht, wie Arnold sich ihn
+gedacht hatte. Herr Besenbeck, der<span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span> gebietende Staatsmann, wollte
+von einem Ausgleich nichts wissen. Die Radfahrer waren ihm an sich
+verhaßt, und mit den »Numidiern« traf er die Opposition so recht ins
+Herz, ohne daß man ihm dabei eine politische Absicht hätte nachweisen
+können. Jetzt war der Tag der Vergeltung für die zahllosen Nadelstiche
+gekommen, mit welchen ihm die boshafte Rotte arg und lange genug
+zugesetzt hatte. Den Redakteur des »Morgenblattes« hatte er nicht zu
+fassen vermocht; aber der Präsident des Radfahrklubs, der sollte ihn
+kennen lernen.</p>
+
+<p>Der Arzt, der sofort nach dem unglücklichen Debut Fridolins
+geholt worden war, hatte über die Verletzung der Rippe noch kein
+abschließendes Urteil fällen können. Besenbeck erklärte, daß er an der
+kritischen Stelle geschwollen sei, während der Arzt eher der Meinung
+zuneigte, daß man dort nur die natürliche Rundung und Wölbung der edlen
+Körperformen Sr. Exzellenz zu konstatieren hätte. Es täte ihm weh,
+meinte Besenbeck, wenn er sich auf die rechte Seite legte. Der Arzt
+riet nach längerem Nachdenken, er möchte sich nicht auf die rechte
+Seite legen, dann empfahl er kalte Umschläge und schließlich sich
+selbst.</p>
+
+<p>Arnold fand den hohen Patienten in sehr schlechter Laune und gar nicht
+zu einer milderen Auffassung des Falles geneigt.</p>
+
+<p>Unter so bewandten Umständen hielt es Arnold<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> doch für rätlich, die
+Vertretung des Ministerpräsidenten noch nicht zurückzugeben.</p>
+
+<p>»Wir müssen uns auch beizeiten über die etwaigen Einwendungen des
+Gegners Klarheit zu verschaffen suchen«, begann Arnold, nachdem er sich
+umständlich wegen seines Mißgeschickes entschuldigt hatte, daß gerade
+der Delinquent von ihm als Arzt empfohlen worden sei.</p>
+
+<p>»Es gibt keine Einwendungen«, entgegnete Se. Exzellenz ziemlich
+schroff. »Die Sache war so, wie ich sie geschildert habe, und dagegen
+gibt es keine Einwendungen.«</p>
+
+<p>»Gewiß nicht, Exzellenz, aber die Gegner werden doch solche zu erheben
+versuchen. Sie werden beispielsweise betonen, was sie freilich nicht
+retten wird, daß die öffentliche Beleuchtung in der Schleiermachergasse
+—«</p>
+
+<p>»Woher wissen Sie,« sagte der Ministerpräsident zu dem jungen
+Rechtsanwalt, »daß der Zusammenstoß in der Schleiermachergasse
+stattgefunden hat?«</p>
+
+<p>»Der Fall wird bereits in der Stadt besprochen, und so sind auch mir
+gewisse Gerüchte zu Ohren gekommen.«</p>
+
+<p>»Hm?« Se. Exzellenz ward nachdenklich. »Wird schon gesprochen davon?
+Das tut nichts; jedenfalls darf im Verlaufe des Prozesses die
+Schleiermachergasse nicht genannt werden.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p>
+
+<p>»Wie Sie befehlen, Exzellenz. Ich meinte nur, daß eine böswillige
+Gegnerschaft vielleicht den Anlaß benutzen dürfte, Kritik zu üben
+an unseren öffentlichen Zuständen. Die Straßenbeleuchtung wird als
+naheliegender Vorwand dienen müssen, und man wird, weil die Beleuchtung
+in der Schleiermachergasse —«</p>
+
+<p>»Ich wiederhole, daß die Schleiermachergasse in den Verhandlungen
+nicht vorkommen darf«, unterbrach der Präsident seinen Rechtsbeistand
+noch einmal, und dieses Mal in ungeduldigem Tone. »Der Ort des
+Zusammenstoßes ist ganz nebensächlich; die Hauptsache ist, daß ich
+beleidigt und verletzt worden bin; alles andere hat aus dem Spiele zu
+bleiben. Ich muß Sie dringend bitten, sich lediglich an den Tatbestand
+und an meine Instruktion zu halten.«</p>
+
+<p>»Also gut; lassen wir sie beiseite, die Schleiermachergasse.«</p>
+
+<p>Als nun der Name dieser Gasse doch wieder ausgesprochen wurde, zeigte
+sich der Ministerpräsident sehr nervös, und ein unwilliges Zucken mit
+den Schultern verriet, wie unangenehm ihm die Nichtbeachtung seines
+Befehles sei. Arnold sah ihn befremdet an, aber dann ging ihm plötzlich
+mit einem Male ein ganzes Meer von Licht auf. Ach so!! Also darum!! In
+der Schleiermachergasse lag der heilige Hain der Quellgöttin Egeria,
+— die schöne Baronin Waltersheim<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> wohnte in der Schleiermachergasse!
+Arnold atmete auf; nun konnte die Sache für seinen Freund Fridolin
+nicht mehr schlimm werden.</p>
+
+<p>»Ich habe den ganzen Schlachtplan fertig, Exzellenz!« rief er nach
+einigem Nachdenken zuversichtlich. »Es wird ein Sensationsprozeß
+von höchster politischer Bedeutung werden! Es sind schon aus
+geringfügigeren Anlässen große Dinge hervorgegangen. So wird auch
+manchem unser Fall im Anfang nicht sehr erheblich erscheinen wollen,
+und doch dürfte die Welt eines schönen Tages erwachen und die Tatsache
+vorfinden, daß wir aus diesem scheinbar geringfügigen Anlaß — die
+Opposition zerschmettert haben!«</p>
+
+<p>Der Ministerpräsident hörte das nicht ungern, und er nickte seinem
+eifrigen Anwalt ermunternd und verständnisinnig zu. Das war ja auch
+sein geheimer staatsmännischer Gedanke gewesen. Der Sack sollte
+geschlagen werden, aber nicht der Sack war es, der gemeint war.</p>
+
+<p>»Exzellenz sind zu gut!« rief Arnold, immer wärmer werdend. »Nachsicht
+wäre hier nicht am Platze; es stehen hohe Interessen auf dem Spiele.
+Lassen Sie nur mich machen. Die Welt soll etwas erleben! Wir wollen
+doch sehen, ob Stadt und Staat einer Rotte von Übermütigen preisgegeben
+sein soll! Wir werden den öffentlichen Verkehr sichern und säubern<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> und
+das Land von einer Landplage befreien. Der Dank der Patrioten soll der
+Lohn für unsere Mühe sein!«</p>
+
+<p>Arnold wurde mit den nötigen Vollmachten zur Vertretung des
+Präsidenten in dieser Sache versehen, und als er sich darauf von ihm
+verabschiedete, um sofort an die Arbeit zu gehen, da blieb jener in
+zuversichtlicher und gehobener Stimmung zurück, die höchstens dadurch
+einigermaßen getrübt wurde, daß die Rippe doch nicht mehr so recht weh
+tun wollte.</p>
+
+<p>Aber auch die Gegner waren nicht müßig geblieben. Der Ausschuß der
+»Numidier« hatte sich sofort, nachdem der fatale Zwischenfall bekannt
+geworden war, zu einer Beratung zusammengetan und eine Reihe sehr
+ernster Beschlüsse gefaßt. Das ausführliche Schreiben, durch welches
+Arnold als der Vertreter des Privatklägers von den Ergebnissen der
+Ausschußberatung verständigt wurde, wurde ihm von Fridolin selbst
+überbracht, der an den Beratungen natürlich auch teilgenommen hatte.</p>
+
+<p>Mit diesem Schriftstück bewaffnet, erschien er zwei Tage nach seiner
+letzten Unterredung mit dem Ministerpräsidenten im Präsidialbureau.
+Es hatte diesen nicht länger im Bette gelitten, und in heroischem
+Pflichtbewußtsein hatte er, nachdem die Sache mit der Rippe sich
+noch immer nicht aufgeklärt hatte, erklärt, daß er nun doch wieder
+»regieren« gehen müsse.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span></p>
+
+<p>»Das ist unser erster Triumph!« rief Arnold, indem er dem Präsidenten
+das Schriftstück vorwies. »Die Radfahrer kriechen schon zu Kreuze!
+Unsere Sache steht ausgezeichnet!«</p>
+
+<p>Der Exzellenzherr schmunzelte vergnügt und bat Arnold, ihm das
+Schriftstück vorzulesen, und Arnold las:</p><br>
+
+<p class="r5">»<em class="gesperrt">Gerolsteiner Radfahrerklub</em></p>
+<p class="r15"><em class="gesperrt">›Die Numidier‹.</em></p>
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">An Se. Hochwohlgeboren Herrn <em>Dr.</em> Arnold Winter,</span><br>
+<span style="margin-left: 5em;">Rechtsvertreter Sr. Exzellenz des Herrn Tobias</span><br>
+<span style="margin-left: 5em;">Besenbeck, Ministerpräsident des Großherzogtums</span><br>
+<span style="margin-left: 5em;">Gerolstein</span><br>
+</p>
+<p class="r15">in Gerolstein.</p><br>
+<p>
+<span style="margin-left: 6em;">Hochgeehrter Herr!</span><br>
+</p>
+<p>Mit tiefer Entrüstung und aufrichtiger Teilnahme haben wir Kenntnis
+erhalten von dem beklagenswerten Unfall, dessen Opfer Se. Exzellenz
+der Herr Ministerpräsident infolge sträflicher Fahrlässigkeit und
+Ungeschicklichkeit eines unserer Klubmitglieder geworden ist. Es
+hieße unsere hohe Mission verkennen, wenn wir hier versuchen wollten,
+ein strafwürdiges Mitglied in Schutz zu nehmen. Wir haben eine hehre
+Aufgabe zu erfüllen; diese besteht aber nicht darin, daß wir ein
+einzelnes Mitglied schützen, das sich gegen die Gesamtinteressen
+vergangen hat, sondern darin, dem Staate zu dienen, indem wir unserem<span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span>
+Sporte dienen. Gewiß sind auch Sie, hochgeehrter Herr, nicht minder wie
+Ihr hoher Auftraggeber von der großen kulturellen und militärischen
+Bedeutung des Radfahrsportes für den Staat durchdrungen.«</p>
+
+<p>»Das ist ein Unsinn!« erklärte hier Se. Exzellenz. Arnold aber las
+weiter:</p>
+
+<p>»Ihnen brauchen wir also all das nicht zu erläutern, und wir
+begnügen uns daher mit der Erklärung, daß wir das schuldige Mitglied
+<em class="gesperrt">preisgeben</em>, und daß wir uns, soweit es nur gesetzlich zulässig
+ist, dem <em class="gesperrt">Strafverfahren anschließen</em>!«</p>
+
+<p>»Sie sehen, Exzellenz,« unterbrach hier Arnold die Lektüre, »schon
+haben wir die Herren von der Opposition zu uns herübergezogen!«</p>
+
+<p>»Das ist in der Tat gar nicht so übel«, meinte Besenbeck, wohlgefällig
+lächelnd; »doch lesen Sie weiter!« Und Arnold las:</p>
+
+<p>»Es ist der dringende Wunsch des ergebenst unterzeichneten Ausschusses,
+daß der schuldige Radfahrer bestraft, möglichst strenge bestraft
+werde, und auch wir wollen unserseits alles tun, was zur Klarstellung
+des Sachverhaltes dienen kann. Nichts soll in diesem Falle den Lauf
+der Gerechtigkeit hemmen. Wir wollen beweisen, daß, wenn <em class="gesperrt">ein</em>
+Radfahrer schuldig ist, es doch nicht <em class="gesperrt">alle</em> sind; wir wollen
+zeigen, daß wir mit einem wirklich Schuldigen nicht gemeinsame<span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span> Sache
+machen. Mit Rücksicht auf den hier erwähnten Zweck haben wir uns zu
+zwei Kundgebungen entschlossen. Es soll erstens ein Aufruf an unsere
+Mitglieder erlassen und zweitens ein Artikel über den Vorfall in der
+nächsten Sonntagsnummer des ›Morgenblatt‹ veröffentlicht werden. Zur
+gerechten Beurteilung der ganzen Angelegenheit ist es unumgänglich
+nötig, daß ein Lokalaugenschein aufgenommen werde. Es wird sich
+dabei bis zur Evidenz herausstellen, daß es bei auch nur einiger
+Aufmerksamkeit dem schuldigen Radfahrer ein leichtes sein mußte, der
+Persönlichkeit Sr. Exzellenz auszuweichen, beziehungsweise sie zu
+umfahren; es wird sich herausstellen, daß auch für eine solche Kurve
+die Straße noch breit genug ist. Es muß also eine Gerichtskommission
+in die <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em> entsendet werden, damit sie den
+Schauplatz der Tat studiere. Das Unglück geschah vor dem Hause Nr. 12
+in der <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em>.«</p>
+
+<p>»Das ist eine freche Lüge!« rief der Präsident wütend. — In dem Hause
+Nr. 12 wohnte nämlich die schöne Baronin Waltersheim. — Der junge
+Rechtsanwalt aber verlas das Schriftstück weiter:</p>
+
+<p>»Der Lokalaugenschein muß ferner, um allen Parteien gerecht zu werden,
+des Abends in der Dunkelheit vorgenommen werden, und unser Aufruf an
+die Mitglieder bezweckt nichts anderes, als sie aufzufordern,<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> sich der
+Gerichtskommission zur Verfügung zu stellen. Sie sollen vollzählig zur
+festgesetzten Stunde am Schauplatz der Tat erscheinen, und zwar, um die
+Arbeit der Kommission nach jeder Richtung zu erleichtern, mit Fackeln.
+—«</p>
+
+<p>»Die Schufte werden doch keinen Fackelzug vor dem Hause Nr. 12
+veranstalten wollen?« rief der Präsident förmlich atemlos in seinem
+Ingrimm. — Arnold las weiter:</p>
+
+<p>»Wir können versprechen, daß der Aufruf an unsere Mitglieder recht
+warm gehalten werden soll, und daß eine recht zahlreiche Beteiligung
+zu erhoffen sein wird. Der Aufruf wird mit dem Appell schließen: Auf,
+Sportgenossen, es gilt die gemeinsame große Sache! Auf, alle pünktlich
+in die <em class="gesperrt">Schleiermachergasse</em>! Sammelpunkt vor dem Hause Nr. 12.«</p>
+
+<p>Se. Exzellenz schnappte erneut nach Luft.</p>
+
+<p>»Dabei soll es aber nicht sein Bewenden haben. Am nächsten Sonntag
+soll auch ein Artikel erscheinen, der insbesondere unsere jüngeren
+Fahrer belehren soll. Der Artikel wird den Fall, wie sich's gebührt,
+kraß, aber natürlich wahrheitsgetreu schildern. Er wird den Titel
+führen: ›<em class="gesperrt">Die Katastrophe in der Schleiermachergasse</em>‹ — denn
+eine Katastrophe bedeutet der Fall für unseren Sport. Die Radfahrer
+müssen eindringlich gemahnt werden, in den Straßen der Stadt mit
+Vorsicht und Besonnenheit zu fahren; es<span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span> soll ihnen gesagt werden, daß
+jeder Staatsbürger das verfassungsmäßig gewährleistete Recht habe,
+nicht umgerannt zu werden, und daß der Bauch eines Ministerpräsidenten
+nicht vogelfrei sein darf. Es muß ihnen gesagt werden, daß sie unseren
+Sport schädigen, wenn sie unseren Ministerpräsidenten beschädigen. Wie
+Harun-al-Raschid in den Straßen Bagdads, wie Numa Pompilius durch die
+Straßen Roms, wenn er heimlich seine Egeria aufsuchte, so wandelte
+er still und unerkannt durch die Schleiermachergasse, das Wohl des
+Staates erwägend — und dabei sollte er seines Lebens nicht sicher
+sein? Das wäre ein ganz unhaltbarer Zustand, und das muß unseren
+Radfahrern gesagt werden. Sie sehen, hochgeehrter Herr, wir sind ganz
+auf Ihrer Seite und bereit, alles zu tun, um Sie in Ihren Bemühungen,
+den Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen, nach jeder Richtung
+hin zu unterstützen. Wir sind weit entfernt davon, etwas vertuschen zu
+wollen, und werden Ihnen immer gerne behilflich sein, die Sache nicht
+einschlafen zu lassen.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 1em;">Mit sportlichem All Heil!</span><br>
+<span style="margin-left: 3em;"><em>Dr.</em> A. <em class="gesperrt">Wohlrab</em>, Präsident.</span><br>
+<span style="margin-left: 3em;"><em>Dr.</em> Fr. <em class="gesperrt">Bruckner</em>, dzt. Schriftführer.«</span><br>
+</p><br>
+
+<p>»Was?« rief der Präsident, als Arnold zu Ende gelesen hatte, »der
+Schriftführer heißt <em>Dr.</em> Bruckner?! Ist das am Ende gar derselbe,
+der —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p>
+
+<p>»Es scheint.«</p>
+
+<p>»Das ist stark!«</p>
+
+<p>»Es ist jedenfalls ein Zeichen von hoher Objektivität, wenn er selbst
+den Stab über sich bricht.«</p>
+
+<p>Der Präsident sah sich Arnold etwas genauer an. Ob der junge Mann wohl
+etwas gemerkt hat? Arnold bestand die Prüfung zur Zufriedenheit des
+Präsidenten, der nun überzeugt war, daß er nichts gemerkt hätte. Das
+nahm ihn für den jungen Rechtsanwalt ein.</p>
+
+<p>Der Ministerpräsident nahm eine Miene der Überlegenheit an, als
+ihn Arnold zu dem bisher schon erreichten prozessualen Erfolge
+beglückwünschte, und sagte dann, zwar noch immer ernst, aber doch sehr
+leutselig:</p>
+
+<p>»Leider habe ich jetzt doch nicht die Muße, den Prozeß weiter zu
+verfolgen. Es zeigen sich ernste Verwickelungen in unserer auswärtigen
+Politik, und da habe ich nicht die Zeit, meinen Privatpassionen
+nachzugehen.«</p>
+
+<p>Arnold tat sehr betrübt, als der weitblickende Staatsmann das
+Schriftstück der »Numidier« in den Papierkorb warf und ihn beauftragte
+»abzurüsten«, da es nicht zum Kriege kommen solle, — die Sache sei es
+ja doch nicht wert. Wenn man den Kasus genau betrachte, müsse man ihn
+für einen geringfügigen halten. Arnold stimmte auch dem mit Wärme bei;<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span>
+er hätte das gleich und immer gesagt. Merkwürdig! Exzellenz konnte sich
+daran doch gar nicht erinnern!</p>
+
+<p>Arnold wurde aber von seinem hohen Auftraggeber mit noch einer
+weiteren, mehr diplomatischen Mission betraut. Er sollte auch bei der
+gegnerischen Seite abwiegeln. Das müßte natürlich klug angestellt
+werden. Es sollte so herauskommen, als ob er, der Ministerpräsident,
+die kleine Torheit gnädigst verzeihen wolle, und daß er es für
+wünschenswert halte, daß von dem Vorfalle nichts in die Öffentlichkeit
+dringe; das sei schon notwendig mit Rücksicht auf seine Autorität.
+Arnold könne auch versprechen, daß, falls diese Wünsche die
+entsprechende Beachtung fänden, der Radfahrsport, dem tatsächlich eine
+hohe Bedeutung nicht abzusprechen sei, von Seite der Obrigkeit stets
+eine nachdrückliche Förderung erfahren solle.</p>
+
+<p>»Sehen Sie, mein junger Freund,« schloß der Präsident, »so macht man
+Politik! So gewinne ich die Opposition viel sicherer, als durch Zank
+und Streit. Es ist besser, die erregten Gemüter zu beruhigen, als die
+Leidenschaften zu entfesseln.«</p>
+
+<p>Arnold ging, um seine Mission zu erfüllen, während der zurückbleibende
+und nun von jedem Zwange befreite Präsident in seinem tiefen Ingrimm
+nur bei dem Gedanken einige Beruhigung fand, daß es auf jene
+gottvergessene Rotte Korah einmal doch noch Pech und Schwefel regnen
+müsse.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span></p>
+
+<p>Das Resultat seiner Bemühungen, das Arnold am nächsten Tage Sr.
+Exzellenz zu berichten hatte, war kein durchaus befriedigendes. Die
+»Numidier« als solche waren zwar gewonnen, der Ausschuß ebenfalls,
+nicht minder der Klubpräsident und Redakteur des »Morgenblattes«, aber
+der eigentliche Schuldige selbst, der war durchaus nicht zur Vernunft
+zu bringen.</p>
+
+<p>»Ja, was will denn der Mensch?« fragte Besenbeck erstaunt.</p>
+
+<p>»Exzellenz, er behauptet, ein ›Schafskopf‹ genannt worden zu sein!«</p>
+
+<p>»So, so; behauptet er das? Dann wird es wohl auch richtig sein.«</p>
+
+<p>»Und den möchte er nicht auf sich sitzen lassen.«</p>
+
+<p>»Dann werden wir den ›Schafskopf‹ zurücknehmen.«</p>
+
+<p>»Damit will er sich nicht mehr begnügen.«</p>
+
+<p>»Was meint der Narr noch? Soll ich mich mit ihm schlagen?«</p>
+
+<p>»Das würde er für ungesetzlich halten.«</p>
+
+<p>»Ja, was in aller Welt will er sonst?«</p>
+
+<p>»Er will seinen Prozeß.«</p>
+
+<p>»Was?« schrie nun Se. Exzellenz wütend. »Seinen Prozeß mit Fackelzug
+und berittenen Bannerträgern vielleicht?!«</p>
+
+<p>»Er ist so furchtbar starrköpfig,« klagte Arnold, »und wir haben kein
+Mittel, ihn von der Klage abzuhalten.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span></p>
+
+<p>»Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich jetzt zu solchen Dummheiten
+keine Zeit habe. Die Sache muß hintertrieben werden um jeden Preis,
+hören Sie — um jeden Preis?!«</p>
+
+<p>»Exzellenz, einen Ausweg hat er mir allerdings angedeutet, aber ich
+wage nicht —«</p>
+
+<p>»Nur heraus damit; die Sache muß hintertrieben werden!«</p>
+
+<p>»Exzellenz, es ist so seltsam, was er verlangt, daß ich wirklich
+kaum den Mut finde, sein Ansinnen hier zu wiederholen. Er meint, die
+Beleidigung, die ihm hier widerfahren sei, könne ein Ehrenmann sich
+höchstens von einem ihm sehr nahestehenden Manne, so gewissermaßen nur
+von einem Familienmitgliede gefallen lassen.«</p>
+
+<p>»Ich kann doch ihm zuliebe jetzt keine Verwandtschaft zwischen ihm und
+mir herzaubern!«</p>
+
+<p>»Derselben Ansicht war auch ich, Exzellenz, er aber meinte, daß dies
+doch möglich wäre.«</p>
+
+<p>»Das ist ja ein kompletter Narr!«</p>
+
+<p>»Gar so unmöglich ist die Sache auch wirklich nicht, das heißt —
+sofern Exzellenz nur zuzustimmen geneigt sein sollten. — <em>Dr.</em>
+Bruckner liebt nämlich das gnädige Fräulein, Ihre Nichte, und wird von
+ihr wiedergeliebt.«</p>
+
+<p>Der Herr Ministerpräsident schnappte nach Luft und blies sie dann
+wieder von sich wie ein Blasebalg.<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> Die mächtige Präsidentenglocke
+wurde in Schwung gesetzt und dem sofort eintretenden Lakai bedeutet,
+daß Fräulein Käthe sofort in der Präsidialkanzlei zu erscheinen habe.
+Käthe kam auch hereingewirbelt wie ein Frühlingssonnenstrahl.</p>
+
+<p>»Sage mal, Käthe,« begann der gestrenge Leiter der politischen
+Geschicke des Großherzogtums Gerolstein, »was würdest du sagen, wenn
+wir dich aus Gründen der Staatsräson verheiraten wollten?«</p>
+
+<p>»Aus Gründen der Staatsräson heiratet man gewöhnlich einen Prinzen«,
+erwiderte Käthe.</p>
+
+<p>»Ja, einen Prinzen! Den würdest du allerdings nehmen!«</p>
+
+<p>»Den würde ich allerdings nicht nehmen!«</p>
+
+<p>»Nicht?! Warum nicht?«</p>
+
+<p>»Weil ich keinen Prinzen will.«</p>
+
+<p>»So — das ist ein Grund; dagegen läßt sich nichts sagen. Wenn es nun
+aber kein Prinz wäre — aber lassen wir das vorläufig. Sage mal, Käthe,
+— wir wollen jetzt von etwas anderem sprechen, — kennst du einen
+Herrn <em>Dr.</em> Friedrich Bruckner?«</p>
+
+<p>Käthe wurde feuerrot im Gesicht, aber sie nickte tapfer ein Ja!</p>
+
+<p>»So! Davon weiß ich ja gar nichts! Woher denn? Wenn ich fragen darf?«</p>
+
+<p>»Ach, Onkel, das erzähle ich dir ein anderes Mal. Wenn aber die
+Staatsräson da verlangen sollte —«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p>
+
+<p>Käthe vollendete den Satz nicht. Sie sah, wie ihr der Onkel und Vormund
+aufmunternd zulächelte, und sie warf sich ihm in stürmischer Freude an
+die Brust.</p>
+
+<p>»O, du süßer, du lieber, du guter, guter Onkel!« rief sie, indem sie
+ihn küßte.</p>
+
+<p>Der Präsident war ganz gerührt und rief dann wohlwollend zu Arnold
+hinüber, der sich diskret in eine Fensternische zurückgezogen hatte:</p>
+
+<p>»Sehen Sie, mein junger Freund, so arrangiert man schwierige Dinge, und
+so löst man bedenkliche Konflikte. Benachrichtigen Sie den jugendlichen
+Starrkopf, und sagen Sie ihm, ich hoffte, daß wir noch gute Freunde
+werden würden!«</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p>
+
+<h2>Eine Entlarvung.</h2>
+</div>
+
+<p>Erich Rodebach, der deutsche Stahlmagnat, auf dessen Wink zehntausend
+Arbeiter und Beamte einzuschwenken hatten wie die bestgedrillten
+pommerschen Füsiliere, war aus dem Wuppertale, in dem sich sein
+industrielles Königreich ausbreitete, in einem Zug nach Nizza gefahren,
+um doch selber nach dem Rechten zu sehen. Frau und Tochter — seine
+einzige Tochter — hatten einige Wochen vorher eine Vergnügungsreise
+angetreten und weilten nun an der Riviera. Ihre Briefe aus Nizza waren
+einigermaßen beunruhigend gewesen. Da ward viel phantasiert von einem
+entzückenden exotischen Prinzen, den sich Alma, sein Herzenskind,
+im Fluge erobert hätte. Alma erwiderte seine Liebe, und ein stilles
+Verhältnis besiegelte vorläufig den schönen Bund. Ein stilles
+natürlich, denn offiziell sollte die Sache erst werden, wenn Papa erst
+selbst gesehen und seinen Segen dazu gegeben haben würde.</p>
+
+<p>Rodebach hatte einen instinktiven heillosen Respekt vor entzückenden
+exotischen Prinzen, die in Nizza in so naher Nachbarschaft von Monte
+Carlo auftauchen.<span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span> Er machte sich also schleunig auf und kam und
+sah und forschte und ließ forschen, und er fand seine schlimmsten
+Befürchtungen nicht nur bestätigt, sondern durch die Tatsachen
+noch weitaus überboten. Das Frauenzimmervolk ist doch von einer
+unglaublichen Naivität! Er hatte in wenigen Tagen die Wahrheit
+herausgebracht, und nun war er daran, Schluß zu machen. Dazu fühlte
+er sich Mannes genug, ohne erst die Hilfe der Behörden in Anspruch
+zu nehmen. Er war ein weltkundiger Mann, ein Mann der Praxis. Jetzt
+wollte er Ordnung machen. Er fühlte sich sicher. Das Material, das
+er in der Hand hatte, war ein erdrückendes. Nun hatte er sich den
+»Prinzen« vorgeladen und nun sollte die Entlarvung und darauf prompt
+der Hinauswurf erfolgen.</p>
+
+<p>Der Prinz, der mingrelische Prinz Bradian, wurde gemeldet, und in
+der nächsten Minute standen sich die beiden Männer in dem eleganten
+Salon des vornehmen Hotels gegenüber. Ein starker Kontrast, die
+beiden Erscheinungen. Rodebach wuchtig, in schier überlebensgroßen
+Dimensionen gestaltet, mit angegrautem, aber dichtem Haupthaar und
+starkem Knebelbart, buschigen Augenbrauen, wulstigem, gerötetem
+Gesicht; der Prinz eine zarte, zierliche Figur, jugendlich schlank, mit
+gescheiteltem, glänzend schwarzem Haar und kleinem Schnurrbärtchen,
+mit wunder<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> hübschen schwarzen schwärmerischen, wie in schwermütiger
+Träumerei aufblickenden Augen, das Antlitz ein wenig bleich, etwa von
+der Farbe des nachgedunkelten Elfenbeins. Er verneigte sich stumm und
+machte nicht den Versuch, seinem Partner die Hand entgegenzustrecken.
+Rodebach hieß ihn mit einer Gebärde Platz zu nehmen.</p>
+
+<p>»Sie können sich denken, weshalb ich Sie herbeschieden habe.«</p>
+
+<p>»Ich habe allerdings so eine dunkle Ahnung, Herr Rodebach, möchte
+aber nicht vorgreifen. Bitte!« Und er lud mit einer Handbewegung den
+gebietigen Mann ein, vorzubringen, was er auf dem Herzen habe.</p>
+
+<p>»Gut. Wie Sie wünschen. Sie wissen, daß ich Sie vom Fleck weg verhaften
+lassen kann.«</p>
+
+<p>»Das können Sie nicht, Herr Rodebach. Aber Sie gestatten ja, daß ich
+mir eine Zigarette anzünde. Das Gespräch scheint interessant werden zu
+wollen, und unter Männern spricht es sich angenehmer, wenn man dabei
+raucht. Vielleicht angenehm? Nicht? Schade!«</p>
+
+<p>Und damit steckte er die goldene Zigarettendose wieder ein, die er
+dargeboten hatte, und versorgte sich aus einem gleichfalls goldenen
+Zündhölzchenbehälter mit Feuer.</p>
+
+<p>»Ich wiederhole, daß ich Sie sofort verhaften lassen kann.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p>
+
+<p>»Ich wiederhole, daß Sie das nicht können, mit dem besten Willen nicht.
+Sie sind da vollständig im Irrtum, Herr Rodebach; ich weiß das besser!«</p>
+
+<p>»Sie sind nicht das, wofür Sie sich ausgeben.«</p>
+
+<p>»Ich könnte zwar durch meine Papiere, die vollständig in Ordnung sind,
+beweisen, daß ich wirklich Prinz Bradian von Mingrelien bin, aber ich
+lege auf solche Kleinigkeiten kein Gewicht. Ich gebe Ihnen ohne weiters
+zu, daß ich kein angeborenes Recht habe, als Prinz aufzutreten. Man hat
+manchmal so seine kleinen Launen!«</p>
+
+<p>»Herr, Sie sind ein Unverschämter! Ich werde Sie aber zwingen, von
+Ihrem hohen Roß herabzusteigen.«</p>
+
+<p>»Ganz wie ich vermutet; die Sache verspricht interessant zu werden.«</p>
+
+<p>»Ihr wahrer Name ist Moriz Hofmann; geboren und zuständig zu Nikolsburg
+in Mähren.«</p>
+
+<p>»Vollkommen richtig. Ich bin stolz darauf und denke nicht daran, es in
+Abrede zu stellen.«</p>
+
+<p>»Sie sind vierzig Jahre alt und nicht, wie Sie sich ausgegeben haben,
+achtundzwanzig.«</p>
+
+<p>»Ich betrachte es als einen hübschen persönlichen Erfolg, daß man mir
+die achtundzwanzig geglaubt hat.«</p>
+
+<p>»Sie sind ein berüchtigter Verbrecher. Von den vierzig Jahren haben Sie
+zwölf in den Zuchthäusern verschiedener Herren Länder verbracht!«</p>
+
+<p>»Sie sehen, wie die Rechnung stimmt. Diese zwölf<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> Jahre habe ich aus
+meinem Leben gestrichen, — bleiben genau achtundzwanzig. Ich war
+berechtigt dazu. Denn — sagen Sie selbst, Herr Rodebach — so ein
+Leben in den Gefängnissen — ist denn das wirklich ein Leben?!«</p>
+
+<p>»Ich bin also hinreichend berechtigt, Sie nun mit Fußtritten aus meinem
+Zimmer zu jagen!«</p>
+
+<p>»Nicht so, Herr Rodebach! Mir wäre das ja ein ganz erwünschter Vorgang,
+und ich habe ihn auch schon in ernste Erwägung gezogen. Wenn Sie
+also durchaus wollen — bitte, bedienen Sie sich. Ich möchte Ihnen
+abraten, obschon ich keinen Versuch der Gegenwehr machen würde. Das
+wäre nicht nur unnütz, es wäre auch unklug. Warum soll ich nicht einmal
+die Treppe hinunterstiegen? Wenn ich Glück habe, setzt es dabei eine
+bessere Verwundung ab. Für einen Nervenschock garantiere ich, — und
+Nervenschocks sind nicht billig!«</p>
+
+<p>»Ich muß sagen, einer solchen Frechheit gegenüber bleibt mir der
+Verstand stehen!«</p>
+
+<p>»Und ich, Herr Rodebach, muß wiederholt andeuten, daß Sie den Ton, auf
+den Sie unsere Unterhaltung zu stimmen versuchen, recht unglücklich
+gewählt haben. Ich fühle mich — Sie wissen sehr wohl, aus welchen
+zarten Rücksichten —«</p>
+
+<p>»Ich verbiete Ihnen, auch nur ein Wort <em class="gesperrt">davon</em> zu sprechen.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p>
+
+<p>»— verpflichtet, Ihre Interessen zu wahren. Sie reiten sich ja immer
+tiefer hinein und liefern sich mir förmlich in die Hände. Alles, was
+Sie sinnen und reden, drängt in schnurgerader Linie zu einem großen,
+europäischen Skandal, den zu vermeiden Sie dringendere Gründe haben
+als ich. Nichts kann klarer sein. Auf der einen Seite meine Ehre, —
+ich beschönige nichts — die Ehre eines Hochstaplers, auf der andern
+der Name Ihres Hauses — reden wir nicht weiter! Die Partie steht zu
+ungleich zu Ihren Ungunsten.«</p>
+
+<p>»Darin haben Sie allerdings recht!«</p>
+
+<p>»Wie ich denn überhaupt Wert darauf lege, immer korrekt zu denken und
+korrekt zu handeln.«</p>
+
+<p>»Der edle Stolz eines Gauners!«</p>
+
+<p>»Herr Rodebach, ich kann Ihnen den sanften Vorwurf nicht ersparen, daß
+Ihr Diapason noch immer falsch gestimmt ist. Es ist ausschließlich
+<em class="gesperrt">Ihr</em> Interesse, mich nicht zu verstimmen. Je höher ich als
+Ehrenmann vor Ihren Augen und jenen der Welt dastehe, desto besser
+für Sie. Rekapitulieren wir einmal, um zu sehen, wie sich die Dinge
+ausnehmen würden, wenn alles nach Ihrem Kopfe ginge. Mit Ihrer gütigen
+Erlaubnis zünde ich mir dazu eine frische Zigarette an. Sie wissen ja,
+es spricht sich besser, wenn —«</p>
+
+<p>»Also gut; dann rauche ich auch eine Zigarre.<span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span> Das Vergnügen, einen
+philosophischen Betrüger anzuhören, ist ein seltsames und will mit Muße
+genossen sein.«</p>
+
+<p>»Die starken Ausdrücke tun mir weh, Herr Rodebach, weil Sie Ihre
+Position verschlechtern. Also fassen wir zusammen: Erst wollten Sie
+mich nur gleich ins Loch stecken lassen, weil ich mir den Titel
+eines Prinzen beigelegt habe. Das geht nicht. In Deutschland oder in
+Österreich hätte ich wegen Falschmeldung eine kleine Geldstrafe, immer
+noch keine Verhaftung, zu gewärtigen. Auf französischem Boden kümmern
+sich die Gerichte um solche Albernheiten nicht. Da kann sich einer auch
+einen Herzogstitel anmaßen und es kräht kein gallischer Hahn danach.
+Während Sie aber bei diesem Versuche nur durchgefallen wären, würden
+Sie mit Ihren andern Intentionen einfach reinfallen. Sie haben sich
+damit ganz in meine Hand gegeben. Unbesorgt — ich werde keinen unedlen
+Gebrauch von Ihren Unvorsichtigkeiten machen! Sie wollen mich zwingen,
+vom hohen Roß herabzusteigen. Was heißt das? Sie werden mich entlarven.
+Aber ich bitte — entlarven Sie! Wer hindert Sie? So schreien Sie es
+doch hinaus in die Welt: Dieser Mann ist kein Prinz; er ist der größte
+Hochstapler Mitteleuropas, und dieser Mann hat sich mit meiner Tochter
+verlobt!«</p>
+
+<p>»Das ist erlogen!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span></p>
+
+<p>»Pardon! In meinem Geschäfte habe ich immer auf Korrektheit gehalten.
+Ich behaupte nichts, was ich nicht beweisen kann. Ich bin in der
+angenehmen Lage, einem hohen Gerichtshofe eine ganze Anzahl von
+schriftlichen Beweisen vorzulegen. — Hat sich mit meiner Tochter
+verlobt, hat sie geküßt —«</p>
+
+<p>»Bube, ich schlage dich ins Gesicht!«</p>
+
+<p>»Das würde nichts beweisen und wieder nur Ihre Lage verschlechtern.
+Ich dagegen würde auch das beweisen, und zwar durch zeugeneidliche
+Vernehmung der beiden Damen, Ihrer hochverehrten Frau Gemahlin und
+meiner nicht minder hochverehrten Braut.«</p>
+
+<p>Wie von der Natter gestochen sprang Rodebach auf, als dieses letzte
+Wort an sein Ohr schlug. Sein ungleicher Partner mahnte aber zur
+Besonnenheit.</p>
+
+<p>»Bleiben Sie ruhig sitzen, Herr Rodebach. Diese Erregungen erschweren
+nur unsere Auseinandersetzung. Ich wollte nur dartun, daß Ihre Position
+als Angreifer eine unhaltbare ist. Weiters aber will ich Ihnen
+beweisen, daß Sie selbst <em class="gesperrt">mir</em> die Mittel an die Hand gegeben
+haben, zum Angriff überzugehen. Sie haben sich zu Ehrenbeleidigungen
+hinreißen lassen, und nichts hindert mich nun, meinerseits mit einer
+gerichtlichen Klage vorzugehen. Ich gebe mich keiner Illusion hin.
+Ich würde mit der Klage nicht durchdringen. Es fehlt uns das Moment
+der Öffentlichkeit, das zu einer regelrechten<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> Ehrenbeleidigung
+erforderlich ist. Sie würden freigesprochen werden, aber mir ist es
+gar nicht um Ihre Verurteilung zu tun. Dazu habe ich ein zu gutes
+Herz. Mir würde es vollständig genügen, unsere Angelegenheit vor der
+Öffentlichkeit verhandeln zu lassen.«</p>
+
+<p>»Auf alle Gefahr hin — Hofmann, Sie sind wirklich ein ausgemachter
+Schurke!«</p>
+
+<p>»Halten wir uns nicht mit leeren Redensarten auf. Ich habe noch andere
+Pfeile im Köcher. Wenn ich mit der Ehrenbeleidigung durchfiele, so
+würde ich mit der ›gefährlichen Drohung‹ mehr Glück haben. Sie erinnern
+sich der mir in Aussicht gestellten Gewalttätigkeiten. Ganz sicher aber
+hätte ich Erfolg mit dem ›Vorwerfen der ausgestandenen Strafe‹. Da
+würden Sie heilig eingehen.«</p>
+
+<p>»Ich würde es darauf ankommen lassen.«</p>
+
+<p>»Das glaube ich. Nicht aber auf die öffentliche Erörterung der
+Umstände! Sie können beruhigt sein. Ich denke nicht daran, gegen Sie
+irgendwie feindlich vorzugehen. Dazu schätze ich Sie und Ihre verehrten
+Angehörigen viel zu hoch.«</p>
+
+<p>»Wir fühlen uns außerordentlich geschmeichelt!«</p>
+
+<p>»Diese Ironie soll der Ausdruck einer Verachtung sein, die mir nicht
+ganz gerechtfertigt erscheint. Schließlich — ich habe das Herz Ihrer
+Tochter gewonnen!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span></p>
+
+<p>»Reden Sie nichts davon!«</p>
+
+<p>»Ich bitte um Verzeihung, ich muß davon reden, weil es schließlich klar
+werden muß zwischen uns. Sie hat mich liebgewonnen, und sie ist eine
+Heilige. Sie hat mich liebgewonnen — ich stelle es unter Beweis! —,
+und das muß doch einen Grund haben. So ganz verwerflich kann ich nicht
+sein. Ich habe keine Zauberkünste aufgewendet. Es war die einfachste
+Sache von der Welt. Wir haben uns kennen und lieben gelernt. Mit meinem
+Reichtum habe ich nicht geprunkt, und mein erborgter Titel kann sie
+nicht geblendet haben. Sie verkehrt nur in aristokratischen Kreisen und
+ist darüber hinaus, daß sie sich durch Titel blenden ließe. Sie werden
+ihr zehn, zwanzig, vielleicht fünfzig Millionen mitgeben — was weiß
+ich! Ich war nie so gemein, danach zu forschen, — da kann sie, wenn
+sie will, sich jeden Titel kaufen. Da Sie nun ein Vorurteil gegen mich
+haben ...«</p>
+
+<p>»Ein Vorurteil — gegen einen Betrüger?!«</p>
+
+<p>»Allerdings, ein Vorurteil. Gegen einen Betrüger? Ich zweifle nicht,
+daß in absehbarer Zeit eine vorgeschrittene und geläuterte Gesetzgebung
+den Betrugsparagraphen einer Revision wird unterziehen müssen. Im Kampf
+ums Dasein muß es Sieg und Niederlage geben. Siegen wird immer der
+Stärkere über den Schwächeren, der Klügere über den — Minder<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> klugen.
+Und jeder Sieg wird mehr oder minder ein Betrug sein. Es ist nicht
+anders im Kampf ums Dasein.«</p>
+
+<p>»Wie bereits erwähnt — ein philosophischer Gauner!«</p>
+
+<p>»Ich sehe, daß Sie von Ihrem Vorurteil nicht abzubringen sind, und
+darum — es mag Sie beruhigen, Herr Rodebach —, trete ich zurück und
+gebe meine Ansprüche auf.«</p>
+
+<p>»Reden wir deutlich. Was kostet das?«</p>
+
+<p>»Ach, Herr Rodebach, zu Erpressungen habe ich mich nie erniedrigt.
+Ferne sei es von mir —«</p>
+
+<p>»Keine Redensarten! Was kostet's?«</p>
+
+<p>»Ich will mein Leben ändern. Mein bisheriges Geschäft —«</p>
+
+<p>»Der Hochstapelei!«</p>
+
+<p>»Die Hochstapelei — war ganz schön, aber die Betriebskosten sind zu
+hoch. Man behält schließlich nie etwas übrig. Ich will ins bürgerliche
+Leben, ich will in die Armut zurückkehren. Mit zweitausend Mark glaube
+ich das Auslangen finden zu können.«</p>
+
+<p>»Ich denke auch, daß ein alleinstehender Mensch damit leben könnte.«</p>
+
+<p>»Mit zweitausend Mark monatlich —«</p>
+
+<p>»Monatlich?!«</p>
+
+<p>»Mit zweitausend Mark monatlich glaube ich in der Tat bei bescheidenen
+Ansprüchen mein Leben<span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span> fristen zu können. Es wäre Hochstapelei, Herr
+Rodebach, wenn ich weniger angäbe. Ich müßte dann doch wieder kommen
+und Ihnen Ungelegenheiten bereiten, und das möchte ich um keinen Preis.«</p>
+
+<p>»Hören Sie, das ist ein bißchen unverschämt, ein bißchen sehr!«</p>
+
+<p>»Ich verlange nicht das Kapital; es wäre nicht sicher in meinen Händen.
+Mir genügt es, wenn ich meine monatliche Rente pünktlich zugestellt
+erhalte.«</p>
+
+<p>»Unter der Voraussetzung, daß Sie als Moriz Hofmann untertauchen, nie
+in meinem Hause sich blicken und von der ganzen Angelegenheit kein Wort
+verlautbaren lassen!«</p>
+
+<p>»Das ist die selbstverständliche Bedingung. Die Rente hört auf, wenn
+ich diese Bedingung nicht einhalte.«</p>
+
+<p>»Wünschen Sie etwas Schriftliches?«</p>
+
+<p>»Nein, Herr Rodebach. Nicht etwa nur, weil mündliche Verträge dieselbe
+bindende Kraft haben, sondern überhaupt, weil Ihr Wort mir die beste
+Bürgschaft bietet, die es auf der Welt gibt.«</p>
+
+<p>»Gut. Sie werden meinem Hause Ihre Adresse angeben, und die Sendungen
+werden regelmäßig erfolgen. Und somit wären wir fertig. Sie reisen
+sofort ab.«</p>
+
+<p>»Sofort, Herr Rodebach, nur muß vorher noch<span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span> anstandshalber eine kleine
+Formalität erledigt werden. Hier meine Hotelrechnung, — ich bin
+momentan wirklich nicht in der Lage, sonst würde ich mir gewiß nicht
+erlauben —«</p>
+
+<p>»Geben Sie her; ich werde das Geld sofort hinüberschicken.
+Donnerwetter! Dreitausendzweihundert Francs — Sie haben nicht schlecht
+gelebt, Hofmann!«</p>
+
+<p>»Ich habe nie schlecht gelebt, Herr Rodebach, außer wenn ich — auf
+Ferien war.«</p>
+
+<p>»Gut, soll auch gemacht werden. Adieu!«</p>
+
+<p>Eine Verbeugung — und von diesem Augenblick an gab es einen Prinzen
+weniger auf der Welt.</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Hinterher fiel Herrn Rodebach etwas ein — <em>esprit d'escalier</em>!
+Er hatte sich den Kriminaldetektiv Schulze IV aus Berlin verschrieben
+gehabt, der die Tatsachen feststellte und Photographie und
+Fingerabdrücke als Überführungsmaterial beschaffte. Nun erst — zu
+spät — erinnerte sich Rodebach an Dagobert. Wenn er dem die Sache
+übertragen hätte — er wäre sicher besser weggekommen. Was tut's? Er
+war's auch so zufrieden.</p><br>
+
+<hr class="full">
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span></p>
+
+<p class="s3 p4 center"><b>Wolfgang Lenburg,</b></p><br>
+
+<p class="s2 center">»Straße 27«.</p>
+<p class="center">Aus »Oberlehrer Müller«.</p>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span></p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span></p>
+
+<p class="p0 center">Mit Genehmigung der Verleger <em class="gesperrt">Gebrüder Paetel</em> in<br>
+<em class="gesperrt">Berlin</em> aus <em class="gesperrt">W. Lenburg</em> »<em class="gesperrt">Oberlehrer Müller</em>«.<br>
+Gbd. M. 3.—</p>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2>»Straße 27«.</h2>
+</div>
+
+<p>Wenn mich meine Bekannten jetzt fragen, wohin ich denn eigentlich seit
+dem ersten April gezogen sei, so beschleicht mich immer ein Gefühl der
+Beschämung.</p>
+
+<p>Früher habe ich auf die Frage nach meiner Wohnung stets frohgemut sagen
+können: Potsdamer Straße 73. Die »vier Treppen« schenkte ich mir, denn
+wer mich alsdann besuchen wollte, fand mich ja doch schon mit Hilfe
+des stummen Portiers. Nur bei solchen Menschen, deren Gehen mir lieber
+war als ihr Kommen, fügte ich mit hohler Stimme unheilverkündend noch
+hinzu: »Eigentlich sind es fünf, denn das Hochparterre ist so gut wie
+erster Stock.«</p>
+
+<p>Wer Berlin <em>W</em>, Potsdamer Straße wohnt, braucht sich nicht zu
+schämen, vorausgesetzt, daß er sonst keinen Grund dazu hat. Aber die
+Bezeichnung meines neuen Domizils, »Straße 27«, klingt denn doch gar
+zu sehr nach unbezahlten Baumaterialien, Trockenwohnern auf Halbmiete,
+Rückkompanie und Kulturmangel.</p>
+
+<p>»Straße 27!«</p>
+
+<p>Man sieht förmlich dabei im Geiste auf käfigartigen<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> Balkons zum
+Trocknen ausgebreitete Betten, Wäschestücke und Strümpfe, und
+darüberlugend Leute in Hemdsärmeln und viele Kinder mit ungeputzten
+Nasen.</p>
+
+<p>Herr Kommissionsrat Bräuer, dessen zwölfjährigem Sohne ich ein
+Jahr lang mit unbegrenzter Ergebnislosigkeit Nachhilfestunden im
+Lateinischen gegeben hatte, meinte, als ich ihm meine neue Wohnung
+nannte, in vorwurfsvollem Tone: »Sie hatten doch aber ein ganz gutes
+Einkommen und manche Nebeneinnahmen!«</p>
+
+<p>Und wie hört es sich nun gar an, wenn ich der Straßenbezeichnung noch
+meine Hausnummer zufüge: »Straße 27-34!« Gerade als wenn man auf dem
+Bahnhof eine Droschke nach der Blechkontrollnummer aufruft!</p>
+
+<p>Eine Tante von mir hat sich übrigens mit vieler Mühe die Nummer 2734 in
+der Königlich-Preußischen Klassenlotterie verschafft und ist ziemlich
+sicher, mit einem nicht unerheblichen Gewinn herauszukommen.</p>
+
+<p>Welch törichter Aberglaube!</p>
+
+<p>Das ist auch noch eine, freilich sehr, sehr schwere Kulturaufgabe
+der Schule, solch mittelalterlichen Köhlerglauben aus dem Herzen der
+Menschen zu roden.</p>
+
+<p>Die meisten meiner Bekannten sagen, wenn sie<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> hören, daß ich jetzt in
+der »Straße 27« wohne: »Nanu, warum denn?« oder »Achherrje, das ist
+wohl da hinten?« oder auch bloß: »Oh!«</p>
+
+<p>Nur Maler Rönne, mein alter, unentwegt manifestierender Schulkamerad,
+fand in der Fülle des Beileids keine Worte, sondern drückte mir nur
+stumm die Hand. Sonst gestaltete sich unser zufälliges Zusammentreffen
+auf der Straße immer zu einer geschäftlichen Transaktion, in welcher
+ich den Vorzug hatte, als »Selbstdarleiher« — Rückzahlung bis 1930
+ausgeschlossen — zu figurieren. So unangepumpt wie diesmal bin ich
+noch nie von Rönne losgekommen.</p>
+
+<p>Jetzt habe ich mir schon angewöhnt, immer zu sagen: »Straße 27, — aber
+es ist gar nicht so schlimm!«</p>
+
+<p>Und wirklich, so schlimm ist's auch gar nicht. Straße 27 liegt auch
+nicht »da hinten«, sondern in Berlin <em>W</em>. Ja, <em class="gesperrt">wirklich</em>, in
+Berlin <em>W</em>, und dicht am Kurfürstendamm.</p>
+
+<p>Auch muß ich gestehen, daß die Häuser in Straße 27 mit ihren niedlichen
+Erkern, verschiedenartig gestalteten Balkons und den lichtfrohen
+Hausfluren einen gewissen Individualismus haben und recht anheimelnd
+aussehen. Und mit einem Anflug von Stolz sehe ich noch einmal die
+Straße 27 hinab, ehe ich meinem Hause zuschreite.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span></p>
+
+<p>»Holla, siebenundzwanzig — vierunddreißig,« ruft mich da plötzlich der
+Vorsitzende unseres Literarischen Zentralvereins an, »wie geht's, wie
+steht's?«</p>
+
+<p>Im ersten Augenblick bin ich über das unerwartete Zusammentreffen mit
+meinem Vereinspräsidenten, dem Amtsrichter <em>Dr.</em> Scherbe, ebenso
+überrascht, wie über meine »Numerierung«. Ja, ich lasse unwillkürlich
+den Blick an meinem Anzug hinabgleiten, ob etwa die ominöse Zahl 27-34
+mir aufgestempelt oder angeheftet sein könne.</p>
+
+<p><em>Dr.</em> Scherbe bemerkt dies wohl und sagt, indem er mir lachend
+die Hand schüttelt: »Nichts für ungut, daß ich Sie mit Ihrem neuen
+Vereins-Spitznamen anrede. Jeder bei uns hat ja seinen, wie Sie
+wissen, nur Sie sind bisher immer noch ohne solchen davongekommen.
+Denn, wahrhaftig, bei Ihnen ist immer alles bisher so unauffällig, so
+wohlgeordnet und so regulär gewesen, daß man für Sie gar keine recht
+passende Bezeichnung hat finden können, wohlverstanden: <em class="gesperrt">bisher</em>.
+<em class="gesperrt">Jetzt</em> aber verdanken Sie Ihren Spitznamen Ihrer werten Straße.«</p>
+
+<p>»Hol' der Teufel die Straße,« sagte ich unwillig, »und den neuen
+Spitznamen dazu! Ich hasse solche ›<em>nick-names</em>‹.«</p>
+
+<p>»Na, Verehrtester,« erwiderte <em>Dr.</em> Scherbe mit beschwichtigender
+Handbewegung, »seien Sie darüber nur nicht so ungehalten. Wem anders
+denn<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> als Ihnen habe ich, der Amtsrichter Scherbe, den Beinamen
+›Scherbengericht‹ zu danken? — Übrigens hat solch eine Zahl 27-34 doch
+als Spitzname unleugbare Mängel,« fuhr der Amtsrichter nachdenklich
+und dozierend fort, »denn die meisten nannten Sie bald unter falscher
+Nummer.«</p>
+
+<p>»So«, sagte ich mit recht gemischten Gefühlen.</p>
+
+<p>»Ja,« meinte Scherbe, »und solch einem unhaltbaren Zustande mußte ein
+Ende gemacht werden. Ich selbst habe im geselligen Teil unserer letzten
+Vereinssitzung die Einziehung Ihres eben erst aufgefundenen Beinamens
+beantragt und durchgesetzt.«</p>
+
+<p>»Ich danke Ihnen,« erwiderte ich mit Wärme, »mir wär's wirklich recht
+fatal gewesen, und der Witz ist doch recht mäßig.«</p>
+
+<p>»Fand ich auch«, sagte Amtsrichter Scherbe zustimmend. »Dafür ist aber
+ein anderer, <em class="gesperrt">ganz</em> neuer Beiname für Sie gewählt worden, und
+zwar«, fügte er mit stolzem Bewußtsein hinzu, »von <em class="gesperrt">mir</em>.«</p>
+
+<p>Meine eben noch aufkeimende Dankbarkeit fing plötzlich an, sich in
+finsteren Haß zu verwandeln.</p>
+
+<p>»Und wissen Sie, alter Freund,« fuhr der Amtsrichter mit großem
+Selbstgefühl fort, »wissen Sie, wie ich dazu gekommen bin? Durch eine
+merkwürdige, aber naheliegende Ideenassoziation. Nämlich, wenn ich Ihre
+Zahl aussprach, mußte ich immer an Droschken denken, an Droschken, die
+von den<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> sogenannten Weißlackierten gelenkt werden. Ja, und da schlug
+ich für Sie den Namen ›<em class="gesperrt">Der Taxameter</em>‹ vor.«</p>
+
+<p>»Und was sagten die Herren Vereinsgenossen dazu?« fragte ich mit
+unverhohlenem Mißbehagen.</p>
+
+<p>»Ach,« sagte der Amtsrichter, vor Vergnügen sich förmlich schüttelnd,
+»die Kerls haben ja <em class="gesperrt">so</em> gelacht!« — — —</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span></p>
+
+<h3>Straße 27 erhält endlich einen Namen.</h3>
+</div>
+
+<p>Die Debatte über die Straßenbenennung hatte sich an jenem Abend noch
+bis nach Mitternacht hingezogen. Mein Kollege Schubert war auch bald
+nach mir aus der Versammlung fortgegangen, und der vorsitzende Major
+hatte, wie ich vom Schuhmacher Hegel bei der Ablieferung meiner neuen,
+doppelsohligen Schaftstiefel erfuhr, wegen Meinungsverschiedenheit
+hinsichtlich der Geschäftsordnung in galliger Stimmung das Präsidium
+niedergelegt und mit Protest das Lokal verlassen.</p>
+
+<p>Infolge der vorgerückten Stunde hatten nur noch Schuhmacher Hegel,
+Kolonialwarenhändler Grabow, zwei Zigarrenhändler, ein Friseur, vier
+von den fünf Fahrradhändlern der Straße und ein alter Kanzleisekretär
+a. D. an der weiteren Sitzung teilgenommen.</p>
+
+<p>Hegel leitete nun die Verhandlung und sprach zunächst sein Bedauern
+aus, daß einige Herren so geringes Interesse der Sache entgegenbrächten
+und vor der endgültigen Abstimmung schon aufgebrochen wären. Ebenso
+bedauerlich sei es, daß der Herr Major und seine Partei wegen einer an
+sich geringfügigen<span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span> Differenz die Versammlung verlassen hätten. Man
+solle doch nachgiebig und duldsam sein. Er selbst z. B. ziehe seinen
+Vorschlag, die Straße »Hans-Sachs-Straße« zu benennen, gern zurück.
+Er sehe ein, daß ein Straßenname hauptsächlich kurz und prägnant sein
+müsse. »Sachsstraße« allein täte dem Namen des großen Poeten und
+Schusters nicht die schuldige Ehre an, »<em class="gesperrt">Hans</em>-Sachs-Straße«
+aber wäre eben zu lang. Er sei ja auch eventuell erbötig, dem Herrn
+Major zuliebe, der ein guter Kunde von ihm sei, und nach dessen
+Leisten er nun schon seit zehn Jahren die Ehre habe zu arbeiten,
+die Straße Trainstraße taufen zu lassen, obwohl er selber bei den
+Schwedter Dragonern gestanden hätte, und schon aus dem Grunde eben die
+Bezeichnung Trainstraße unzutreffend wäre. Jedenfalls aber müsse dem
+bisherigen unhaltbaren Zustande ein Ende gemacht und noch heute die
+Petition an den Magistrat mit einem bestimmten Vorschlage abgesandt
+werden.</p>
+
+<p>Der Kanzleisekretär meinte, daß er Artillerist gewesen wäre und gegen
+eine Bezeichnung wie Kanonierstraße oder Artilleriestraße nichts
+gehabt hätte. Aber die gäbe es ja schon. Für »Train«straße könne er
+nicht stimmen. Man könne ja aber, schon um zu zeigen, daß man auch
+die Wünsche der Abwesenden nach Möglichkeit berücksichtigen wolle,
+den Vorschlag der beiden bebrillten Herren wieder aufnehmen und zum<span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span>
+Beschluß erheben, daß die Straße »Marlostraße« genannt werden solle. Er
+selber müsse offen bekennen, daß er von der Mar<em class="gesperrt">litt</em> wohl schon,
+aber noch nie von der Existenz eines Marlo oder so ähnlich etwas gehört
+hätte. Der Name an sich wäre ihm aber nicht unsympathisch.</p>
+
+<p>Darauf erhob sich wieder Schuster Hegel und erklärte, man könne ja
+»einen Komponist schließen« und die Straße »<em class="gesperrt">Marlitt</em>straße«
+nennen. Wenn Oberlehrer Müller erwähnt hätte, daß Marlo ein
+Schustersohn gewesen wäre, so könne er allerdings nicht sagen, ob
+die <em class="gesperrt">Marlitt</em> eine Schuster<em class="gesperrt">tochter</em> war, so sympathisch
+ihm speziell dies sein und für Zurücknahme seines eigenen auf
+»Hans-Sachs-Straße« lautenden Vorschlags Ersatz bieten würde.</p>
+
+<p>Und in wohl schon recht bierseliger Stimmung fügte der Meister, dem gar
+manchmal ein arger Schalk im Nacken saß, hinzu, daß die Herren Lehrer
+vielleicht auch die Namen, die Geschlechter und die Nebenumstände
+nur verwechselt hätten, und <em class="gesperrt">der Marlo</em> und <em class="gesperrt">die Marlitt</em>
+möglicherweise <em class="gesperrt">eine</em> Person wären. Solche Zerstreutheiten kämen
+gerade bei Gelehrten so häufig vor. Er selbst habe auch schon mal ein
+Paar Stiefel, die für den Herrn Major bestimmt waren, dem Oberlehrer
+Müller abgeliefert, der sie übrigens ruhig getragen hätte, obwohl
+er einen ganz anderen Leisten habe. Nachher könne man es gar nicht
+fassen,<span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span> daß man wirklich so zerstreut gewesen sei. Unzweifelhaft
+aber habe die Marlitt, deren Werke er selbst besitze, wie man so
+sage, »einen guten Stiebel« geschrieben. Und was Oberlehrer Müller
+und der andere Lehrer gesagt hätten, daß wir ihren Schriften eine
+Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
+unserer Dichtkunst zu verdanken haben, so könne er, Schuster Hegel,
+dies vollauf bestätigen. Er erinnere nur an »das Geheimnis der alten
+Mamsell«.</p>
+
+<p>Bei Erwähnung dieses Werkes wurde auch der Kanzleisekretär warm. Ja,
+es stellte sich die für die Marlitt sehr schmeichelhafte, für Marlowe
+aber tiefbeschämende Tatsache heraus, daß fast alle übrigen Anwesenden
+irgend etwas von der ersteren schon gelesen, von Marlowes literarischer
+Betätigung aber noch nie etwas vernommen hatten.</p>
+
+<p>Der Friseur entpuppte sich sogar als Kenner <em class="gesperrt">sämtlicher</em>
+Marlitt-Romane, und nur Poppelmann, der Radlerwirt, kennt weder Marlowe
+<em class="gesperrt">noch</em> Marlitt, da er früher nie für Lektüre geschwärmt hatte und
+jetzt auch nur die Inserate einer Radlerzeitung liest.</p>
+
+<p>So wurde denn einstimmig die Benennung »Marlittstraße« beschlossen und
+der hochwohllöbliche Magistrat der Haupt- und Residenzstadt Berlin
+durch Schuhmacher Hegel in nicht ungeübter Schrift, aber mit zum Teil
+schon recht fidelen Buchstaben<span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span> namens der versammelten Bewohner der
+Straße 27 ersucht, bewußte Straße in Zukunft »<em class="gesperrt">Marlittstraße</em>« zu
+benamsen, besonders »<em class="gesperrt">in Hinsicht darauf, daß wir der Marlitt eine
+Befruchtung des deutschen Genius, einen neuen Glanz und eine neue Blüte
+unserer Dichtkunst zu verdanken haben</em>«.</p>
+
+<p>Ich könnte über dies alles nicht so genau referieren, da ich ja nicht
+selbst Augen- und Ohrenzeuge der weiteren Verhandlungen war; aber
+Friedrich Hegel hat mir bei Überbringung meiner neuen Stiefel den
+ganzen Hergang mit peinlichster Genauigkeit erzählt.</p>
+
+<p>Wie der <em class="gesperrt">eigentliche</em> und endgültige Schlußakkord jenes Abends
+geklungen hat, kann ich freilich nur mutmaßen. Ich glaube aber, er ist
+nicht ganz rühmlich für Schuhmacher Hegel gewesen und soll für ihn
+noch ein polizeiliches Strafmandat wegen nächtlicher Ruhestörung und
+Widerstands gegen die Staatsgewalt im Gefolge haben.</p>
+
+<p>Tatsache ist, daß am folgenden Tage die Schuhmacherwerkstatt erst
+am späten Nachmittag geöffnet wurde, und das Blau des Himmels sich
+auf intensivste Weise in dem einen Auge des Philosophen Hegel
+widerspiegelte. —</p>
+
+<p>Mein Kollege Schubert wäre vermutlich zu jeder anderen Zeit über die
+Umformung seiner Absichten vom Schlage getroffen worden. Statt des
+alten<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> Faustpoeten die ihm verhaßte Marlitt! Aber augenblicklich ist
+er in einer so rosigen Stimmung, daß er die ganze Menschheit an seine
+Brust drücken möchte. Es ist ihm ja ein großes Glück geworden, — ihm
+ist ein Söhnlein geboren.</p>
+
+<p>Einen anderen Schuster will er sich aber doch nehmen, da er es dem
+braven Hegel nicht verzeihen kann, wenn er durch dessen Schuld künftig
+in der Marlittstraße wohnen muß.</p>
+
+<p>Übrigens kann er sich darüber beruhigen und ebenso die anderen
+Taufgevattern unserer Straße, denn keinem soll es nach Willen gehen,
+und das versöhnt ja untereinander. Der hochwohllöbliche Magistrat
+von Berlin hat aus eigener Entschließung die Straße mit einem Namen
+versehen, der zwar die vom Schuhmacher Hegel verlangte drakonische
+Kürze vermissen läßt, aber an sich auch recht hübsch wirkt.</p>
+
+<p>Seit gestern prangen unsere Straßenschilder mit der Bezeichnung:
+<em class="gesperrt">Herzog Ernst II. von Sachsen-Koburg-Gotha-Straße</em>.</p>
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span></p>
+
+<h3>Wir müssen ziehen.</h3>
+</div>
+
+<p>Schade!</p>
+
+<p>Gerade jetzt, wo die Wohnung überall so hübsch trocken geworden ist!</p>
+
+<p>Na ja, man hätte sich's ja denken können, daß man gesteigert werden
+würde.</p>
+
+<p>Aber schade ist's doch!</p>
+
+<p>Wir hatten uns schon so an die Physiognomie der Straße und ihrer
+Bewohner gewöhnt. Nun aber, das hilft dann nichts. Zweihundert Mark
+mehr zahlen, — das geht beim besten Willen nicht.</p>
+
+<p>»Ei, Frauchen, du wirst doch nicht Tränen in deine lustigen blauen
+Augen hineinlassen! Mir wird's ja auch nicht leicht, aus diesen Räumen
+zu scheiden, in denen wir unser Nest gebaut und unser glückliches
+Eheleben begonnen haben.«</p>
+
+<p>Und da liegt unser Kleinchen im Bett und schläft sanft und sicher und
+weiß nichts von Mietesteigern und Umzug. —</p>
+
+<p>Es ist doch schön, ein Fleckchen Erde so ganz sein eigen nennen zu
+können, das heißt — noch bei <em class="gesperrt">Leb</em>zeiten.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p>
+
+<p>Ach, wir modernen Nomaden!</p>
+
+<p>Und ich ziehe meine Frau zu mir heran und sehe trübe mit ihr aus dem
+Fenster, an dem gerade eine Schwalbe vorüberflattert, als wenn sie noch
+einen Scheidegruß bringen wollte, bevor sie wieder zum Süden zieht.</p>
+
+<p>Wo sie ihr Nest wohl hat? — Sicher nicht an unserem Hause!</p>
+
+<p>Großstadt und Schwalbennest!</p>
+
+<p>Aber bei uns, im kleinen mecklenburgischen Heimatsstädtchen, ja,
+<em class="gesperrt">da</em> war die Schwalbe heimisch, da nistete sie an meinem
+grünumrankten Vaterhause.</p>
+
+<p>Und ich erzähle meinem Frauchen aus meiner Kindheit, von meinem Vater,
+der als Bürgermeisterlein mit seiner zahlreichen Familie friedlich,
+wenn auch in wohlbegründeter Einfachheit lebte. Ja, <em class="gesperrt">der</em> hatte
+ein Heim, wie ich es mir ersehnte, eine Scholle, die ihm zu eigen
+gehörte!</p>
+
+<p>Und ich höre wieder das Windessäuseln in den beiden alten Pappeln, die
+vor der Haustür wie zwei mächtige Riesen Wacht hielten, atme den Duft
+der Blumen aus meiner Mutter Ziergärtchen und schmecke fast auf der
+Zunge die rotbäckigen Borsdorfer, die Malvasierbirnen, die blauen und
+gelben Pflaumen, die Erdbeeren und all die anderen Früchte, die unser
+schöner, schattiger Garten so mannigfaltig bot. Ach, und du fröhlicher
+gefiederter Sängerchor!</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span></p>
+
+<p>Wie herrlich war's im Elternhaus, und mein Vater war der glückliche
+Mann, der in diesem Paradiese, weit ab vom Weltgetriebe, als Herr und
+Gebieter hauste.</p>
+
+<p>Welche Ruhe, welch Glück, welch tiefer Frieden über dem Bilde!</p>
+
+<p>Wie goldener Sonnenstrahl zieht es an meinem Geiste vorüber und macht
+mein Herz in Sehnsucht schwellen.</p>
+
+<p>Und seltsam! Mein Vater wiederum sehnte sich hinaus aus dem Frieden
+und empfand wie Fesseln die kleinen Verhältnisse, die ihn an die
+Scholle bannten. Still für sich trug er die Sehnsucht nach dem
+Weltgetriebe, und pochenden Herzens verfolgte er die Zeitläufe, wie
+sie sich besonders in der Hauptstadt schnell und aufregend abspielten,
+während zu unserem Erdenfleckchen nur langsam diese und jene unruhvolle
+Kunde drang, so wie in geschützter Bucht kaum leichter Schaum von der
+scharfen Brandung eines aufgepeitschten Sees zeugt.</p>
+
+<p>Und jene Hoffnung, doch noch einmal nach der Residenz versetzt zu
+werden, hielt ihn jung und jugendfrisch. Aber dann wurden seine
+Wünsche ruhiger und immer ruhiger, — bis sie ihn hinaustrugen aus dem
+Hause, an den treuen, hohen Pappeln vorüber, von denen er sich oft
+hinweggesehnt hatte nach dem herzlosen kalten Häusermeer. — —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span></p>
+
+<p>Und <em class="gesperrt">mich</em> hat das Geschick nach der Großstadt geweht, und ich
+sehne mich nach dem Rauschen der alten Bäume und habe Heimweh nach dem
+sonnigen Garten meiner Kindheit.</p>
+
+<p>Wenn aber mein Lebensabend herankommt, so will ich ihn in dem
+Winkelchen jener kleinen Welt mit meinem tapferen Frauchen verleben und
+ausruhen von dem täglichen Kampf ums Dasein. Aber eben darum heißt's
+jetzt noch recht kämpfen.</p>
+
+<p>Leicht möglich, daß uns in jener abgeschiedenen Stille dann tiefe
+Sehnsucht nach der altgewohnten Großstadt beschleicht, so wie mein
+Vater sich wohl gern wieder aus dem verwirrenden Lärm zurückgeflüchtet
+hätte in die idyllische Ruhe der kleinen Stadt.</p>
+
+<p>Das Verpflanzen bekommt doch nur den ganz jungen Bäumen. —</p>
+
+<p>Sieh da, unser Visavis, Oberlehrer Schubert, am Fenster, seinem rosigen
+Sprößling zunickend, den ihm die junge, glückstrahlende Frau lachend
+entgegenhält.</p>
+
+<p>Also wieder wohlauf, Frau Wöchnerin, und so heiter und froh
+hinausgeschaut in den linden Septembertag?</p>
+
+<p>»Morgen will ich ihr einen Besuch machen,« sagt meine Frau, nach drüben
+hinüberschauend, »denn ihr Männer kennt euch doch nun, da ist's<span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span> nicht
+aufdringlich, wenn ich mich nach ihrem Befinden erkundige und mir das
+Kleinchen ansehe. Meinst du nicht auch?« —</p>
+
+<p>Die Schwalben haben ihren Flug längs der Straße aufgegeben und fliegen
+nun quer über den Damm, von unserem Fenster zu dem gegenüberliegenden
+von Schuberts, hinüber und herüber, leicht an der Mauer emporgleitend
+und dann sich sanft wieder senkend, in fortwährendem Wechselspiel, als
+wenn sie Grüße bringen und wieder zurücktragen wollten.</p>
+
+<p>Schuberts fällt auch das Spiel der Schwalben auf, und sie blicken
+nun zu uns grüßend herüber. Auch das junge Frauchen grüßt
+»unbekannterweise« mit Kopfnicken, und als ihr Gatte ihr einige Worte
+zuflüstert, da hebt sie mit holdem Erröten ihren kleinen Sprößling hoch
+empor, als wenn sie uns ihr junges Glück so recht zeigen wollte.</p>
+
+<p>»Liebchen,« flüsterte ich meiner Frau zu, »erinnerst du dich, wie
+wir unser Klein-Mariechen triumphierend den jungen, damals uns ganz
+unbekannten Eheleuten zeigten, und wie die junge Frau errötete und ihr
+Haupt an der Brust des Mannes barg?«</p>
+
+<p>»Ja, Lothar,« erwidert mein Frauchen leise, »ich weiß es noch sehr
+wohl.«</p>
+
+<p>»Auch ihnen ist bald ein holdes Glück erblüht, und hoffentlich scheint
+ihnen so hell wie uns eitel<span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span> Lust und Freude aus den Augen des kleinen
+Weltbürgers entgegen. Und nun sieh nur, wie sie den Kleinen dir wieder
+zuhält, ja, genau so, wie du unser Klein-Mariechen ihr entgegengehalten
+hast. Und wie brennend rot sie damals geworden ist! Ist's nicht so? —
+Nicht wahr, Frauchen, ist's nicht so?«</p>
+
+<p>Ich blicke zu meinem Weibe lächelnd und fragend herab, um in ihren
+Augen die Antwort zu suchen. Aber sie hat ihr glühendes Antlitz tief an
+meiner Brust verborgen und antwortet nicht.</p>
+
+<p>Und es entsteht plötzlich in meiner Seele ein merkwürdiges Klingen
+und Singen, und ich halte mein Frauchen fest umschlungen und küsse
+andächtig ihren blonden Scheitel. Und der Normaletat, der sich wie ein
+dichter, grauer Schleier über die Zukunft senken will, wird von den
+Strahlen der Sonne durchbrochen und weicht langsam von hinnen.</p>
+
+<p>»Frauchen,« sage ich nach einer kleinen Weile, »wenn wir nach Friedenau
+oder Steglitz hinaus ziehen, so zahlen wir weit weniger Miete und
+haben sogar noch etwas von der Natur. Ei, wie ich mich auf solchen
+Wohnungswechsel freue!</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Gewiß</em> freue ich mich und rede nicht nur so. Du weißt doch, wie
+ich die Natur liebe, das Grün der Wiesen und Bäume, die Alleen. Und
+<em class="gesperrt">das</em> fehlt uns hier doch gänzlich. Und denk' einmal, wenn<span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span> wir
+eine Parterrewohnung mit einem Vorgärtchen bekommen könnten, wo ich
+Blumen und Sträucher ziehen würde und du Petersilie.</p>
+
+<p>Wie schön, und welche Ersparnis!</p>
+
+<p>Oder wenn's nicht <em class="gesperrt">so</em> ist, dann doch immerhin <em class="gesperrt">Aussicht</em> auf
+Bäume und Gärten. Oder wenn's auch <em class="gesperrt">das</em> nicht ist, so könnten
+wir doch uns ein oder zwei Blumenbretter anlegen und darauf deine und
+meine Lieblingsblumen ziehen. Hier in Straße 27 wären die nie gediehen.
+Und wenn's dann auch vier Treppen hoch sein sollte, so haben wir doch
+unsere Blumen vor dem Fenster und sehen wie in einen Garten. Das ist
+denn doch schon der Vorgeschmack von unserem einstigen Eden, vom Ziel
+meiner Sehnsucht, vom alten grünumwobenen Vaterhaus.</p>
+
+<p>Und dahin wollen wir uns durcharbeiten, langsam, Tag für Tag, froh in
+der Arbeit, Frieden im Herzen, bis wir uns durchgerungen haben <em class="gesperrt">zur
+großen Müdigkeit</em>, die <em class="gesperrt">erworben</em> werden muß, um köstlich zu
+erscheinen, die, um willkommen zu sein, uns nicht plötzlich überfallen
+darf, sondern zu der wir hinübergleiten wie im seligen Traum.«</p>
+
+<p>»Ach,« seufzt meine Frau liebevoll, »wenn du nur immer ums tägliche
+Brot arbeiten mußt und durch die vielen Nachhilfestunden so ganz deiner
+literarischen Arbeiten verlustig gehst, wie sollst du<span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span> da froh und
+glücklich aufatmen können! Du wirst es nie verwinden, daß die Not des
+täglichen Lebens dich fern hält von deinen Zielen, deinen Liedern,
+deinem Trachten. Und nur um des elenden Geldes willen!«</p>
+
+<p>»Schätzchen,« sage ich ruhig und mit stillem Ernst, »ich bin innerlich
+so von Herzen zufrieden, und wenn du's auch bist, so braucht es nicht
+mehr. Es sind mir auch in letzter Zeit viele, leider zu berechtigte
+Zweifel gekommen, ob mein Wollen nicht mein Können weit überragt.
+<em class="gesperrt">Doch, doch</em>, sprich nicht dagegen! Ach, und dich betrübt es
+gewiß, wenn ich nicht, wie ich wahrlich selbst geglaubt und dir oft
+zugeflüstert habe, im Parnaß meinen Platz suche und finde.«</p>
+
+<p>»Lothar«, meint mein Weib, so recht froh und mit glänzenden Augen mich
+anschauend, als wenn ich ihr ein großes Glück verkündet hätte, »Lothar,
+ach, <em class="gesperrt">wenn's</em> doch so wäre! Ich habe im geheimen immer Angst
+gehabt, daß du mir durch den Ruhm entfremdet werden könntest. Ach,
+und nun bleibst du bei mir, auf unserer lieben, lieben, schönen Erde?
+Freilich würden wir ja durch deine Werke viel schneller zu Geld und
+Macht gelangen. — Ach, es ist gewiß nur eine vorübergehende Stimmung,
+die dich niederdrückt?«</p>
+
+<p>»Nein, nein! Sieh, wenn in den zehn Jahren,<span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span> seit welchen ich mich
+mit meinen ›unsterblichen Werken‹ befasse, nichts, gar nichts bisher
+entstanden ist, so habe ich mich doch sicher überschätzt und kann
+nur froh sein, wenn ich dies noch erkenne, ehe es zu spät ist. Ja,
+<em class="gesperrt">fühlen</em> kann ich das Schöne, Gute, Edle in der Brust und mir
+auch im Geiste gestalten, und ›das ist ein Gewinn, der niemals uns
+entrissen werden kann‹. Aber so gestalten, daß es andere sehen wie ich,
+<em class="gesperrt">darstellend schaffen</em> — Frauchen, Frauchen, ich fürchte, ich
+wollte über meinen Schatten springen. Viele sind berufen, aber wenige
+sind auserwählt. Und <em class="gesperrt">doch</em> sollen einmal meine Lieder erklingen.
+Aber dir nur allein! Und du sollst sie mir mit deiner lieben Stimme
+vorsingen, und unser Kleinchen soll sie nachsingen in deiner sanften
+Weise. Und für diese Köstlichkeit der Gegenwart gebe ich dann allen
+Glanz des Nachruhms hin.</p>
+
+<p>Und Geld?!</p>
+
+<p>Viel schneller zu Geld und Macht gelangen, wie du sagst? Ach, mein
+kleines, leichtgläubiges, vertrauendes Närrchen! — Sieh, wenn wir
+uns wacker durchkämpfen, Schritt für Schritt, dann erglänzt unser
+Lebensabend in so goldigem Schein, daß wir alles <em class="gesperrt">irdische</em> Gold
+entbehren können. Und nun fröhlich hineingeschaut in die Welt und mutig
+voran!« —</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p>Und als der Frühling wieder ins Land schaut, da räumen wir die Wohnung,
+um unseren Nachfolgern Platz zu machen.</p>
+
+<p>Aber wehmütig stimmt es uns doch, aus den vertraut gewordenen Räumen
+ausziehen zu müssen. Und heute ist der letzte Tag! — —</p>
+
+<p>Da klingelt es.</p>
+
+<p>Wer kann uns wohl noch aufsuchen wollen, wo es so unwirtlich überall
+aussieht, Koffer und Kisten gepackt sind und ein wildes Chaos in allen
+Räumen uns umgibt?</p>
+
+<p>Soso, nur der Postbote ist's.</p>
+
+<p>Aber welch offiziell aussehendes Schreiben mit großem Siegel übergibt
+er mir?</p>
+
+<p>»Lothar,« ruft meine Frau in freudiger Erregung, »du sollst sehen,
+der letzte Tag in der alten, lieben Wohnung bringt uns noch Glück.
+Vielleicht bist du zum Gymnasialdirektor ernannt worden. Man
+<em class="gesperrt">kann</em> doch gegen deine Vorzüge nicht blind sein!«</p>
+
+<p>»Du Närrchen, du, dazu bin ich noch lange nicht an der Reihe«, meine
+ich lächelnd, aber doch auch in einer mir ungewohnten Erregung.</p>
+
+<p>Nein, — es ist eine Trauerbotschaft vom Gericht. Die alte Tante ist
+verstorben, die einzige Verwandte, die ich noch hatte, obwohl ich sie
+nicht einmal von Angesicht zu Angesicht kannte.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span></p>
+
+<p>Meine Frau ist kleinlaut geworden und sieht in ihrer Enttäuschung ganz
+blaß aus.</p>
+
+<p>Daß mich die alte Dame, wie das Gericht mitteilt, zum Erben eingesetzt
+hat, vermag mein Frauchen nicht freudiger zu stimmen; denn sie weiß
+von mir, daß die Tante nur ein kümmerliches Witwengehalt bezog und nur
+über ein paar alter gebrechlicher Möbel verfügte, die sicher kaum den
+Transport verlohnen würden.</p>
+
+<p>»Aber nein, was ist das? Herrgott, ist's nur möglich?! Weibchen,
+Weibchen! Denke nur, die Tante hat auf ihr Lotterielos Nummer 2734
+vierzigtausend Mark gewonnen, und die gehören <em class="gesperrt">uns</em> nun.
+<em class="gesperrt">Uns!!</em> Da soll noch einmal jemand gegen den törichten Aberglauben
+reden!«</p>
+
+<p>»Lothar«, sagt mein Frauchen mutwillig und erhebt ihren kleinen
+Zeigefinger warnend, während in ihrer Stimme Freude und Glück zittern,
+»Lothar, den mittelalterlichen Aberglauben aus dem Herzen der Menschen
+auszuroden, soll und muß die hehre, wenn auch unendlich mühevolle
+Kulturaufgabe der Schule sein!«</p>
+
+<p>»Schatz,« erwidere ich jubelnd, »in diesem Falle plädiere ich für
+mildernde Umstände. Aber wem verdanken wir dieses Glück? Doch unserer
+alten, lieben Straße 27 und unserer braven Hausnummer 34. Da wär's
+eigentlich recht und billig, wenn ich denen ein kleines literarisches
+Denkmal setzte und über<span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span> ›Siebenundzwanzig-Vierunddreißig‹ ein
+Büchelchen schriebe, so wie ich's gerad' kann. Was meinst du?«</p>
+
+<p>»Lothar,« ruft entzückt meine kleine Frau, ihre Arme um meine Schultern
+legend, »ach, dann wirst du <em class="gesperrt">doch</em> vielleicht noch berühmt.«</p>
+
+<p>»Berühmt? Ei, ei, so leicht ist das Berühmtwerden nicht. Ich wäre schon
+zufrieden, wenn das Publikum wirklich mein Büchlein lesen würde.«</p>
+
+<p>»Du sollst sehen,« sagt mein Frauchen und sieht dabei so
+überzeugungsdurchdrungen aus, als wenn sie es schon verbrieft hätte,
+»das Publikum <em class="gesperrt">wird</em> dich lesen.« Und dann fügt sie, sich zärtlich
+an mich anschmiegend, mit kindlichem Vertrauen hinzu:</p>
+<p class="r15">»Schon <em class="gesperrt">mir</em> zuliebe.«</p><br>
+
+<hr class="full">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span></p>
+
+<p class="s3 p4 center"><b>Johannes Trojan,</b></p></div>
+
+<p class="s2 center">Wie man einen Weinreisenden los wird.<br>
+Kleine Leiden auf einer Landpartie.<br>
+Drei Gedichte.</p><br>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span></p>
+
+<p class="p0 center">Mit Genehmigung der <em class="gesperrt">J. G. Cotta</em>schen Buchhandlung<br>
+Nachfolger in <em class="gesperrt">Stuttgart</em> und <em class="gesperrt">Berlin</em>: »Wie man einen<br>
+Weinreisenden los wird« und »Kleine Leiden auf einer Land-<br>
+partie« aus »<em class="gesperrt">Johannes
+Trojan</em>, <em class="gesperrt">Das Wustrower<br>
+Königsschießen</em> u. a. Humoresken«. Gbd.M. 3,—.</p><br>
+
+<p class="p0 center">»Männertreue und Weiberkrieg« und »Der Glückstag aus«<br>
+»<em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, <em class="gesperrt">Gedichte</em>«. »Der Oberamtsrichter<br>
+von Neckarsulm« aus »<em class="gesperrt">Johannes Trojan</em>, <em class="gesperrt">Scherz-<br>
+gedichte</em>«. Gbd. M. 3,50.</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span></p>
+
+<h2>Wie man einen Weinreisenden los wird.</h2>
+</div>
+
+<p>Manche werden sagen, das sei überhaupt unmöglich, ich weiß aber, daß
+es geht, denn ich habe es mit Erfolg probiert. Freilich war ich nicht
+unvorbereitet, sondern hatte mir die Sache in Gedanken eingeübt. Die
+Firma <em class="gesperrt">J. G. Pfropfenberg</em> &amp; Comp. in Frankfurt a. M. hatte mich
+wissen lassen, daß in einigen Tagen ihr Vertreter die Ehre haben würde,
+bei mir vorzusprechen und meine Aufträge entgegenzunehmen. Mit einiger
+Spannung erwartete ich den jungen Mann.</p>
+
+<p>Er kam, wurde mir gemeldet und in mein Zimmer geführt. Mit dem Ausdruck
+lebhafter Freude trat ich ihm entgegen. »Sind Sie endlich da?« rief
+ich. »Ich habe Sie mit Ungeduld erwartet. Bitte, nehmen Sie Platz!«
+Dieser Empfang schien ihn ein wenig zu wundern, doch mochte er wohl
+denken, ich sei in großer Weinnot. Auf meine wiederholte Aufforderung
+setzte er sich und begann: »Ich komme im Auftrage des renommierten
+Hauses <em class="gesperrt">Pfropfenberg</em> &amp; Comp. in Frankfurt a. M., um Ihnen unsere
+edlen, wirklich reingehaltenen und höchst preiswürdigen ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span></p>
+
+<p>»Halt!« fiel ich ihm ins Wort — »aus Frankfurt a. M. kommen Sie?«</p>
+
+<p>»Jawohl«, erwiderte er.</p>
+
+<p>»Welch eine Stadt!« rief ich entzückt. »Die herrlichen Gebäude, unter
+denen der Dom und der Römer in erster Reihe stehen! Die wundervollen
+Denkmäler von Goethe und Gutenberg! Das Goethehaus! Der Palmengarten!
+Das Ariadneum! Die historischen Erinnerungen an Karl den Großen und den
+Bundestag! Und das Wasser! Ich halte den Main für einen der schönsten
+Ströme. Nachdem er zusammengeflossen ist aus dem weißen Main, der im
+Fichtelgebirge entspringt, und dem roten, der aus dem Rotmainbrunnen im
+Westen von Kreusen herkommt, läuft er um den fränkischen Jura herum,
+geht er vorbei an Bamberg, Würzburg und Aschaffenburg, endlich an
+Frankfurt a. M., um dann bald darauf sich mit donnerartigem Brausen in
+den Rhein zu stürzen.«</p>
+
+<p>Die lebhafte Schilderung hatte mich außer Atem gebracht, ich mußte
+einen Augenblick anhalten, um Luft zu schöpfen. Aber auch mein
+Gegenüber gebrauchte einige Zeit, um sich von dem Eindruck, den mein
+Vortrag auf ihn gemacht hatte, zu erholen. So kam ich ihm denn, als er
+eben das Wort ergreifen wollte, zuvor.</p>
+
+<p>»Sie sind«, sagte ich »nicht aus Frankfurt a. M. gebürtig?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span></p>
+
+<p>»Nein,« entgegnete er, »aus Offenbach. Ich habe die Ehre, Ihnen im ...«</p>
+
+<p>»Aus Offenbach?« fiel ich schnell ein. »Das habe ich mir gleich
+gedacht. Sie sind aber gern in Frankfurt, und Ihnen gefällt Ihr Beruf?«</p>
+
+<p>»Im allgemeinen ja. Das Haus Pfropfenberg &amp; Comp., in dessen Auftrag
+...«</p>
+
+<p>»Glücklich in Ihrem Beruf!« rief ich, ihm ins Wort fallend. »Wie
+selten kann das einer von sich sagen! Die meisten wünschen sich einen
+anderen Beruf, als den, welchen sie haben. Der Dichter beneidet den
+Seifensieder, der Maler den Klempner, der Musikus den Schankwirt, der
+Regierungsrat den Geistlichen, der Bankier den Seemann und so weiter.
+Ich selbst — Sie wissen, daß ich Käfersammler bin — möchte manchmal
+mit dem friedlich und harmlos von seinen Zinsen lebenden Rentier
+tauschen.«</p>
+
+<p>Ich war, nachdem ich dies gesagt hatte, so barmherzig, ihm einen
+Augenblick Zeit zu lassen, und sofort schoß er los: »Erlauben Sie
+mir, mein Herr, daß ich Ihnen im Auftrage der renommierten Firma
+Pfropfenberg &amp; Comp. unsere wirklich reingehaltenen ...«</p>
+
+<p>Weiter kam er nicht, denn ich sah ihn plötzlich so fest und scharf
+an, daß er unwillkürlich verstummte. »An wen,« sagte ich, indem ich
+fortfuhr ihn anzusehen, »an wen erinnern Sie mich doch so lebhaft?«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span></p>
+
+<p>»Ich weiß es in der Tat nicht«, sagte er verlegen.</p>
+
+<p>»Halt, ich hab's!« rief ich. »Haben Sie Verwandte in Goldap?«</p>
+
+<p>»Nein!« erwiderte er mit Entschiedenheit.</p>
+
+<p>»Wie war doch nur Ihr geehrter Name?« fragte ich.</p>
+
+<p>»<em class="gesperrt">Meyer</em> — <em class="gesperrt">A. H. Meyer</em>!«</p>
+
+<p>»Sonderbar!« rief ich, »auch die Namen stimmen. Ich lernte vor nun bald
+siebzehn Jahren, als geschäftliche Angelegenheiten mich nach Goldap
+führten, dort einen Herrn <em class="gesperrt">Meyer</em> kennen, dem Sie sehr ähnlich
+sehen, und ich hätte darauf schwören mögen, daß er mit Ihnen verwandt
+sei, vielleicht ein Onkel von mütterlicher Seite. Also Sie stehen in
+keinem Verwandtschaftsverhältnis zu diesem Herrn? Sehr auffallend,
+besonders da auch der Name zutrifft. Dieser <em class="gesperrt">Meyer</em> war
+Holzhändler und damals ein angehender Sechziger. Seine Frau war eine —
+warten Sie einmal — richtig! eine geborene <em class="gesperrt">Kloppfleisch</em>. Ein
+prächtiger Kerl war er und ein schneidiger Geschäftsmann. Unterdessen
+ist er auch natürlich älter geworden.«</p>
+
+<p>Während ich so sprach, war er sehr unruhig geworden, wie ich an den
+eigentümlichen Bewegungen seiner Füße merkte. »Erlauben Sie mir —«
+begann er noch einmal.</p>
+
+<p>»Noch eine Frage!« unterbrach ich ihn. »Leben Ihre Eltern noch?«</p>
+
+<p>»Ja!« stöhnte er.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p>
+
+<p>»Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Es ist ein nicht gewöhnliches
+Glück, in Ihren Jahren noch beide Eltern am Leben zu haben. Darf ich
+mich weiter erkundigen, ob auch Ihre Großeltern noch leben?«</p>
+
+<p>Ganz rot im Gesicht, war er aufgesprungen. »Ich muß mich« — rief er
+mit vor Ärger halb erstickter Stimme — »ich muß mich Ihnen empfehlen.
+Meine Zeit ist sehr in Anspruch genommen und ...«</p>
+
+<p>»Sie wollen schon gehen?« rief ich. »Darf ich Ihnen nicht ein Glas Wein
+anbieten? Es ist zwar nur Kutscher und etwas säuerlich, aber durchaus
+rein und sehr gesund. Meine Frau würde sich freuen, wenn ich Sie ihr
+vorstellte.«</p>
+
+<p>»Es tut mir leid,« schrie er, »aber ich habe keinen Augenblick Zeit.
+Wenn Sie einen Auftrag ...«</p>
+
+<p>»O gewiß habe ich einen Auftrag. Wenn Sie das schöne Frankfurt
+wiedersehen, grüßen Sie es tausendmal von mir. Aber ich hoffe, daß wir
+uns hier noch sehen werden, beim Weihenstephan oder auf der Siegessäule
+oder ...«</p>
+
+<p>Er war schon draußen. »Herr Meyer! Herr Meyer!« rief ich, mich über das
+Treppengeländer beugend. Er hörte nicht darauf. Schnell stürzte ich
+in mein Zimmer zurück, riß das Fenster auf und schrie auf die Straße
+hinunter: »Herr Meyer! Wenn Sie einmal nach Goldap kommen sollten ...«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p>
+
+<p>Er wandte sich nicht mehr um, sondern lief unaufhaltsam dem nächsten
+Halteplatz für Droschken zu.</p>
+
+<p>Ob er wohl wiederkommen wird?</p><br>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2>Kleine Leiden auf einer Landpartie.</h2>
+</div>
+
+
+<p>Nein, meine Herren! pflegte der Doktor Sauerwein auszurufen, wenn
+die Rede auf Landpartien kam — nein! über diese Vergnügungen bin
+ich hinaus für immer. Ich weiß ja nicht, meine Herren, was Sie unter
+Landpartien verstehen, meinen Sie aber einen Ausflug in Begleitung von
+Damen zu Wagen oder auf der Eisenbahn, an den sich ein Spaziergang
+in einen Forst oder in eine Heide, meinetwegen mit Feueranmachen
+und Kaffeekochen anschließt, dann muß ich gestehen, daß derartige
+Vergnügungen sich für Leute von meinem Naturell durchaus nicht eignen.</p>
+
+<p>Es liegt an mir, ich weiß es. Mir fehlt vor allem die notwendige
+Geistesgegenwart, Besonnenheit und Erfindungsgabe.</p>
+
+<p>Was soll zum Beispiel geschehen, wenn der rechte Schuh einer jungen
+Dame an einer morastigen Stelle des Weges stecken geblieben und
+versunken ist? Die junge Dame steht nun auf dem linken Fuße. Lange kann
+sie so nicht stehen, also sagen<span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span> Sie mir schnell: was soll geschehen?
+Sie wissen es nicht? Natürlich! Ich habe diese Frage Leuten vorgelegt,
+die durchaus nicht auf den Kopf gefallen waren, und habe doch keine
+einzige befriedigende Antwort darauf erhalten. Der eine wollte einen
+Notschuh aus Baumrinde zimmern, ein zweiter schlug eine Tragbahre von
+jungen Baumstämmen vor, ein dritter meinte, man müsse für solche Fälle
+auf jeder Landpartie einen eleganten zweirädrigen Karren mit sich
+führen. Ein grausamer Barbar endlich — ich verschweige seinen Namen,
+obgleich er es verdient, daß ich ihn an den Pranger stelle — gab den
+Rat, man solle die junge Dame stehen lassen und ruhig weiter gehen, sie
+werde schon von selbst nachgehüpft kommen!</p>
+
+<p>Ist Ihnen das noch nicht genug? Gut! so will ich Ihnen die Geschichte
+meiner letzten Landpartie erzählen.</p>
+
+<p>Ich machte diese Landpartie mit der liebenswürdigen Familie Krusius.
+Da war also Steuerrat Krusius, seine Frau, die beiden Töchter, Minna
+und Elvira, und die Tante Sophie. Dazu kam Herr Knoppermann vom
+Gericht, ein alter Hausfreund, und der junge Nathanael Semmlein, ein
+Studiosus der Theologie und an die Familie empfohlen. Der achte war
+ich und der neunte — doch halt! Der fand sich erst unterwegs ein. Es
+war<span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span> beschlossen, mit der Bahn bis zur Station Dingelfeld zu fahren,
+hinter welcher sich eine sehr romantische Wald-, Sand- und Moorgegend
+ausbreiten sollte.</p>
+
+<p>Wir nahmen im »Blauen Löwen« ein ländliches Mahl ein, und als dann
+auch der Kaffee vorüber war, und der Steuerrat sein Mittagsschläfchen
+absolviert hatte, wurde der übliche Spaziergang »in die Fichten«
+angetreten.</p>
+
+<p>In den Fichten war es, wie es dort häufig zu sein pflegt, sehr
+romantisch, sehr heiß und sehr belebt von ausgezeichnet großen Ameisen.
+Als wir nun ein Stück gegangen waren und um eine Waldecke bogen, bot
+sich uns ein eigentümliches Schauspiel dar. Am Waldessaume stand eine
+große Kiefer und unter der Kiefer stand ein Invalide, augenscheinlich
+seines Zeichens ein Feldhüter, während ein großer Hund mit wütendem
+Gebell um den Baum herumsprang. Oben aber, auf einem Aste des Baumes
+saß ein junger Mann, der eine grüne Pflanzenkapsel an einem Riemen über
+der Schulter trug, und zwischen dem jungen Manne oben und dem Alten
+unten fand folgendes Wechselgespräch statt.</p>
+
+<p>»Den Augenblick kommen Sie herunter!« rief der Alte.</p>
+
+<p>»Ich bin noch immer nicht von der Notwendigkeit überzeugt!« schallte es
+von oben.</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p>
+
+<p>»Meinetwegen bleiben Sie oben!« hob der Feldhüter wieder an. »Werfen
+Sie gefälligst die fünfzehn Groschen herunter, dann will ich gehen.«</p>
+
+<p>»Was für ein närrischer Kauz sind Sie doch!« rief der Botaniker
+herunter. »Denken Sie, das Geld wächst hier oben auf dem Baume?
+Oder meinen Sie, daß jemand so einfältig sein wird, auf eine
+wissenschaftliche Landpartie sein Vermögen mitzunehmen? Ich kann es
+mir gar nicht vorstellen, wie man dazu kommen kann, im Walde Geld
+auszugeben. Ist es etwa gebräuchlich, daß die Vögel, wenn sie ein Stück
+gesungen haben, mit dem Teller umhergehen? Oder ist es erhört, daß
+man für das Hundert Brombeeren oder Haselnüsse, die man frischweg vom
+Busche verzehrt, auch nur einen Pfennig bezahlt?«</p>
+
+<p>Unterdessen waren wir näher getreten und erkundigten uns bei dem Alten,
+um was es sich handle. Er erzählte uns, daß er den Botaniker auf der
+an das Gehölz stoßenden Wiese, die zu betreten streng verboten sei,
+betroffen habe. Als der junge Mann seiner ansichtig wurde, sei er
+ausgerissen und habe sich auf diese Kiefer geflüchtet. Jetzt solle er
+entweder festgenommen werden oder fünfzehn Groschen Strafgeld erlegen.</p>
+
+<p>Wer weiß, wie lange der Botaniker noch oben hätte sitzen müssen, wenn
+nicht der Steuerrat und<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> der alte Knoppermann den Invaliden vorgenommen
+und ein vernünftiges Wort mit ihm gesprochen hätten. Einem vernünftigen
+Worte, wenn es durch Geld und Zigarren unterstützt wird, kann auch der
+zornigste Feldhüter auf die Dauer nicht widerstehen, und so kam es
+denn, daß der Alte, nachdem er noch dem Botaniker mit dem Wiedertreffen
+»draußen im Freien« gedroht hatte, mit seinem Hunde den Rückzug antrat.
+Als die beiden alten Herren diesen Akt der Menschlichkeit vollzogen
+hatten, ersuchten sie den Naturforscher, herunterzusteigen und sich der
+Gesellschaft anzuschließen.</p>
+
+<p>Den jungen Damen schien der Zuwachs zu unserer Gesellschaft nicht
+unlieb zu sein. Im Umsehen waren sie schon mit dem Botaniker in einem
+eifrigen Gespräche über die einheimische Flora begriffen, wobei ich
+den Verdacht nicht unterdrücken konnte, daß ein großer Teil der
+lateinischen Pflanzennamen, die er den jungen Damen auftischte,
+vollständig ausgedacht und erlogen war.</p>
+
+<p>Ich ging an der Seite der Tante Sophie, die mir erzählte, daß sie
+einmal in einer ähnlichen Gegend und an einem ähnlichen Tage Gott weiß
+was erlebt habe. Ich war viel zu ärgerlich, um ordentlich hinzuhören.
+Zu großer Freude gereichte es mir, als der Steuerrat den Vorschlag
+machte, sich an einem hübschen Punkte niederzulassen und einen Imbiß
+zu<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> nehmen. »Unser neuer Freund«, sagte er, »wird sicherlich in der
+Nähe einen dazu passenden Ort wissen.« Da hätten Sie sehen sollen, wie
+die Augen des jungen Mannes aufleuchteten und mit welcher Eilfertigkeit
+er uns nach einem geeigneten Plätzchen hinführte.</p>
+
+<p>Nachdem auf Wunsch der Damen eine genaue Inspektion des Terrains
+vorgenommen war und dasselbe sich als ziemlich ameisenfrei und
+spinnensicher erwiesen hatte, lagerten wir uns ins Grüne und begannen
+die mitgenommenen Vorräte auszupacken. Das Plätzchen war allerdings
+recht artig auf einem Hügel am Rande des Waldes gelegen. Vor uns
+öffnete sich ein kleines Tal, in dem mehrere Bürgerfamilien, die
+gleich uns mit der Bahn gekommen waren, sich am Ringelspiel, Tanz und
+anderen ländlichen Vergnügungen erfreuten. Der Anblick war allerliebst.
+Munteres Gelächter und Geschrei schallte zu uns herauf. Wir unserseits
+waren auch in der besten Stimmung. Die Flasche ging von Hand zu
+Hand, und der Botaniker sprach unserem kalten Braten und unserem
+Weine mit einem Appetit zu, der bei seinen Grundsätzen in bezug auf
+das Mitnehmen von Geld und in Anbetracht, daß die Jahreszeit reife
+Brombeeren und Haselnüsse noch nicht darbot, nichts Erstaunliches
+hatte. Der Jubel erreichte den höchsten Grad, als der Steuerrat mit dem
+alten<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> Knoppermann und dem Botaniker ein Lied anstimmte, in dem zum
+großen Verdruß des Theologen das Räuberleben als die einzig passende
+Beschäftigung für lebenslustige und poetisch gesinnte Leute nach allen
+Richtungen hin gepriesen wurde.</p>
+
+<p>Ein Stündchen mochten wir so in der besten Laune zugebracht haben,
+als der Steuerrat bemerkte, daß es nun wohl an der Zeit sei, nach
+Dingelfeld zurückzukehren, wenn wir nicht den Abendzug versäumen
+wollten. »Ich möchte Ihnen«, sagte der Botaniker, »einen anderen
+Vorschlag machen. Es führt von hier aus ein sehr romantischer Weg über
+Kuckucksweiler und Amselhagen nach der Bahnstation ...«</p>
+
+<p>»Ich fürchte nur,« fiel ihm der Steuerrat ins Wort, »es wird zu weit
+sein.«</p>
+
+<p>»Durchaus nicht,« entgegnete unser Gast. »Warten Sie — bis
+Kuckucksweiler haben wir zwanzig Minuten, von da bis Amselhagen
+höchstens fünfzehn und von Amselhagen nach Dingelfeld wieder zwanzig.
+Das macht zusammen noch keine Stunde.«</p>
+
+<p>»Wissen Sie aber auch den Weg genau?« fragte der Steuerrat.</p>
+
+<p>»Ich?« entgegnete der Botaniker. »Ich? Auf fünf Meilen im Umkreise will
+ich hier jedem Vogel, der sich etwa verflogen hat, sagen, wo sein Nest
+ist. Wenn Sie es verlangen, will ich Ihnen einen Adreßkalender<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> der in
+hiesiger Gegend seßhaften Eichhörnchen schreiben.«</p>
+
+<p>Die Damen stimmten sämtlich für den »romantischen« Weg, und so brachen
+wir denn auf, voran ging der Botaniker mit den jungen Mädchen.</p>
+
+<p>Es scheint mir nun, daß über dasjenige, was romantisch zu nennen ist,
+sehr verschiedene Ansichten unter den Leuten existieren müssen. Wenn
+es zum Romantischen gehört, öde, unbequem und gefährlich zu sein, so
+war der Weg, den wir nunmehr machten, in der Tat sehr romantisch. Ich
+erwähne nur, daß wir nacheinander ein Wildgatter, zwei Schluchten,
+einen steglosen Bach — den die Damen auf hineingelegten Steinen
+überschreiten mußten — und einen Bruchacker zu passieren hatten.
+Eine gute Stunde waren wir so fortgegangen ohne einem menschlichen
+Wesen zu begegnen, und es fing bereits an dunkel zu werden. Da sah der
+Steuerrat nach der Uhr, und sich zu unserem Führer wendend, bemerkte
+er: »Es scheint mir, mein Freund, als müßten wir doch schon lange über
+Kuckucksweiler wenigstens hinaus sein.«</p>
+
+<p>»Es ist mir auch unbegreiflich,« entgegnete der Angeredete, »daß wir
+noch nicht am Ziele sind; indessen bin ich überzeugt davon, daß wir an
+der nächsten Ecke den Kirchturm von Kuckucksweiler erblicken werden.«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p>
+
+<p>Wir waren über die nächste Ecke hinaus, aber nichts, was einer
+menschlichen Behausung ähnlich sah, ließ sich entdecken. Das Terrain
+fing an unheimlich zu werden. Die Bäume wurden seltener und kleiner,
+und endlich breitete sich vor uns eine mit spärlichem Gestrüpp bedeckte
+Ebene aus, über der ein höchst verdächtiger Nebel lag.</p>
+
+<p>Da bemerkte ich plötzlich, daß der Boden unter meinen Füßen zitterte
+und schwankte. Ich hatte das Gefühl, als ob ich auf Gummi oder
+Guttapercha träte. In demselben Augenblick mochten die anderen dieselbe
+Wahrnehmung machen. Wir blieben sämtlich stehen und sahen den Botaniker
+fragend an.</p>
+
+<p>»Ich fürchte,« begann derselbe ziemlich kleinlaut, »daß wir uns etwas
+mehr rechts hätten halten sollen. Wir sind hier in ein kleines Luch
+oder Torfmoor geraten. Der nächste Weg würde nun allerdings quer durch
+das Luch führen, und solange wir uns nur in der Nähe der kleinen
+Gebüsche halten, ist meiner Ansicht nach die Gefahr des Versinkens eine
+sehr geringe. Besonders finster wird es nicht werden, da wir einerseits
+Mondschein haben, anderseits auch bald die Irrlichter aufgehen müssen.«</p>
+
+<p>Das war uns zu stark. Den Damen kam das Weinen nahe, und wir allgesamt
+erklärten, daß wir lieber die Nacht unter freiem Himmel zubringen, als<span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span>
+noch einen Schritt weiter in den abscheulichen Sumpf wagen wollten.</p>
+
+<p>»Gut«, sagte der Botaniker, »dann ist es das beste, daß wir rechts
+abbiegen.«</p>
+
+<p>Was war zu tun? Nach kurzer Beratung bogen wir rechts ab, obgleich dort
+ein eigentlicher Weg nicht vorhanden war. Nachdem wir uns eine tüchtige
+Strecke durch Dickicht und Dornen durchgeschlagen hatten, bemerkten wir
+in unserer Nähe Gebäude. Es wurde ausgemacht, daß die Gesellschaft, wo
+sie eben stand, warten sollte; ich aber und der Botaniker, wir sollten
+versuchen, eines Menschen habhaft zu werden, der uns zurecht wiese.
+Gesagt, getan! Wir näherten uns den Häusern und gelangten an einen
+kleinen Gartenzaun, den wir überstiegen. Wir riefen zu wiederholten
+Malen, ohne Antwort zu erhalten. Wir marschierten weiter. Ich ging
+voran, dem Hause zu, während mein Begleiter um ein weniges zurückblieb.
+Plötzlich hörte ich, wie er einen Freudenruf ausstieß.</p>
+
+<p>»Was haben Sie?« fragte ich. »Ach, Stachelbeeren!« antwortete er.
+»Kommen Sie! Hier sind genug für uns beide.«</p>
+
+<p>»Ei, zum —« wollte ich ausrufen, in demselben Augenblicke aber fühlte
+ich, daß über meinem rechten Fuße etwas zusammenschnappte und daß
+derselbe auf höchst schmerzhafte Weise eingeklemmt war. Auf<span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span> mein
+Geschrei sprang der Botaniker hinter dem Busch hervor. »Kommen Sie!
+helfen Sie mir!« rief ich. »Ich bin im Fuchseisen gefangen!«</p>
+
+<p>Auf mein Geschrei erschien an den Fenstern des Hauses Licht; wir hörten
+Stimmen, Hundegebell, und alsbald näherte sich mir vom Hause her ein
+Trupp Menschen. Voran schritt ein grimmig aussehender Mann, der in der
+einen Hand eine Laterne und in der anderen eine Flinte trug. Ihm folgte
+eine Anzahl von Knechten, welche mit Heugabeln, Ästen, Zaunlatten und
+anderen lebensgefährlichen Werkzeugen bewaffnet waren. »Hurra!« rief
+der Grimmige, indem er mir seine Laterne vors Gesicht hielt, »da haben
+wir endlich den Spitzbuben gefangen!«</p>
+
+<p>»Hurra!« riefen die anderen und schwangen ihre Waffen.</p>
+
+<p>Ich hatte nun bald heraus, daß man auf einen Obst- oder Blumendieb
+gefahndet hatte und daß für diesen das Fuchseisen, in welchem ich
+festsaß, bestimmt gewesen war. Natürlich hielt man mich für den
+Schuldigen, und augenscheinlich sollte an mir Lynchjustiz geübt
+werden. Ich wäre verloren gewesen, wenn nicht im rechten Augenblicke
+die Gesellschaft erschienen wäre und sich ins Mittel gelegt hätte. Es
+war aber schwer, dem Grimmigen begreiflich zu machen, daß ich nicht
+der Spitzbube sei und daß ich seinen Garten nur betreten habe, um
+mich nach<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> der Lage von Kuckucksweiler zu erkundigen. Er behauptete,
+das sei eine leere Ausrede und es gäbe überhaupt keinen Ort namens
+Kuckucksweiler. Nur auf flehentliches Bitten der Damen entschloß
+er sich dazu, meinen Fuß aus dem Eisen zu lösen. Als er zu diesem
+Behuf den Boden beleuchtete, fielen seine Blicke auf ein in der
+Nähe befindliches Nelkenbeet, das arg zertreten und verwüstet war.
+Ohne Zweifel rührte diese Verwüstung von dem Botaniker her, welcher
+inzwischen die Flucht ergriffen haben mußte, denn wir sahen uns
+vergeblich nach ihm um. Meine Vermutung, daß er während der ganzen
+Dauer der Verhandlungen hinter den Stachelbeeren steckte, hat sich
+nachher bestätigt.</p>
+
+<p>Was half's, daß ich meine Unschuld beteuerte! Der Grimmige erlöste mich
+nicht eher aus dem Eisen, als bis ich den ganzen Schaden, den er in der
+Geschwindigkeit auf sieben Mark und fünfundzwanzig Pfennig abschätzte,
+bezahlt hatte. Unter Schimpfreden und Hohngelächter wurden wir dann aus
+dem Garten hinausgeleitet. Kaum erreichten wir es, daß uns der Weg nach
+dem nächsten Wirtshause gezeigt wurde.</p>
+
+<p>Eben hatten wir den ungastlichen Ort verlassen, als der Mond sich
+mit Wolken bezog und es anfing zu regnen! Das fehlte noch zu unserem
+Unglück! Schrecklich tönte durch die Stille der Nacht das<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> Jammern und
+Klagen der Damen. Der Regen wurde stärker, und schon ganz durchnäßt
+waren wir, als wir in dem bezeichneten Wirtshause, einer elenden
+Fuhrmannsschenke, anlangten.</p>
+
+<p>Da saßen wir nun, eine verunglückte Landpartie, in der niedrigen,
+dumpfigen Gaststube. »Herr Gott! wo ist Knoppermann?« rief plötzlich
+der Steuerrat. Es wurde im Hause nach ihm gesucht, er war nicht zu
+finden. Nun fiel es uns allen ein, daß wir ihn schon seit längerer Zeit
+nicht mehr unter uns bemerkt hatten. »Wo kann er nur geblieben sein?«
+sagte der Steuerrat.</p>
+
+<p>»Das will ich euch sagen,« erklang aus dem Hintergrunde die harte
+Stimme der Tante, »er wird mit dem Kopfe nach unten im Sumpfe stecken.«</p>
+
+<p>»Ich wollte es nicht zuerst aussprechen,« nahm die Steuerrätin das
+Wort, »aber ich fürchte sehr, daß er in der Tat versunken ist.«</p>
+
+<p>Kaum hatte sie das gesagt, als die Tante, welche vermutlich noch
+Absichten auf Knoppermann hatte, in lautes Weinen ausbrach.</p>
+
+<p>»O, es ist entsetzlich«, jammerten die jungen Damen.</p>
+
+<p>»O, Sie Unglücksvogel!« rief der Steuerrat, indem er auf den Botaniker
+zutrat und ihn an den Schultern faßte, »was haben Sie angerichtet!
+Schaffen Sie uns Knoppermann wieder! Sagen Sie uns, was wir tun
+sollen!«</p>
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span></p>
+
+<p>Es wurde beschlossen, das Moor mit Laternen zu durchsuchen, und die
+Expedition sollte eben ins Werk gesetzt werden, als die Tür sich
+öffnete und der Vermißte eintrat, oder vielmehr von einem alten
+Reisigweiblein, welches hinter ihm kam, in die Stube geschoben wurde.
+Er war das Bild des Jammers, ohne Hut, ohne Stock, vom Regen durchnäßt,
+von Dornen zerzaust, über und über mit Fichtennadeln garniert.</p>
+
+<p>»Gott sei Dank, daß Sie da sind!« riefen wir wie aus einem Munde.</p>
+
+<p>»Also das Herrlein gehört zu Ihnen?« schmunzelte die Alte.</p>
+
+<p>Anfangs war der arme Knoppermann unfähig zu sprechen. Nachdem er sich
+durch ein Glas heißen Getränkes gestärkt hatte, erzählte er uns, daß
+er, vor Ermüdung zurückgeblieben, die Gesellschaft verloren hätte.
+Dann hätte er gerufen, niemand hätte geantwortet. Dann wäre er Hals
+über Kopf einen Abhang hinabgerollt, von einem Baum zum anderen
+geschleudert worden und unten bewußtlos liegen geblieben. Dort hätte
+das Waldweiblein ihn gefunden, durch anhaltendes Schütteln ins Leben
+zurückgerufen und glücklich hierher geleitet. »Meinen Hut und Stock«,
+schloß er, »scheine ich verloren zu haben. Auch ist es mir so, als
+hätte ich vorher einen Paletot über dem Arm getragen. Ich weiß nicht,
+ob es<span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span> der rechte oder der linke Arm gewesen; jetzt aber bemerke ich
+ihn auf keinem meiner beiden Arme.«</p>
+
+<p>»Lassen Sie uns froh sein,« sagte der Steuerrat, »daß Sie selbst sich
+wiedergefunden haben. Was Ihre Sachen betrifft,« fügte er mit einem
+strengen Blick auf den Botaniker hinzu, »so werden dieselben sich
+möglicherweise in Kuckucksweiler oder in Amselhagen wiederfinden.«</p>
+
+<p>Das war am Ende auch der beste Trost. Unterdessen hatte der Regen ein
+wenig nachgelassen, und nachdem wir die Alte belohnt und vom Wirt eine
+Mütze und einen Schal für Knoppermann geborgt hatten, machten wir uns
+auf den Weg nach der Bahnstation.</p>
+
+<p>Wir waren sämtlich in der schlechtesten Stimmung, und keiner von uns
+hatte Lust ein Wort zu sprechen. Der Botaniker ging neben mir. Er hatte
+die ganze Botanisiertrommel voll gestohlener Stachelbeeren und aß nun
+eine nach der anderen. Da sie sämtlich noch unreif waren, so gab es, so
+oft er ein Beerchen zerbiß, einen kleinen Krach, wie beim Nüsseknacken.</p>
+
+<p>Wir trafen noch gerade zur rechten Zeit in Dingelfeld ein, um einen
+Nachtzug zur Heimfahrt benutzen zu können. Todmüde, verstört, mit
+ruinierten Kleidern und in der elendesten Gemütsverfassung langten wir
+zu Hause an.</p>
+
+<p>Vier Wochen lang lag ich zu Bett, acht Wochen<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> ging ich am Stock, ein
+ganzes Jahr lang blieb ich ein Hinkefuß.</p>
+
+<p>Dies, meine Herren, war meine letzte Landpartie. Lassen Sie sich diese
+Geschichte zur Warnung dienen. Ich weiß, Sie tun es doch nicht, Sie
+werden sich wieder verleiten lassen. Dann bitte ich Sie nur um eines.
+Sollten Sie irgendwo auf einer Landpartie unseren jungen Freund, den
+Botaniker, treffen, und er sitzt wieder in einer Kiefer — lassen Sie
+ihn doch ja in der Kiefer sitzen!</p>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2>Männertreue und Weiberkrieg.</h2>
+</div>
+
+<p class="center"><em>Veronica chamaedrys</em> und <em>Ononis spinosa</em>.</p>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 14em;"><em class="gesperrt">Die Frau spricht</em>:</span>
+</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Es ist ein Kräutlein, heißt Männertreu,</div>
+ <div class="verse indent2">In jedem Frühling blüht es aufs neu.</div>
+ <div class="verse indent2">Am Waldrand steht es und auf der Au</div>
+ <div class="verse indent2">Und Blumen trägt es, anmutig blau.</div>
+ <div class="verse indent2">Doch pflückst davon du dir einen Strauß,</div>
+ <div class="verse indent2">Nicht eine Blume bringst du nach Haus.</div>
+ <div class="verse indent2">Herunter fallen sie gar geschwind,</div>
+ <div class="verse indent2">Schon unterwegs weht sie ab der Wind.</div>
+ <div class="verse indent2">Des Kräutleins Name, der ist nicht schlecht,</div>
+ <div class="verse indent2">Und seinen Namen trägt es mit Recht.</div>
+ <div class="verse indent2">Den Männern sag' ich es ins Gesicht:</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">So sind sie alle — nur meiner nicht!</em></div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span></p>
+</div>
+<p>
+<span style="margin-left: 14em;"><em class="gesperrt">Der Mann spricht</em>:</span>
+</p>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ein Kräutlein ist Weiberkrieg genannt,</div>
+ <div class="verse indent2">Das wächst auf Anger und Heideland.</div>
+ <div class="verse indent2">Da siehst du blühen es weit und breit</div>
+ <div class="verse indent2">Schön weiß und rot um die Sommerszeit.</div>
+ <div class="verse indent2">Doch will ich raten dir: Laß es stehn!</div>
+ <div class="verse indent2">Mit hundert Häkchen ist es versehn,</div>
+ <div class="verse indent2">Verletzt die Hände dir, hemmt den Schritt,</div>
+ <div class="verse indent2">Viel Ärger hast du und Not damit.</div>
+ <div class="verse indent2">Das ist so recht ja der Weiber Art,</div>
+ <div class="verse indent2">Ob sie auch lieblich sonst sind und zart,</div>
+ <div class="verse indent2">Sie sind ein Kräutlein, das kratzt und sticht.</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">So sind sie alle — nur meines nicht!</em></div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<h2>Der Glückstag.</h2>
+</div>
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ich war am Morgen</div>
+ <div class="verse indent2">So frohen Mutes,</div>
+ <div class="verse indent2">Als müßt' begegnen</div>
+ <div class="verse indent2">Mir etwas Gutes.</div>
+ <div class="verse indent2">Wohlan, es komme</div>
+ <div class="verse indent2">Das Glück gegangen!</div>
+ <div class="verse indent2">Bereit hier sitz' ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Es zu empfangen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Da kam ein Brief,</div>
+ <div class="verse indent2">Den die Post mir brachte,</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ich brach ihn auf, sah</div>
+ <div class="verse indent2">Hinein und lachte.</div>
+ <div class="verse indent2">Logierbesuch will</div>
+ <div class="verse indent2">Ins Haus mir kommen:</div>
+ <div class="verse indent2">Sei er mit Jubel</div>
+ <div class="verse indent2">Denn aufgenommen!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Drauf kam ein Mann, um</div>
+ <div class="verse indent2">Von mir zu borgen,</div>
+ <div class="verse indent2">Obwohl ich selbst war</div>
+ <div class="verse indent2">Bedrängt von Sorgen.</div>
+ <div class="verse indent2">Daß er auf mich sein</div>
+ <div class="verse indent2">Vertrauen setzte,</div>
+ <div class="verse indent2">Rührt' mich, ich gab ihm</div>
+ <div class="verse indent2">Sorglos das Letzte.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Nun eine Zeitung</div>
+ <div class="verse indent2">Nahm in die Hand ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Darin auf mich was</div>
+ <div class="verse indent2">Geschrieben fand ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Was Böses, Arges.</div>
+ <div class="verse indent2">Wie das mich freute!</div>
+ <div class="verse indent2">Seht, so beachten mich</div>
+ <div class="verse indent2">Doch die Leute!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ich war noch immer</div>
+ <div class="verse indent2">Bei frohem Mute,</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Als müßte kommen</div>
+ <div class="verse indent2">Noch andres Gute.</div>
+ <div class="verse indent2">Um mehr des Glückes</div>
+ <div class="verse indent2">Noch zu empfangen,</div>
+ <div class="verse indent2">Bin aus dem Haus ich</div>
+ <div class="verse indent2">Hinausgegangen.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Da überfiel mich</div>
+ <div class="verse indent2">Mit Donnerschlägen,</div>
+ <div class="verse indent2">Mich Unbeschirmten,</div>
+ <div class="verse indent2">Ein heft'ger Regen.</div>
+ <div class="verse indent2">Dem Himmel dankt' ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Daß er uns schenkte</div>
+ <div class="verse indent2">Willkommenes Naß</div>
+ <div class="verse indent2">Und die Saaten tränkte.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Von einem Fenster-</div>
+ <div class="verse indent2">Brett fiel ein bunter</div>
+ <div class="verse indent2">Tontopf mit Nelken</div>
+ <div class="verse indent2">Auf mich herunter.</div>
+ <div class="verse indent2">Doch meinen Hut nur</div>
+ <div class="verse indent2">Hat er zertrümmert,</div>
+ <div class="verse indent2">Heil blieb ich selber</div>
+ <div class="verse indent2">Und unbekümmert.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Nach Hause eilt' ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Da sah ich jagen</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Scharf um die Ecke</div>
+ <div class="verse indent2">'nen Schlächterwagen.</div>
+ <div class="verse indent2">Zu Boden riß er</div>
+ <div class="verse indent2">Mich freilich nieder,</div>
+ <div class="verse indent2">Doch kaum verletzt sprang</div>
+ <div class="verse indent2">Empor ich wieder.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Allmählich wurde</div>
+ <div class="verse indent2">Der Himmel heller;</div>
+ <div class="verse indent2">Nach Hause hinkt' ich,</div>
+ <div class="verse indent2">Stieg in den Keller,</div>
+ <div class="verse indent2">Holt' eine Flasche</div>
+ <div class="verse indent2">Mit gutem Weine.</div>
+ <div class="verse indent2">Wohl mir, ich hatte</div>
+ <div class="verse indent2">Just noch die eine.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Zusammen rief ich</div>
+ <div class="verse indent2">Darauf die Meinen,</div>
+ <div class="verse indent2">Mit mir im Jubel</div>
+ <div class="verse indent2">Sich zu vereinen.</div>
+ <div class="verse indent2">Kommt her und trinket,</div>
+ <div class="verse indent2">Seid frohen Mutes!</div>
+ <div class="verse indent2">Mir ist begegnet heut</div>
+ <div class="verse indent2">So viel Gutes.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p>
+<h2>Der Oberamtsrichter von Neckarsulm.</h2>
+</div>
+
+<p class="s5">(Der Mann, von dem dieses Gedicht handelt, ist der vor einigen Jahren
+verstorbene Oberamtsrichter Ganzhorn von Neckarsulm. Das Abenteuer
+bestand er, als er auf einer Wanderung nach Aßmannshausen kam.)</p>
+
+
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Das war ein kernfest tüchtiger Mann,</div>
+ <div class="verse indent2">Von dem man Bestes melden kann,</div>
+ <div class="verse indent2">Von Gliedern stark, an Geist gesund,</div>
+ <div class="verse indent2">Was Zier des Manns ist, war ihm kund.</div>
+ <div class="verse indent2">In mancher Kunst war er geübt,</div>
+ <div class="verse indent2">Und ob's noch solche Zecher gibt,</div>
+ <div class="verse indent2">Wie er war — zweifelhaft ist das!</div>
+ <div class="verse indent2">Er saß so fest beim Römerglas,</div>
+ <div class="verse indent2">Er war von echter deutscher Art,</div>
+ <div class="verse indent2">So mild und doch wie Stahl so hart,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Einst kam er wandernd an den Rhein,</div>
+ <div class="verse indent2">Der war beglänzt von hellem Schein,</div>
+ <div class="verse indent2">Von untergehnder Sonne Glut.</div>
+ <div class="verse indent2">»Fürwahr, ein Bad wär' gar zu gut!</div>
+ <div class="verse indent2">Es kann ja gar so schlimm nicht sein,</div>
+ <div class="verse indent2">Heut noch zu schwimmen durch den Rhein</div>
+ <div class="verse indent2">Und wieder hier ans Land zurück —</div>
+ <div class="verse indent2">Das nenn' ich noch kein Wagestück!«</div>
+ <div class="verse indent2">Die Kleider wirft er ab sogleich</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Und birgt sie unter dem Gesträuch,</div>
+ <div class="verse indent2">Drauf in den Strom wirft er sich kühn,</div>
+ <div class="verse indent2">Der faßt mit starken Armen ihn.</div>
+ <div class="verse indent2">Er regt die Glieder frisch und keck,</div>
+ <div class="verse indent2">Kommt anfangs auch recht gut vom Fleck;</div>
+ <div class="verse indent2">Doch mählich wächst des Stromes Kraft,</div>
+ <div class="verse indent2">Gewaltig wird er, riesenhaft,</div>
+ <div class="verse indent2">Kämpft mit dem Mann und reißt ihn mit,</div>
+ <div class="verse indent2">Hinunter wohl manch hundert Schritt;</div>
+ <div class="verse indent2">Der wehrt sich auch, so gut er kann:</div>
+ <div class="verse indent2">So kämpfen beide, Strom und Mann,</div>
+ <div class="verse indent2">Und miteinander ringen sie,</div>
+ <div class="verse indent2">Bis daß zuletzt mit vieler Müh'</div>
+ <div class="verse indent2">Das andre Ufer er erreicht,</div>
+ <div class="verse indent2">Der Mann. »Das war, bei Gott, nicht leicht!</div>
+ <div class="verse indent2">Ich traf den Rhein nicht häufig so.«</div>
+ <div class="verse indent2">Er spricht es, seiner Landung froh,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Da steht er nun am Uferrand,</div>
+ <div class="verse indent2">Die Gegend ist ihm nicht bekannt.</div>
+ <div class="verse indent2">Schon dunkel ist's, er nackt und bloß!</div>
+ <div class="verse indent2">Traun, die Verlegenheit ist groß.</div>
+ <div class="verse indent2">Zurück zu schwimmen durch den Rhein,</div>
+ <div class="verse indent2">Darauf lass' sich ein andrer ein!</div>
+ <div class="verse indent2">Er spürt, er weiß, das wär' nicht gut,</div>
+ <div class="verse indent2">Ob's ihm auch sonst nicht fehlt an Mut.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Die Kleider drüben und der Fluß</div>
+ <div class="verse indent2">Dazwischen — o welch ein Verdruß!</div>
+ <div class="verse indent2">Wohin jetzt lenkt er seinen Lauf?</div>
+ <div class="verse indent2">Wer nimmt den neuen Adam auf?</div>
+ <div class="verse indent2">Da sieht ein Licht er gar nicht weit,</div>
+ <div class="verse indent2">Schleicht unterm Schirm der Dunkelheit</div>
+ <div class="verse indent2">Hinan sich. »Ha, ein Wirtshaus! Dort</div>
+ <div class="verse indent2">Helf' ich mir jetzt schon weiter fort.«</div>
+ <div class="verse indent2">Er lauscht. »Horch! Heller Gläserklang!</div>
+ <div class="verse indent2">Jetzt unverzagt! Jetzt nur nicht bang!«</div>
+ <div class="verse indent2">Ein wenig öffnet er die Tür</div>
+ <div class="verse indent2">Und ruft: »Ein Mann in Not ist hier!</div>
+ <div class="verse indent2">Reicht, Freunde, mir, ich bitt' euch sehr,</div>
+ <div class="verse indent2">Ein Bettuch oder Tischtuch her!</div>
+ <div class="verse indent2">Das reicht zu meiner Rettung hin.</div>
+ <div class="verse indent2">Habt keine Furcht vor mir, ich bin</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.«</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Das Linnen wird ihm hingereicht,</div>
+ <div class="verse indent2">Er hüllt sich ein darin — nun gleicht</div>
+ <div class="verse indent2">Er einem alten Römer fast.</div>
+ <div class="verse indent2">Ins Zimmer tritt der werte Gast:</div>
+ <div class="verse indent2">»Ihr Herrn, die ihr da sitzt beim Wein,</div>
+ <div class="verse indent2">Verzeiht, daß ich so spät erschein'</div>
+ <div class="verse indent2">Und in so seltsamem Kostüm!</div>
+ <div class="verse indent2">Das macht des Rheines Ungestüm,</div>
+ <div class="verse indent2">Der her mich ließ, doch nicht zurück.</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Ein Licht erblickt' ich hier zum Glück</div>
+ <div class="verse indent2">Und lenkte zu ihm meinen Schritt.</div>
+ <div class="verse indent2">Wenn ihr's erlaubt, zech' ich jetzt mit.</div>
+ <div class="verse indent2">Mich hat das Schwimmen müd' gemacht,</div>
+ <div class="verse indent2">Mich überkam dabei die Nacht,</div>
+ <div class="verse indent2">Nun schaudert mich bis tief ins Mark.</div>
+ <div class="verse indent2">Wein her! Wein her! Mein Durst ist stark.«</div>
+ <div class="verse indent2">Da stehn sie all ehrfürchtig auf,</div>
+ <div class="verse indent2">Platz machend ihm. Der Wirt darauf</div>
+ <div class="verse indent2">Bringt ihm den Wein und füllt sein Glas:</div>
+ <div class="verse indent2">»Trinkt, lieber Herr! Wohl tu' Euch das!«</div>
+ <div class="verse indent2">Er hebt das Glas und leert's und spricht:</div>
+ <div class="verse indent2">»Der Rhein meint's doch so übel nicht,</div>
+ <div class="verse indent2">Daß er mich warf an diesen Strand!</div>
+ <div class="verse indent2">Hier fühl' ich mich in guter Hand;</div>
+ <div class="verse indent2">Der Ort gefällt mir und der Wein.«</div>
+ <div class="verse indent2">Er spricht's und schenkt sich fröhlich ein,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Da fiel beim Trunk manches gutes Wort,</div>
+ <div class="verse indent2">Denn wackere Zecher saßen dort.</div>
+ <div class="verse indent2">Der Wirt bedient mit allem Fleiß,</div>
+ <div class="verse indent2">Daß von der Stirn ihm troff der Schweiß.</div>
+ <div class="verse indent2">Sein Amt ihm harte Arbeit schuf,</div>
+ <div class="verse indent2">Denn unaufhörlich scholl der Ruf</div>
+ <div class="verse indent2">Von irgendeiner Seite her:</div>
+ <div class="verse indent2">»Wein her! Wein her! Ich hab' nichts mehr.«</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Als spät es ward, nach alter Sitt'</div>
+ <div class="verse indent2">Man zu den bessern Sorten schritt,</div>
+ <div class="verse indent2">Von Jahrgang sich zu Jahrgang schwang</div>
+ <div class="verse indent2">Bis zu dem Wein von erstem Rang.</div>
+ <div class="verse indent2">Da funkeln Augen, Wangen glühn,</div>
+ <div class="verse indent2">Weinrosen purpurrot erblühn.</div>
+ <div class="verse indent2">Nun sitzt erst da voll Herrlichkeit</div>
+ <div class="verse indent2">Der Mann im weißen Römerkleid.</div>
+ <div class="verse indent2">Vor sich die Flaschenburg erbaut,</div>
+ <div class="verse indent2">Stolz er das Ganze überschaut</div>
+ <div class="verse indent2">Und spricht mit Kraft und trinkt und trinkt.</div>
+ <div class="verse indent2">Wie wohlgemut das Glas er schwingt,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Und wie es spät und später wird,</div>
+ <div class="verse indent2">Die Eule schon zu Neste schwirrt,</div>
+ <div class="verse indent2">Da wird doch manch ein Zecher still;</div>
+ <div class="verse indent2">Die Hand nicht mehr gehorchen will,</div>
+ <div class="verse indent2">Und wie ein Mohnhaupt regenschwer</div>
+ <div class="verse indent2">Zur Seite sinkt, so hält nicht mehr</div>
+ <div class="verse indent2">Sich aufrecht, von der Last gebeugt,</div>
+ <div class="verse indent2">Manch Haupt, vom Weine schwer; es neigt</div>
+ <div class="verse indent2">Sich auf den Tisch und ruht da fest,</div>
+ <div class="verse indent2">Und ungetrunken bleibt ein Rest.</div>
+ <div class="verse indent2">Die Hähne krähn, der Morgen graut,</div>
+ <div class="verse indent2">Der Tag fahl in die Fenster schaut.</div>
+ <div class="verse indent2">Da sitzt noch einer ganz allein,</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Der Weißumhüllte, wach beim Wein.</div>
+ <div class="verse indent2">Er füllt sein Glas und trinkt es leer —</div>
+ <div class="verse indent2">»Will denn kein andrer trinken mehr?</div>
+ <div class="verse indent2">Hat alles schon so früh versagt,</div>
+ <div class="verse indent2">Da es ja doch erst eben tagt,</div>
+ <div class="verse indent2">Und noch des Weins da ist genug?«</div>
+ <div class="verse indent2">Er sprach's und tat manch tiefen Zug,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>.</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Hell in die Fenster scheint der Tag,</div>
+ <div class="verse indent2">Sich schier darob verwundern mag,</div>
+ <div class="verse indent2">Was in der Gaststub' er erblickt.</div>
+ <div class="verse indent2">Da schlafen, übern Tisch gebückt,</div>
+ <div class="verse indent2">Alle bis auf einen — dieser spricht:</div>
+ <div class="verse indent2">»Jetzt duldet's mich hier länger nicht.</div>
+ <div class="verse indent2">Kein Mensch ist da, der mit mir trinkt,</div>
+ <div class="verse indent2">Das Schnarchen mir unlieblich klingt,</div>
+ <div class="verse indent2">Des Weines find' ich auch nichts mehr;</div>
+ <div class="verse indent2">Den Wirt zu wecken, scheint mir schwer,</div>
+ <div class="verse indent2">Drum will ich gehn. Die hier ihr ruht,</div>
+ <div class="verse indent2">Ihr Schläfer all, bekomm's euch gut!«</div>
+ <div class="verse indent2">Er spricht's, von seinem Platze steht</div>
+ <div class="verse indent2">Er auf und ohne Schwanken geht</div>
+ <div class="verse indent2">Er hin zur Tür und tritt hinaus.</div>
+ <div class="verse indent2">Wie sieht die Welt seltsamlich aus!</div>
+ <div class="verse indent2">In Glut getaucht sind Wald und Bühl,</div>
+ <div class="verse indent2">Und doch weht es ihn an so kühl —</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Zum Ufer schreitet er sodann,</div>
+ <div class="verse indent2">Da steht bei seinem Kahn ein Mann.</div>
+ <div class="verse indent2">»Hier find' ich, was mir eben not,</div>
+ <div class="verse indent2">Schau' einen Fährmann und ein Boot!</div>
+ <div class="verse indent2">Freund, fahrt Ihr mich wohl übern Rhein?«</div>
+ <div class="verse indent2">Der staunt, doch sagt er: »Steigt nur ein!«</div>
+ <div class="verse indent2">Vollendet glücklich ist die Fahrt;</div>
+ <div class="verse indent2">Die Kleider hat der Strauch bewahrt.</div>
+ <div class="verse indent2">Sie anzulegen wird ihm leicht,</div>
+ <div class="verse indent2">Das Lailach er dem Schiffer reicht.</div>
+ <div class="verse indent2">»Bringt dies zurück dem Wirt im Stern,</div>
+ <div class="verse indent2">Grüßt ihn und grüßt die guten Herrn,</div>
+ <div class="verse indent2">Die ich dort antraf, jung und alt.</div>
+ <div class="verse indent2">Dem Wirte sagt, ich käme bald</div>
+ <div class="verse indent2">Ihm zu bezahlen meine Schuld —</div>
+ <div class="verse indent2">Ein wenig wohl hätt' er Geduld.</div>
+ <div class="verse indent2">Und dies hier ist für dich, mein Sohn!«</div>
+ <div class="verse indent2">Er gibt dem Mann gar guten Lohn</div>
+ <div class="verse indent2">Und geht davon aufrecht und stolz</div>
+ <div class="verse indent2">Durch Feld und Flur, durchs duft'ge Holz</div>
+ <div class="verse indent2">Grad' aus auf eine gute Stadt.</div>
+ <div class="verse indent2">Welch einen tücht'gen Schritt er hat,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Er zecht nicht mehr vom vollen Faß,</div>
+ <div class="verse indent2">Er schwingt nicht mehr das Römerglas,</div>
+ <div class="verse indent2">Er atmet nicht mehr goldne Luft,</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+<p><span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span></p>
+<div class="poetry-container">
+<div class="poetry">
+ <div class="stanza">
+ <div class="verse indent2">Längst ruht er schon in kühler Gruft.</div>
+ <div class="verse indent2">Doch wo vereint beim goldnen Wein</div>
+ <div class="verse indent2">Sitzt eine Zecherschar am Rhein,</div>
+ <div class="verse indent2">Da wird um manche Mitternacht</div>
+ <div class="verse indent2">In Ehren seiner noch gedacht.</div>
+ <div class="verse indent2">Da heißt's: Klingt mit den Gläsern an!</div>
+ <div class="verse indent2">Ihm gilt's! Das war ein wackrer Mann,</div>
+ <div class="verse indent2"><em class="gesperrt">Der Oberamtsrichter von Neckarsulm</em>!</div>
+ </div>
+</div>
+</div>
+
+<hr class="chap x-ebookmaker-drop">
+
+<div class="chapter">
+
+<p><span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span></p>
+<p class="center">Druck und Einband von Hesse &amp; Becker in Leipzig.</p><br>
+</div>
+
+<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_1" href="#FNAnker_1" class="label">[1]</a> »Ah, alle Achtung! Eine mächtige Hand! In der ganzen Welt
+findet man nicht ihresgleichen.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_2" href="#FNAnker_2" class="label">[2]</a> »Was wollen Sie? Ich bin Ihr Gefangener, mein Herr! Warum
+mir diese Beschimpfung? Vor Ihrem Bataillon?«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_3" href="#FNAnker_3" class="label">[3]</a> »Nun denn, Kamerad, vorwärts! Sie sind mein Gefangener.«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_4" href="#FNAnker_4" class="label">[4]</a> »Ihren Namen, Ihren Namen, mein tapferer Kamerad!«</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_5" href="#FNAnker_5" class="label">[5]</a> heiser.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_6" href="#FNAnker_6" class="label">[6]</a> wann.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_7" href="#FNAnker_7" class="label">[7]</a> Flut.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_8" href="#FNAnker_8" class="label">[8]</a> Lumpenpuppe.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_9" href="#FNAnker_9" class="label">[9]</a> Seemannsscherz, wegen der lehmgrauen Farbe.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_10" href="#FNAnker_10" class="label">[10]</a> Scherzausdruck des Ekels oder der Abwehr.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_11" href="#FNAnker_11" class="label">[11]</a> Fußspuren.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_12" href="#FNAnker_12" class="label">[12]</a> naßwischen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_13" href="#FNAnker_13" class="label">[13]</a> Bürste.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_14" href="#FNAnker_14" class="label">[14]</a> Lumpen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_15" href="#FNAnker_15" class="label">[15]</a> Kessel.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_16" href="#FNAnker_16" class="label">[16]</a> steuern.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_17" href="#FNAnker_17" class="label">[17]</a> anschmeicheln.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_18" href="#FNAnker_18" class="label">[18]</a> Kapitän sein.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_19" href="#FNAnker_19" class="label">[19]</a> ihnen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_20" href="#FNAnker_20" class="label">[20]</a> Haufen, aber nur von halbflüssigen Stoffen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_21" href="#FNAnker_21" class="label">[21]</a> unruhig.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_22" href="#FNAnker_22" class="label">[22]</a> Zeichen, daß die Flut eintritt.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_23" href="#FNAnker_23" class="label">[23]</a> Taschenkrebs.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_24" href="#FNAnker_24" class="label">[24]</a> Übereilen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_25" href="#FNAnker_25" class="label">[25]</a> kleiner Damm.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_26" href="#FNAnker_26" class="label">[26]</a> Mittelamerika.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_27" href="#FNAnker_27" class="label">[27]</a> Affen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_28" href="#FNAnker_28" class="label">[28]</a> Pantoffeln.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_29" href="#FNAnker_29" class="label">[29]</a> d. h. die Sonnenhöhe gemessen hattest.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_30" href="#FNAnker_30" class="label">[30]</a> Wer.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_31" href="#FNAnker_31" class="label">[31]</a> klug.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_32" href="#FNAnker_32" class="label">[32]</a> Scherz.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_33" href="#FNAnker_33" class="label">[33]</a> Der quer durch den Strom schifft.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_34" href="#FNAnker_34" class="label">[34]</a> Teil.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_35" href="#FNAnker_35" class="label">[35]</a> Launen.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_36" href="#FNAnker_36" class="label">[36]</a> Dicker.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_37" href="#FNAnker_37" class="label">[37]</a> Ruß.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_38" href="#FNAnker_38" class="label">[38]</a> Rahmtorten.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_39" href="#FNAnker_39" class="label">[39]</a> mit Petroleummotor.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_40" href="#FNAnker_40" class="label">[40]</a> Wie siehst du aus?</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_41" href="#FNAnker_41" class="label">[41]</a> Bataten.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_42" href="#FNAnker_42" class="label">[42]</a> lügt.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_43" href="#FNAnker_43" class="label">[43]</a> Naseweis.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_44" href="#FNAnker_44" class="label">[44]</a> Rahm.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_45" href="#FNAnker_45" class="label">[45]</a> verdrießlich.</p>
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+</div>
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+<div class="footnote">
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+<p><a id="Fussnote_46" href="#FNAnker_46" class="label">[46]</a> Trog.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_47" href="#FNAnker_47" class="label">[47]</a> Zeugklammern.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_48" href="#FNAnker_48" class="label">[48]</a> Spaßmacher.</p>
+
+</div>
+
+<div class="footnote">
+
+<p><a id="Fussnote_49" href="#FNAnker_49" class="label">[49]</a> schwärmen, herumlaufen.</p>
+
+</div>
+</div>
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75693 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
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