summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-04-19 08:21:02 -0700
committernfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-04-19 08:21:02 -0700
commit9f06fbb9d92babbaecce01bd728cfe1ed116945b (patch)
tree7f773955f46e209da2be21e8fbe0f036ade33f13
Initial commitHEADmain
-rw-r--r--.gitattributes4
-rw-r--r--75907-0.txt11182
-rw-r--r--75907-h/75907-h.htm16007
-rw-r--r--75907-h/images/cover.jpgbin0 -> 480550 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_a.jpgbin0 -> 25655 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_d.jpgbin0 -> 31571 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_e.jpgbin0 -> 25342 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_f.jpgbin0 -> 18673 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_i.jpgbin0 -> 20572 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_l.jpgbin0 -> 16740 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_m.jpgbin0 -> 36729 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_n.jpgbin0 -> 29337 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_p.jpgbin0 -> 19556 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_r.jpgbin0 -> 25126 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_s.jpgbin0 -> 33493 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_u.jpgbin0 -> 23362 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_w.jpgbin0 -> 45129 bytes
-rw-r--r--75907-h/images/drop_z.jpgbin0 -> 30868 bytes
-rw-r--r--LICENSE.txt11
-rw-r--r--README.md2
20 files changed, 27206 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes
new file mode 100644
index 0000000..d7b82bc
--- /dev/null
+++ b/.gitattributes
@@ -0,0 +1,4 @@
+*.txt text eol=lf
+*.htm text eol=lf
+*.html text eol=lf
+*.md text eol=lf
diff --git a/75907-0.txt b/75907-0.txt
new file mode 100644
index 0000000..84c350f
--- /dev/null
+++ b/75907-0.txt
@@ -0,0 +1,11182 @@
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 ***
+
+
+ BUCH
+ MEISTER
+ VERLAG
+ G. M. B. H.
+ BERLIN LEIPZIG
+ 1926
+
+
+
+
+ DAS
+ TOTEN
+ SCHIFF
+
+
+ DIE GESCHICHTE
+ EINES
+ AMERIKANISCHEN
+ SEEMANNS
+
+ VON
+ B. TRAVEN
+
+
+ ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H.
+ BERLIN / BUCHBINDEARBEITEN DER LEIPZIGER BUCHBINDEREI A.-G. VORM.
+ GUSTAV FRITZSCHE / NACHDRUCK VERBOTEN / ALLE RECHTE, INSBESONDERE
+ DAS DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN
+
+ COPYRIGHT 1926 BY B. TRAVEN
+
+
+
+
+ ERSTES BUCH
+
+
+ SONG OF AN AMERICAN SAILOR
+
+ NOW STOP THAT CRYING, HONEY DEAR,
+ THE JACKSON SQUARE REMAINS STILL HERE
+ IN SUNNY NEW ORLEANS
+ IN LOVELY LOUISIANA
+
+ SHE THINKS ME BURIED IN THE SEA,
+ NO LONGER DOES SHE WAIT FOR ME
+ IN SUNNY NEW ORLEANS
+ IN LOVELY LOUISIANA
+
+ THE DEATH-SHIP IS IT I AM IN,
+ ALL HAVE I LOST, NOTHING TO WIN
+ SO FAR OFF SUNNY NEW ORLEANS
+ SO FAR OFF LOVELY LOUISIANA
+
+
+ LIED EINES AMERIKANISCHEN SEEMANNS
+
+ MÄDEL, HEUL DOCH NICHT SO SEHR,
+ WART’ AUF MICH AM JACKSON SQUARE
+ IM SONN’GEN NEW ORLEANS
+ IM LIEBEN LOUISIANA
+
+ MEIN MÄDEL GLAUBT, ICH LIEG IM MEER,
+ SIE STEHT NICHT MEHR AM JACKSON SQUARE
+ IM SONN’GEN NEW ORLEANS
+ IM LIEBEN LOUISIANA
+
+ DOCH ICH LIEG NICHT AN EINEM RIFF,
+ ICH FAHRE AUF DEM TOTENSCHIFF
+ SO FERN VOM SONN’GEN NEW ORLEANS
+ SO FERN VOM LIEBEN LOUISIANA
+
+
+ 1
+
+Wir hatten eine volle Schiffsladung Baumwolle von New Orleans
+’rübergebracht nach Antwerpen mit der S. S. Tuscaloosa.
+
+Sie war ein feines Schiff. Verflucht nochmal, das ist wahr. First rate
+steamer, made in U. S. A. Heimatshafen New Orleans. Oh, du sonniges,
+lachendes New Orleans, so ungleich den nüchternen Städten der vereisten
+Puritaner und verkalkten Kattunhändler des Nordens! Und was für
+herrliche Quartiere für die Mannschaft. Endlich einmal ein Schiffbauer,
+der den revolutionären Gedanken gehabt hatte, daß die Mannschaft auch
+Menschen seien und nicht nur Hände. Alles sauber und nett. Bad und viel
+saubere Wäsche und alles moskitodicht. Die Kost war gut und reichlich.
+Und es gab immer saubere Teller und geputzte Messer, Gabeln und Löffel.
+Da waren Niggerboys, die nichts andres zu tun hatten, als die Quartiere
+sauberzuhalten, damit die Mannschaft gesund bliebe und bei guter Laune.
+Die Kompanie hatte endlich entdeckt, daß sich eine gutgelaunte
+Mannschaft besser bezahlt macht als eine verlotterte.
+
+Zweiter Offizier? No, Sir. Ich war nicht Zweiter Offizier auf diesem
+Eimer. Ich war einfacher Deckarbeiter, ganz schlichter Arbeiter. Sehen
+Sie, Herr, Matrosen gibt es ja kaum noch, werden auch gar nicht mehr
+verlangt. So ein modernes Frachtschiff ist gar kein eigentliches Schiff
+mehr. Es ist eine schwimmende Maschine. Und daß eine Maschine Matrosen
+zur Bedienung braucht, glauben Sie ja gewiß selbst nicht, auch wenn Sie
+sonst nichts von Schiffen verstehen sollten. Arbeiter braucht diese
+Maschine und Ingenieure. Sogar der Skipper, der Kapitän, ist heute nur
+noch ein Ingenieur. Und selbst der A. B., der am Ruder steht und noch am
+längsten als Matrose angesehen werden konnte, ist heute nur noch ein
+Maschinist, nichts weiter. Er hat nur die Hebel auszulösen, die der
+Rudermaschine die Drehungsrichtung angeben. Die Romantik der
+Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der Meinung, daß solche
+Romantik nie bestanden hat. Nicht auf den Segelschiffen und nicht auf
+der See. Diese Romantik hat immer nur in der Phantasie der Schreiber
+jener Seegeschichten bestanden. Jene verlogenen Seegeschichten haben
+manchen braven Jungen hinweggelockt zu einem Leben und zu einer
+Umgebung, wo er körperlich und seelisch zugrunde gehen mußte, weil er
+nichts sonst dafür mitbrachte als seinen Kinderglauben an die
+Ehrlichkeit und an die Wahrheitsliebe jener Geschichtenschreiber.
+Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine Romantik einmal bestanden
+hat, für die Mannschaft nie. Die Romantik der Mannschaft ist immer nur
+gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und eine tierische Behandlung.
+Kapitäne und Steuerleute erscheinen in Opern, Romanen und Balladen. Das
+Hohelied des Helden, der die Arbeit tat, ist nie gesungen worden. Dieses
+Hohelied wäre auch zu brutal gewesen, um das Entzücken derer
+wachzurufen, die das Lied gesungen haben wollten. Yes, Sir.
+
+Ich war nur eben gerade schlichter Deckarbeiter, das war alles. Hatte
+alle Arbeit zu machen, die vorkam. Richtig gesagt, war ich nur ein
+Anstreicher. Die Maschine läuft von selbst. Und da die Arbeiter
+beschäftigt werden müssen und andre Arbeit nur in Ausnahmefällen ist,
+wenn nicht Laderäume gereinigt werden sollen oder etwas repariert werden
+muß, so wird immer angestrichen. Von morgens bis abends, und das hört
+nie auf. Da ist immer etwas, das angestrichen werden muß. Eines Tages
+wundert man sich dann ganz ernsthaft über dieses ewigwährende
+Anstreichen, und man kommt ganz nüchtern zu der Auffassung, daß alle
+übrigen Menschen, die nicht zur See fahren, nichts andres tun, als Farbe
+anfertigen. Dann empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegen diese
+Menschen, weil, wenn sie sich eines Tages weigerten, noch weiter Farbe
+zu machen, der Deckarbeiter nicht wüßte, was er tun soll, und der Erste
+Offizier, unter dessen Kommando die Deckarbeiter stehen, in Verzweiflung
+geriete, weil er nicht wüßte, was er nun den Deckhands kommandieren
+soll. Sie können doch ihr Geld nicht umsonst bekommen. No, Sir.
+
+Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten. Aber
+wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede Monatsheuer
+sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre während der ganzen
+Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig Jahre
+unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht zur Ruhe setzen,
+könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren Arbeitens und Sparens
+mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der Mittelklasse zählen. Zu
+jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen kleinen
+Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. Und da diese Volksschicht
+jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in seinen Fundamenten erhält,
+so würde ich dann ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft
+genannt werden können. Dieses Ziel erreichen zu können, ist fünfzig
+Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das Jenseits hat man sich dann
+gesichert und das Diesseits für andre.
+
+Ich machte mir nichts daraus, mir die Stadt anzusehen. Ich mag Antwerpen
+nicht leiden. Da treiben sich so viele schlechte Seeleute und ähnliche
+Elemente herum. Yes, Sir.
+
+Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen nur
+selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind
+nicht die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen,
+sondern die kleinen Steinchen und Körnchen.
+
+Wir hatten keine Ladung bekommen, und wir sollten in Ballast heimgehen.
+Die ganze Mannschaft war in die Stadt gegangen am letzten Abend vor der
+Heimfahrt. Ich war ganz allein im Forecastle. Des Lesens war ich müde,
+des Schlafens war ich müde, und ich wußte nicht, was ich mit mir
+anfangen sollte. Wir hatten um zwölf heute schon Feierabend gemacht,
+weil dann bereits die Wachen für die Fahrt verteilt wurden. Das war auch
+der Grund, warum alle in die Stadt gegangen waren, um noch einen Kleinen
+mitzunehmen, den wir zu Hause nicht haben konnten wegen der gesegneten
+Prohibition.
+
+Bald lief ich zur Reeling, um ins Wasser zu spucken, bald wieder lief
+ich in die Quartiere. Von dem ewigen Anstarren der leeren Quartiere und
+dem ewigen Herunterglotzen auf die langweiligen Hafenanlagen, Speicher,
+Stapelhäuser, auf die öden Kontorlöcher mit ihren trüben Fenstern,
+hinter denen man nichts sah als Briefordner und Haufen von beschriebenen
+Geschäftspapieren und Frachtbriefen, wurde mir ganz erbärmlich zumute.
+Es war so unsagbar trostlos. Es ging auf den Abend zu, und es war kaum
+eine Menschenseele in diesem Teil des Hafens zu sehen.
+
+Es überkam mich eine ganz dumme Sehnsucht nach dem Gefühl, festen Boden,
+Erde unter meinen Füßen zu haben, eine Sehnsucht nach einer Straße und
+nach Menschen, die schwatzend durch die Straße schlendern. Das war es:
+Ich wollte eine Straße sehen, just eine Straße, nichts weiter. Eine
+Straße, die nicht von Wasser umgeben ist, eine Straße, die nicht
+schwankt, die ganz fest steht. Ich wollte meinen Augen ein kleines
+Geschenk machen, ihnen den Anblick einer Straße gönnen.
+
+„Da hätten Sie früher kommen sollen,“ sagte der Offizier, „ich gebe
+jetzt kein Geld.“
+
+„Ich brauche aber unbedingt zwanzig Dollar Vorschuß.“
+
+„Fünf können Sie haben, nicht einen Cent mehr.“
+
+„Mit einem Fünfer kann ich gar nichts anfangen. Ich muß zwanzig haben,
+sonst bin ich morgen krank. Wer soll denn dann vielleicht die Galley
+anstreichen? Vielleicht wissen Sie das? Ich muß zwanzig haben.“
+
+„Zehn. Aber das ist nun mein letztes Wort. Zehn oder überhaupt nichts.
+Ich bin gar nicht verpflichtet, Ihnen auch nur einen Nickel zu geben.“
+
+„Gut, geben Sie zehn. Das ist zwar ein ganz gemeiner Geiz, der hier an
+mir verübt wird, aber wir müssen uns ja alles gefallen lassen, das ist
+man nun schon gewöhnt.“
+
+„Unterschreiben Sie die Quittung. Wir werden es morgen in die Listen
+übertragen. Dazu habe ich jetzt keine Lust.“
+
+Da hatte ich meinen Zehner. Ich wollte ja überhaupt nur zehn haben.
+Hätte ich aber gesagt zehn, so würde er auf keinen Fall mehr als fünf
+gegeben haben, und mehr als zehn konnte ich nicht gebrauchen, weil ich
+nicht mehr ausgeben wollte; denn was man einmal in der Tasche hat, kehrt
+nicht mehr heim, wenn man erst in die Stadt geht.
+
+„Betrinken Sie sich nicht. Das ist hier ein ganz böser Platz“, sagte der
+Offizier, als er die Quittung an sich nahm.
+
+Das war eine unerhörte Beleidigung. Der Skipper, die Offiziere und die
+Ingenieure betranken sich zweimal des Tages, solange wir nun schon hier
+lagen, aber mir wird gepredigt, mich nicht zu betrinken. Ich dachte gar
+nicht daran. Warum auch? Es ist so dumm und so unvernünftig.
+
+„Nein,“ gab ich zur Antwort, „ich nehme niemals einen Tropfen von diesem
+Gift. Ich weiß, was ich meinem Lande selbst in der Fremde schuldig bin.
+Yes, Sir. Ich bin Abstinenzler, knochentrocken. Können sich drauf
+verlassen, das bin ich. Ich glaube an die heilige Prohibition.“ Raus war
+ich und runter vom Eimer.
+
+
+ 2
+
+Es war eine lange schöne Sommerdämmerung. Ich schlurkste zufrieden mit
+der Welt durch die Straßen und konnte mir nicht denken, daß irgendjemand
+auf der Welt sei, dem diese Welt nicht gefallen möchte. Ich sah mir die
+Schaufenster an, und ich sah mir die Leute an, denen ich begegnete.
+Hübsche Mädels, verflucht nochmal, alles, was recht ist. Manche freilich
+beachteten mich gar nicht; die aber, die mich anlachten, waren gerade
+die hübschesten. Und wie nett sie lachen konnten! Dann kam ich zu einem
+Hause, dessen Front schön vergoldet war. Es sah so lustig aus, das ganze
+Haus und die Vergoldung. Die Türen waren weit offen und sagten: „Komm
+nur rein, Freund, just für eine kleine Weile, setz’ dich, mach dir’s
+bequem und vergiß deine Sorgen.“
+
+Ich hatte überhaupt keine Sorgen, aber es war doch drollig, daß jemand
+zu einem sagte, man möge die Sorgen vergessen. Das war so lieb. Und
+drinnen, in dem Hause, da waren schon eine ganze Menge Leute, und die
+waren alle so lustig, hatten ihre Sorgen vergessen, sangen und lachten,
+und da war so eine vergnügte Musik. Nur um zu sehen, ob das Haus drinnen
+ebenso vergoldet sei wie draußen, ging ich hinein und setzte mich auf
+einen Stuhl. Sofort kam ein Bursche, lachte mich an und setzte mir eine
+Flasche und ein Glas gerade vor die Nase. Man mußte es mir wohl an der
+Nasenspitze ansehen, denn er sagte sofort in Englisch:
+
+„Bedienen Sie sich, mon ami, und seien Sie vergnügt wie alle die übrigen
+hier.“
+
+Nur fröhliche Gesichter rundherum, und wochenlang hat man nichts weiter
+vor Augen gehabt als Wasser und stinkende Farbe. Und so war ich halt
+vergnügt, und von jenem Augenblick an konnte ich mich auf nichts
+Bestimmtes mehr besinnen. Ich tadele nicht jenen freundlichen Burschen,
+wohl aber die Prohibition, die uns so schwach gegenüber Versuchungen
+macht. Gesetze machen immer schwach, weil es einem in der Natur liegt,
+Gesetze zu übertreten, die andre gemacht haben.
+
+Die ganze Zeit hindurch war ein ganz drolliger Nebel immer um mich
+herum, und spät in der Nacht fand ich mich in dem Zimmer eines hübschen
+lachenden Mädchens. Endlich sagte ich zu ihr: „Well, Mademoiselly, wie
+spät haben wir es denn?“
+
+„Oh,“ sagte sie mit ihrem hübschen Lachen, „du hübscher Junge –“ Yes,
+Gentlemen, ganz gewiß, das sagte die Mademoiselly zu mir, „hübscher
+Junge, o du hübscher Junge,“ sagte sie, „nun sei kein Spaßverderber, sei
+ein Kavalier, laß eine zarte junge Dame nicht allein um Mitternacht. Da
+können vielleicht Einbrecher in der Nähe sein, und ich bin so
+schrecklich furchtsam, die Einbrecher könnten mich vielleicht gar
+ermorden.“
+
+Na, ich kenne doch die Pflicht eines rotblütigen amerikanischen Jungen
+unter solchen Umständen, wenn er ersucht wird, einer hilflosen schwachen
+Dame beizustehen. Von meinem ersten Atemzuge an ist mir gepredigt
+worden: Benimm dich anständig in Gegenwart von Damen, und wenn dich eine
+Dame um etwas bittet, dann hast du zu flitzen und es zu tun, und wenn es
+dich das Leben kosten sollte.
+
+Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war keine
+Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. Sie war
+heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen, ohne mich
+mitzunehmen.
+
+Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten, und denen die Mutter
+abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr Häuschen
+abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und ich habe Tiere
+gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen war. Das alles
+war sehr traurig. Aber das traurigste aller Dinge ist ein Seemann in
+fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren ist, ohne ihn
+mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben ist. Der Seemann, der
+übriggeblieben ist.
+
+Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt, und das ihn
+weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er ist
+oft freiwillig zurückgeblieben und hat oft abgezeichnet, abgemustert aus
+Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder bedrückt.
+Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt, ohne ihn
+mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende
+Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet, es
+kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter Nagel, der
+irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum Verhängnis
+werden, der Seemann, der sich gestern noch so wichtig dünkte für das
+Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute weniger wert als jener
+alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt werden, der Seemann, der
+übriggebliebene, wird nicht vermißt, die Kompanie spart seinen Lohn. Ein
+Seemann ohne Schiff, ein Seemann, der nicht zu einem Schiff gehört, ist
+weniger als der Dreck auf der Gasse. Er gehört nirgends hin, niemand
+will etwas mit ihm zu tun haben. Wenn er jetzt da ins Meer springt und
+ersäuft wie eine Katze, niemand vermißt ihn, niemand wird nach ihm
+suchen. „Ein Unbekannter, offenbar ein Seemann“, das ist alles, was von
+ihm gesagt wird.
+
+Das ist ja recht lieblich, dachte ich, und jener Welle des Verzagtseins
+gab ich rasch ordentlich eins auf den Kamm, so daß sie sich davonmachte.
+Mache das Beste aus dem Schlechten, und das Schlechte verschwindet im
+Augenblick.
+
+Gosh, schiet den ollen Eimer, da sind andre Schiffe in der Welt, die
+Ozeane sind ja so groß und so weit. Kommt ein andres, ein besseres.
+Wieviel Schiffe gibt es auf der Welt? Sicher eine halbe Million. Davon
+wird doch eines einmal einen Deckarbeiter gebrauchen können. Und
+Antwerpen ist ein großer Hafen, da kommen sicher alle diese halbe
+Million Schiffe einmal her, irgendwann und irgendeinmal sicher. Muß man
+nur Geduld haben. Ich kann doch nicht erwarten, daß gleich da drüben
+schon so ein Kasten liegt und der Kapitän in Todesangst schreit:
+
+„Herr Deckarbeiter, kommen Sie schnell rauf zu mir, ich brauche einen
+Deckarbeiter, gehen Sie nicht zum Nachbar, ich flehe Sie an.“
+
+So sehr kümmerte ich mich auch wahrhaftig nicht um die treulose
+Tuscaloosa. Wer hätte das von diesem schönen Weibsbild gedacht? Aber so
+sind sie, alle, alle. Und sie hatte so saubere Quartiere und ein so
+gutes Essen. Jetzt haben sie gerade Breakfast, diese verfluchten
+Halunken, und essen meine Portion Ham and Eggs mit. Wenn sie wenigstens
+nicht der Slim kriegen wollte, denn diesem Hund von einem Bob gönne ich
+sie nicht. Aber der wird ja gleich der erste sein, der meine Sachen
+durchstöbert und sich das Beste heraussucht, ehe sie abgeschlossen
+werden. Diese Banditen werden die Sachen überhaupt nicht abschließen
+lassen, sie werden sie glatt unter sich verteilen und sagen, ich hätte
+nichts gehabt, diese Banditen, diese niederträchtigen. Dem Slim ist ja
+auch nicht zu trauen, er hat mir so schon immer die Toilettenseife
+gestohlen, weil er sich mit der Kernseife nicht waschen wollte, dieser
+geschniegelte Broadwayhengst. Yes, Sir, das machte der Slim, Sie hätten
+das nicht von ihm geglaubt, wenn Sie ihn gesehen hätten.
+
+Wahrhaftig nicht, so sehr kümmerte ich mich nicht um den davongelaufenen
+Kasten. Aber was mich ernsthaft bekümmerte, war, ich hatte nicht einen
+roten Cent in meiner Tasche. Jenes hübsche Mädchen hatte mir in der
+Nacht erzählt, daß ihre so herzinnig geliebte Mutter schwerkrank sei,
+und sie hätte kein Geld, um Arznei und kräftiges Essen zu kaufen. Ich
+wollte für den Tod der Mutter nicht verantwortlich sein, deshalb gab ich
+dem hübschen Mädchen alles Geld, das ich bei mir hatte. Ich wurde
+reichlich belohnt durch die tausend beglückten Danksagungen des
+Mädchens. Gibt es irgendetwas in der Welt, das beglückender wäre als die
+tausend Danksagungen eines hübschen Mädchens, dessen geliebte Mutter man
+soeben vom Tode errettet hat? No, Sir.
+
+
+ 3
+
+Ich setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der
+Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und wünschte, daß
+sie auf einen Felsen aufbrennen möchte und so gezwungen wäre,
+zurückzukommen oder wenigstens die Mannschaft auszubooten und
+zurückzuschicken. Aber sie ging den Felsenriffen schön aus dem Wege,
+denn ich sah sie nicht zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von
+Herzen alle Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur
+begegnen können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, daß
+sie Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis
+unten ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen
+würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und
+daß sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, daß ihm
+sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge.
+
+Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem
+hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter und
+weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden,
+daß mir ganz schwindlig wurde.
+
+Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: „Oh rats, lassen Sie mich in Ruh;
+ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges
+Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel.“
+
+„Sie sind Engländer, nicht wahr?“ fragte er nun in Englisch.
+
+„No, Yank.“
+
+„Aha, also Amerikaner.“
+
+„Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, daß Sie
+fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“
+
+„Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.“
+
+„Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten“, sagte ich
+darauf. „Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig oder was haben Sie
+sonst für Sorgen?“
+
+„Seemann?“ fragte er weiter.
+
+„Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?“
+
+„Von welchem Schiff?“
+
+„Tuscaloosa von New Orleans.“
+
+„Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.“
+
+„Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Haben Sie keinen
+besseren Witz auf Lager? Der ist schon sehr alt und stinkt.“
+
+„Wo haben Sie Ihre Papiere?“ – „Was für Papiere?“
+
+„Ihre Seemannskarte.“
+
+Ei, Schokoladencreme mit Appelsauce! Meine Seemannskarte? Die steckte in
+meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack und mein
+Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und die
+Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüßte, was
+sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der Nigger sicher
+wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas erzählen, wenn ich
+die Galley streichen komme.
+
+„Na, Ihre Seemannskarte. Verstehen doch, was ich meine.“
+
+„Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine
+Seemannskarte. Da muß ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe
+keine Seemannskarte.“
+
+„Keine Seemannskarte?“ Das hätte man hören müssen, in welch einem
+entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte:
+„Was, Sie glauben nicht, daß es Meerwasser gibt?“
+
+Ihm war das unfaßbar, daß ich keine Seemannskarte hatte, und er fragte
+es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar rein
+mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte hinzu:
+„Keine andern Papiere? Paß oder Identitätskarte oder etwas Ähnliches?“
+
+„Nein.“ Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wußte,
+daß ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen bei mir
+hatte.
+
+„Kommen Sie mit mir!“ sagte darauf der Mann.
+
+„Wohin kommen?“ fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der Mann
+vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein Rumboot
+gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen. Da kriegen
+mich keine zehn Pferde mehr rauf.
+
+„Wohin? Das werden Sie gleich sehen.“ Daß der Mann besonders freundlich
+gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die Heuerbase sind
+nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten durchaus niemand
+kriegen können. Das also schien hier ein ganz wackeres Bötchen zu sein,
+auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so
+schnell wieder auf einen Eimer kommen würde. Glück muß man haben und nur
+nicht immer gleich verzagen.
+
+Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation.
+Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und
+durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war, fragte
+mich der Mann ganz trocken: „Keine Waffe? Keine Werkzeuge?“
+
+Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können. Als ob
+ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches und eine
+Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können! Aber so sind die
+Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe es versteckt;
+denn daß man das nicht besitze, wonach sie suchen, das können sie nicht
+begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals wußte ich das noch
+nicht.
+
+Dann hatte ich mich vor einem Schreibpulte aufzustellen, an dem ein Mann
+saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher gestohlen.
+Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Photographien waren. Der Mann,
+der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer, weil wir uns
+sonst nicht hätten verständigen können. Als sie unsre Jungens brauchten,
+im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt ist das längst vorbei, und
+da brauchen sie nichts mehr zu wissen.
+
+Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah
+immer auf die Photographien und dann auf mich, oder genauer, auf mein
+Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln wurden
+nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit, und die
+nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre hatten es ja zu bezahlen,
+warum sollte er sich da beeilen.
+
+Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte
+er meine Photographie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht
+erinnern, daß ich mich jemals in Antwerpen hätte photographieren lassen.
+Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft, und
+ich sagte: „Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein
+Frühstück gehabt.“
+
+„Das ist recht“, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen
+Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren
+nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden.
+
+Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier
+scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz
+aufzubewahren. Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz
+bestimmt niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher
+nicht, no, Sir.
+
+Ich möchte wissen, ob die Leute hier das wirklich Frühstück nennen.
+Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch nicht
+erholt. Oder wurde der Krieg nur darum gemacht, um sich größere
+Frühstücke zu verschaffen? Dann haben sie ihn sicherlich nicht gewonnen,
+was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, denn ein solches Krümchen
+müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt haben, weil es das
+Minimum an Qualität und Quantität ist, das man gerade noch Frühstück
+nennen kann, weil man das Stück früh bekommt.
+
+Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht.
+
+„Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?“ Das wurde ich gefragt.
+
+„Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen und
+können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in Afrika
+immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie können
+vielleicht sehr schnell Soldaten brauchen und mich, da ich ja keine
+Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für einen ihrer
+Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen Fall.“
+
+„Wie denken Sie über Deutschland?“
+
+Was die Leute alles von mir wissen wollen!
+
+„Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.“
+
+„Warum? Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie auch
+wieder leicht ein Schiff bekommen.“
+
+„Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt
+werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen nicht
+bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil ich doch keine
+Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht auch verwechseln,
+und ich müßte mit bezahlen. Soviel kann ich ja als Deckarbeiter nie
+verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der Mittelklasse
+erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft
+werden.“
+
+„Was reden Sie soviel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen oder
+nicht.“
+
+Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint,
+daß sie viel Zeit haben und froh sind, daß eine Unterhaltung im Gange
+ist.
+
+„Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland“, sagt
+der Hohepriester und der Dolmetscher erzählt es mir wieder.
+
+„Ich mag aber die Holländer nicht“, erwiderte ich, und ich will nun auch
+gleich erzählen warum, als mir gesagt wird: „Ob Sie die Holländer mögen
+oder nicht, das geht uns gar nichts an. Machen Sie das mit den
+Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen.
+Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie auch nicht,
+das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach nach
+Holland. Fertig und Schluß. Eine andre Grenze haben wir nicht.
+Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbar aussuchen, der
+vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins Wasser wollen wir
+Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige Grenze, die uns
+noch bleibt als letzte. Also es geht nach Holland und nun Schluß. Seien
+Sie froh, daß Sie so billig davonkommen.“
+
+„Aber meine Herren, Sie sind im Irrtum, ich will gar nicht nach Holland.
+Die Holländer sitzen –“
+
+„Ruhig nun. Die Frage ist entschieden. Wieviel Geld haben Sie?“
+
+„Sie haben doch meine Taschen und Nähte alle durchsucht. Wieviel Geld
+haben Sie denn gefunden?“ Da soll man nun nicht wütend werden. Sie
+durchsuchen einen stundenlang mit Vergrößerungsgläsern, und dann fragen
+sie noch ganz scheinheilig, wieviel Geld man habe.
+
+„Wenn Sie nichts gefunden haben, dann habe ich kein Geld“, sage ich.
+
+„Das ist gut. Das ist jetzt alles. Nehmen Sie ihn wieder in die Zelle.“
+Der Hohepriester hatte seine Zeremonien beendet.
+
+
+ 4
+
+Am späten Nachmittag wurde ich zum Bahnhof gebracht. Zwei Mann, darunter
+der Dolmetscher, begleiteten mich. Offenbar dachten sie, ich sei noch
+nie in meinem Leben mit der Bahn gefahren, denn ich durfte nichts allein
+tun. Einer löste die Fahrkarten, während der andre dicht bei mir stehen
+blieb und aufpaßte, damit nicht etwa ein Taschendieb sich die
+vergebliche Arbeit machen sollte, noch einmal meine Taschen
+durchzusuchen, denn wo einmal die Polizei Taschen durchsucht hat, findet
+auch der geschickteste Taschendieb keinen Cooper mehr.
+
+Der Mann, der die Karten gelöst hatte, gab mir aber meine Karte nicht.
+Wahrscheinlich dachte er, ich würde sie sofort wieder verkaufen. Sie
+begleiteten mich dann sehr höflich auf den Bahnsteig und brachten mich
+zu meinem Abteil. Ich glaubte, sie würden sich hier von mir
+verabschieden. Aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir in das
+Abteil, und um mich vor dem Hinausfallen zu bewahren, nahmen sie mich in
+ihre Mitte. Ob belgische Polizeibeamte immer so höflich mit Leuten sind,
+weiß ich nicht. Ich jedenfalls konnte mich über sie nicht beklagen. Sie
+gaben mir dann Zigaretten. Wir rauchten, und der Zug dampfte los. Nach
+einer kurzen Fahrt verließen wir den Zug und kamen in ein kleines
+Städtchen. Wieder wurde ich zu einer Polizeistation gebracht. Ich hatte
+mich auf eine Bank zu setzen in jenem Raum, wo sich alle die
+Polizeibeamten aufhielten, die in Reserve waren. Die beiden Leute, mit
+denen ich gekommen war, erzählten eine große Geschichte über mich. Die
+übrigen Cops, ich meine die übrigen Polizeibeamten, glotzten mich alle
+der Reihe nach an, manche interessiert, als ob sie noch nie einen
+solchen Mann gesehen hätten, und andre wieder, als hätte ich irgendwo
+einen Doppelraubselbstmord verübt.
+
+Gerade diejenigen, die mich in so verhängnisvoller Weise anstarrten, die
+mich der Verübung der gräßlichsten Verbrechen, deren Täter man noch
+nicht erwischt hatte, fähig hielten, und die mir noch viel schwerere
+Verbrechen in Zukunft zutrauten als ich, ihrer untrüglichen Meinung
+zufolge, schon verübt habe, flößten mir plötzlich den Gedanken ein, daß
+ich hier auf den Henker zu warten habe, der augenscheinlich nicht zu
+Hause war und erst gesucht werden mußte.
+
+Da war nichts zu lachen, no, Sir. Es war eine sehr ernste Sache. Man
+braucht nur ein wenig darüber nachzudenken. Ich hatte keine
+Seemannskarte, ich hatte keinen Paß, ich hatte keinen Identitätsausweis,
+ich hatte kein sonstiges Papier, und meine Photographie hatte der
+Hohepriester in seinem dicken Buche auch nicht gefunden. Wenn da
+wenigstens noch meine Photographie gewesen wäre, dann hätte er doch
+gleich gewußt, wer ich bin. Von der Tuscaloosa achtern abgeblieben zu
+sein, das konnte jeder erzählen, der sich da herumtrieb. Eine Wohnung
+hatte ich nirgendwo auf der Welt. Entweder ein Eimer oder eine
+Seemannsherberge. Mitglied irgendeiner Handelskammer war ich auch nicht.
+Ich war eben ein Niemand. Na, nun frage ich, warum sollten die armen
+Belgier einen Niemand durchfüttern, wo sie doch schon so viele
+Niemandskinder durchzufüttern haben, die wenigstens immer noch zur
+Hälfte hierher gehören. Ich aber gehörte mit keiner Hälfte hierhin. Ich
+war nur eine weitere Ursache, daß sie in Amerika wieder Geld pumpen
+mußten. Mich zu hängen, war der kürzeste und einfachste Weg, um mich los
+zu werden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Kein Mensch
+kümmerte sich um mich, kein Mensch würde nach mir fragen, meinen Namen
+brauchten sie gar nicht einmal in ihre dicken Bücher zu schreiben. Und
+hängen würden sie mich, ganz sicher. Sie warteten nur noch auf den
+Henker, der das Geschäft versteht, sonst wäre es ja ungesetzlich und ein
+Mord.
+
+Wie recht ich hatte. Da war der Beweis. Einer der Cops kam auf mich zu
+und gab mir zwei dicke Pakete mit Zigaretten, die letzte Gabe an den
+armen Sünder. Dann gab er mir auch noch Zündhölzer, setzte sich zu mir
+und radebrechte mit mir, lachte und war freundlich, klopfte mir auf die
+Schulter und sagte: „Ist nicht so schlimm, Junge, nehmen Sie es nicht zu
+tragisch. Rauchen Sie, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Wir müssen
+warten, bis es finster ist, sonst können wir es nicht gut machen.“ Nicht
+tragisch nehmen, wenn man gehängt werden soll. Ist nicht so schlimm. Ich
+möchte wissen, ob es mit ihm schon mal versucht worden ist, daß er so
+bestimmt sagen kann: Ist nicht so schlimm. Warten, bis es finster ist.
+Freilich, bei Tage trauen sie sich nicht so recht, es könnte uns ja
+vielleicht jemand begegnen, der mich kennt, und dann wäre der Spaß
+verdorben. Aber es hat ja keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen, er
+wird bald genug von selber hängen. Und ich rauche erst einmal wie ein
+Fabrikschlot, damit sie nicht am Ende gar noch die Zigaretten sparen.
+
+Die Zigaretten schmecken nach gar nichts. Das reine Stroh. Verflucht
+nochmal, ich will nicht hängen. Wenn ich nur wüßte, wie ich hier heraus
+komme. Aber die sind ja immerfort um mich herum. Und jeder neue, der
+abgelöst ist und hereinkommt, glubscht mich an und will von den andern
+wissen, wer ich bin, warum ich hier sei, und wann ich gehängt werde. Und
+dann grient er übers ganze Gesicht. Ein widerliches Volk. Ich möchte
+wissen, warum wir denen geholfen haben.
+
+Später bekam ich mein letztes Essen. Aber solche Geizhälse gibt es auf
+der ganzen Erde nicht mehr. Das nennen sie nun eine Henkersmahlzeit:
+Kartoffelsalat mit einer Scheibe Leberwurst und ein paar Schnitten Brot
+mit Margarine. Zum Heulen ist es. Nein, die Belgier sind keine Guten,
+und es fehlte nicht viel, und ich wäre beinahe verwundet worden, als wir
+sie aus der Suppe ziehen mußten und unser Geld los wurden. Einer, der
+mir die Zigaretten gegeben hatte und mir einzureden versuchte, es sei
+nicht so schlimm, gehenkt zu werden, sagte nun: „Sie sind doch ein guter
+Americain, sie trinken doch keinen Wein, nicht wahr?“ Und dabei lachte
+er mich an. Teufel nochmal, wenn er nicht ein solcher Heuchler wäre mit
+seinem Nicht-so-schlimm, man könnte beinahe glauben, daß es auch feine
+und nette Belgier gibt.
+
+„Guter Amerikaner? Schiet auf Amerika. Ich trinke Wein, aber feste.“
+
+„Das habe ich mir doch gleich gedacht,“ sagte der Cop schmunzelnd. „Sie
+sind echt. Das ist ja alles Alterweiberhumbug mit eurer sogenannten
+Prohibition. Laßt euch von Tanten und Betschwestern kommandieren. Mich
+geht es ja nichts an. Aber hier bei uns, da haben wir Männer noch die
+Hosen an.“
+
+Gosh, da ist endlich einer, der den Pfahl im Fleische sieht. Der Mann
+kann nicht verlorengehen, er kann durch dickes Wasser bis auf den Grund
+sehen. Schade um den Mann, daß er Cop ist. Aber wenn er nicht Cop wäre,
+würde ich wahrscheinlich dieses Riesenglas voll guten Weines, das er
+jetzt vor mich hinstellte, nie gesehen haben. Prohibition ist eine
+Schande und eine Sünde, Gott sei’s geklagt. Ich bin sicher, daß wir
+irgendwann und irgendwo etwas Furchtbares verbrochen haben müssen, weil
+uns diese köstliche Gottesgabe genommen wurde.
+
+Gegen zehn Uhr abends sagte der Weinspender zu mir: „So, nun ist es Zeit
+für uns, Seemann, kommen Sie mit mir.“
+
+Was hätte es für Sinn, zu schreien: „Ich will nicht gehenkt werden!“
+wenn da vierzehn Mann um einen herum sind, und alle vierzehn vertreten
+das Gesetz. Das ist eben Schicksal. Zwei Stunden hätte die Tuscaloosa
+nur zu warten brauchen. Aber zwei Stunden bin ich nicht wert, hier bin
+ich noch viel weniger wert.
+
+Der Gedanke an diese Wertlosigkeit empörte mich aber doch, und ich
+sagte: „Ich geh nicht mit. Ich bin Amerikaner, ich werde mich
+beschweren.“
+
+„Ha!“ schrie einer höhnisch herüber, „Sie sind kein Amerikaner. Beweisen
+Sie es doch. Haben Sie eine Seemannskarte? Haben Sie einen Paß? Nichts
+haben Sie. Und wer keinen Paß hat, ist niemand. Mit Ihnen können wir
+machen, was uns beliebt. Und das werden wir jetzt, und Sie werden nicht
+gefragt. Raus mit dem Burschen.“
+
+Es war nicht nötig, daß ich mir vielleicht erst noch einen Hieb über den
+Schädel holte, am Ende war ich ja nur der Dumme. So mußte ich halt
+lostrotten.
+
+An meiner linken Seite ging der lustige Mann, der radebrechen konnte,
+und an meiner rechten Seite ging ein andrer. Wir verließen das kleine
+Städtchen und befanden uns bald auf offnen Feldern.
+
+Es war entsetzlich finster. Der Weg, auf dem wir gingen, war nur ein
+holpriger, zerfahrener Landweg, wo man schlecht laufen konnte. Ich hätte
+nur gern gewußt, wie lange wir so wandern wollten, bis das traurige Ziel
+erreicht war.
+
+Nun verließen wir auch noch diese elende Straße und bogen in einen
+Wiesenpfad ein. Eine gute Weile ging es über Wiesen.
+
+Jetzt war es Zeit, abzuhäuten. Aber diese Burschen waren augenscheinlich
+Gedankenleser. Gerade als ich einen ausschwingen will, um zuerst einmal
+dem einen Nachbar einen sanften Bläser an die Kinnbacken zu haken, packt
+mich der Mann am Arm und sagt: „Nun sind wir da. Jetzt haben wir
+einander Lebewohl zu sagen.“
+
+Ein entsetzliches Gefühl, wenn man die letzte Minute so klar und trocken
+heranschleichen sieht. Nicht einmal schleichen. Sie stand gleich ganz
+nüchtern vor mir. Es war mir sehr trocken in der Kehle. Ich hätte gern
+einen Schluck Wasser gehabt. Aber nun war ja wohl an Wasser nicht mehr
+zu denken. Die paar Augenblicke würde es auch noch ohne Wasser gehen,
+das hätten sie mir sicher geantwortet. Ich hätte den Weinspender nicht
+für einen solchen Heuchler gehalten. Einen Henker hatte ich mir anders
+vorgestellt. Es ist doch ein dreckiges, ein schäbiges Geschäft; als ob
+es nicht andre Berufe gäbe. Nein, gerade Henker, Bestie sein, und das
+sogar noch als Beruf.
+
+Nie vorher im Leben hatte ich so stark gefühlt, wie wunderschön das
+Leben ist. Wunderschön und über alle Maßen köstlich ist sogar das Leben,
+wenn man müde und hungrig zum Hafen kommt und erkennt, daß einem das
+Schiff weggefahren ist und man zurückgelassen ist ohne Seemannskarte.
+Leben ist immer schön, wenn es auch noch so trübe aussieht. Und in einer
+so finstern Nacht auf freiem Felde einfach so fortgewischt zu werden,
+als wäre man nur gerade ein Wurm –! Hätte ich von den Belgiern nicht
+gedacht. Aber schuld daran ist die Prohibition, die einen so schwach
+macht gegen Versuchungen. Wenn ich jetzt, gerade jetzt, diesen Mr.
+Volstead hier zwischen meinen Fingern hätte! Was muß der Mann für eine
+böse Frau gehabt haben, daß er so etwas ausdenken und ausstinken konnte!
+Froh bin ich aber doch, daß auf mich diese Millionen Flüche nicht
+herabgedonnert werden, die das Leben dieses Mannes belasten.
+
+„Oui, Mister, wir haben Lebewohl zu sagen. Sie mögen ja ein ganz netter
+Mensch sein. Augenblicklich haben wir aber gar keine Verwendung für
+Sie.“
+
+Deshalb brauchen Sie einen doch aber nicht gleich zu henken.
+
+Er hob seinen Arm. Offenbar, um mir die Schlinge über den Kopf zu werfen
+und mich zu erdrosseln; denn die Mühe, einen Galgen aufzubauen, hatten
+sie sich nicht gemacht. Das hätte zuviel Ausgaben verursacht.
+
+„Da drüben,“ sagte er nun und zeigte mit ausgestrecktem Arme in die
+Richtung, „da drüben, geradenwegs, wo ich hinweise, da ist Holland.
+Netherland. Haben Sie doch sicher schon davon gehört?“
+
+„Ja.“
+
+„Jetzt gehen Sie geradenwegs in jene Richtung, die ich Ihnen hier mit
+meinem Arme andeute. Ich glaube nicht, daß Sie da jetzt einen
+Kontrollbeamten treffen werden. Wir haben uns erkundigt. Sollten Sie
+aber jemand sehen, dann gehen Sie ihm sorgfältig aus dem Wege. Nach
+einer Stunde Gehens immer in dieser Richtung kommen Sie an die
+Eisenbahnlinie. Folgen Sie der Linie noch eine kurze Strecke in
+derselben Richtung, dann kommen Sie zur Station. Halten Sie sich da in
+der Nähe auf, aber lassen Sie sich nicht sehen. Gegen vier Uhr morgens
+kommen dann eine Menge Arbeiter, und dann gehen Sie zum Schalter und
+sagen nur ‚Rotterdam derde klasse‘, aber sagen Sie kein einziges Wort
+mehr. Hier haben Sie fünf Gulden.“
+
+Er gab mir fünf Geldscheine.
+
+„Und da ist noch ein Happen zu essen für die Nacht. Kaufen Sie nichts
+auf der Station. Sie sind bald in Rotterdam. So lange halten Sie es dann
+schon aus.“
+
+Nun gab er mir ein kleines Paketchen, in dem allem Anschein nach
+Butterbrote waren. Dann bekam ich noch ein Paket Zigaretten und eine
+Schachtel Zündhölzer.
+
+Was soll man von diesen Leuten sagen? Sie sind hinausgeschickt, um mich
+zu henken, und geben mir noch Geld und Butterbrote, damit ich mich aus
+dem Staube machen kann. Sie haben ein zu gutes Herz, mich so kalt
+umzubringen. Da soll man nun die Menschen nicht lieben, wenn man so gute
+Kerle selbst unter den Polizisten findet, deren Herz durch das ewige
+Menschenjagen durch und durch verhärtet ist. Ich schüttelte den beiden
+so sehr die Hände, daß sie Angst bekamen, ich wollte die Hände
+mitnehmen.
+
+„Machen Sie nicht solchen Spektakel, einer von drüben kann Sie
+vielleicht gar hören, und dann ist alles im Dreck. Und das wäre nicht
+gut, dann könnten wir wieder von vorn anfangen.“ Der Mann hatte recht.
+„Und nun hören Sie gut zu, was ich Ihnen jetzt sage.“ Er sprach
+halblaut, bemühte sich aber, mir alles deutlich zu machen dadurch, daß
+er das Gesagte mehrfach wiederholte. „Kommen Sie ja nicht nochmal nach
+Belgien zurück, das kann ich Ihnen nur sagen. Wenn wir Sie nochmal
+innerhalb unsrer Grenzen finden, Sie können sich darauf verlassen, wir
+sperren Sie ein auf Lebenszeit. Auf Lebenszeit im Gefängnis. Lieber
+Freund, das ist allerlei. Also ich warne Sie ausdrücklich. Wir wissen ja
+nicht, wohin mit Ihnen. Sie haben ja keine Seemannskarte.“
+
+„Aber vielleicht hätte ich zum Konsul –“
+
+„Gehen Sie mir mit Ihrem Konsul. Haben Sie eine Seemannskarte? Nein. Na
+also. Da pfeffert Sie Ihr Konsul raus, vierkant, und wir haben Sie auf
+dem Halse. Sie wissen jetzt Bescheid. Auf Lebenszeit Gefängnis.“
+
+„Ganz bestimmt, meine Herren, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht
+mehr Ihr Land betreten.“ Warum sollte ich auch? Ich hatte ja in Belgien
+nichts verloren. Ich war eigentlich froh, daß ich raus kam. Holland ist
+viel besser. Die versteht man schon zur Hälfte, während man hier kein
+Wort versteht, was die Leute reden, und was sie wollen.
+
+„Gut also. Sie sind nun verwarnt. Nun hüpfen Sie los und seien Sie
+vorsichtig. Wenn Sie Tritte hören, legen Sie sich hin bis die Schritte
+vorübergegangen sind. Lassen Sie sich nur nicht kriegen, sonst kriegen
+wir Sie, und dann geht es Ihnen schlecht. Viel Glück auf die Reise.“
+
+Die schoben ab und ließen mich allein.
+
+Dann, kreuzvergnügt, wanderte ich los. Immer in jener Richtung, die mir
+gezeigt worden war.
+
+
+ 5
+
+Rotterdam ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat. Ich hatte keins,
+nicht einmal eine Börse, wo ich es hätte hineinstecken können, wenn ich
+welches gehabt hätte.
+
+Da war auch nicht ein einziges Schiff im Hafen, das einen Deckarbeiter
+oder einen Ersten Ingenieur gebraucht hätte. Zu jener Zeit war mir das
+ganz gleich. Wenn auf einem Schiff ein Erster Ingenieur verlangt worden
+wäre, ich hätte den Posten angenommen. Glatt. Ohne mit der Wimper zu
+zucken. Der Krach kommt ja erst, wenn das Schiff draußen ist, auf hoher
+Fahrt. Und dann können sie einen doch nicht so einfach über Bord feuern.
+Anzustreichen gibt es immer etwas, da findet sich dann also schon die
+rechte Arbeit. Man ist ja schließlich auch nicht so, daß man nun mit
+Mord und Tod auf das Gehalt des Ersten Ingenieurs pocht. Man kann ja
+etwas nachlassen. Gosh, in welchem Laden wird nicht auch einmal vom
+Preise heruntergehandelt, wenn das Plakat „Feste Preise“ auch noch so
+groß gemalt ist?
+
+Krach hätte es sicher gegeben; denn damals konnte ich eine Kurbel nicht
+von einem Ventil und eine Bleuelstange nicht von einer Welle
+unterscheiden. Das wäre ja beim ersten Signal herausgekommen, wenn der
+Skipper hinuntergeklingelt hätte „Totlangsam“, und gleich darauf wäre
+der Eimer losgeschossen, als ob er auf Tod und Leben verpflichtet sei,
+das „Blue Ribbon“, das Blaue Band, zu gewinnen. Ein Spaß wäre es ja
+doch. Aber es lag nicht an mir, daß ich den Spaß nicht ausprobieren
+konnte, denn niemand suchte einen Ersten Ingenieur. Es wurde überhaupt
+niemand gesucht, auf keinem Schiff. Ich hätte alles angenommen, was
+zwischen Kapitän und Küchenjunge ist. Aber nicht einmal ein Kapitän
+wurde vermißt.
+
+Nun trieben sich auch schon so viele Seeleute dort herum, die alle auf
+ein Schiff warteten. Und nun gar noch eins erwischen, das ’rüber geht
+nach den States, das ist schon ganz hoffnungslos. Alle wollen sie auf
+einen Kasten, der rüber geht, weil sie dort alle absacken wollen,
+achtern raussegeln. Denn alle denken, drüben werden die Leute mit
+Rosinen gefüttert, sie brauchen den Schnabel nur hinzuhalten. Schiet.
+Und dann liegen sie dort zu Zehntausenden in den Häfen rum und warten
+auf ein Schiff, das sie wieder heimbringt, weil eben alles ganz anders
+ist, als sie sich gedacht haben. Die goldnen Zeiten sind vorüber, sonst
+würde mich niemand als Deckarbeiter auf der Tuscaloosa gefunden haben.
+
+Aber die beiden netten belgischen Cops haben mir einen Tip gegeben: Mein
+Konsul. Mein! Die beiden Cops schienen meinen Konsul besser zu kennen
+als ich. Merkwürdig. Es ist doch meine Pflicht, ihn besser zu kennen,
+denn er ist doch meiner. Er ist ja meinetwegen in der Welt. Er wird ja
+meinetwegen bezahlt.
+
+Der Konsul klariert Dutzende von Schiffen aus, da wird er ja auch etwas
+wissen über verlangte Deckarbeiter, besonders wenn ich kein Geld habe.
+
+„Wo haben Sie Ihre Seemannskarte?“
+
+„Die habe ich verloren.“
+
+„Haben Sie einen Paß?“
+
+„Nein.“
+
+„Bürgerpapier?“
+
+„Nie gehabt.“
+
+„Ja, was wollen Sie denn dann hier?“
+
+„Ich habe gedacht, daß Sie mein Konsul seien, daß Sie mir helfen
+würden.“
+
+Er griente. Sonderbar, daß die Menschen immer grienen, wenn sie einen
+den Hieb versetzen wollen.
+
+Und mit diesem Grienen auf den Lippen sagte er: „Ihr Konsul? Das müssen
+Sie mir beweisen, lieber Mann, daß ich Ihr Konsul bin.“
+
+„Ich bin doch aber Amerikaner, und Sie sind amerikanischer Konsul.“ Das
+war doch ganz richtig.
+
+Aber es schien nicht richtig zu sein, denn er sagte: „Amerikanischer
+Konsul, wenn auch augenblicklich noch nicht Erster, bin ich allerdings.
+Aber ob Sie Amerikaner sind, das müssen Sie mir erst beweisen. Wo haben
+Sie denn Ihre Papiere?“
+
+„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, die habe ich verloren.“
+
+„Verloren. Wie kann man seine Papiere verlieren? Die trägt man doch
+stets bei sich, besonders wenn man in einem fremden Lande ist. Sie
+können ja nicht einmal beweisen, ob Sie überhaupt auf der Tuscaloosa
+waren. Können Sie das beweisen?“
+
+„Nein.“
+
+„Also. Was wollen Sie da hier? Wenn Sie auch auf der Tuscaloosa waren,
+selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß Sie wirklich drauf waren, so
+wäre das noch nicht der geringste Beweis, daß Sie Bürger sind. Auf einem
+amerikanischen Schiffe können auch Hottentotten arbeiten. Also, was
+wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt von Antwerpen ohne Papiere
+hierher nach Rotterdam? Das ist doch merkwürdig.“
+
+„Die Polizei hat mich doch –“
+
+„Kommen Sie mir gefälligst nicht noch mal mit einer solchen Erzählung.
+Wo ist denn das erhört, daß Staatsbeamte jemand auf diesem
+ungesetzlichen Wege über die Grenze in ein fremdes Land schicken? Ohne
+Papiere. Sie können mich nicht damit aufziehen, lieber Mann.“
+
+Und das alles sagte er grienend und ewig lächelnd; denn der
+amerikanische Beamte hat immer zu lächeln, selbst wenn er ein
+Todesurteil verkündet. Das ist seine republikanische Pflicht. Was mich
+aber am meisten ärgerte, war, daß er während seiner Rede immer mit dem
+Bleistift spielte. Bald kritzelte er damit auf der Tischplatte herum,
+bald kratzte er sich damit im Haar, bald trommelte er damit „My Old
+Kentucky Home“, und bald tippte er mit dem Bleistift so auf den Tisch,
+als ob er mit jedem Tippen ein Wort festnageln wollte.
+
+Ich hätte ihm am liebsten das Tintenfaß ins Gesicht geworfen. Aber ich
+mußte Geduld üben, und so sagte ich: „Vielleicht können Sie mir wieder
+ein Schiff verschaffen, damit ich heimkomme. Es kann ja sein, daß ein
+Skipper um einen Mann zu kurz ist, oder daß einer erkrankt.“
+
+„Ein Schiff? Ohne Papiere ein Schiff? Von mir nicht, da brauchen Sie gar
+nicht erst wiederzukommen.“
+
+„Aber wo soll ich denn Papiere herbekommen, wenn Sie mir keine geben?“
+fragte ich.
+
+„Was geht mich denn das an, wo Sie Ihre Papiere herkriegen. Ich habe sie
+Ihnen doch nicht abgenommen. Oder? Da könnte ja jeder Herumtreiber, der
+auf seine Papiere nicht besser acht gibt, kommen und von mir Papiere
+verlangen.“
+
+„Well, Sir,“ sagte ich darauf, „ich glaube, es haben auch schon andre
+Leute, die nicht Arbeiter sind, ihre Papiere verloren.“
+
+„Richtig. Aber diese Leute haben Geld.“
+
+„Ach so!“ schrie ich laut, „jetzt verstehe ich.“
+
+„Nichts verstehen Sie,“ griente er, „ich meine, dann sind das Leute, die
+noch andre Ausweise haben, Leute, bei denen kein Zweifel zulässig ist,
+Leute, die ein Zuhause haben, die eine Adresse haben.“
+
+„Was kann ich denn dafür, daß ich keine Villa habe, kein Zuhause und
+keine andre Adresse als meinen Arbeitsplatz.“
+
+„Das geht mich nichts an. Sie haben die Papiere verloren. Sehen Sie zu,
+wo Sie andre herbekommen. Ich habe mich an meine Bestimmungen zu halten.
+Nicht meine Schuld. Haben Sie schon gegessen?“
+
+„Ich habe doch kein Geld, und gebettelt habe ich noch nicht.“
+
+„Warten Sie einen Augenblick.“
+
+Er stand auf und ging in ein andres Zimmer. Nach einigen Minuten kam er
+zurück und brachte mir eine Karte.
+
+„Hier haben Sie eine Verpflegungskarte für drei volle Tage im
+Seemannshause. Wenn sie abgelaufen ist, können Sie ruhig nochmal
+wiederkommen. Versuchen Sie nochmal, vielleicht bekommen Sie ein andres
+Schiff, von einer andern Nationalität. Manche nehmen es nicht so genau.
+Ich darf Ihnen keine Andeutungen machen. Sie müssen das selbst
+herausfinden. Ich bin hier ganz machtlos. Ich bin lediglich ein Diener
+des Staates. ’m sorry, old fellow, can’t help it. Good-bye and g’d
+luck!“ Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein
+Biest. Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der
+Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie
+den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie der
+Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war
+auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine
+Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf jede
+meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort das Maul
+stopfte. Aber als er fragte: „Haben Sie Hunger? Haben Sie schon
+gegessen?“ da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener zu
+sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist etwas
+Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied. Und das ist
+die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen zu sein, und
+anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das Biest kann keine
+Menschen brauchen; die machen zu viel Arbeit. Figuren aus Papiermaché
+lassen sich besser in Reih’ und Glied stellen und uniformieren, damit
+die Diener des Biestes ein bequemeres Leben führen können. Yesser, yes,
+Sir.
+
+
+ 6
+
+Drei Tage sind nicht immer drei Tage. Es gibt sehr lange drei Tage und
+es gibt sehr kurze. Daß drei Tage so kurz sein könnten, wie die drei
+Tage, wo ich gut zu essen hatte und ein Bett, würde ich nicht geglaubt
+haben. Ich wollte mich gerade das erstemal zum Frühstück hinsetzen, da
+waren die drei Tage schon um. Aber selbst wenn sie zehnmal länger
+gedauert hätten, zum Konsul gehe ich nicht mehr. Sollte ich mir
+vielleicht wieder seine auswendig gelernten Prüfungsantworten anhören?
+Etwas Besseres würde er jetzt auch nicht wissen. Ein Schiff konnte er
+mir nicht besorgen. Also was hätte es für Zweck gehabt, seine Reden über
+mich ergehen zu lassen? Möglich, daß er mir wieder eine Karte gegeben
+hätte. Diesmal aber sicher schon mit einer Geste und einer Miene, die
+mir das Essen in der Kehle hätte festwürgen lassen, ehe ich überhaupt
+den Löffel in die Suppe steckte. Die drei Tage wären noch viel kürzer
+geworden als die vorigen.
+
+Der wichtigste Grund war, ich wollte die Kleinigkeit Mensch, die er bei
+meinem ersten Besuche gewesen war in dem Augenblick, als er sich um mein
+Wohlergehen kümmerte, nicht aus meiner Erinnerung verlieren. Bestimmt
+hätte er mir nun die Karte in seiner vollen Überlegenheit als
+Biestdiener verabreicht und mit moralverbrämten Reden, daß es diesmal
+das letzte Mal sein müsse, daß zu viele kämen, und daß man sich nicht
+darauf ausruhen könne, sondern daß man auch selbst etwas dazu tun müsse,
+um weiterzukommen. Lieber verrecken, als nochmal dahin gehen.
+
+Oh, du geliebte Schneiderseele, was war ich hungrig! So gottserbärmlich
+hungrig. Und so müde durch das Schlafen in Torwegen und Winkeln, immer
+gejagt im Halbschlaf von der Nachtpolizei, die in die Torwege und Winkel
+hineinleuchtete mit den Taschenlampen. Immer auf der Hut sein, im
+Schlafe die Patrouille auf fünfzig Schritte hören müssen, um sich noch
+rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Denn wenn sie einen erwischen, das
+heißt Arbeitshaus.
+
+Und kein Schiff im Hafen, das jemand brauchen könnte. Da sind soviele
+hundert Seeleute des eignen Landes auf den Beinen, die ein Schiff
+suchen, und die gute Papiere haben. Und keine Arbeit in den Fabriken,
+keine Arbeit in irgendeinem Geschäft. Selbst wenn da Arbeit wäre, der
+Mann dürfte sie einem gar nicht geben. Haben Sie Papiere? Nein? Schade,
+dürfen wir Sie nicht einstellen. Sie sind Ausländer.
+
+Gegen wen sind die Pässe und die Einreisevisen gerichtet? Gegen die
+Arbeiter. Gegen wen ist die Beschränkung der Einwanderung in Amerika und
+in andern Ländern gerichtet? Gegen die Arbeiter. Und auf wessen
+Veranlassung und mit wessen machtvoller Unterstützung sind oft diese
+Gesetze, die die Freiheit des Menschen vernichten, ihn zwingen, dort zu
+leben, wo er nicht leben will, ihn verhindern, nach jenem Teil der Erde
+zu gehen, wo er gern leben möchte, geschaffen worden? Auf Veranlassung
+und mit Unterstützung der Arbeiterverbände. Ein Biest im Bieste: Ich
+schütze meine Sippe; wer nicht zu meiner Sippe gehört, der mag zugrunde
+gehen; geht er zugrunde, um so besser, dann bin ich einen Konkurrenten
+los. Yes, Sir.
+
+So hungrig und so müde! Dann kommt die Zeit, wo man nicht mehr darüber
+nachdenkt, ob es einen Unterschied macht, die Börse eines andern, der
+nicht hungert, mit der eignen Börse, die man nicht hat, zu verwechseln.
+Man braucht sie nicht verwechseln, man fängt damit an, ohne es zu
+wollen, an die Börse eines Nichthungernden zu denken.
+
+Ein Herr und eine Dame standen vor einem Schaufenster, als ich
+vorüberging.
+
+Die Dame sagte: „Sag’ doch bloß mal, Fibby, sind denn diese hübschen
+Handtäschchen nicht wirklich ganz reizend?“
+
+Fibby nuschelte etwas, das ebensogut eine Zustimmung wie eine
+gegenteilige Meinung sein konnte, es konnte aber auch ganz gut bedeuten:
+Laß mich doch in Ruh’ mit deinem Quark!
+
+Die Dame: „Nein, wirklich, die sind zu entzückend, echte altholländische
+Kleinkunst.“
+
+„Stimmt,“ sagte Fibby nun trocken, „echt altholländisch, copyright
+neunzehnhundertsechsundzwanzig.“
+
+Das war Sphärenmusik für mich. Jetzt war ich überzeugt.
+
+Ich war nun sehr rasch und verlor keine Sekunde weiter. Da lag ja das
+blanke Gold vor mir mitten auf der Straße.
+
+Es schien mir, daß Fibby sich über das, was ich ihm erzählte, viel mehr
+amüsierte, als was ihm seine Frau oder seine Freundin oder seine – well,
+Sir, das geht mich nichts an, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die
+beiden zueinander standen – ja, jedenfalls amüsierte er sich köstlich
+über meine Geschichte. Er lächelte, dann lachte er, und endlich brüllte
+er, daß die Leute stehenblieben. Wenn ich es nicht an seinem „Zat so!“
+gleich beim ersten Tonfall gehört hätte, wo er herkam, dann hätte es mir
+sein unbändiges Lachen verraten. So kann eben nur ein Amerikaner lachen,
+jawoll, die können lachen.
+
+„Also, Boy, Sie haben Ihre Geschichte großartig erzählt.“ Da lachte er
+auch schon wieder. Ich hatte gedacht, er würde zu weinen anfangen über
+meine traurige Geschichte. Na ja, er steckte ja nicht in meiner Haut. Er
+sah das alles von der komischen Seite.
+
+„Nun sag’ doch, Flory,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „hat denn
+das Vöglein, das da aus dem Nest gefallen ist, seine Geschichte nicht
+ganz großartig erzählt?“
+
+„Wirklich sehr nett. Wo sind Sie her? Von New Orleans? Das ist ja ganz
+entzückend. Da habe ich sogar noch eine Tante wohnen, Fibby. Habe ich
+dir nicht von Tante Kitty aus New Orleans schon erzählt, Fibby? Ich
+glaube doch. Du weißt doch, die immer jeden Satz anfängt: Als Gra’pa
+noch in South Carolina wohnte ...“
+
+Fibby hörte gar nicht hin, was seine Flory sagte; er ließ sie reden, als
+ob sie ein Wasserfall sei, an den er sich gewöhnt hatte. Er kramte in
+seinen Taschen herum und brachte einen Dollarschein hervor: „Es ist
+nicht für Ihre Geschichte selbst, Freundchen, sondern es ist dafür, daß
+Sie die Geschichte so meisterhaft erzählt haben. Eine Geschichte, die
+nicht wahr ist, gut erzählen zu können, ist eine Gabe, mein Junge. Sie
+sind ein Künstler, wissen Sie das? Es ist eigentlich schade um Sie, daß
+Sie sich so in der Welt herumtreiben. Sie könnten viel Geld machen,
+lieber Freund. Wissen Sie das? Ist er nicht in der Tat ein Künstler,
+Flory?“ wandte er sich nun wieder an seine – na, meinetwegen Frau, was
+geht’s mich an, die werden ihren Paß schon so haben, wie sie ihn
+brauchen. „Aber ja, freilich, Fibby,“ antwortete Flory in Ekstase,
+„freilich ist er ein großer Künstler. Weißt du, Fibby, frage ihn doch
+gleich mal, ob wir ihn nicht für unsern Gesellschaftsabend haben
+könnten. Sicher, da könnten wir die Penningtons übertrumpfen, diese
+schäbige Bande.“
+
+Also es ist doch seine Frau.
+
+Fibby zeigte dem Wasserfall nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er
+lächelte und lachte weiter. Kramte wieder in seinen Taschen herum und
+brachte abermals einen Dollarschein ans Tageslicht.
+
+Nun gab er mir beide Scheine und sagte: „Y’see, der eine ist dafür, weil
+Sie Ihre Geschichte so meisterhaft erzählt haben, der andre ist dafür,
+weil Sie mir eine glänzende Idee für mein Blatt gegeben haben. Ist
+fünftausend wert, in meinen Händen; in Ihren nicht einen Nickel. Aber
+ich bezahle Ihnen hier einen Nickel mit Gewinnanteil. Vielen Dank für
+Ihre Mühe, good-bye und viel Glück.“
+
+Das war das erste Geld, das ich je für das Erzählen einer Geschichte
+bekommen hatte. Yes, Sir.
+
+Ich klatterte los zu einer Wechselbank. Für den Dollar ungefähr
+zweiundeinenhalben Gulden, für die beiden Dollarnoten also rund fünf
+Gulden. Ganz hübsches Sümmchen. Als ich die Noten dort hingegeben hatte,
+häufte der Wechsler so ungefähr fünfzig Gulden vor mich hin. Das war
+eine Überraschung. Fibby hatte mir zwei Zehner gegeben, und ich hatte –
+weil ich ja in seiner Gegenwart die zusammengeknitterten Scheine nicht
+neugierig aufmachen wollte – die Scheine für Eindollarnoten gehalten.
+Fibby ist eine noble Seele. Wall-Street möge ihn segnen. Es ist ganz
+natürlich, daß zwanzig Dollar sehr viel Geld sind. Wenn man sie besitzt.
+Wenn man genötigt ist, sie auszugeben, dann lernt man plötzlich, daß
+zwanzig Dollar gar nichts sind. Besonders noch, wenn man eine Reihe von
+hungrigen Tagen und bettlosen Nächten hinter sich hat. Ehe ich dazu kam,
+den Wert des Geldes zu schätzen, war es schon alle. Nur die Leute, die
+recht viel Geld haben, kennen den Wert des Geldes, weil sie Zeit haben,
+den Wert abzuschätzen. Wie kann man den Wert eines Dinges erkennen
+lernen, wenn es einem immer gleich wieder abgenommen wird? Gepredigt
+aber wird, daß nur der, der nichts hat, weiß, was ein Cent wert ist.
+Daher die Klassengegensätze.
+
+
+ 7
+
+Früher als ich geglaubt hatte, kam ein Morgen, der allem Anschein nach
+zu urteilen vorläufig der letzte Morgen sein würde, der mich in einem
+Bett sah. Ich suchte meine Taschen durch und fand, daß ich gerade noch
+genügend Cents hatte, um ein kurzgehaltenes Frühstück möglich zu machen.
+Kurzgehaltene Frühstücke finden nicht meinen Beifall. Sie sind immer das
+Vorspiel von Mittagessen und Abendmahlzeiten, die nicht erscheinen
+werden. Einen Fibby findet man auch nicht jeden Tag. Sollte ich aber
+wieder einen antreffen, dann erzähle ich diesmal meine Geschichte so
+komisch wie nur möglich, vielleicht weint er dann herzzerbrechend und
+bekommt die Gegenidee zu Fibbys Fünftausend-Dollar-Idee. Aus einer Idee
+läßt sich immer Geld herausquetschen, ob sie nun zum Weinen ist oder zum
+Lachen. Es gibt ebenso viele Menschen, die gern weinen und für die
+Möglichkeit, weinen zu können, ein paar Dollar bezahlen, wie es Menschen
+gibt, die lieber ihren Lachmuskeln ein Vergnügen gönnen.
+
+– – ein Vergnügen gönn–. Na, was ist denn das nun wieder? Kann man denn
+für seinen letzten Gulden Schlafgeld, den man bezahlt hat, nicht einmal
+in Ruhe im Bett noch ein wenig dösen, ehe man es für längere Zeit
+aufzugeben hat?
+
+„Lassen Sie mich schlafen, verflucht nochmal. Ich habe bezahlt, gestern
+abend, ehe ich ’raufging.“ Da soll man nicht wütend werden. In einem
+fort wird an die Tür gebumst.
+
+Und gleich klopft es wieder.
+
+„Kreuzdonnerwetter nochmal, haben Sie nicht gehört, wegscheren sollen
+Sie sich! Ich will schlafen.“ Wenn die nur die Tür aufmachen möchten,
+ich würde ihnen den Stiefel mitten in die Fratze feuern. So ein
+nichtswürdiges und impertinentes Gesindel.
+
+„Machen Sie auf. Polizei ist hier. Wir möchten Sie für einen Augenblick
+sprechen.“
+
+Ich zweifle ganz ernsthaft daran, daß es überhaupt auf der Welt noch
+Menschen gibt, die nicht Polizei sind. Die Polizei ist dafür da, um für
+Ruhe zu sorgen, und niemand macht mehr Ruhestörung, niemand belästigt
+die Menschen mehr, niemand bringt mehr Leute zum Wahnsinn als die
+Polizei. Ganz sicher, niemand hat mehr Unheil auf der Welt angestiftet
+als die Polizei, denn die Soldaten sind ja auch nur Polizisten.
+
+„Was wollen Sie denn von mir?“
+
+„Wir möchten Sie nur einmal sprechen.“
+
+„Das könnten Sie auch durch die Tür tun.“
+
+„Wir möchten Sie persönlich sehen. Machen Sie auf, oder wir brechen die
+Tür auf.“
+
+Brechen die Tür auf! Und die sollen gegen Einbrecher schützen.
+
+Gut, ich mache auf. Aber kaum habe ich die Tür auch nur einen Ritz auf,
+da preßt der eine Bursche schon seinen Fuß dazwischen. Der alte Trick,
+auf den sie sich immer wieder etwas einbilden. Das scheint der erste
+Trick zu sein, den sie zu lernen haben.
+
+Sie kommen rein. Zwei Mann in Zivilkleidung. Ich sitze auf dem Bettrand
+und fange an, mich anzuziehen.
+
+Mit Holländisch werde ich ganz gut fertig. Ich bin auf holländischen
+Schiffen gefahren und habe hier nun wieder etwas dazu gelernt. Die
+beiden Vögel können aber auch etwas Englisch.
+
+„Sie sind Amerikaner?“
+
+„Ja, ich denke.“
+
+„Zeigen Sie Ihre Seemannskarte.“
+
+Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein. Ich
+bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem Lande
+nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden kann. Vor
+dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte oder nach dem Paß, und
+die Menschen waren recht glücklich. Aber Kriege, die für die Freiheit,
+für die Unabhängigkeit und für die Demokratie geführt werden, sind immer
+verdächtig. Verdächtig seit jenem Tage, wo die Preußen ihre
+Freiheitskriege gegen Napoleon führten. Wenn Freiheitskriege gewonnen
+werden, dann sind die Menschen nach dem Kriege alle Freiheit los, weil
+der Krieg die Freiheit gewonnen hat. Yes, Sir.
+
+„Ich habe keine Seemannskarte.“
+
+„Sie ha–a–a–a–ben keine Seemannskarte?“
+
+Diesen entgeisterten Ton habe ich schon einmal gehört, und auch gerade
+zu einer Zeit, als ich so hübsch an einem frühen Morgen einduseln
+wollte.
+
+„Nein, ich ha–a–a–a–a–be keine, keine, keine Seemannskarte.“
+
+„Dann zeigen Sie Ihren Paß.“
+
+„Ich habe keinen Paß.“
+
+„Keinen Paß?“
+
+„Nein, keinen Paß.“
+
+„Auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde?“
+
+„Nein, auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde.“
+
+„Sie wissen doch, daß Sie sich hier in Holland ohne Papiere, die von
+unsern Behörden visiert sein müssen, nicht aufhalten dürfen?“
+
+„Das weiß ich nicht.“
+
+„So? Das wissen Sie nicht? Sie haben wohl die letzten Monate und Jahre
+auf dem Monde gelebt?“
+
+Die beiden Vögel halten das für einen so guten Witz, daß sie laut
+auflachen.
+
+„Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit!“
+
+Wissen möchte ich, ob man hier auch gehenkt wird, wenn man keine
+Seemannskarte vorzeigen kann.
+
+„Hat jemand von den Herren nicht vielleicht eine Zigarette?“ frage ich.
+
+„Eine Zigarre können Sie haben, eine Zigarette habe ich nicht. Wir
+können unterwegs welche kaufen. Wollen Sie die Zigarre haben?“
+
+„Die Zigarre nehme ich lieber als die Zigarette.“
+
+Während ich mich ankleide und wasche, rauche ich an der Zigarre. Die
+beiden setzen sich hin, aber dicht an die Tür. Ich beeile mich nicht
+sehr. Aber wenn man auch noch so langsam macht, einmal ist man dann
+schließlich doch angekleidet.
+
+Wir zogen ab und landeten wo? Richtig geraten. In einer Polizeistation.
+Nun wurde ich erst wieder einmal gründlich durchsucht. Diesmal hatten
+sie mehr Glück als ihre Brüder in Antwerpen gehabt hatten. Sie fanden
+fünfundvierzig holländische Cents in meinen Taschen. Das Frühstücksgeld.
+Das konnte ich ja nun sparen.
+
+„Was? Mehr Geld haben Sie nicht?“
+
+„Nein, mehr Geld habe ich nicht.“
+
+„Wovon haben Sie denn die ganzen Tage hier gelebt?“
+
+„Von dem, was ich jetzt nicht mehr habe.“
+
+„Da hatten Sie also Geld, als Sie hier nach Antwerpen kamen?“
+
+„Ja.“
+
+„Wieviel?“
+
+„Das weiß ich so genau nicht mehr. Hundert Dollar oder so, es können
+auch zweihundert gewesen sein.“
+
+„Wo hatten Sie denn das Geld her?“
+
+„Das Geld hatte ich einfach gespart.“
+
+Das war offenbar wieder ein guter Witz; denn die ganze Bande, die da im
+Vernehmungszimmer um mich herum versammelt war, platzte heraus vor
+Lachen. Aber alle paßten auf, ob der Hohepriester auch lachte. Und als
+der anfing, da fingen sie auch an zu lachen, und als der aufhörte, da
+hörten sie so plötzlich auf, als wären sie vom Schlage getroffen worden.
+
+„Wie sind Sie denn überhaupt nach Holland gekommen? So ganz ohne Paß. Wo
+sind Sie denn da durchgekommen?“
+
+„Ich bin halt so ’reingekommen.“
+
+„Wie, ’reingekommen?“
+
+Der Konsul hat es mir nicht geglaubt, wie ich hereingekommen bin. Die
+würden es mir erst recht nicht glauben. Ich kann auch diesen netten
+Burschen da aus Belgien nicht den Spaß verderben.
+
+Also da sage ich: „Mit einem Schiff bin ich gekommen.“
+
+„Mit welchem Schiff?“
+
+„Mit – mit – mit der George Washington.“
+
+„Wann?“
+
+„Das weiß ich so genau nicht mehr.“
+
+„So? Also mit der George Washington sind Sie gekommen. Das ist eine
+recht mysteriöse George Washington. Die ist unsers Wissens nie in
+Rotterdam gewesen.“
+
+„Dafür kann ich nichts. Ich bin für das Schiff nicht verantwortlich.“
+
+„Sie haben also gar kein Papier, gar keinen Ausweis. Nichts. Rein gar
+nichts, womit Sie beweisen können, daß Sie Amerikaner sind?“
+
+„Nein. Aber mein Konsul ...“
+
+Ich schien gute Witze zu machen. Wieder setzte ein Höllengelächter ein.
+
+„I–h–r Konsul.“
+
+Das Ihr zog er so lang, als ob es für ein halbes Jahr reichen sollte.
+
+„Sie haben doch keine Papiere. Was soll denn da I–h–r Konsul mit Ihnen
+anfangen?“
+
+„Er wird mir doch Papiere geben!“
+
+„Ihr Konsul? Der amerikanische Konsul? Ein amerikanischer Konsul? In
+unserm Jahrhundert nicht. Nicht ohne Papiere. Nicht ohne, daß Sie, sagen
+wir mal, in guten Verhältnissen leben. Nicht so einem ’rumtreiber.“
+
+„Aber ich bin doch Amerikaner.“
+
+„Möglich. Aber das müssen Sie I–h–rem Konsul beweisen. Und ohne Papiere
+glaubt er es Ihnen nicht. Ohne Papiere glaubt er Ihnen nicht, daß Sie
+überhaupt geboren sind. Ich will Ihnen etwas sagen, zu Ihrer Belehrung,
+Beamte sind immer Bureaukraten. Auch wir sind Bureaukraten. Die
+schlimmsten Bureaukraten aber sind die Bureaukraten, die es erst seit
+gestern sind. Und die allerschlimmsten Bureaukraten sind die, die den
+Bureaukratismus von den Preußen geerbt haben. Haben Sie verstanden, was
+ich meine?“
+
+„Ich glaube ja, mein Herr.“
+
+„Und wenn wir Sie nun dahin bringen, nämlich zu Ihrem Konsul, und Sie
+haben keine Papiere, dann übergibt er Sie uns offiziell, und wir werden
+Sie nie wieder los. Haben Sie das auch verstanden?“
+
+„Ich denke ja, mein Herr.“
+
+„Was sollen wir denn mit Ihnen machen? Wer ohne Paß aufgegriffen wird,
+bekommt sechs Monate Gefängnis und Deportation nach seinem Heimatlande.
+Ihr Heimatland wird bestritten, und wir müssen Sie in das
+Internierungslager schicken. Wir können Sie doch nicht totschlagen wie
+einen Hund. Aber vielleicht kommen solche Gesetze noch heraus. Warum
+sollen wir Sie durchfüttern? Wollen Sie nach Deutschland?“
+
+„Ich mag nicht nach Deutschland. Wenn den Deutschen die Rechnung
+vorgelegt ...“
+
+„Also nicht nach Deutschland. Das kann ich begreifen. Gut für jetzt.“
+
+Das war ein Beamter, der offenbar viel gedacht oder viel gute Sachen
+gelesen hatte.
+
+Er rief jetzt einen Cop herbei und sagte: „Bringen Sie ihn in die Zelle,
+geben Sie ihm Frühstück, und gehen Sie eine englische Zeitung und eine
+Zeitschrift für ihn kaufen, damit er sich nicht langweilt. Auch ein paar
+Zigarren.“
+
+
+ 8
+
+Am Spätnachmittag wurde ich wieder vorgeführt, und mir wurde gesagt, ich
+möge den beiden Beamten in Zivil folgen. Wir gingen auf den Bahnhof und
+fuhren ab. Auf der Station einer kleinen Stadt stiegen wir aus und
+gingen in die Polizeiwache der Stadt. Dort saß ich auf der Bank und
+wurde von allen Cops, die von Ablösung kamen, betrachtet wie ein Tier im
+Zoologischen Garten. Ab und zu sprach man auch mit mir. Als es gegen
+zehn Uhr war, sagten zwei Männer zu mir: „Es ist jetzt Zeit. Wir wollen
+gehen.“
+
+Wir gingen über Felder und gingen auf Wiesenpfaden. Endlich blieben die
+beiden stehen und einer sprach mit verhaltener Stimme: „Gehen Sie dort
+in jener Richtung, die ich Ihnen zeige, immer gerade aus. Sie werden
+niemand treffen. Wenn Sie aber jemand sehen sollten, so gehen Sie ihm
+aus dem Wege oder legen Sie sich hin, bis er vorüber ist. Wenn Sie eine
+Zeit gegangen sind, dann kommen Sie zu einer Bahnlinie. Folgen Sie der
+Bahnlinie, bis Sie zu der Station kommen. Halten Sie sich dort in der
+Nähe auf bis gegen Morgen. Sobald Sie sehen, daß ein Zug zur Abfahrt
+fertiggemacht wird, gehen Sie zum Schalter und sagen: ‚Un troisième à
+Anvers.‘ Können Sie das behalten?“
+
+„Ja, das kann ich. Es ist sehr leicht.“
+
+„Aber reden Sie sonst kein Wort weiter. Sie bekommen dann Ihre Fahrkarte
+und fahren nach Antwerpen. Dort kriegen Sie leicht wieder ein Schiff, wo
+man immer Seeleute braucht. Hier haben Sie etwas zum Beißen und auch
+noch etwas zum Rauchen. Kaufen Sie nichts, bevor Sie in Antwerpen sind.
+Hier sind dreißig belgische Franken.“
+
+Er händigte mir ein Paket Butterbrote ein, einen Papierbeutel mit
+Zigarren und eine Schachtel Zündhölzer, damit ich niemand um Feuer
+anbetteln brauchte.
+
+„Kommen Sie nie wieder zurück nach Holland. Sie bekommen sechs Monate
+Gefängnis und Internierungskamp. Sie sind also hiermit ausdrücklich
+verwarnt, vor einem Zeugen. Good-bye und viel Glück.“
+
+Da stand ich in der Nacht auf offnem Felde. Viel Glück!
+
+Eine Strecke ging ich nun in jener Richtung, bis ich überzeugt war, daß
+die beiden mich nicht mehr sehen konnten, oder daß sie nun fort waren.
+Dann blieb ich stehen und begann zu überlegen.
+
+Nach Belgien? Da gab es lebenslänglich Gefängnis. Zurück nach Holland?
+Da gab es nur sechs Monate Gefängnis. Das war schon billiger. Dann kam
+noch das Internierungskamp für Paßlose. Hätte ich doch nur gefragt, wie
+lange das Internierungskamp dauert. Wahrscheinlich war das
+lebenslänglich. Denn aus welchem Grunde sollte es Holland billiger
+machen als Belgien?
+
+Ich kam zu dem Entschluß, daß Holland auf alle Fälle billiger war. Es
+war auch darum besser, weil ich dort mit der Sprache zurechtkommen
+konnte, während ich in Belgien gar nichts reden konnte und noch viel
+weniger verstehen.
+
+Nun ging ich erst einmal eine Strecke seitlich fort, ungefähr eine halbe
+Stunde lang. Und dann querfeldein zurück nach Holland. Das
+Lebenslänglich war doch zu bitter.
+
+Es ging ganz gut. Nur immer tapfer drauf los.
+
+„Halt! Stehen bleiben! Oder es wird geschossen!“ Recht angenehm, wenn
+plötzlich aus der Finsternis heraus gerufen wird: „Es wird geschossen.“
+
+Zielen kann der Mann ja nicht und sehen kann er mich auch nicht. Aber
+eine nichtgezielte Kugel kann auch treffen. Und das ist schließlich doch
+noch schlimmer als lebenslänglich.
+
+„Was machen Sie denn hier?“ Zwei Männer kamen aus der Dunkelheit heraus
+und auf mich zu. Einer fragte mich das.
+
+„Ich gehe ein wenig spazieren. Ich kann nicht schlafen.“
+
+„Warum gehen Sie denn gerade hier auf der Grenze spazieren?“
+
+„Die Grenze habe ich nicht gesehen, es ist ja kein Zaun da.“
+
+Zwei grelle Taschenlampen waren auf mich gerichtet, und ich wurde
+durchsucht. Was die Menschen nur immer zu durchsuchen haben. Ich glaube,
+die suchen überall nach den verlorengegangenen vierzehn Punkten Wilsons.
+Ich habe sie jedenfalls nicht in der Tasche.
+
+Als sie nun nichts weiter fanden als die Butterbrote, die dreißig
+Franken und die Zigarren, blieb einer bei mir stehen, während der andre
+ein Stück des Weges, auf dem ich gekommen war, ableuchten ging.
+Wahrscheinlich hoffte er, dort den Weltfrieden zu finden, der in der
+ganzen Welt gesucht wird, seitdem unsre Jungens dafür gekämpft und
+geblutet haben, daß dieser Krieg der letzte Krieg sei.
+
+„Wo wollen Sie denn hin?“
+
+„Ich will zurück nach Rotterdam.“
+
+„Jetzt? Warum denn gerade um Mitternacht und gerade hier über die Wiese?
+Warum gehen Sie denn nicht auf der Straße?“
+
+Als ob man nicht nachts über eine Wiese gehen könnte! Die Leute haben
+merkwürdige Ansichten. Und immer haben sie gleich einen Verdacht, daß
+man irgendein Verbrechen begangen haben könnte. Ich erzählte nun, daß
+ich von Rotterdam käme, und wie ich hierher gekommen sei. Da wurden sie
+aber wütend und sagten, ich solle sie nicht zum Narren halten, es sei
+ganz klar, daß ich von Belgien käme und mich nach Holland reinschleichen
+wolle. Als ich ihnen nun sagte, aber die dreißig Franken bewiesen doch,
+daß ich die Wahrheit gesagt hätte, wurden sie noch wütender und sagten,
+das sei eben gerade ein Beweis, daß ich sie anlügen wollte. Die Franken
+seien ein Beweis, daß ich von Belgien komme, denn in Holland habe man
+keine Franken. Nun gar noch zu sagen, daß mir holländische Beamte dieses
+Geld gegeben hätten und mich mitten in der Nacht auf ungesetzlichem Wege
+abgeschoben hätten, das zwänge sie, mich zu arretieren und mich unter
+Anklage der Beamtenbeschimpfung zu stellen. Sie wollten aber noch einmal
+Gnade mit mir haben, weil ich offenbar ein armer Schlucker sei, der
+nicht die Absicht gehabt habe, zu schmuggeln, und würden mich auf den
+richtigen Weg führen, auf den ich wieder zurück nach Antwerpen kommen
+könne.
+
+So gut waren diese Leute zu mir.
+
+Jetzt mußte ich doch nach Belgien gehen, da half nichts. Wenn nur das
+Lebenslänglich nicht wäre.
+
+Eine Stunde wanderte ich nun in der Richtung nach Belgien.
+
+Ich wurde müde und stolperte vor mich hin. Am liebsten hätte ich mich
+hier hingelegt und geschlafen. Ich hielt es aber doch für besser,
+weiterzugehen, um aus dem gefährlichen Bereich, wo geschossen werden
+darf auf den, der nicht schießen darf, herauszukommen.
+
+Da plötzlich packt mich etwas am Bein. Ich denke, es ist ein Hund. Als
+ich aber zufasse, ist es eine Hand. Und da flammt auch schon eine
+Taschenlaterne auf. Dieses Ding ist auch eine Erfindung des Satans, man
+sieht sie immer erst, wenn sie einem dicht vor Augen ist.
+
+Zwei Mann stehen jetzt auf. Sie haben da in der Wiese gelegen, und ich
+bin ihnen so schön richtig mitten in die Arme gelaufen.
+
+„Wo wollen Sie denn hin?“
+
+„Nach Antwerpen.“
+
+Sie sprechen Holländisch oder mehr Flämisch.
+
+„Nach Antwerpen wollen Sie? Jetzt zur Nachtzeit? Warum gehen Sie denn
+nicht auf der ordentlichen Straße, wie es anständigen Menschen gebührt?“
+
+Ich erzähle ihnen nun, daß ich nicht aus freiem Willen käme, und sage
+ihnen, wie es zugegangen sei, daß ich mich hier herumzudrücken habe.
+
+„Solchen Schwindel können Sie andern erzählen. Nicht uns. So etwas tun
+Beamte nicht. Sie haben da in Holland etwas ausgefressen und wollen nun
+hier ’rüber. Aber das gibt es nicht. Wollen wir erst einmal die Taschen
+durchsuchen, um zu erfahren, warum Sie hier mitten in der Nacht über die
+Wiesen gehen und immer auf der Grenze.“
+
+Sie fanden in meinen Taschen und zwischen den Nähten meiner Sachen
+nicht, was sie suchten. Ich wollte gern wissen, was die Leute eigentlich
+immer suchen und warum sie einem immer die Taschen durchwühlen müssen.
+Eine üble Angewohnheit dieser Leute.
+
+„Wir wissen schon, was wir suchen. Da brauchen Sie sich gar keine Sorge
+machen.“
+
+Nun bin ich auch nicht klüger. Aber finden tun sie nichts. Ich bin
+überzeugt, daß es bis an das Weltende eine Hälfte Menschen geben wird,
+die immer die Taschen durchsuchen muß und eine andre Hälfte, die sich
+das Durchsuchen der Taschen gefallen lassen muß. Vielleicht geht der
+ganze Streit der Menschheit nur darum, wer das Recht hat, die Taschen zu
+durchsuchen, und wer die Pflicht hat, sich das gefallen zu lassen und
+noch dafür zu bezahlen.
+
+Nachdem das Amtsgeschäft vorüber ist, sagt der eine zu mir: „So, da
+drüben ist die Richtung nach Rotterdam, da gehen Sie jetzt immer drauf
+los und lassen Sie sich hier ja nicht wieder sehen. Und wenn Sie wieder
+einmal Grenzpolizei treffen, dann halten Sie sie nicht für so dumm, wie
+Sie uns gehalten haben. Habt ihr denn da drüben in eurem blödsinnigen
+Amerika nichts mehr zu essen, daß ihr alle hier herüber kommen müßt, um
+uns das bißchen Essen, das wir für unsre Leute brauchen, auch noch
+wegzufressen?“
+
+„Ich bin doch aber gar nicht freiwillig hier“, widerspreche ich, und ich
+weiß am besten, wie recht ich habe.
+
+„Merkwürdig, das sagt jeder von euch, den wir hier aufgreifen.“
+
+Das ist ja ganz etwas Neues. Da bin ich vielleicht noch nicht einmal der
+einzige, der sich hier auf einem fremden Erdteil herumtreiben muß.
+
+„Nun ziehen Sie ab. Und machen Sie keine überflüssigen Umwege mehr. Es
+wird bald hell, und dann werden wir Sie gut beobachten. Rotterdam ist
+ein guter Platz. Da sind viele Schiffe, die immer jemand brauchen.“ Wie
+oft mir das nun schon erzählt worden ist. Es müßte eigentlich durch das
+häufige Erzählen nun schon eine wissenschaftliche Wahrheit geworden
+sein.
+
+Mit den dreißig Franken konnte ich hier in dem kleinen Städtchen nichts
+anfangen, das wäre sicher gleich aufgefallen.
+
+Aber da kam ein Milchwagen, und der nahm mich eine Strecke mit. Und dann
+kam ein Lastauto, und das nahm mich eine Strecke mit. Dann kam wieder
+ein Bauer, der Schweine zu einer Stadt brachte. So kam ich Meile um
+Meile näher nach Rotterdam. Sobald die Menschen nicht zur Polizei
+gehören, und sobald sie nicht zur Polizei gerechnet werden wollen,
+fangen sie an, sehr liebe Geschöpfe zu werden, die ganz vernünftig
+denken und ganz normal fühlen können. Ich erzählte den Leuten ganz treu,
+wie es mir ergangen sei, und daß ich keine Papiere hätte. Und sie waren
+alle so nett, gaben mir zu essen, gaben mir einen warmen, trockenen
+Winkel, um zu schlafen, und gaben mir gute Ratschläge, wie ich der
+Polizei am besten aus dem Wege gehen könnte.
+
+Es ist recht sonderbar. Keiner liebt die Polizei. Und man ruft bei einem
+Einbruch die Polizei auch nur darum, weil einem nicht erlaubt ist, dem
+Einbrecher das Leder selbst zu versohlen und ihm den Raub wieder
+abzunehmen.
+
+
+ 9
+
+Die dreißig Franken umgewechselt in holländische Gulden gaben nicht viel
+her. Aber auf Geld kann man sich ja überhaupt nicht verlassen, wenn man
+sonst nichts nebenbei hat.
+
+Das Nebenbei kam an einem Nachmittag, gleich darauf.
+
+Ich strollte am Hafen entlang, und da sah ich zwei Mann daherkommen. Als
+sie nahe bei mir waren, schnappte ich etwas von ihrem Geschwätz auf. Es
+ist ja so urkomisch, wenn man einen Engländer reden hört. Die Engländer
+behaupten immer, wir könnten nicht richtig Englisch sprechen; aber was
+die Leute reden, das ist sicher kein Englisch. Das ist überhaupt keine
+Sprache. Na, ganz egal. Ich kann sie ja nicht riechen, die Rotköppe.
+Aber uns können sie ja auch nicht verdauen. Da gleicht sich das wieder
+aus. Das geht nun schon so seit hundertfünfzig und ich weiß nicht
+wieviel Jahren.
+
+Nun ist natürlich die ganze Suppe erst recht wieder übergekocht, seit
+die große Schweinerei im Gange war.
+
+Da kommt man nun in einen Hafen, wo sie dicke sitzen wie die Brombeeren.
+In Australien, oder vielleicht in China oder Japan. Wie es gerade
+trifft. Man will einen heben gehen und rutscht in eine Hafenschenke. Da
+sitzen sie und stehen sie nun, und kaum hat man ein Wort ’raus, gleich
+geht das Vergnügen los: „Eh, Yank.“
+
+Man kümmert sich gar nicht um die Bullköppe, man trinkt seinen Kleinen
+und will gehen.
+
+Mit einem Male rasselt es aus einer Ecke: „Who won the war? Wer hat den
+Krieg gewonnen, Yank?“
+
+Möchte wissen, was mich das angeht. Ich habe ihn nicht gewonnen, das
+weiß ich einmal ganz genau. Und die ihn wirklich gewonnen zu haben
+meinen, die haben auch nichts zu lachen und wären froh, wenn niemand
+davon überhaupt sprechen möchte.
+
+„He, Yank, who won the war?“
+
+Was soll man nun sagen, wenn man ganz allein ist, und da sind zwei
+Dutzend Rotköppe drin? Sagt man: „Wir!“, dann gibt es Senge. Sagt man:
+„Die Franzosen!“, dann gibt es Senge. Sagt man: „Ich!“, dann lachen sie,
+aber Senge gibt es trotzdem. Sagt man: „The Dominians, Kanada,
+Australien, Neuseeland, Südafrika!“ dann gibt es Senge. Sagt man gar
+nichts, so heißt das: „Wir Amerikaner!“, und es gibt Senge. Zu sagen:
+„Ihr habt ihn gewonnen!“, das wäre eine unverschämte Lüge, und lügen
+möchte man nicht. Also gibt es Senge, und da kann man nicht dran vorbei.
+So sind die Bullen, und dann heißt es immer noch: die „Vettern von
+drüben“. Meine nicht. Da wundern sie sich noch, wenn man sie nicht
+riechen kann.
+
+Aber was wollte ich denn machen?
+
+„Auf welchem Eimer seid ihr denn?“ frage ich.
+
+„Na, Yankchen, was machst du denn hier? Wir haben doch gar keinen Yank
+hier gesehen.“ Sie fühlen sich, weil sie schon Zimt riechen.
+
+„Ich bin achtern abgekantet und kann jetzt nicht Anker hieven.“
+
+„Keine Versicherungspolice, hä?“
+
+„Erraten.“
+
+„Willst du jetzt wegstauen?“
+
+„Muß. Kiel sitzt auf. Brennt.“
+
+„Wir sind auf einem Schotten.“
+
+„Wo geht ihr denn ’raus jetzt?“ fragte ich.
+
+„Boulogne. Bis dahin können wir dich stauen. Weiter geht’s aber nicht.
+Der Bos’n, der Bootsmann, ist ein Hund.“
+
+„Gut, dann mache ich nach Boulogne. Wann ebbt ihr ab?“
+
+„Am besten, du kommst ’rauf um acht. Da ist der Bos’n saufen. Wir stehen
+an der Schanze. Wenn ich die Mütze in den Nacken schiebe, ist alles
+klar; wenn ich nichts mache, wartest du noch eine Weile. Lauf nicht
+soviel gerade vor der Nase herum. Wenn du aber gewischt wirst, läßt du
+dir eher das Maul breitschlagen, ehe du sagst, wer dich gelotst hat.
+Ehrensache, verstanden?“
+
+Um acht war ich da. Die Mütze wurde in den Nacken geschoben. Der Bos’n
+war besoffen und wurde vor Boulogne nicht nüchtern, und da stieg ich aus
+und war in Frankreich.
+
+Ich wechselte mein Geld in französische Franken um. Dann ging ich zum
+Bahnhof, und da stand der Expreß für Paris. Ich nahm eine Karte für die
+erste Station und setzte mich in den Zug.
+
+Die Franzosen sind zu höflich, als daß sie einen während der Fahrt
+belästigen würden.
+
+Und da war ich mit einem Male in Paris. Aber da wurden die Karten
+kontrolliert, und ich hatte keine für Paris.
+
+Wieder Polizei. Natürlich, wie könnte es auch ohne Polizei gehen? Es
+wurde ein grausames Radebrechen. Ich ein paar Brocken Französisch, die
+Leute jeder einen Brocken Englisch. Das meiste hatte ich zu erraten. Wo
+ich herkäme? Von Boulogne. Wie ich nach Boulogne gekommen sei? Mit einem
+Schiff. Wo meine Seemannskarte sei? Habe keine.
+
+„Was, Sie haben keine Seemannskarte?“
+
+Diese Frage würde ich jetzt sogar verstehen, wenn man sie zu mir
+Hindostanisch sagte. Denn die Geste und der Tonfall sind so genau die
+gleichen, daß man sich nie irren könnte.
+
+„Paß habe ich auch nicht. Ich habe auch keine Identitätskarte. Ich habe
+überhaupt keine Papiere. Nie Papiere gehabt.“
+
+Das sage ich gleich in einem Atemzuge. Nun können sie wenigstens diese
+Fragen nicht stellen und sich damit die Zeit vertreiben. In der Tat
+werden Sie ein wenig verblüfft, weil sie nun ganz aus der Reihe gekommen
+sind. Für eine Weile weiß keiner, was er fragen oder sagen soll.
+Glücklicherweise bleibt ihnen ja die Fahrkarte, die ich nicht hatte. Und
+am nächsten Tage ist wieder ein Verhör. Ich lasse sie ruhig verhören und
+reden und fragen. Ich verstehe nichts. Am Schluß wird mir aber klar, daß
+ich zehn Tage Gefängnis weghabe wegen Eisenbahnbetrugs oder so etwas
+Ähnlichen. Was weiß ich. Es ist mir auch gleichgültig. Aber das war
+meine Ankunft in Paris.
+
+Diese Gefängnislaufbahn war recht drollig.
+
+Erster Tag: Einlieferung, Baden, Untersuchung, Wäscheausteilung,
+Zellenverteilung. Der erste Tag war vorbei.
+
+Zweiter Tag: Quittieren kommen beim Kassenverwalter über die Summe,
+die ich bei meiner Verhaftung im Besitz hatte. Abermalige
+Personenfeststellung und Eintragung in dicke Bücher. Nachmittag: Empfang
+beim Gefängnisgeistlichen. Er sprach gut Englisch. Behauptete er. Das
+muß aber das Englisch gewesen sein, als William der Eroberer noch nicht
+in England gelandet war, denn ich verstand von diesem guten Englisch
+nicht ein einziges Wort, ließ es mir aber nicht anmerken. Wenn er von
+Gott sprach, sagte er immer „Goat“, und ich war der Meinung, er rede von
+einer Ziege. Damit ging auch der zweite Tag herum.
+
+Dritter Tag: Vormittags werde ich gefragt, ob ich schon mal
+Schürzenbänder angenäht hätte. Ich sagte nein. Nachmittags wurde mir
+mitgeteilt, daß ich in die Schürzenabteilung eingereiht würde. Damit
+ging der dritte Tag zu Ende.
+
+Vierter Tag: Vormittags wurde mir Schere, Nadel, eine ganze Nähnadel,
+Zwirn und ein Fingerhut gegeben. Der Fingerhut paßte nicht. Aber mir
+wurde gesagt, einen andern hätten sie nicht. Nachmittags wurde mir
+gezeigt, wie ich die Schere, die Nähnadel und den Fingerhut immer
+sichtbar auf den Schemel zu legen und den Schemel in die Mitte der Zelle
+zu stellen habe, wenn ich die Zelle für den Rundgang verlasse. Außen
+neben der Tür wurde ein Plakat angeschlagen mit der Aufschrift: „Besitzt
+eine Schere, eine Nähnadel und einen Fingerhut.“ Damit war der vierte
+Tag herum.
+
+Fünfter Tag: Sonntag.
+
+Sechster Tag: Vormittags werde ich in die Arbeitshalle geführt.
+Nachmittags wird mir ein Platz in der Arbeitshalle angewiesen. Der
+sechste Tag ist ’rum.
+
+Siebenter Tag: Vormittags wird mir der Gefangene gezeigt, der mich
+lehren soll, wie Schürzenbänder angenäht werden sollen. Nachmittags sagt
+mir der Gefangene, ich solle meine Nähnadel schon mal einfädeln. Der
+siebente Tag ist ’rum.
+
+Achter Tag: Der Lehrmeister zeigt mir, wie er die Schürzenbänder annäht.
+Nachmittags ist Baden und Wiegen. Der achte Tag ist rum.
+
+Neunter Tag: Vormittags muß ich zum Direktor kommen. Mir wird
+mitgeteilt, daß morgen meine Zeit um sei, und ich werde gefragt, ob ich
+Beschwerden vorzubringen hätte. Dann muß ich meinen Namen ins
+Fremdenbuch schreiben. Nachmittags wird mir gezeigt, wie ich ein
+Schürzenband anzunähen habe. Der neunte Tag ist ’rum.
+
+Zehnter Tag: Vormittags nähe ich ein Schürzenband an. Mein Lehrmeister
+betrachtet sich das angenähte Band einundeinehalbe Stunde und sagt dann,
+es sei nicht gut angenäht, er müsse es wieder abtrennen. Nachmittags
+nähe ich wieder ein Schürzenband an. Als ich das eine Ende gerade
+angenäht habe, werde ich zur Abfertigung gerufen. Ich werde gewogen,
+untersucht, bekomme meine Zivilsachen, die ich anziehen darf, und kann
+dann im Hof spazierengehen. Der zehnte Tag ist ’rum.
+
+Am nächsten Morgen um sechs werde ich gefragt, ob ich noch Frühstück
+haben wolle. Ich sage nein, werde zum Kassenverwalter geführt, wo ich
+eine Weile warten muß, weil er noch nicht da ist. Dann kriege ich doch
+Frühstück, und endlich kommt der Kassenverwalter, der mir mein Geld
+zurückgibt, was ich wieder zu quittieren habe. Dann erhalte ich fünfzehn
+Centimes für Arbeitsleistung, war entlassen und konnte gehen. Verdient
+hat der französische Staat nicht viel an mir, und ob die Eisenbahn sich
+nun einbilden darf, bezahlt zu sein, ist auch noch die Frage. Draußen
+wurde ich aber gleich wieder von der Polizei in Empfang genommen.
+
+Ich wurde verwarnt. Innerhalb fünfzehn Tagen hätte ich das Land zu
+verlassen, auf demselben Wege, auf dem ich hereingekommen sei. Würde ich
+nach Ablauf von fünfzehn Tagen noch innerhalb der Landesgrenzen
+gefunden, so würde nach Maßgabe der Gesetze mit mir verfahren werden.
+Also mit mir verfahren werden. Was das bedeutete, war mir nicht klar.
+Vielleicht hängen oder auf dem Scheiterhaufen schmoren. Warum nicht. In
+dieser Zeit der vollendeten Demokratien ist ein Paßloser und damit also
+auch ein Nichtwahlberechtigter ein Ketzer. Jede Zeit hat ihre Ketzer,
+und jede Zeit hat ihre Inquisition. Heute sind der Paß, das Visum, der
+Einwanderungsbann die Dogmen, auf die sich die Unfehlbarkeit des Papstes
+stützt, an die man zu glauben hat, oder man muß die verschiedenen Grade
+der Folterungen über sich ergehen lassen. Früher waren die Fürsten die
+Tyrannen, heute ist der Staat der Tyrann. Das Ende der Tyrannen ist
+immer Entthronung und Revolution, ganz gleich, wer der Tyrann ist. Die
+Freiheit des Menschen ist zu urwüchsig mit seinem ganzen Dasein und
+Wollen verknüpft, als daß der Mensch irgendeine Tyrannei lange ertragen
+könnte, selbst wenn die Tyrannei in dem sammetweichen Lügenmantel des
+Mitbestimmungsrechtes erscheinen sollte.
+
+„Sie müssen doch aber irgendein Papier haben, lieber Freund“, sagte der
+Offizier, der mich verwarnte. „Ohne Papier können Sie gewiß nicht immer
+herumlaufen.“
+
+„Ich könnte vielleicht einmal zu meinem Konsul gehen.“
+
+„Zu Ihrem Konsul?“
+
+Der Ton war mir bekannt. Es scheint, daß mein Konsul in der ganzen Welt
+bekannt ist.
+
+„Was wollen Sie denn bei Ihrem Konsul? Sie haben doch keine Papiere. Der
+glaubt Ihnen keine Silbe, wenn Sie keine Papiere haben. Er gibt nur auf
+Papiere etwas. Besser, Sie gehen gar nicht hin, sonst werden wir Sie nie
+wieder los und haben Sie für das ganze Leben auf dem Halse.“
+
+Wie sagten die Römer? Die Konsuln sollen darauf bedacht sein, daß der
+Republik nichts Übles widerfahre. Und es könnte der Republik sicher sehr
+viel Übles widerfahren, wenn die Konsuln nicht verhindern würden, daß
+jemand, der keine Papiere hat, sein Heimatland wiedersieht.
+
+„Aber irgendein Papier müßten Sie doch haben. Sie können doch nicht gut
+den Rest Ihres Lebens ohne Papiere herumlaufen.“
+
+„Ja, das glaube ich auch, daß ich ein Papier haben müßte.“
+
+„Ich kann Ihnen kein Papier geben. Worauf denn? Alles, was ich Ihnen
+geben kann, ist ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis. Mit dem Schein
+ist nicht viel los. Dann schon besser gar nichts. Und bei jedem andern
+Papier kann ich nur einsetzen, der Vorzeiger behauptet, der und der zu
+sein und von da und da herzukommen. Ein solches Papier ist aber wertlos,
+denn es ist kein Beweis; es sagt nur das aus, was Sie aussagen. Und Sie
+können natürlich erzählen, was Sie wollen, ob es wahr ist oder nicht.
+Selbst wenn es wahr ist, es muß bewiesen werden können. Es tut mir sehr
+leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Sie amtlich verwarnt, und
+Sie müssen das Land verlassen. Gehen Sie doch nach Deutschland. Das ist
+auch ein sehr schönes Land.“
+
+Warum sie mich alle nach Deutschland schicken, das möchte ich wissen.
+
+
+ 10
+
+Nun blieb ich erst einmal einige Tage in Paris, um abzuwarten, was
+geschehen würde. Geschehnisse können einem manchmal besser voranhelfen
+als die schönsten Pläne. Ich hatte ja jetzt ein gutes Recht, mir Paris
+anzusehen. Meine Fahrkarte war bezahlt, meine Verpflegung im Gefängnis
+hatte ich abverdient, so war ich dem französischen Staat nichts mehr
+schuldig, und ich durfte sein Pflaster ablaufen.
+
+Wenn man nun so gar nichts zu tun hat, kommt man auf allerlei
+überflüssige Gedanken. Einen so überflüssigen Gedanken bekam ich eines
+guten Tages, und er führte mich zu meinem Konsul. Daß es ganz
+hoffnungslos war, wußte ich im voraus. Aber ich dachte, es schadet doch
+nie etwas, wenn man Erfahrungen über Menschen sammelt. Alle Konsuln sind
+in dieselbe Form gegossen wie fast alle Beamten. Sie gebrauchen wörtlich
+denselben Redeschatz, den sie bei ihren Prüfungen vorweisen mußten, sie
+werden würdevoll, ernst, befehlshaberisch, devot, gleichgültig,
+gelangweilt, interessiert und tieftraurig bei denselben Gelegenheiten,
+und sie werden heiter, lustig, freundlich und geschwätzig bei denselben
+Gelegenheiten, ob sie im Dienste Amerikas, Frankreichs, Englands oder
+Argentiniens stehen. Zu wissen, genau zu wissen, wann sie eine dieser
+Gefühlsäußerungen zu zeigen haben, ist die ganze Weisheit, die ein
+solcher Beamter benötigt. Ab und zu vergißt aber jeder Beamte einmal
+seine Weisheit und wird für eine halbe Minute Mensch. Dann kennt man ihn
+gar nicht wieder, dann fängt er an, die innere Haut nach außen zu
+kehren. Der interessanteste Moment aber ist, wenn er plötzlich
+empfindet, daß die innere Haut bloßliegt und er sie rasch wieder
+verkrustet. Um diesen Moment zu erleben, und um eine Erfahrung reicher
+zu werden, ging ich zum Konsul. Die Gefahr bestand, daß er mich
+verleugnete, mich der französischen Polizei offiziell übergab und mir
+dann die Möglichkeit genommen wurde, frei meiner Wege zu gehen, weil ich
+dann unter Polizeiaufsicht geriet und ich über jeden meiner Schritte,
+den ich tat oder zu tun gedachte, Rechenschaft abzulegen hatte.
+
+Zuerst konnte ich einmal den ganzen Vormittag warten. Dann wurde
+geschlossen. Am Nachmittag kam ich auch nicht an die Reihe. Unsereiner
+muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt,
+von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel Zeit hat. Wer
+Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld zum Hinlegen hat,
+muß mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. Denn wird man gar
+aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer Weise, die unbeliebt
+ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, daß man viermal mehr an
+Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der Zeitstrafe, die einem
+auferlegt wird.
+
+Es saßen da eine ganze Reihe solcher, die ihre Zeit zu opfern hatten.
+Einige saßen schon Tage. Andre waren bereits sechsmal hin und her
+geschickt worden, weil dies fehlte und jenes nicht die vorschriftsmäßige
+Form oder richtiger Uniform trug.
+
+Da kam eine kleine, unglaublich dicke Dame hereingeschossen. So
+unglaublich fett. Es war nicht auszudenken, wie fett sie war. In diesem
+Raume, wo die dürren Gestalten wartend auf den Bänken saßen, mit ihren
+Hinterköpfen beinahe das an die Wand geheftete Sternenbanner berührend,
+dessen Dimension so riesenhaft war, daß es die ganze Wand ausfüllte, in
+diesem Raume, wo unschuldige, willige und arbeitsgewohnte Menschen
+wartend saßen mit einem Ausdruck auf den Gesichtern, als würden hinter
+jenen zahlreichen Türen in diesem Augenblick ihre Todesurteile
+unterschrieben, wirkte die fette Dame wie eine niederträchtige
+Beleidigung. Sie hatte pechschwarze, ölige, lockige Haare, eine
+auffallend krumme Nase und sehr krumme Beine. Ihre braunen Augen standen
+so glotzend in dem fetten Teiggesicht, als ob sie im selben Augenblick
+aus den Höhlen quellen wollten. Sie war gekleidet in dem Besten, was
+Reichtum nur kaufen kann. Sie keuchte und schwitzte, und unter der Last
+ihrer Perlenketten, Goldbehänge und Brillantvorstecknadeln schien sie
+beinahe zusammenzubrechen. Wenn sie nicht so viele schwere
+Platinringe an den Fingern gehabt hätte, wären die Finger sicher
+auseinandergeplatzt.
+
+Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, da schrie sie schon: „Ich habe meinen
+Paß verloren. Wo ist der Mister Konsul? Ich muß gleich einen neuen Paß
+haben.“
+
+Ei, sieh da, auch andre Leute können ihren Paß verlieren. Wer hätte das
+gedacht? Ich hatte geglaubt, das kann nur einem Seemann zustoßen. Well,
+Fanny, du kannst dich freuen, der Mister Konsul wird dir gleich was
+erzählen, von wegen neuen Paß. Vielleicht nähst du das andre Ende des
+Schürzenbandes an. So unangenehm mir die Dame war, ihres aufdringlichen
+Wesens wegen, ich empfand für sie Sympathie, die Sympathie derer, die in
+derselben Galeere angeschmiedet sind.
+
+Der Empfangssekretär sprang gleich auf: „Aber gewiß, M’me, nur einen
+Augenblick. Bitte!“
+
+Er nahm einen Stuhl und bat unter Verbeugung die Dame, sie möge Platz
+nehmen. Er brachte drei Formulare, sprach leise mit der Dame und schrieb
+in den Formularen. Die dürren Gestalten hatten die Formulare alle selbst
+ausfüllen müssen, manche vier- oder fünfmal, weil sie nicht gut
+ausgefüllt waren. Aber die Dame konnte offenbar nicht schreiben, und so
+war es nur ein Zeichen von Hilfsbereitschaft, daß der Sekretär ihr diese
+kleine Mühe abnahm.
+
+Als die Formulare ausgefüllt waren, sprang er auf und trug sie durch
+eine der Türen, hinter denen die Todesurteile unterzeichnet werden.
+
+Er kam sehr rasch zurück und sagte halblaut und sehr höflich zu der
+Fetten: „Mr. Grgrgrgs wünscht Sie zu sehen, M’me. Haben Sie drei
+Photographien zur Hand?“
+
+Die fette Schwarzhaarige hatte die Photographien zur Hand und gab sie
+dem hilfsbereiten Sekretär. Dann verschwand sie hinter der Tür, wo die
+Schicksale der Welt entschieden werden.
+
+Nur ganz altmodische Leute glauben heute noch daran, daß die Schicksale
+der Menschen im Himmel entschieden werden. Das ist ein beklagenswerter
+Irrtum. Die Schicksale der Menschen, die Schicksale von Millionen von
+Menschen werden von den amerikanischen Konsuln entschieden, die Sorge
+dafür zu tragen haben, daß der Republik kein Schaden widerfahre. Yes,
+Sir.
+
+Die Dame war nicht lange in jenem Zimmer der Geheimnisse. Als sie
+herauskam, schloß sie ihr Handtäschchen. Sie schloß es mit einem starken
+energischen Knipsen. Und das Knipsen schrie gellend: „Gott, wir haben’s
+ja dazu, leben und leben lassen.“
+
+Der Sekretär stand sofort auf, kam halb hinter seinem Tisch hervor und
+rückte an jenem Stuhl, auf dem die Dame gesessen hatte. Die Dame setzte
+sich nur mit einer Kante auf den Stuhl, öffnete ihre Handtasche, kramte
+eine Weile herum, nahm ein Puderdöschen hervor und ließ die geöffnete
+Tasche auf dem Tisch liegen, während sie sich puderte. Warum sie sich
+schon wieder pudern mußte, obgleich sie sich eine Minute vorher gepudert
+haben mußte, war nicht ganz klar.
+
+Der Sekretär tastete nun mit seinen Händen auf dem ganzen Tisch herum,
+um irgendein Blatt Papier zu suchen, das er weit verlegt haben mußte.
+Endlich hatte er das Blatt gefunden, und da die Dame inzwischen auch
+wieder aufgepudert war, nahm sie die Tasche an sich, steckte das
+Puderdöschen hinein und knipste die Tasche abermals so zu, daß die
+Tasche denselben gellenden Schrei ausstieß wie kurz vorher.
+
+Die Dürren auf den Bänken hatten den gellenden Schrei nicht gehört. Sie
+alle schienen Auswanderungslustige zu sein, die die Weltsprache des
+Knipsens noch nicht verstanden, weil sie nichts zum Knipsen hatten.
+Deshalb mußten sie ja auch auf den Bänken sitzen. Deshalb wurde ihnen ja
+auch kein Stuhl angeboten unter Verbeugungen. Deshalb mußten sie ja auch
+warten, bis sie an die Reihe kamen, genau nach der Nummerfolge.
+
+„Können Sie in einer halben Stunde noch mal hier vorsprechen, M’me oder
+sollen wir den Paß zu Ihrem Hotel schicken?“
+
+Höflich ist man auf einem amerikanischen Konsulat.
+
+„Ich komme vorgefahren in einer Stunde. Unterschrieben habe ich den Paß
+ja schon drin.“
+
+Die Dame stand auf. Als sie nach einer Stunde wiederkam, saß ich immer
+noch da. Aber die fette Dame hatte ihren Paß.
+
+Hier endlich bekam ich meinen Paß. Das wußte ich. Der Sekretär brauchte
+ihn mir nicht in mein Hotel schicken, ich würde ihn gleich selber
+mitnehmen. Und hatte ich erst wieder einen Paß, so bekam ich auch wieder
+ein Schiff, wenn kein heimatliches Schiff, dann sicher ein englisches
+oder holländisches oder dänisches. Wenigstens bekam ich wieder Arbeit
+und hatte die Aussicht, doch mal ein heimatliches Schiff in irgendeinem
+Hafen anzutreffen, wo ein Deckarbeiter gebraucht wurde. Ich konnte ja
+nicht nur anstreichen, ich verstand auch Messing zu putzen; denn wenn
+man nichts anstreichen kann, dann wird immer Messing geputzt.
+
+Ich war wirklich zu voreilig in meinem Urteil. Die amerikanischen
+Konsuln sind besser als ihr Ruf, und was mir die belgische, die
+holländische und die französische Polizei über die Konsuln gesagt hatte,
+war nichts als nationale Eifersucht.
+
+Endlich kam dann doch der Tag und die Minute, wo meine Nummer fällig war
+und ich gerufen wurde. Meine dürren Bankgenossen hatten alle durch eine
+andre Tür zu gehen, um den Todesstreich zu empfangen. Ich machte eine
+Ausnahme. Ich wurde zu Mr. Grgrgrgs oder wie der Mann heißen mochte,
+gerufen. Das war der Mann, den ich in meinem Herzen zu sehen gewünscht
+hatte; denn er war der, der die Nöte eines Menschen, dessen Paß
+verlorenging, zu würdigen weiß. Wenn mir niemand auf der ganzen weiten
+Welt helfen würde, er wird es tun. Er hat der Goldbehangenen geholfen,
+um wieviel mehr und rascher wird er mir helfen. Es war ein guter
+Gedanke, der mich verleitet hatte, mein Glück doch noch einmal zu
+versuchen.
+
+
+ 11
+
+Der Konsul ist ein kleiner, hagerer Mann, ausgetrocknet im Dienst.
+
+„Setzen Sie sich“, sagt er und deutet auf einen Stuhl vor seinem
+Schreibtisch. „Womit kann ich dienen?“
+
+„Ich möchte einen Paß haben.“
+
+„Haben Sie Ihren Paß verloren?“
+
+„Nicht meinen Paß, aber meine Seemannskarte.“
+
+„Ah so, Sie sind ein Seemann?“
+
+Mit diesem Satz hat er seinen Ton geändert. Und dieser neue Ton, der mit
+einem so merkwürdigen Mißtrauen gemischt ist, hält nun eine Weile an und
+bestimmt den Charakter unsrer Unterhaltung.
+
+„Ich habe mein Schiff verloren.“
+
+„Wohl betrunken gewesen?“
+
+„Nein. Ich trinke nie einen Tropfen von diesem Gift. Ich bin
+knochentrocken.“
+
+„Sie sagten doch, Sie seien Seemann?“
+
+„Das bin ich auch. Mein Schiff ist drei Stunden früher abgefahren als
+angesagt war. Sie sollte mit der Flut rausgehen, aber weil sie keine
+Ladung hatte, so brauchte sie auf die Flut keine Rücksicht nehmen.“
+
+„Nun sind Ihre Papiere also an Bord geblieben?“
+
+„Ja.“
+
+„Das konnte ich mir denken. Welche Nummer hatte Ihre Karte?“
+
+„Das weiß ich nicht.“
+
+„Wo war sie denn ausgestellt?“
+
+„Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe Küstenschiffe gefahren,
+Bostoner, N’Yorker, Balter, Philier, Golfer und sogar Wester. Ich kann
+mich nicht mehr erinnern, wo die Karte ausgestellt war.“
+
+„Das konnte ich mir denken.“
+
+„Man guckt sich doch seine Karte nicht jeden Tag an. Ich habe sie nie
+angeguckt, solange ich sie hatte.“
+
+„Ja.“
+
+„Sie hat immer in meiner Tasche gesteckt.“
+
+„Naturalisiert?“
+
+„Nein. Im Lande geboren.“
+
+„Registriert worden, die Geburt?“
+
+„Weiß ich nicht, da war ich noch zu klein, als ich geboren wurde.“
+
+„Also nicht registriert.“
+
+„Das weiß ich nicht, habe ich gesagt.“
+
+„Aber ich weiß es.“
+
+„Dann brauchen Sie mich doch nicht fragen, wenn Sie alles wissen.“
+
+„Will ich vielleicht einen Paß haben?“ fragt er darauf.
+
+„Das weiß ich nicht, Sir, ob Sie einen Paß haben wollen.“
+
+„Sie wollen doch einen haben, nicht ich. Und wenn ich Ihnen einen geben
+soll, so werden Sie mir doch wohl erlauben müssen, daß ich Fragen an Sie
+stelle. Nicht wahr?“
+
+Der Mann hat recht. Die Leute haben immer recht. Das ist auch ganz
+leicht für sie. Zuerst machen sie die Gesetze, und dann werden sie
+hingestellt, um den Gesetzen das Leben einzuflößen.
+
+„Haben Sie eine feste Adresse drüben?“
+
+„Nein. Ich wohne auf meinen Schiffen oder, wenn ich keine habe, wohne
+ich in den Seemannsheimen und Herbergen.“
+
+„Also keine feste Wohnung. Mitglied eines eingetragenen Klubs?“
+
+„Wer, ich? Nein.“
+
+„Eltern?“
+
+„Nein. Gestorben.“
+
+„Verwandte?“
+
+„Dank dem Himmel, nein. Wenn ich welche hätte, würde ich sie
+abschwören.“
+
+„Haben Sie gewählt?“
+
+„Nein. Nie.“
+
+„Stehen Sie also auch nicht in den Wähler-Registern.“
+
+„Sicher nicht. Ich würde auch nicht wählen, wenn ich an Land wäre.“
+
+Er sieht mich nun eine ganze Weile an, ziemlich dumm und sehr
+ausdruckslos. Die ganze Zeit hat er gelächelt und, wie sein Kollege in
+Rotterdam, mit einem Bleistift gespielt. Was würden die Leute nur
+machen, wenn es keine Bleistifte mehr gäbe? Aber dann gibt es sicher ein
+Lineal, oder einen Löscher, oder die Telephonstrippe, oder die Brille,
+oder ein paar Blätter Papier oder Formulare, die man auf- und zufaltet.
+Eine Amtsstube hat ja so gut vorgesorgt, daß der Insasse sich nie
+langweilt. Gedanken, mit denen er sich beschäftigen kann, hat er nicht;
+und wenn er welche bekommt, hört er für gewöhnlich auf, Beamter zu sein
+und wird ein umgänglicher Mensch. Könnten die Finger eines Tages nicht
+mehr mit den Utensilien spielen, die auf der Inventarliste stehen,
+würden sie vielleicht an den Fundamenten spielen und bohren und das
+möchte den Fundamenten nicht bekommen.
+
+„Also ich kann Ihnen keinen Paß geben.“
+
+„Warum nicht?“
+
+„Auf was denn? Auf Ihre bloßen Aussagen hin? Das kann ich nicht. Das
+darf ich nicht einmal. Ich muß doch Unterlagen vorweisen können. Ich muß
+doch Rechenschaft ablegen, auf Grund welcher Beweise ich den Paß
+ausgestellt habe. Wie können Sie denn beweisen, daß Sie Amerikaner sind,
+daß ich überhaupt verpflichtet bin, mich mit Ihnen hier zu befassen?“
+
+„Aber das können Sie doch hören?“
+
+„Woran? An der Sprache?“
+
+„Natürlich.“
+
+„Das ist kein Beweis. Nehmen Sie hier den Fall Frankreich. Hier leben
+Tausende, die Französisch sprechen und keine Franzosen sind. Hier gibt
+es Russen, Rumänen, Deutsche, die ein besseres und reineres Französisch
+sprechen als der Franzose selbst. Hier sind Tausende, die hier geboren
+sind und keine Staatsbürger sind. Anderseits sind drüben
+Hunderttausende, die kaum Englisch sprechen können und über deren
+amerikanische Staatsbürgerschaft auch nicht der geringste Zweifel
+besteht.“
+
+„Aber ich bin doch im Lande geboren.“
+
+„Dann freilich können Sie Bürger sein. Aber auch dann müßten Sie erst
+noch beweisen, ob nicht Ihr Vater für Sie eine andre Staatsbürgerschaft
+vorbehalten hat, die Sie nicht abgeändert haben, als Sie volljährig
+wurden.“
+
+„Meine Urgroßeltern waren schon Amerikaner und deren Eltern auch schon.“
+
+„Beweisen Sie mir das, und ich bin verpflichtet, Ihnen einen Paß
+auszustellen, ob ich will oder nicht. Bringen Sie die Urgroßeltern oder
+nur die Eltern her. Ich will aber viel näher kommen, beweisen Sie mir,
+daß Sie drüben geboren sind.“
+
+„Wie soll ich denn das beweisen, wenn die Geburt nicht registriert
+worden ist.“
+
+„Das ist sicher nicht meine Schuld.“
+
+„Vielleicht bestreiten Sie mir gar, daß ich überhaupt geboren bin?“
+
+„Richtig. Das bestreite ich. Die Tatsache, daß Sie hier vor mir stehen,
+ist kein Beweis für mich, daß Sie geboren sind. Ich habe es zu glauben.
+Wie ich zu glauben habe, daß Sie Amerikaner sind, daß Sie Bürger sind.“
+
+„Also Sie glauben nicht einmal, daß ich geboren bin? Das ist aber doch
+die Grenze alles Möglichen.“
+
+Der Konsul lächelte sein schönstes Amtslächeln: „Daß Sie geboren sind,
+muß ich ja wohl glauben; denn ich sehe Sie hier mit meinen Augen. Wenn
+ich Ihnen nun einen Paß ausstelle und ihn der Regierung daheim damit
+rechtfertige, daß ich in meinen Bericht schreibe: Ich habe den Mann
+gesehen und glaube, daß er Bürger ist! so kann es leicht geschehen, daß
+ich gesackt werde. Denn was ich glaube, will die Regierung daheim nicht
+wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und was ich bestimmt
+weiß, muß ich immer beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft und Ihre
+Geburt kann ich nicht beweisen.“
+
+Man möchte manchmal bedauern, daß wir noch nicht aus Papiermaché gemacht
+sind; denn dann könnte man an dem Stempel sehen, ob man in der Fabrik U.
+S. A. oder in der Fabrik Frankreich oder in der Fabrik Spanien
+angefertigt worden ist, und den Konsuln wäre die Mühe erspart, ihre
+wertvolle Zeit mit so törichten Dingen zu vertrödeln.
+
+Der Konsul hat den Bleistift hingeworfen, ist aufgestanden, geht zur Tür
+und ruft einen Namen hinaus. Ein Sekretär kommt herein, und der Konsul
+sagt zu ihm: „Sehen Sie mal nach. Wie ist der Name?“ Er wendet sich mir
+zu. „Ach ja, es fällt mir schon wieder ein, Gale, richtig. Ja, sehen Sie
+also nach, sofort.“
+
+Der Mann läßt die Tür halb offen, und ich sehe, daß er an einem
+Schranke, wo Tausende von gelben Karten aufgestapelt sind, das G
+heraussucht und nach meinem Namen forscht. Die Karten der Deportierten,
+der Unerwünschten, der Pazifisten und der bekannten Anarchisten.
+
+Der Sekretär kommt wieder zurück. Der Konsul, der während der Zeit am
+Fenster gestanden hat und hinuntergesehen hat, dreht sich um:
+
+„Na?“
+
+„Ist nicht drin.“
+
+Das wußte ich vorher. Jetzt kriege ich meinen Paß. So schnell nicht. Der
+Sekretär ist wieder gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht. Der
+Konsul sagt nichts, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch, sieht mich
+eine Weile an und weiß nicht mehr, was er fragen soll. Seine
+Prüfungsaufgaben scheinen nur bis hierher gereicht zu haben. Nun steht
+er auf und verläßt das Zimmer. Jedenfalls holt er sich Rat aus einem der
+andern heiligen Räume.
+
+Ich habe nichts weiter zu tun und sehe mir die Bilder an der Wand an.
+Alles bekannte Gesichter, mein eigner Vater ist mir nicht so vertraut in
+seinem Gesicht als diese Gesichter. Washington, Franklin, Grant,
+Lincoln. Männer, denen Bureaukratismus so verhaßt war wie einem Hunde
+die Katzen. „Das Land soll für immer sein das Land der Freiheit, wo der
+Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet, sofern er guten Willens
+ist.“ „Dieses Land soll gehören denen, die es bewohnen.“
+
+Aber freilich, das kann ja nicht so fort gehen bis in alle Ewigkeit.
+„Das Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ Das puritanische
+Gewissen ließ nicht zu, daß kurz und bündig gesagt wurde: „Das Land
+gehört uns, den Amerikanern.“ Denn da waren die Indianer, denen das Land
+von Gott gegeben war, und Gottes Gesetz hat der Puritaner zu beachten.
+„Wo der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet.“ Ganz gut, wenn
+alle, die da wohnen, Verfolgte und Gehetzte sind aus allen möglichen
+Ländern. Und die Nachfahren jener Verfolgten und Gehetzten sperren das
+Land ab, das allen Menschen gegeben wurde. Und um die Absperrung ganz
+vollkommen zu machen, damit auch nicht eine Maus durchschlüpfen kann,
+sperren sie die eignen Söhne ab. Denn es könnte ja unter der Verkleidung
+des eignen Sohnes sich der Sohn eines Nachbars einschleichen.
+
+Der Konsul kommt zurück und setzt sich wieder. Er hat eine neue Frage
+gefunden.
+
+„Sie können ja vielleicht ein entwichener Sträfling sein oder jemand,
+der eines schweren Verbrechens wegen gesucht wird. Und ich würde Ihnen
+einen Paß ausstellen auf den von Ihnen genannten Namen und würde Sie
+durch den Paß vor der gerechten Verfolgung schützen.“
+
+„Ja, das würden Sie. Ich sehe nun ein, daß mein Kommen ganz und gar
+zwecklos war.“
+
+„Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht helfen zu können. Meine
+Machtbefugnisse sind nicht weitreichend genug, um Ihnen den Paß oder
+irgendein Papier, das Ihnen zur Legitimation dienen könnte,
+auszustellen. Sie hätten mit Ihrer Seemannskarte vorsichtiger sein
+müssen. Solche Dinge verliert man nicht in dieser Zeit, wo der Paß
+notwendiger ist als sonst irgend etwas.“
+
+„Nun möchte ich aber doch gern eins wissen.“
+
+„Ja?“
+
+„Da war hier eine sehr dicke Dame mit vielen Brillantringen, die sie
+kaum noch schleppen konnte, die hatte ihren Paß doch auch verloren und
+Sie haben ihr sofort einen gegeben. Das hat nur eine halbe Stunde
+gedauert.“
+
+„Aber das war doch die Frau Sally Marcus aus New York, werden Sie doch
+schon gehört haben den Namen. Das große Bankgeschäft,“ sagte er mit
+einer Geste und einer Betonung, als ob er gesagt hätte: Das war doch der
+Prince of Wales und nicht ein Seemann, dem das Schiff fortgefahren ist.
+
+Er mußte wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennen, daß ich das nicht so
+schnell fassen konnte, denn er fügte hinzu: „Sie werden den Namen doch
+schon gehört haben? Das große Bankgeschäft in New York?“
+
+Ich zweifelte noch immer und sagte: „Ich glaube aber kaum, daß die Dame
+Amerikanerin ist, ich würde viel eher glauben, daß sie in Bukarest
+geboren ist.“
+
+„Woher wissen Sie das? Die Frau Marcus ist allerdings in Bukarest
+geboren worden. Aber sie ist amerikanischer Bürger.“
+
+„Hatte sie denn ihren Bürgerbrief bei sich?“
+
+„Natürlich nicht. Warum?“
+
+„Woher haben Sie denn dann gewußt, daß sie Bürger ist? Richtig sprechen
+hat sie noch nicht gelernt.“
+
+„Da brauche ich keinen Beweis. Der Bankier Marcus ist doch bekannt. Sie
+ist doch Luxuskabine auf der Majestic herübergekommen.“
+
+„Jetzt endlich verstehe ich. Ich bin nur in einer Forecastle-Bunk, auf
+einem Frachteimer herübergekommen als Deckarbeiter. Und das beweist gar
+nichts. Großes Bankgeschäft und Luxuskabine beweist alles.“
+
+„Der Fall liegt eben ganz anders, Mr. Gale. Ich habe Ihnen gesagt, ich
+kann nichts für Sie tun. Ich darf nicht einmal etwas für Sie tun.
+Papiere darf ich Ihnen nicht geben. Ich persönlich glaube Ihnen, was Sie
+mir gesagt haben. Aber wenn die Polizei Sie hierher bringen sollte,
+damit wir Sie anerkennen und aufnehmen sollen, leugne ich Sie glatt ab
+und bestreite Ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nichts andres tun.“
+
+„Dann kann ich hier einfach untergehen in fremdem Lande.“
+
+„Ich habe nicht die Machtvollkommenheit, Ihnen beizustehen, selbst wenn
+ich persönlich gern möchte. Ich werde Ihnen eine Karte für ein Hotel
+geben für drei Tage mit voller Verpflegung. Sie dürfen sich nach Ablauf
+eine zweite und auch eine dritte holen.“
+
+„Nein, ich danke sehr. Bemühen Sie sich nicht.“
+
+„Vielleicht ist Ihnen besser gedient mit einer Fahrkarte nach der
+nächsten größeren Hafenstadt, wo Sie vielleicht ein Schiff bekommen
+können, das unter andrer Flagge fährt.“
+
+„Nein, danke. Ich hoffe, meinen Weg allein zu finden.“
+
+„Ja dann –. Good-bye und viel Glück!“
+
+Aber da sind wieder die großen Gegensätze zwischen den amerikanischen
+Beamten und den Beamten andrer Länder. Als ich auf der Straße war und
+nach einer Uhr blickte, sah ich, daß es fünf Uhr vorbei war. Die
+Geschäftsstunden des Konsuls waren um vier Uhr zu Ende; jedoch er hatte
+nicht ein einziges Mal irgendein Zeichen von Ungeduld geäußert oder
+fühlen lassen, daß seine Zeit längst vorüber war.
+
+Nun erst hatte ich mein Schiff wirklich verloren.
+
+Ade, mein sonniges New Orleans. Good-bye and good luck to ye!
+
+Mädel, mein liebes Mädel in New Orleans, jetzt kannst du warten auf
+deinen Jungen; auf dem Jackson Square kannst du sitzen und heulen. Dein
+Junge kommt nicht mehr heim. Das Meer hat ihn verschluckt. Gegen Sturm
+und Wellen konnte ich kämpfen, mit Farbe und mit harten Fäusten; gegen
+Paragraphen, Bleistifte und Papier nicht. Nimm dir beizeiten einen
+andern, Liebchen. Verplempere deine rosige Jugend nicht mit Warten auf
+den Vaterlandslosen und Nichtgeborenen. Leb’ wohl! Süß waren deine Küsse
+und glühend, weil wir keine Heiratslizenz geholt hatten.
+
+Schiet das Mädel. Hoiho! Wind kommt auf. Boys, get all the canvas set.
+Alles, was Leinwandfetzen heißt, raus damit und hoch.
+
+
+ 12
+
+Express Paris-Limoges. Ich sitze drin und habe keine Karte. Diesmal
+wurde kontrolliert. Aber ich verschwand spurlos. Limoges-Toulouse. Ich
+sitze drin und habe auch keine Karte.
+
+Was die nur immerfort zu kontrollieren haben. Es muß doch in der Tat zu
+viele Eisenbahnschwindler geben, daß so oft kontrolliert wird. Aber die
+haben ganz recht, wenn jeder ohne Karte fahren wollte, wer sollte denn
+dann die Dividenden bezahlen. Das geht doch nicht. Ich verschwinde
+spurlos. Als die Kontrolle vorbei ist, setze ich mich wieder auf meinen
+Platz. Plötzlich kommt der Kontrolleur zurück, geht entlang und sieht
+mich an. Ich sehe ihn auch an. Ganz dreist. Er geht weiter. Man muß nur
+wissen, wie man Kontrolleure anzusehen hat, dann hat man auch schon
+gewonnen. Er dreht sich um und kommt auf mich zu.
+
+„Bitte, wo wollten Sie umsteigen?“
+
+Ein ganz gerissener Bursche, dieser Kontrolleur.
+
+Ich verstehe nur das Umsteigen in diesem Augenblick, weil ich die
+übrigen Worte erst in Gedanken übersetzen muß. Aber dazu komme ich gar
+nicht, denn er sagt gleich darauf: „Bitte, lassen Sie doch mal Ihre
+Karte sehen, wenn ich sehr bitten darf.“
+
+Na, Freund, wenn du noch so höflich bist und noch so höflich bittest, es
+tut mir sehr leid, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen.
+
+„Ich habe es gewußt“, sagt er ganz ruhig und unauffällig. Ich bin
+überzeugt, die übrigen Fahrgäste haben gar nicht beachtet, was für eine
+Tragödie sich hier abspielt.
+
+Der Mann nimmt sein Notizbuch, schreibt etwas und geht dann weiter.
+Vielleicht hat er ein gutes Herz und vergißt mich. Aber in Toulouse auf
+dem Bahnhof werde ich schon erwartet. Ohne Blechmusik, aber mit einem
+Auto.
+
+Es ist ein sehr gutes Automobil, feuer- und einbruchsicher, und ich kann
+während der Fahrt nicht hinausfallen und sehe von meinem Fenster nur
+einen Teil der obersten Stockwerke der Häuser, an denen wir
+vorübersausen. Es ist ein Spezialauto für Gäste, die man hier
+bewillkommnen möchte, denn aller Verkehr hat meinem Auto Platz zu
+machen, so daß es unbehindert durchfahren kann. Auf jeden Fall sind die
+Autos in Toulouse eine Marke, die ich noch nicht kenne. Weder Ford noch
+Dodge Brothers werden hier auf Absatz rechnen können, oder sie müßten
+sich den hiesigen Ansprüchen besser anpassen.
+
+Aber ich weiß schon, wo ich landen werde. Wenn mir irgendetwas
+merkwürdig vorkommt an den Sitten und Gebräuchen in europäischen
+Ländern, dann bin ich immer auf dem Wege zu einer Polizeistation oder
+unter den Fittichen von Cops. Ich habe daheim nie in meinem Leben je
+etwas mit der Polizei oder mit dem Gericht zu tun gehabt. Hier kann ich
+ruhig auf einer Kiste sitzen oder unschuldig im Bett liegen oder über
+eine Wiese spazierengehen oder in einem Eisenbahnzuge fahren, immer
+lande ich auf einer Polizeistation. Kein Wunder, daß Europa vor die
+Hunde geht. Die Leute haben ja gar keine Zeit zu arbeiten, sieben Achtel
+ihres Lebens haben sie auf Polizeistationen oder mit Polizisten zu
+vergeuden. Darum sind die Leute auch immer so gereizt und machen so gern
+Krieg, weil sie sich ewig mit der Polizei herumzanken müssen und die
+Polizei sich mit ihnen herumzankt. Wir sollten den europäischen Ländern
+keinen Nickel mehr pumpen, sie geben es ja doch bloß aus, um ihre
+Polizei noch weiter zu vermehren. Keinen Nickel mehr, no, Sir.
+
+„Von wo kommen Sie?“
+
+Der Hohepriester sitzt wieder vor mir. Sie sind alle gleich. In Belgien,
+in Holland, in Paris, in Toulouse. Immer müssen sie fragen, und immer
+wollen sie alles wissen. Und selber begeht man immer wieder den großen
+Fehler, daß man überhaupt antwortet. Man sollte ganz still sein, gar
+nichts sagen und die raten lassen. Dann kämen sie alle bald ins
+Irrenhaus, oder sie würden die Folter wieder einführen. Aber würde man
+nie antworten, dann würden die Cops ja noch dümmer werden, als sie schon
+sind.
+
+Das soll man aber auch erst aushalten, da zu sitzen oder zu stehen und
+immerfort gefragt werden und nichts antworten. Das verfluchte Maul redet
+ganz von selbst, sobald einem eine Frage entgegengeschleudert wird. Das
+macht die lange Gewohnheit. Es ist unerträglich, einen Fragesatz
+schwebend in der Luft hängen zu lassen, ohne ihn durch eine Antwort
+wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine unbeantwortete Frage läßt
+einem keine Ruhe, läuft immer hinter einem her, drängt sich in die
+Träume und raubt einem die Ruhe zum Arbeiten und zum Denken. Das eine
+Wort „Warum?“ mit einem Fragezeichen dahinter ist der Zentralpunkt aller
+Kultur, Zivilisation und Entwicklung. Ohne dieses eine Wort sind die
+Menschen nichts weiter als Affen, und wenn man den Affen dieses
+Zauberwort gibt, werden sie sofort Menschen. Yes, Sir.
+
+„Von wo Sie kommen, will ich wissen!“
+
+Da habe ich nun mal den Versuch gemacht, nicht zu antworten, aber jetzt
+halte ich es schon nicht mehr aus. Ich muß ihm etwas erzählen. Soll ich
+nun sagen, daß ich von Paris käme? Oder soll ich lieber sagen, ich käme
+von Limoges. Wenn ich Limoges sage, machen sie es vielleicht acht Tage
+billiger, weil Limoges ja nicht so weit ist wie Paris.
+
+„Ich bin in Limoges eingestiegen.“
+
+„Das ist nicht richtig, Mann, Sie sind in Paris eingestiegen.“
+
+Sieh mal an, wie gut die raten können.
+
+„Nein, ich bin nicht in Paris eingestiegen, sondern nur in Limoges.“
+
+„Aber Sie haben doch hier eine Bahnsteigkarte von Paris in der Tasche.“
+
+Da haben sie also schon wieder meine Taschen durchsucht. Ich habe das
+gar nicht gemerkt, weil ich schon so daran gewöhnt bin, daß es mir gar
+nicht mehr auffällt.
+
+„Oh, die Bahnsteigkarte habe ich schon lange.“
+
+„Wie lange?“
+
+„Sechs Wochen wenigstens.“
+
+„Das ist aber merkwürdig. Die Karte hat das Datum von gestern
+vormittag.“
+
+„Dann ist sie irrtümlicherweise vordatiert worden“, sage ich.
+
+„Offenbar. Also Sie sind in Paris eingestiegen.“
+
+„Aber von Paris bis Limoges habe ich bezahlt.“
+
+„Jedenfalls. Und Sie sind ein so guter Bezahler, daß Sie außer Ihrer
+Fahrkarte auch noch die Bahnsteigkarte gekauft haben, die Sie gar nicht
+brauchten, wenn Sie eine Fahrkarte hatten. Wenn Sie aber eine Karte bis
+Limoges hatten, wo ist dann diese Karte.“
+
+„Die habe ich in Limoges abgegeben,“ antworte ich.
+
+„Dann hätten Sie aber doch eine Bahnsteigkarte von Limoges haben müssen.
+Aber lassen wir das. Wollen wir erst einmal die Personalien festhalten.“
+
+Gut, wenn sie nur die Personalien festhalten, das ist mir lieber, als
+wenn sie mich mit festhalten.
+
+„Nationalität?“
+
+Eine heikle Frage jetzt. Ich habe so ein Ding nicht mehr, seitdem ich
+nicht beweisen kann, daß ich geboren bin. Ich könnte es eigentlich mit
+Franzose versuchen. Der Konsul hat mir ja erzählt, daß es Tausende von
+Franzosen gäbe, die nicht französisch sprechen können und doch Franzosen
+sind, soweit ihre Staatsangehörigkeit in Frage kommt. Glauben wird er es
+mir ja sicher nicht. Er wird ja auch Beweise sehen wollen. Wissen möchte
+ich nur, für wen es billiger ist, ohne Fahrkarte auf der Eisenbahn zu
+fahren, für Franzosen oder für Ausländer? Aber der Ausländer kann ja
+denken, in Frankreich brauche man keine Fahrkarten und er habe in gutem
+Glauben gehandelt. Geld haben sie in meinen Taschen aber nicht gefunden,
+und das ist dann schon verdächtig.
+
+„Ich bin ein Deutscher“, platze ich nun raus; denn mir kam ganz
+plötzlich die Idee, daß ich doch mal sehen möchte, was sie mit einem
+Boche machen, wenn sie ihn ohne Paß und ohne Fahrkarte in ihrem Lande
+finden.
+
+„Also ein Deutscher. Sieh an. Wohl auch noch von Potsdam?“
+
+„Nein, nur von Wien.“
+
+„Das ist Österreich. Aber das ist ja alles dasselbe. Also Deutscher.
+Warum haben Sie denn keinen Paß?“
+
+„Den habe ich verloren.“
+
+Nun ging die ganze Reihe wieder herunter. In jedem Lande haben sie genau
+dieselben Fragen. Hat einer vom andern abgeschrieben. Erfunden wurden
+sie wahrscheinlich in Preußen oder in Rußland, denn alles, was sich um
+Einmischung in die Privatverhältnisse eines Menschen handelt, kommt aus
+einem der beiden Länder. Da sind die Leute am geduldigsten und lassen
+sich alles gefallen, und vor einem blanken Knopf nehmen sie die Mütze
+ab. Denn in jenen Ländern ist der blanke Knopf der böse Gott, den man
+verehren und anbeten muß, damit er sich nicht rächt.
+
+Zwei Tage später bekam ich vierzehn Tage Gefängnis wegen
+Eisenbahnbetrugs. Hätte ich gesagt Amerikaner, so würden sie vielleicht
+herausgekriegt haben, daß ich bereits vorbestraft war wegen
+Eisenbahnbetrugs, und dann wäre es teurer geworden. Aber meinen Namen
+erzählte ich ihnen ja auch nicht. Es hat seine Vorteile, wenn man keinen
+Paß und keine Seemannskarte hat, die jemand in den Taschen finden
+könnte.
+
+Als die Tage der Vorbereitungen abgelaufen waren, wurde ich der
+Arbeitskolonne zugewiesen. Da waren kleine merkwürdige Dinger, die aus
+Weißblech gestanzt waren. Wozu die gebraucht wurden, wußte kein Mensch,
+nicht einmal die Aufsichtsbeamten wußten es. Manche behaupteten, es sei
+ein Teil eines Kinderspielzeugs, andre sagten, es sei ein Teil eines
+Panzerschiffes, wieder andre waren überzeugt, daß es zu einem Auto
+gehöre, und einige schworen und verwetteten hereingeschmuggelten Tabak,
+daß dieser Blechschnipsel ein wichtiges Stück von einem lenkbaren
+Luftschiff sei. Ich war der festen Meinung, daß es zu einer
+Taucherausrüstung gehören müsse. Wie ich zu dieser Auffassung kam, weiß
+ich nicht. Aber die Idee hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte
+auch irgendwo einmal gelesen, daß an Taucherausrüstungen eine ganze
+Anzahl von Dingen gebraucht würde, die man sonst nirgends gebrauchen
+könne.
+
+Von diesen merkwürdigen Blechschnipseln hatte ich immer
+hundertvierundvierzig abzuzählen und auf einen Haufen zu legen. Wenn ich
+einen Haufen fertig abgezählt und neben mir liegen hatte und einen
+andern Haufen anfangen wollte, kam der Aufsichtsbeamte und fragte mich,
+ob ich auch ganz genau wüßte, daß dies hundertvierundvierzig
+Schnipselchen seien, und ob ich mich auch ja nicht etwa verzählt hätte.
+
+„Ich habe ganz genau gezählt, es sind genau hundertvierundvierzig.“
+
+„Ist das auch ganz bestimmt, kann ich mich ganz bestimmt darauf
+verlassen?“
+
+Er sah mich so sorgenvoll an, als er diese Frage an mich stellte, daß
+ich aufrichtig zu zweifeln begann, ob das auch wirklich und wahrhaftig
+hundertvierundvierzig Schnipselchen seien, und ich sagte, es sei
+vielleicht doch besser, ich zähle sie nochmal nach. Darauf sagte der
+Beamte, das sollte ich nur tun, es sei auf jeden Fall besser, damit auch
+ja kein Irrtum vorkomme; denn wenn sie nicht ganz genau gezählt seien,
+so gäbe das eine Mordsschweinerei, und er könnte vielleicht gar seinen
+Posten hier verlieren, was ihm sehr unangenehm wäre, weil er drei Kinder
+und eine alte Mutter zu versorgen hätte.
+
+Als ich nun das Häufchen das zweite Mal durchgezählt hatte und gefunden
+hatte, daß die Summe stimmte, kam gerade wieder der Beamte heran. Ich
+sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und um ihm den
+Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an seinen Sorgen
+teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun: „Ich glaube,
+ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht doch um einen
+oder gar zwei verzählt haben.“
+
+Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als
+ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft von
+fünfzigtausend Franken ausgezahlt.
+
+„Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber nochmal genau
+nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und
+der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß nicht,
+was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren, und da
+sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz wohlauf, und
+da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz genau
+hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen Sie die
+Schnipselchen überhaupt Dutzendweise, da können Sie sich nicht so leicht
+verzählen.“
+
+An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte,
+hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß
+heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt
+haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und
+brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei Wochen
+lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung zu
+tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport kommandiert wird.
+
+Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausbezahlt. Eins ist sicher, wenn
+ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen Bahn fahre und
+erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich bankrott machen.
+Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger dastände als
+Frankreich.
+
+Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch
+nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der
+französische Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann.
+
+Darum mußte ich raus aus diesem Lande.
+
+Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um
+das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen
+Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu
+denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden.
+Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen nicht raus aus
+dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation nach Deutschland.
+Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet, und ich bekam
+aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande.
+
+
+ 13
+
+Ich wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte der
+europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner neuen Nationalität. Und
+wenn mich jemand fragte, sagte ich ganz trocken: „Boche.“ Es nahm mir
+niemand übel, ich bekam überall zu essen und überall ein gutes
+Nachtquartier, bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das
+Richtige getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden. Jeder
+schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber, die aus dem Blute
+französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten, und sie seien die
+Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den Sorgen und Tränen der
+übriggebliebenen Väter und Mütter abermals Dollar herausmünzen wollen,
+weil sie nie den Rachen vollkriegen könnten, obgleich sie im Golde schon
+erstickten. Wenn wir nur einen hier hätten, einen von diesen
+amerikanischen Wucherern, wir schlügen ihn mit dem Dreschflegel tot wie
+einen alten Hund, weil er wahrhaftig nichts Besseres verdient.
+
+Verflucht nochmal, da habe ich aber Glück gehabt.
+
+„Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen
+ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen.
+Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen. Nun
+aber geht es den armen Teufeln genau so dreckig wie uns. Auch die hat
+der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch den letzten
+abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die armen Boches. Wir
+würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben ja selber nur noch
+das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner uns schon das Hemd vom
+Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt rübergekommen nach Europa? Uns
+zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns den letzten Faden noch vom Leibe zu
+ziehen. Denn wir müssen ja alles bezahlen. Wir und die armen Boches.“
+
+„Sieht man ja an Ihnen, wie dreckig es den armen Boches geht. Ganz
+verhungert sehen Sie aus. Essen Sie nur tüchtig, langen Sie zu. Nehmen
+Sie sich das beste Stück. Wenn es Ihnen nur schmeckt. Wenn sie drüben
+alle so verhungert sind wie Sie, dann gute Nacht. Aber wir haben ja
+selber nicht viel. Wo wollen Sie denn nun hin? Nach Spanien? Das ist
+recht. Das ist vernünftig. Die haben noch etwas mehr als wir. Die haben
+keinen Krieg gehabt. Aber die hat ja der Amerikaner auch so reingelegt
+mit Kuba und mit den Philippinen. Da sehen Sie es ja schon wieder. Immer
+stiehlt er uns arme Europäer aus. Als ob er drüben nicht genug hätte.
+Nein, er muß hier stehlen und wuchern kommen. Langen Sie nur tüchtig zu.
+Lassen Sie sich durch uns nicht stören, daß wir schon aufhören. Wir
+haben ja noch ein bißchen was und können uns wenigstens hin und wieder
+mal satt essen. Aber, ihr armen Boches da drüben, euch verhungern ja die
+kleinen Würmchen in der Wiege.“
+
+„Und wenn nun gar hier ein armer Teufel sich das Geld zusammengespart
+hat und will rüber zu den Amerikanern, um sich ein paar Dollar zu
+verdienen, die er seinen Eltern schicken will, da machen sie die Türe
+zu, diese Banditen. Erst stehlen sie das Land von den armen Indianern,
+und wenn sie es haben, dann lassen sie keinen mehr rein, nur damit sie
+ja ganz im Fett ersticken können, die verfluchten Hunde. Als ob sie dem,
+der überfährt, was schenken würden. Arbeiten muß er, aber feste. Die
+schlechteste Arbeit, die kein Amerikaner anfassen will, die können dann
+unsre Jungens machen.“
+
+„Wissen Sie was, Sie könnten eigentlich hier ein paar Wochen ganz gut
+arbeiten. Da können Sie sich ordentlich herausfüttern, daß Sie wieder zu
+Kräften kommen, denn Spanien ist noch weit. Mon dieu, viel bezahlen
+können wir ja nicht, dreißig Franken den Monat, acht Franken die Woche
+und die Kost und das Schlafen. Vor dem Kriege war der Lohn nur drei
+Franken die Woche, aber es ist ja jetzt alles so sündhaft teuer. Wir
+haben auch während des Krieges einen Boche hier gehabt. Einen
+Kriegsgefangenen. Er war ein so fleißiger Mann, wir waren alle recht
+traurig, als er wieder heim mußte. Sag, Antoine, der Wil’em, der Boche,
+der war doch ein sehr fleißiger Mann. Der hat tüchtig gearbeitet. Wir
+haben ihn auch alle sehr gern gehabt, und die andern Leute haben auch
+immer geredet, daß wir ihn zu gut behandeln, aber wir haben ihm doch
+alles gegeben, was wir konnten. Er hat dasselbe Essen gehabt wie wir, da
+haben wir keinen Unterschied gemacht ...“
+
+Da arbeitete ich also nun, und ich lernte bald erfahren, daß der Wil’em
+wirklich ein tüchtiger Arbeiter gewesen sein muß. Denn ich hörte jeden
+Tag ein halbes dutzendmal: „Ich weiß nicht, der Wil’em muß aus einer
+ganz andern Gegend gewesen sein als Sie. So können Sie nicht arbeiten
+wie der Wil’em. Habe ich nicht recht, Antoine?“
+
+Und Antoine bestätigte: „Ja, er ist sicher aus einer ganz andern Gegend,
+denn so kann er nicht arbeiten, wie der Wil’em es konnte. Aber es gibt
+wohl auch unter den Boches Unterschiede, genau so wie bei uns.“
+
+Der ewige Vergleich mit dem tüchtigen Wil’em, der sicher mehr von der
+Landwirtschaft verstand als ich, und der gewiß auch darum so „tüchtig“
+arbeitete, weil er lieber hier bei den Bauersleuten blieb als in das
+Internierungslager zurückgeschickt werden oder in Algier Straßen
+pflastern wollte, fiel mir bald auf die Nerven. Selbst wenn ich nur halb
+soviel gearbeitet hätte, wäre es noch um das Dreifache zuviel gewesen.
+So billig bekam der Bauer nie wieder einen Arbeiter. Acht Franken in der
+Woche. Andre Bauern hatten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Franken die
+Woche zu zahlen. Ich bekam acht. Ich war ja auch der verhungerte Boche,
+der herausgefüttert werden sollte.
+
+Als ich dann abzog, weil ich erklärte, ich müßte nun unbedingt nach
+Spanien, ich könne auf keinen Fall mehr länger warten, und vielleicht
+käme gar noch die Polizei, die es mir verbieten würde, hier zu arbeiten,
+da bekam ich für meine Arbeit von sechs Wochen im ganzen zehn Franken.
+Der Bauer sagte mir, daß er nicht mehr Geld habe. Wenn ich vielleicht
+nach Neujahr zurückkommen wolle, dann könne er mir den Rest zahlen, weil
+er dann das Geld bekäme für die Ernte, aber jetzt habe er weiter kein
+Geld. Ich sähe jetzt auch wieder ganz gesund aus, es habe mir doch gut
+getan, dieses kräftige Essen, das ich hier bekommen habe, und
+totgearbeitet hätte ich mich ja auch nicht, der Wil’em –.
+
+„Ja,“ sagte ich darauf, „der Wil’em war auch aus Westfalen, ich bin aber
+aus Südfalen und da braucht man nicht so hart arbeiten, weil alles von
+selbst wächst, da ist man so schwere Arbeit nicht gewöhnt.“
+
+„Das ist ja dann ganz verständlich“, sagte der Bauer. „Von Südfalen habe
+ich auch schon viel gehört. Das ist doch das Großherzogtum, wo die
+vielen Bernsteinbergwerke sind?“
+
+„Richtig,“ sagte ich, „das ist der Landesteil, wo die vielen Hochöfen
+sind, in denen der Königsberger Klops geschmolzen wird.“
+
+„Was? Der Königsberger Klops wird aus Eisen gemacht? Ich habe immer
+geglaubt, der wird aus gemahlener Steinkohle hergestellt.“
+
+„Das ist der gefälschte. Der wird allerdings aus gemahlener Steinkohle
+gemacht“, erwiderte ich. „Da haben Sie durchaus recht, aus gemahlener
+Steinkohle mit eingedicktem Schwefelteer. Aber der richtige, der echte
+Königsberger Klops, der wird in Hochöfen geschmolzen, der ist viel
+härter als der härteste Stahl. Damit haben ja unsre Generale die
+Torpedos gefüllt, mit denen sie die Panzerschiffe versenkten. Ich habe
+selbst an einem solchen Hochofen gearbeitet.“
+
+„Ihr seid doch schlaue Leute, das muß ich schon sagen“, erwiderte der
+Bauer. „Wir haben ja nun den Krieg gewonnen, und das nehmen wir euch
+nicht übel. Und der Krieg ist ja jetzt auch vorbei. Warum sollen wir da
+noch böse miteinander sein. Dann lassen Sie es sich nur recht gut gehen
+in Spanien.“
+
+Gelegentlich will ich doch einen Deutschen fragen, was eigentlich
+Königsberger Klops ist. Jeder, den ich gefragt habe, hat mir immer etwas
+andres erzählt, aber freilich keiner war ein Deutscher.
+
+
+ 14
+
+Die Gegend wurde ziemlich einsam, alles Gebirgsland. Klettern und
+Klettern. Die Bauern wurden immer geringer und die Hütten immer
+ärmlicher. Wasser reichlich und das Essen knapp und dürftig. Nachts
+recht hübsch kalt und selten eine Decke und oft nicht einmal einen Sack.
+Der Einmarsch in Sonnenländer ist immer mühselig, das haben nicht nur
+einzelne Menschen, sondern ganze Völker erfahren. „Die Grenze ist jetzt
+nicht mehr weit“, war mir am Morgen gesagt worden, als ich den Hirten
+verließ, in dessen elender Hütte ich geschlafen hatte, und der sein
+bißchen Käse, Zwiebeln, Brot und dünnen Wein mit mir geteilt hatte.
+
+Dann war ich auf einer Straße, die an den Bergen hochklomm und wieder
+hinunterging in die Täler, nur um abermals hochzuklimmen und wieder
+hinunterzuführen.
+
+Und auf dieser Straße kam ich endlich an ein großes hochgewölbtes Tor,
+das sehr altertümlich aussah. Zu beiden Seiten des Tores zog sich eine
+Mauer hin, die ebenso graugelb und alt aussah wie das Tor. Es schien,
+daß diese Mauer ein großes Gut einschlösse. Die Straße führte direkt
+unter dem Torbogen her.
+
+Um auf der Straße weiterzukommen, gab es gar keinen andern Weg, als
+durch das Tor zu gehen. Ich hoffte, daß die Straße über den Gutshof
+führe, an der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Tor sein werde,
+durch das man dann wieder auf die Straße komme.
+
+Ich ging drauf los, ging durch das Tor und wanderte geradeaus weiter,
+ohne jemand zu sehen.
+
+Plötzlich aber kommen zwei französische Soldaten mit Gewehr und
+aufgepflanztem Bajonett aus irgendeinem Winkel hervor, kommen auf mich
+zu und fragen mich nach einem Paß. Hier scheinen also sogar die Soldaten
+nach der Seemannskarte zu fragen.
+
+Ich erkläre ihnen, daß ich keinen Paß hätte. Dann sagen sie aber, daß
+sie nicht meinen Reisepaß sehen wollten, der kümmere sie nicht, sie
+möchten lediglich meinen Paß sehen, der vom französischen
+Kriegsministerium in Paris ausgefertigt sei und mir das Recht gebe, hier
+in den Festungswerken ohne Begleitung herumzulaufen.
+
+„Das habe ich nicht gewußt, daß dies hier Festungswerke sind“, sage ich,
+„ich bin immer auf der Straße geblieben und habe geglaubt, das sei der
+Weg zur Grenze.“
+
+„Die Straße zur Grenze biegt eine Stunde vorher rechts ab. Da war ein
+Schild. Haben Sie das nicht gesehen?“
+
+„Nein. Das Schild habe ich nicht gesehen.“
+
+Ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Straße rechts abbiegen sah. Ich
+erinnere mich aber auch, daß ich eine ganze Anzahl von Straßen in den
+letzten Tagen rechts und links abbiegen sah. Aber ich hielt es für
+besser, immer in der geraden Richtung fortzugehen, die nach Süden führt.
+Das war für mich die Zielrichtung. Ich habe so viele Schilder gesehen.
+Aber was gingen mich denn die Schilder alle an? Wenn sie die Namen eines
+Ortes nannten, so wußte ich ja nicht, ob der Ort näher zur Grenze lag
+oder weiter. Am Ende wäre ich immer im Kreise herumgelaufen und nie nach
+Spanien gekommen, wenn ich allen Schildern nachgelaufen wäre. Eine
+Karte, auf der ich die Ortsnamen hätte ablesen können, besaß ich ja
+nicht.
+
+„Wir müssen Sie zum wachthabenden Offizier bringen.“ Die beiden Soldaten
+nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ab.
+
+Der wachthabende Offizier war ein noch junger Mann. Er wurde sehr ernst,
+als er hörte, was los sei.
+
+Dann sagte er: „Sie müssen erschossen werden. Innerhalb vierundzwanzig
+Stunden. Laut Kriegsgrenzgesetz. Artikel –“, hier nannte er eine Nummer,
+die mich nicht interessierte.
+
+Als der junge Offizier das sagte, wurde er ganz bleich und konnte kaum
+die Worte hervorbringen. Er mußte sie hervorwürgen.
+
+Ich durfte mich setzen, aber die beiden Soldaten mit aufgepflanztem
+Bajonett blieben neben mir stehen. Der junge Offizier nahm einen Bogen
+Papier her und versuchte zu schreiben. Aber er war zu aufgeregt und
+mußte es sein lassen. Endlich nahm er sich aus seinem silbernen Etui
+eine Zigarette. Er wollte sie in den Mund stecken, aber sie fiel ihm
+herunter, und ich sah, wie seine Hände zitterten. Um es zu verbergen,
+nahm er abermals eine Zigarette heraus und brachte sie nun mit einer
+ganz steifen langsamen Armbewegung in den Mund. Das Zündholz ging ihm
+dreimal aus. Ehe er das vierte anstrich, fragte er mich: „Rauchen Sie?“
+Dann drückte er auf einen Knopf, und es kam eine Ordonnanz, der er den
+Befehl gab, zwei Pakete Zigaretten aus der Kantine zu holen, auf seinen
+Namen. Ich bekam dann die Zigaretten und durfte rauchen, während die
+beiden Soldaten neben mir standen wie Götzenbilder und sich nicht
+rührten.
+
+Als sich der Offizier beruhigt hatte, nahm er ein Buch, suchte darin
+herum und las einzelne Stellen. Dann nahm er wieder ein andres Buch und
+las auch in diesem, verschiedene Stellen aufsuchend und sie mit andern
+vergleichend.
+
+Es war merkwürdig. Ich, der ich doch das Opfer war, empfand nicht eine
+Spur von Aufregung. Als der Offizier mir sagte, daß ich innerhalb
+vierundzwanzig Stunden erschossen werden müsse, machte das auf mich
+keinen tieferen Eindruck, als ob er gesagt hätte: „Machen Sie, daß Sie
+hier herauskommen, aber schleunigst.“
+
+Es ließ mich kalt wie Pflasterstein.
+
+Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange tot.
+Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im Leben
+einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn
+ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf der Welt,
+konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich jemand
+erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein
+Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet.
+
+Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja
+sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bureaukratismus,
+keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind noch ganz
+andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus dem Universum
+ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten, die
+ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und abgeleugnet
+werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und vertiefen will
+auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament des Universums
+ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen, nicht aus Herden.
+Es besteht durch das Gegeneinanderwirken von Individuen. Und es bricht
+zusammen, wenn die freie Beweglichkeit der einzelnen Individuen
+beschränkt wird. Die Individuen sind die Atome des Menschengeschlechts.
+
+Vielleicht auch blieb die angekündigte Erschießung darum ohne jeden
+Eindruck auf mich, weil ich das schon einmal durchgekostet hatte und
+damals mit allen Grauen, die damit verknüpft sind. Aber Wiederholungen
+schwächen ab, selbst wenn es sich um wiederholte Todesurteile handelt.
+Einmal davongekommen, kommst du immer davon.
+
+Was auch das Motiv meiner schwachen Empfindung gegenüber der angedrohten
+Todesstrafe sein mochte, jedenfalls war es mir ganz ausgelaugter
+Kaffeesatz.
+
+„Haben Sie Hunger?“ fragte jetzt der Offizier.
+
+„Aber tüchtig, das können Sie mir glauben“, sagte ich.
+
+Der Offizier wurde über und über rot und fing laut an zu lachen.
+
+„Sie haben Nerven!“ sagte er unter Lachen. „Haben Sie geglaubt, ich
+scherze?“
+
+„Womit?“ fragte ich. „Doch nicht etwa mit dem angebotenen Essen? Das
+wäre mir gar nicht lieb.“
+
+„Nein,“ antwortete der Leutnant, und er wurde ein wenig ernster, „mit
+dem Erschießen.“
+
+„Das habe ich so ernst genommen, wie Sie es meinten. Wortwörtlich. Wenn
+das in Ihrem Gesetz steht, dann müssen Sie das auch tun. Aber Sie haben
+doch auch gesagt, laut Gesetz innerhalb vierundzwanzig Stunden. Jetzt
+ist doch erst eine Viertelstunde um, und Sie denken doch nicht etwa, daß
+ich die übrigen dreiundzwanzig und dreiviertel Stunden hungere, nur des
+Erschießens wegen. Wenn Sie mich erschießen wollen, können Sie mir auch
+etwas Gutes zu essen geben. Das will ich Ihrem Staat denn doch nicht
+schenken.“
+
+„Sie sollen was Gutes zu essen haben. Werde ich anordnen. Sonntagsessen
+für Offiziere, Doppelportion.“
+
+Da will ich doch sehen, was französische Offiziere Sonntags essen. Mich
+zu vernehmen oder mich nach meiner Seemannskarte zu fragen, hielt der
+Offizier für nicht nötig. Endlich hatte ich einmal einen Menschen
+getroffen, der nichts über meine Privatverhältnisse wissen wollte. Nicht
+einmal meine Taschen wurden durchsucht. Aber der Leutnant hatte recht,
+wenn das Erschießen feststand, so lohnte es nicht die Mühe, Vernehmungen
+zu machen und Taschen durchzuwühlen. Das Resultat war ja immer dasselbe.
+
+Es dauerte eine gute Weile, ehe ich mein Essen bekam. Dann wurde ich in
+einen andern Raum geführt, wo ein Tisch stand, der mit einer Tischdecke
+bedeckt war, auf der die Gerätschaften in verlockender Weise aufgestellt
+waren, die mir das Essen erleichtern und verschönern sollten. Es war nur
+für eine Person gedeckt, aber Teller, Gläser, Messer, Gabeln und Löffel
+waren in einer solchen Menge vorhanden, daß sie gut für sechs Personen
+reichen konnten.
+
+Meine Wachtposten waren inzwischen abgelöst worden; ich hatte zwei neue
+bekommen. Einer stand jetzt an der Tür und einer hinter meinem Stuhl.
+Beide mit aufgepflanztem Bajonett, Gewehr bei Fuß. Draußen vor den
+Fenstern sah ich aber auch noch zwei auf und ab patrouillieren mit
+geschultertem Gewehr. Ehrenwachen.
+
+Sie brauchten keine Angst zu haben, sie hätten ruhig Karten spielen
+gehen können in die Kantine; denn solange ich nicht das Sonntagsessen
+für Offiziere, Doppelportion, innerhalb meines Leders hatte, wäre ich
+nicht einen Schritt fortgegangen.
+
+Nach den vielen verschiedenen Messern, Gabeln, Löffelchen, großen
+Tellern, kleinen Tellern, Glastellerchen und großen und kleinen Wein-
+und Likörgläsern zu urteilen, die vor mir standen, mußte ich ja etwas
+erwarten, wovon mich auch eine dreifache Todesstrafe nicht hätte
+verscheuchen können. Verglichen mit jenem Napf, in dem ich meine
+belgische Henkersmahlzeit vorgesetzt bekommen hatte, stand mir hier kein
+Kartoffelsalat mit Leberwurst bevor. Ich hatte nur eine einzige Sorge,
+und das war die, ob ich auch alles werde essen können, ob ich nicht etwa
+werde irgend etwas liegen lassen müssen, das mir die letzte Stunde
+meines Daseins mit den Folterqualen bitterer Reue anfüllen könnte, weil
+ich unausgesetzt daran denken müßte, wie es nur möglich war, daß ich
+gerade das liegen ließ.
+
+Endlich wurde es ein Uhr und endlich auch einundeinhalb Uhr. Und da tat
+sich die Tür auf und das Fest begann.
+
+Zum ersten Male in meinem Leben lernte ich erfahren, was für Barbaren
+wir sind, und was für kultivierte Leute die Franzosen sind, und ich
+lernte ferner erfahren, daß die Nahrungsmittel des Menschen nicht
+gekocht, gebraten, geschmort, geröstet oder gebacken werden dürfen,
+sondern daß sie zubereitet werden müssen, und daß dieses Zubereiten eine
+Kunst ist, ach nein, keine Kunst, es ist eine Gabe, die einem Begnadeten
+und Auserlesenen in die Wiege gelegt wird, wodurch er Genie wird.
+
+Auf der Tuscaloosa war das Essen gut, vorzüglich. Aber nach dem Essen
+konnte ich immer sagen, was es gegeben hatte. Das konnte ich hier nicht.
+Was es hier gab, und wie es schmeckte, das war wie ein Gedicht, bei dem
+man träumt, und bei dem man in Seligkeiten versinkt, und wenn man später
+gefragt wird: „Wovon handelte es denn?“ man zu seinem größten Erstaunen
+bekennen muß, daß man darauf nicht geachtet habe.
+
+Der Künstler, der dieses Gedicht geschaffen hatte, war fürwahr ein
+großer Künstler. Er ließ kein Gefühl der Reue übriggebliebener
+Verszeilen wegen in mir zurück. Jedes Gericht war so sorgfältig
+abgewogen und abgeschätzt in allen seinen Nähr- und Genußwerten, daß man
+kein Gabelspitzchen voll übrigließ, den nächsten Gang mit erhöhtem Genuß
+erwartete, und wenn er kam, mit Fanfaren zu begrüßen gedachte. Dieses
+Fest dauerte etwa einundeineviertel Stunde oder mehr, es hätte dauern
+können vier Stunden lang, und ich hätte nichts übriggelassen. Immer
+wieder kam noch ein solcher Bissen, dann noch ein solcher Happen, dann
+wieder eine solche kandierte Frucht, dann wieder eine Creme, und nach
+jedem Gang wollte man einen weiteren sehen. Als aber dann endlich alles
+vorüber war – Schönes geht ja viel schneller zu Ende als Trübes – als
+auch alle die Liköre, Weine, Weinchen und Tröpfchen den Weg aller guten
+Tropfen gegangen waren, als endlich der Kaffee, süß wie ein Mädel am
+ersten Abend, heiß wie sie am siebenten und schwarz wie die Flüche der
+Mutter, wenn sie es erfährt, vorüber war, fühlte ich mich aufgefüllt wie
+ein Sack, aber ich fühlte mich wohlig und paradiesisch satt mit einer
+leisen, zart angedeuteten Sehnsucht auf das Abendessen. Meine Herren!
+Das war ein Essen, das nenne ich Kunstwerk. Dafür lasse ich mich jeden
+Tag zweimal mit Freuden erschießen.
+
+Ich rauchte eine Importe, aus der ich alle Düfte und Sonnentänze
+Westindiens sog. Dann legte ich mich auf das Feldbett, das in dem Raume
+stand, und sah den blauen Wolken nach.
+
+Oh, was ist das Leben schön! Wunderschön! So schön, daß man sich mit
+einem dankbaren Lächeln auf den Lippen erschießen läßt, ohne durch
+Murren oder Wimmern die Harmonie des Lebens zu stören.
+
+
+ 15
+
+Einige Stunden waren vergangen, als der Leutnant hereinkam. Ich stand
+auf, aber er sagte mir, daß ich nur ruhig liegen bleiben möge, er wolle
+mir nur mitteilen, daß der Kommandant nicht erst morgen abend
+zurückkommen werde, wie er angesagt hätte, sondern schon morgen früh,
+also vor Ablauf meiner vierundzwanzig Stunden. Er habe dadurch die
+Möglichkeit, die Angelegenheit dem Kommandeur selbst zu übertragen. –
+„Freilich“, fügte er hinzu, „an Ihrem Schicksal ändert das nichts. Das
+Kriegsgesetz ist hier sehr eindeutig und läßt keine Lücke offen.“
+
+„Der Krieg ist doch aber vorbei, Mr. Leutnant“, sagte ich.
+
+„Gewiß. Aber wir befinden uns noch im Kriegszustande, und wahrscheinlich
+solange, bis alle Verträge endgültig geregelt sind. Unsre Grenzforts
+haben ihre Reglements noch nicht um einen Punkt geändert, sie sind zur
+Stunde genau noch so, wie sie während der Dauer des Krieges waren. Die
+spanische Grenze wird wegen der bedrohlichen Verhältnisse in unsrer
+nordafrikanischen Kolonie augenblicklich vom Kriegsministerium als
+größere Gefahrzone bezeichnet als unsre östliche Grenze.“
+
+Mich interessierte das sehr wenig, was er mir über Gefahrzonen und
+Reglements erzählte. Was kümmerte mich denn die französische Politik.
+Mich interessierte nach meinem gesunden Mittagsschlaf ganz etwas andres,
+und das wollte ich ihn auch gleich wissen lassen.
+
+Er wollte gehen, sah mich aber noch an und fragte dann lächelnd: „Ich
+hoffe, Sie fühlen sich den Umständen angemessen entsprechend wohl. Ist
+Ihnen das Essen bekommen?“
+
+„Ja, danke.“
+
+Nein, ich konnte es nicht ungesagt lassen:
+
+„Verzeihen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich auch wieder Abendessen?“
+
+„Natürlich. Glauben Sie denn, wir lassen Sie verhungern. Selbst wenn Sie
+auch ein Boche sind, verhungern lassen wir Sie doch nicht. In wenigen
+Minuten bekommen Sie Ihren Kaffee.“
+
+Ich druckste ein wenig, man möchte doch gegen seinen Gastgeber nicht
+unhöflich sein. Aber schiet, was braucht ein zum Tode Verurteilter noch
+länger höflich sein.
+
+„Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich wieder Offiziersessen.
+Doppelportion?“
+
+„Selbstverständlich. Was dachten Sie denn? Das ist in der Verordnung. Es
+ist Ihr letzter Tag. Wir werden Sie doch nicht mit einem schlechten
+Andenken an unser Fort zu – zum – also hinwegschicken.“
+
+„Seien Sie unbesorgt, Herr Leutnant, ich behalte das Fort in gutem
+Andenken. Sie können mich ruhig erschießen. Nur nicht gerade in dem
+Augenblick, wo das Offiziersessen, Doppelportion, auf dem Tisch steht.
+Das wäre eine barbarische Handlung, die ich Ihnen nie vergessen würde,
+und die ich oben auch gleich bei meiner Ankunft melden müßte.“
+
+Eine Weile sah mich der Offizier an, als hätte er mich nicht richtig
+verstanden. Es war ja auch nicht so leicht, sich aus meinen Brocken
+klarzumachen, was ich meinte. Aber plötzlich begriff er und verstand er.
+Und da lachte er so, daß er zum Tisch kommen mußte, um sich
+festzuhalten. Die beiden Soldaten hatten wohl etwas verstanden, jedoch
+den wahren Sinn nicht begriffen. Sie standen ganz starr da wie Puppen.
+Aber von dem Lachen ihres Leutnants wurden sie schließlich doch
+angesteckt und lachten mit, ohne zu wissen, worum es ging, und wer die
+Kosten dieses Lachens trug. –
+
+Der Kommandeur war sehr früh zurückgekommen, und um sieben Uhr morgens
+wurde ich ihm vorgeführt.
+
+„Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen?“
+
+„Was für Schilder?“
+
+„Nun, jene Schilder, auf denen geschrieben steht, daß dies hier
+militärisches Gebiet ist, und daß, wer innerhalb dieses Gebietes
+angetroffen wird, nach Kriegsrecht behandelt wird. Das bedeutet, daß Sie
+ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt sind und erschossen
+werden.“
+
+„Das weißt ich bereits.“
+
+„Also die Schilder haben Sie nicht gesehen?“
+
+„Nein. Und wenn ich sie gesehen habe, so habe ich nicht darauf geachtet.
+Ich kann auch gar nicht lesen, was darauf steht. Lesen kann ich es zwar,
+aber nicht verstehen.“
+
+„Sie sind Holländer, nicht wahr?“
+
+„Nein, ich bin ein Boche.“
+
+Wenn ich gesagt hätte, ich bin der Teufel und komme soeben auf direktem
+Wege aus der Hölle, um den Kommandanten persönlich abzuholen, er hätte
+kein erstaunteres Gesicht machen können.
+
+„Ich habe geglaubt, Sie seien Holländer. Sie sind Offizier in der
+deutschen Armee oder sind es wenigstens gewesen, nicht wahr?“
+
+„Nein, ich war nie Soldat in der deutschen Armee.“
+
+„Warum nicht?“
+
+„Ich bin ein C. O., ein Mann, der die ganze Zeit, während der Krieg
+dauerte, im Gefängnis saß.“
+
+„Wegen Spionage?“
+
+„Nein, weil die Deutschen glaubten, ich würde den Krieg nicht erlauben.
+Und da hatten sie solche Angst, daß sie mich und noch ein halbes Dutzend
+Leute, die den Krieg auch nicht erlauben wollten, ins Gefängnis
+steckten.“
+
+„Da hätten Sie und das halbe Dutzend Ihrer Mitgefangenen den Krieg also
+verhindern können?“
+
+„Wenigstens die Boches glaubten das von mir. Vorher hatte ich nicht
+gewußt, daß ich ein so starker Mann bin. Aber dann erfuhr ich es, weil
+sie mich ja sonst nicht hätten einsperren brauchen.“
+
+„In welchem Festungsgefängnis haben Sie denn da gesessen?“
+
+„In – in – in Südfalen.“
+
+„In welcher Stadt?“
+
+„In Deutschenburg.“
+
+„Den Ort habe ich nie gehört.“
+
+„Ja, da wird nur wenig davon gesprochen. Das ist eine ganz geheime
+Festung, die sogar die Boches selber nicht kennen.“
+
+Der Kommandant wandte sich nun an den Leutnant: „Wußten Sie, daß der
+Mann ein Deutscher ist?“
+
+„Jawohl, er hat es mir sofort gesagt.“
+
+„Sofort gesagt, ohne erst Ausflüchte zu machen?“
+
+„Jawohl.“
+
+„Hat er einen photographischen Apparat gehabt, Karten, Bilder,
+Zeichnungen, Pläne oder etwas derart?“
+
+„Nein, offen nicht. Ich habe ihn nicht durchsuchen lassen, er war immer
+unter Aufsicht und konnte nichts verbergen.“
+
+„Das war richtig. Wir werden sehen, was er hat.“
+
+Nun kamen zwei Korporale, und die durchsuchten mich. Aber sie hatten
+kein Glück. Alles, was sie fanden, waren ein paar Franken, ein
+zerrissenes Taschentuch, ein kleines Kämmchen und ein Stück Seife. Die
+Seife trug ich bei mir als Legitimation, daß ich einer zivilisierten
+Rasse angehöre, denn an meinem Äußern hätte man das nicht immer erkennen
+können. Und eine Legitimation mußte ich ja schließlich doch wohl haben.
+
+„Schneiden Sie die Seife auf,“ wurde dem Korporal angeordnet. Aber auch
+inwendig war nichts andres als Seife. Der Kommandant hatte offenbar
+geglaubt, daß innen Schokolade wäre.
+
+Dann mußte ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, und die Sohlen meiner
+Stiefel wurden durchsucht.
+
+Aber wenn schon alle die vielen Polizisten das nicht gefunden hatten,
+was die Leute alle gern von mir haben wollten, und die hatten doch auch
+gut verstanden, wie durchsucht werden muß, so fanden es die Korporale
+noch viel weniger. Wenn die Leute doch nur sagen wollten, was sie immer
+suchen, dann würde ich ihnen ja gern sagen, ob ich es habe oder nicht.
+Dann könnten sie sich die Mühe sparen. Freilich dann hätten sie wieder
+keine Arbeit.
+
+Es muß ein sehr wertvolles Ding sein, was die in allen Ländern in meinen
+Taschen suchen. Vielleicht die Pläne einer verschütteten Goldmine oder
+eines versandeten Diamantenfeldes. Der Kommandant hätte sich beinahe
+verraten, denn er sprach schon von Plänen; aber rasch fiel ihm ein, daß
+er das große tiefe Geheimnis, das nur Cops und Soldaten wissen dürfen,
+nicht verraten darf.
+
+„Ich verstehe nur eins nicht,“ wandte sich der Kommandant wieder an den
+Leutnant, „wie es möglich war, daß er die Posten an den Außenwerken
+passieren konnte, ohne gesehen zu werden und ohne aufgehalten zu
+werden?“
+
+„Um diese Stunde ist nur wenig Verkehr auf den zuführenden Straßen. Ich
+hatte, dem Befehl des Herrn Kommandanten Folge leistend, für die Zeit
+Exerzieren in einem gegenüberliegenden Werk angeordnet, und es blieben
+hier nur Patrouillen zurück, die an den Straßen die Zugänge zu
+beobachten haben. Er ist dann sicher zwischen zwei Patrouillen
+durchgeschlüpft. Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich aus dieser
+Erfahrung heraus dem Herrn Kommandanten den Vorschlag unterbreiten, die
+Übungen nur in drittel Formationsstärke abzuhalten, um die Wachen nicht
+zu schwächen.“
+
+„Wir hatten geglaubt, es sei keine Annäherung möglich. Ich hatte mich an
+die gegebenen Vorschriften zu halten, deren Lücken ich, wie Sie sich
+wohl erinnern, rapportiert habe. Ich habe nun eine starke Stellung,
+unsern Entwurf durchzudrücken. Das ist etwas wert. Meinen Sie nicht?“
+
+Was mich das eigentlich anging, welchen Entwurf sie für besser hielten.
+Warum sie nur das alles in meiner Gegenwart ausmachten? Aber warum
+sollten sie auch ein Blatt vor den Mund nehmen, vor einem Toten?
+
+„Wo kommen Sie denn her?“ fragte mich nun der Kommandant.
+
+„Von Limoges.“
+
+„Wo sind Sie denn über die Grenze gegangen?“
+
+„In Straßburg.“
+
+„In Straßburg? Das liegt doch gar nicht an der Grenze.“
+
+„Ich meine da, wo die amerikanischen Truppen liegen.“
+
+„Sie meinen im Moselgebiet? Dann sind Sie also im Saargebiet
+herübergekommen?“
+
+„Ja, das wollte ich sagen. Ich habe Straßburg mit Saarsburg
+verwechselt.“
+
+„Was haben Sie denn hier die ganze Zeit in Frankreich gemacht?
+Herumgebettelt?“
+
+„Nein. Ich habe gearbeitet. Bei Bauern. Und wenn ich wieder ein wenig
+Geld hatte, habe ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin wieder ein Stück
+weitergefahren, bis ich wieder bei einem Bauern gearbeitet habe und
+wieder eine Fahrkarte kaufen konnte.“
+
+„Wo wollten Sie denn jetzt hin?“
+
+„Nach Spanien.“
+
+„Was wollen Sie denn in Spanien?“
+
+„Sehen Sie, Herr Kommandeur, nun kommt bald der Winter, und ich habe
+kein Feuerungsmaterial angespart. Da habe ich denn gedacht, ich gehe
+besser beizeiten nach Spanien, da ist es auch im Winter schön warm, und
+da braucht man kein Feuerungsmaterial, da kann man sich ruhig in die
+Sonne setzen und den ganzen Tag Apfelsinen und Weintrauben essen. Die
+wachsen da ja wild im Chausseegraben, man braucht sie nur abzupflücken,
+und die Leute sind froh, wenn man sie abpflückt, weil das für die
+Spanier nur Unkraut ist, das sie nicht haben wollen.“
+
+„Also nach Spanien wollen Sie?“
+
+„Wollte ich. Jetzt geht es ja nicht mehr.“
+
+„Warum?“
+
+„Weil ich doch erschossen werde.“
+
+„Wenn ich Sie jetzt nicht erschießen lasse und Ihnen sage, Sie gehen auf
+dem schnellsten Wege zurück nach Deutschland, und Sie können frei gehen
+unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Deutschland zurückkehren,
+würden Sie mir das versprechen?“
+
+„Nein.“
+
+„Nein?“ Er sah den Leutnant merkwürdig an.
+
+„Lieber erschießen. Nach Deutschland gehe ich nicht. Ich bezahle keine
+Schulden mit. Aber davon abgesehen. Ich habe mir vorgenommen, daß ich
+nach Spanien gehen will, und ich gehe nach Spanien und nirgendwo anders
+hin. Wenn ich wohin gehen will, gehe ich da hin. Wenn ich erschossen
+werde, kann ich nicht hingehen. Spanien oder den Tod. Nun können Sie mit
+mir machen, was Sie wollen.“
+
+Nun lachte der Kommandant, und auch der Leutnant lachte. Und der
+Kommandant sagte lachend: „Lieber Junge, das hat Sie gerettet. Ich will
+Ihnen nicht sagen, warum, damit es nicht mißbraucht wird. Aber Sie haben
+mich davon überzeugt, daß ich Sie frei gehen lassen darf, ohne daß ich
+meine Pflicht verletze. Was sagen Sie, Leutnant?“
+
+„Ich halte die Auffassung des Herrn Kommandanten für die allein
+richtige, und ich finde nichts, was mein Gewissen oder meine Ehre
+belasten könnte.“
+
+Der Kommandant sagte nun: „Sie werden jetzt sofort unter Bedeckung zur
+Grenze gebracht und der spanischen Grenzwache übergeben. Ich brauche Sie
+wohl nicht noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn Sie
+je wieder hier in der Nähe, auch wenn es nicht auf rein militärischem
+Gebiete ist, gesehen werden sollten, daß dann keine Frage mehr besteht,
+in welcher Form sich Ihr Schicksal innerhalb der nächsten zwei Stunden
+nach dem Ergreifen gestaltet. Haben Sie genau verstanden, was ich damit
+meine?“
+
+„Jawohl, Herr Kommandant.“
+
+„Gut, das ist alles. Sie gehen sofort.“
+
+Ich blieb aber stehen und trat von einem Fuß auf den andern.
+
+„Noch was?“ fragte der Kommandant.
+
+„Darf ich eine Frage an den Herrn Leutnant richten?“
+
+Nicht nur der Kommandant schien zu erstarren, sondern erst recht der
+Leutnant. Der Kommandant warf einen Blick auf den Leutnant, als ob er
+ihn schon vor dem Kriegsgericht sähe. Er vermutete richtig: der Leutnant
+war in der Tat im Bunde mit mir.
+
+„Bitte, richten Sie Ihre Frage an den Herrn Leutnant.“
+
+„Verzeihen der Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt.“
+
+Der Kommandant und der Leutnant platzten in ein schallendes Gelächter
+aus, und der Kommandant brüllte rüber zum Leutnant: „Nun ist wohl kein
+Zweifel mehr, daß der Mann unverdächtig ist.“
+
+„Der Zweifel war mir gestern schon geschwunden,“ sagte der Leutnant,
+„als ich ihn fragte, ob er Hunger habe.“
+
+„Gut, Sie sollen auch ein Frühstück haben“, sagte der Kommandant noch
+immer lachend.
+
+Aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen.
+
+„Herr Leutnant, da es doch schon mein letztes Essen, mein Abschiedsessen
+ist, darf ich um Offiziersfrühstück, Doppelportion, bitten? Ich möchte
+doch das Fort so gern in einem recht guten Andenken behalten.“
+
+Der Kommandant und der Leutnant brüllten vor Lachen, daß das ganze Fort
+zu erzittern schien.
+
+Und unter seinem bärenhaften Lachen schrie der Kommandant die Worte
+hervor, die er nur mühselig in Reihe halten konnte, weil sie immer
+wieder von seinem schreienden, brüllenden Lachen abgehackt wurde: „Das
+ist der echte verhungerte Boche, wenn er schon am Ersaufen ist, wenn ihm
+schon der Strick um den Hals gelegt ist, will er erst noch essen und
+essen und nochmal essen. Diese verfressene Teufelsbrut kriegen wir nie
+unter.“
+
+Ich hoffe, daß die Boches für diese gute Meinung, die ich zwei
+französischen Offizieren über sie eingeflößt habe, mir ein anständiges
+Denkmal errichten werden. Nur nicht in der Siegesallee, dann lieber
+nicht. Da würde ich den schlechten Geschmack im Munde nie los, und
+unzulängliche Revolutionen würden mir als Gespenster erscheinen.
+
+
+ 16
+
+Zwei Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr begleiteten mich. So wanderte
+ich in das sonnige Spanien ein. Mit allen militärischen Ehren. Die
+Soldaten brachten mich zur Grenzwache, und dort wurde ich den spanischen
+Grenzbeamten übergeben.
+
+„Papiere hat er keine“, sagte der mich begleitende Korporal. – „Es
+aleman?“ fragte der Spanier.
+
+„Si, Senjor,“ sagte ich. „Seien Sie willkommen!“ antwortete darauf der
+Spanier, und zu dem Korporal sagte er, es sei gut, er würde mich
+hierbehalten. Der Korporal sah nach seiner Uhr und schrieb dann etwas
+auf einen Rapportzettel. Dann machten die beiden Soldaten kehrt und
+zogen ab. – „Good-bye, France!“
+
+Die Grenze Frankreichs entschwand meinen Blicken.
+
+Der spanische Beamte schleifte mich nun gleich in die Wachtstube, wo ich
+von allen Beamten sofort umringt wurde, die mir alle die Hand
+schüttelten und mich umarmten. Einer wollte mich sogar auf die Backen
+küssen. „Mach Krieg mit dem Amerikaner, und du findest keinen bessern
+Freund auf der ganzen Erde als den Spanier!“ Hätten sie gewußt, wer ich
+bin, daß ich ihnen Kuba und die Philippinen abgenommen und manches andre
+zugefügt habe, würden sie mich zwar nicht erschlagen, und sie würden
+mich auch nicht zurückgeschickt haben in jenes Fleckchen, wo ich mich
+nie wieder sehen lassen durfte, aber sie wären kühl gewesen wie nasse
+Jacken und gleichgültig wie altes Bettstroh.
+
+Erst kriegte ich einmal Wein eingeschenkt, dann gab es Eier und feinen
+Käse. Dann gab es zu rauchen und wieder Wein zu trinken und wieder Eier
+und feinen Käse, und dann wurde mir gesagt, nun gäbe es bald
+Mittagessen. Die Beamten, die draußen im Dienst waren, kamen nach und
+nach herein. Und nun ging keiner mehr hinaus. Ganze Schmugglerzüge
+hätten jetzt kommen können, das wäre ihnen ganz gleichgültig gewesen.
+Hier war ein Deutscher, und dem hatte man zu zeigen, was man von
+Deutschland und den Deutschen dachte. Und um das auch ganz genau zu
+zeigen, wurde ihm zu Ehren aller Dienst eingestellt.
+
+Äußerlich betrachtet, war ich kein glorreiches Beispiel des so sauberen
+und adretten deutschen Landes und seiner so frischgewaschenen und
+adretten Bewohner. Seit meine Tuscaloosa abgesegelt war, hatte ich weder
+meinen Anzug, noch meine Stiefel, noch meinen Hut gewechselt, und meine
+Wäsche sah so aus, wie sie eben aussehen kann, wenn man sie an Bächen
+und Flüssen, an denen man vorüberkommt, mit mehr oder weniger Seife mehr
+oder weniger sorgfältig wäscht, dann auf einen Strauch hängt, selbst ein
+Bad nimmt und endlich so lange wartet, bis die Wäsche wieder trocken
+ist, oder bis man sie noch naß anziehen muß, weil es zu regnen anfängt.
+
+Mein Aussehen schien aber der beste Beweis für sie zu sein, daß ich
+direkt ohne Aufenthalt von Deutschland kam. So hatten sie sich
+vorgestellt, wie ein Deutscher, der den Krieg verloren hat, den die
+Amerikaner bis aufs Hemd ausgeplündert und die Engländer ausgehungert
+haben, aussehen müsse. Und meine Erscheinung deckte sich mit ihren
+Vorstellungen so vollkommen, daß, wenn ich gesagt hätte, ich bin
+Amerikaner, sie mich für einen unverschämten Lügner angesehen hätten,
+der sie zum Narren halten wolle.
+
+Daß jemand, der direkt ohne Aufenthalt aus Deutschland kommt, einen
+entsetzlichen Hunger haben muß, der sich nicht innerhalb fünf Jahre
+stillen läßt, war ihnen klar. Beim Mittagessen bekam ich so viel
+aufgehäuft, daß ich die fünf Jahre Hungerns ohne Mühe einholen konnte.
+
+Dann brachte einer ein Hemd, einer Stiefel, einer einen Hut, einer ein
+halbes Dutzend Strümpfe, einer Taschentücher, einer Kragen, einer
+seidene Schlipse, einer eine Hose, einer eine Jacke, und so ging das in
+einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt
+besessen hatte, fortwerfen.
+
+Nachmittags wurden Karten gespielt. Diese Karten kannte ich nicht, aber
+sie lehrten es mich, und ich spielte bald so gut, daß ich ihnen ein
+hübsches Sümmchen abgewann, was sie sehr erfreute und sie veranlaßte,
+immer weiterzuspielen.
+
+Durch diese Station war noch nie ein Deutscher gekommen, und deshalb
+wurde ich als der Vertreter, als der erste echte Vertreter jenes hier so
+sehr beliebten Volkes entsprechend gefeiert.
+
+O sonniges Spanien! Das erste Land, das ich traf, wo man nicht nach
+meiner Seemannskarte fragte, wo man nicht meinen Namen, mein Alter,
+meine Körperlänge, meine Fingerabdrücke wissen wollte. Wo man nicht
+meine Taschen durchsuchte, wo man mich nicht bei Nacht zu einer Grenze
+schleppte und mich hinausjagte wie einen ausgedienten Hund, wo man nicht
+wissen wollte, wieviel Geld ich habe, und wovon ich die letzten Monate
+gelebt hätte.
+
+Nein, sie steckten mir die Taschen noch voll, damit endlich einmal
+jemand in meinen Taschen etwas finden möge. Den ersten Tag war ich in
+der Wache, die erste Nacht mußte ich im Hause des einen Beamten
+schlafen, den darauffolgenden Tag wurde ich in seinem Hause verpflegt.
+Am Abend wurde ich von einem andern abgeholt. Und nie wollte mich einer
+herausgeben, bei jedem sollte ich eine Woche bleiben. Das gab aber der,
+der jetzt an der Reihe war, nicht zu. Und als die Reihe herum war und
+wieder von vorn anfangen sollte, kamen die Bewohner des ganzen
+Grenzörtchens der Reihe nach an und erhoben Anspruch auf mich, und ich
+hatte jeden Tag bei einem andern Bürger zuzubringen. Die Konkurrenz, daß
+ich von jedem fortgehen sollte mit dem Gefühl, er habe mich bei weitem
+besser bewirtet als der Nachbar, zwang mich, eines Nachts die Flucht zu
+ergreifen. Ich bin fest davon überzeugt, die Leute alle behaupten heute,
+eine solche Undankbarkeit hätten sie nicht von mir erwartet. Aber der
+Tod durch Erschießen oder Erhängen war ja ein Lustspiel gegenüber dem
+qualvollen Tode, der mich hier erwartete, und dem ich durch nichts
+andres als durch eine nächtliche Flucht entgehen konnte. Durch solche
+Mißverständnisse werden Menschen verdorben. Ich lebe in ihrer Erinnerung
+als jemand, der sicher ein entlaufener Zuchthaussträfling gewesen sein
+müsse, weil er sich so heimlich zur Nachtzeit aus dem Staube machte. Es
+ist durchaus möglich, wenn wieder ein fremder Mann dorthin kommt,
+diesmal vielleicht ein echter Deutscher, daß ihm kaum eine warme Suppe
+vorgesetzt wird, oder wenn sie ihm gegeben wird, dann mit hochgezogenen
+Augenbrauen und mit einer Miene, die deutlich sagt: Verhungern lassen
+wir keinen, und wenn es der Satan selber wäre. Aus Liebe kann nicht nur
+Haß werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei
+werden. Hier war sie Sklaverei mit Totschlag. Nicht einmal auf den Hof
+konnte ich gehen, ohne daß mir sofort ein Familienmitglied nachgelaufen
+kam mit der besorgten Frage, ob ich auch weiches Papier hätte. Yes, Sir.
+
+Das kann kein Mensch ertragen oder nur ein Paralytiker. Hätte ich eine
+Andeutung gemacht, daß ich abreisen wolle, die Leute hätten mich in
+Ketten gelegt. Ich denke, daß ein Vernünftiger unter jenen Leuten lebt,
+der meine Untat in einem milderen Lichte sehen wird.
+
+
+ 17
+
+Sobald es mir in Sevilla zu langweilig wurde, zog ich ab nach Cadiz, und
+sobald mir in Cadiz die Luft nicht mehr bekam, wanderte ich wieder nach
+Sevilla, und wenn mir in Sevilla die Nächte wieder nicht gefielen,
+machte ich mich auf nach Cadiz. Dabei verging der Winter, und meine
+Sehnsucht nach New Orleans konnte ich glatt für einen Quarter verkaufen,
+ohne daß ich Gewissensbisse empfunden hätte. Warum muß es denn gerade
+New Orleans sein?
+
+Ich hatte auch nicht ein winziges Papier mehr in der Tasche als an jenem
+weit zurückliegenden Tage, an dem ich in dieses Land eingezogen kam. Und
+nie interessierte sich jemals ein Cop um meine Papiere oder um mein
+Woher, Wohin oder Wozu. Die hatten andre Sorgen. Paßlose arme Teufel
+waren ihre geringste Sorge. Wenn ich kein Schlafgeld für die Herberge
+hatte und mich in irgendeine Ecke legte, so lag ich am andern Morgen
+genau noch so ruhig und unschuldig da, wie ich mich am Abend hingelegt
+hatte. Und hundertmal war der Cop vorbeigewandert, und hundertmal hatte
+er gut aufgepaßt, daß mich auch niemand etwa aus Versehen stehlen
+möchte. Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus andern Ländern wohl
+werden würde, wenn ein armer Bursche oder gar eine ganze Familie in
+einem Torweg schliefe oder auf einer Bank die Nacht verbrächte, ohne
+verhaftet zu werden und wegen Herumtreibens und Obdachlosigkeit im
+Gefängnis oder im Arbeitshaus zu verschwinden. Deutschland würde sicher
+sofort von einem Erdbeben und England von einer Sintflut vernichtet
+werden, wenn der Mann, der es wagt, obdachlos zu sein, nicht verhaftet
+und ordentlich verknackst wird. Denn es gibt eine ganze Anzahl von
+Ländern, wo obdachlos und mittellos zu sein ein Verbrechen ist; und es
+sind zufällig dieselben Länder, wo ein tüchtiger Raubzug, bei dem man
+nicht erwischt wird, kein Verbrechen ist, sondern die erste Stufe, um
+ein geachteter Bürger zu werden.
+
+Es kam vor, daß ich auf einer Bank lag und ein Cop mich aufweckte, um
+mir zu sagen, daß es gleich regnen würde, und daß ich besser täte, unter
+jenen Torweg da drüben zu gehen oder in den Schuppen am andern Ende der
+Straße, wo Stroh sei, wo ich besser schlafen könnte, und wo es nicht
+hineinregne.
+
+Wenn ich hungrig war, ging ich in einen Bäckerladen und sagte dem Manne
+oder der Frau, daß ich kein Geld hätte, dafür aber um so mehr Hunger,
+und ich bekam Brot. Niemand verekelte mir das Dasein mit der
+langweiligen Frage: „Warum arbeiten Sie nicht, Sie sind doch ein starker
+gesunder Bursche!“
+
+Das hätten sie als grobe Unhöflichkeit angesehen. Denn wenn ich nicht
+arbeitete, so mußte ich wohl meine guten Gründe dafür haben; und diese
+Gründe aus mir herauszuforschen, hielten sie für unanständig.
+
+Was gingen da für Schiffe raus! Manchen Tag gleich ein halbes Dutzend.
+Sicher war da Arbeit auf dem einen oder dem andern. Aber ich sorgte mich
+nicht darum. Ich lief der Arbeit nicht nach. Warum auch? Der spanische
+Frühling war da.
+
+Um Arbeit sollte ich mich sorgen? Ich war auf der Welt, ich lebte, ich
+war lebendig, ich atmete die Luft. Das Leben war so wundervoll schön,
+die Sonne war so golden und so warm, das Land so märchenhaft lieblich,
+alle Menschen so freundlich, auch wenn sie in Lumpen gingen, alle Leute
+so höflich, und über alles das war so viel echte Freiheit. Kein Wunder,
+das Land hatte ja an dem Kriege für die Freiheit und die Demokratie der
+Welt nicht teilgenommen. Deshalb hatte der Krieg hier die Freiheit nicht
+gewonnen und die Menschen hatten sie nicht verloren.
+
+Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich
+behaupten, sie seien die freisten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern
+die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter
+Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit
+geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und
+wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine
+Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was
+hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein
+Volk von freien Menschen! da will man nur die Tatsache verdecken, daß
+die Freiheit vor die Hunde gegangen ist, oder daß sie von
+Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen,
+Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das
+Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen
+übriggeblieben sind. In Spanien spricht kein Mensch von Freiheit, und in
+einem andern Lande, wo man auch nicht von Freiheit spricht, habe ich
+einmal das Wort Unfreiheit erwähnen hören. Dieses Wort fiel bei einer
+Riesendemonstration. Die Demonstration, an der die ganze Bevölkerung
+teilnahm, wo ehrsame Bürger sich nicht fürchteten, hinter den Flaggen
+der Kommunisten und Anarchisten zu gehen, und die Kommunisten sich nicht
+für zu vornehm hielten, hinter den Flaggen des Heimatlandes zu
+marschieren, war ein Protest gegen die Polizei, die versuchte, nach
+preußischem Muster eine Art Meldepflicht der Bewohner einzuführen. Das
+heißt, sie hatte nur vorgeschlagen, daß jeder Bürger einmal im Jahre
+seine Adresse auf der Polizei angeben sollte, seinen Namen, sein Alter
+und seinen Beruf. Aber die Bevölkerung witterte sofort den Pferdefuß und
+wußte beim ersten Wort, daß dies nur der Anfang der Meldepflicht sei.
+
+Es gibt heute keinen Menschen auf der Erde, der nicht wüßte, was
+Deutschland bedeutet. Der Krieg mit England und Amerika war die beste
+Reklame für Deutschland und für deutsche Arbeit. Daß Preußen ein Land
+ist, wissen nur wenige Menschen auf Erden. Wenn man in Amerika und in
+vielen andern Ländern das Wort „Preußen“ hört, ist es nie mit dem Lande
+Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, sondern es ist ein Synonym
+für eine Abwürgung der Freiheit und für polizeiliche Bevormundung.
+
+Als ich in Barcelona war, kam ich eines Tages an einem großen Gebäude
+vorbei, und ich hörte Schreien, Heulen und Wimmern von Menschen aus
+jenem Gebäude dringen.
+
+„Was ist denn da los?“ fragte ich einen Mann, der gerade vorüberging.
+
+„Das ist das Militärgefängnis“, sagte er mir.
+
+„Aber warum schreien denn die Leute da so herzzerreißend?“
+
+„Die Leute? Aber das sind doch die Kommunisten.“
+
+„Die brauchen doch nicht zu schreien, wenn sie Kommunisten sind.“
+
+„Ja, verstehen Sie denn nicht? Die werden jetzt geprügelt und
+gefoltert.“
+
+„Warum denn aber?“
+
+„Das sind doch Kommunisten.“
+
+„Das haben Sie mir nun schon dreimal erzählt.“
+
+„Darum werden sie doch totgeschlagen. Abends werden sie dann
+rausgeschafft und vergraben.“
+
+„Sind denn das Verbrecher?“
+
+„Nein, aber Kommunisten.“
+
+„Darum werden sie gefoltert und totgeschlagen?“
+
+„Ja, die wollen alles anders machen. Denen ist das alles nicht gut
+genug. Die wollen uns zu Sklaven machen, daß wir nicht mehr tun dürfen,
+was wir wollen. Der Staat soll alles allein machen, und wir sollen nur
+noch alle Arbeiter des Staates sein. Das wollen wir aber nicht. Wir
+wollen arbeiten, wann wir wollen, wie wir wollen, wo wir wollen, und was
+wir wollen. Und wenn wir nicht arbeiten, sondern verhungern wollen, so
+wollen wir auch nicht, daß sich da jemand hereinmischt. Aber die
+Kommunisten wollen sich in unser ganzes Leben hineinmischen, und der
+Staat soll alles kommandieren. Ganz recht, daß man sie totschlägt.“
+
+Soll ich darum Spanien verdammen? Ich denke nicht daran. Jedes Zeitalter
+und jedes Land, mag es noch so zivilisiert sein, hat seine
+Christenverfolgungen, seine Ketzerverbrennungen und Hexenfolterungen. In
+Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das
+Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen,
+die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten
+Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern sind heute auch
+schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger werden immer
+verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika eingewandert ist und
+gestern sein zweites Bürgerpapier erhalten hat, ist heute der Mann, der
+am wildesten schreit: „Macht die Grenzen fest zu, laßt niemand mehr
+herein.“ Und doch sind sie alle nur Einwanderer und Söhne von
+Einwanderern, der Präsident nicht ausgeschlossen ...
+
+Warum soll ich der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die
+Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher
+Bettler. „Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.“ Wenn der
+Arbeiter aber einmal sagt: „Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust,
+für Sie zu arbeiten“, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den
+Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt und ganze Regimenter
+von Miliz rücken an und stellen die Maschinengewehre auf. Fürwahr, es
+ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln als um Arbeit zu
+fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren, ohne den
+Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen, ohne den
+Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand um Arbeit zu
+betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden soll, muß auf
+den blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht, lachen, obgleich ihm
+gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den Skipper oder den Ingenieur,
+oder den Meister, oder den Vorarbeiter oder wer immer das Machtwort „Sie
+werden eingestellt!“ zu sagen die Befugnis hat, bei guter Laune zu
+halten.
+
+Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann
+ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln. Der
+Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon Leute
+behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte.
+
+Also wozu der Arbeit nachrennen, wenn die Sonne so golden scheint,
+überall ein Platz zum Schlafen ist und alle Menschen freundlich und
+höflich sind, kein Polizist etwas von mir erfahren will, und kein Cop
+meine Taschen durchsucht nach dem verlorengegangenen Rezept, wie man
+biegsames Glas machen könne.
+
+Ich bekam Appetit auf Fisch, und ich dachte, die einfachste Art, Fisch
+zu essen, ist, ihn zu haben; und um ihn zu haben, mußte ich ihn fangen.
+Brot, Suppe und ein Hemd konnte man sich schon leicht verschaffen; aber
+um Angelgerätschaften betteln zu gehen, das schien mir doch zu modern zu
+sein. Ich paßte deshalb auf, als ein Passagierschiff ankam und die
+Reisenden das Zollhaus verließen. Da bekam ich einen Koffer in die Hand
+gedrückt, und als ich diesen Koffer seinem Besitzer im Hotel wieder
+ablieferte, bekam ich drei Peseta in die Hand ausbezahlt.
+
+Mit diesem Geld ging ich in einen Laden und kaufte eine Angelschnur und
+Haken. Das machte so ziemlich einen Peseta aus. So nebenbei erzählte ich
+dem Verkäufer, daß ich ein Seemann sei, der sein Schiff verloren habe.
+Da lachte der Verkäufer, wickelte meine Sachen recht sorgfältig in
+Papier und überreichte sie mir mit einem „Favor!“ Ich wollte nach meinem
+Zahlzettel greifen, aber der Verkäufer lächelte, zerriß mit einer
+eleganten Geste den Zettel, warf ihn mit einer andern eleganten Geste
+über seine Schulter hinweg, verbeugte sich höflich und sagte: „Ist
+bezahlt, danke sehr! Viel Vergnügen beim Fischen, mein Herr.“
+
+Und in diesem Lande sollte ich hinter der Arbeit herlaufen? Dieses Land
+sollte ich verlassen? Ich wäre ja nicht wert, daß mich die spanische
+Sonne bescheint.
+
+
+ 18
+
+Ich saß auf der Kaimauer und hielt meine Schnur ins Wasser. Kein Fisch
+biß an, obgleich ich sie so gut mit Blutwurst fütterte, die ich von
+einem holländischen Schiff mitgebracht hatte, wo ich zum Abkochen, zum
+Essen mit der Mannschaft, gewesen war. Dieses „Abkochen gehen“ auf die
+Schiffe, das Mitessen mit der Mannschaft eines Schiffes, das im Hafen
+liegt, ist auch nicht immer eine sehr würdige Sache. Der Arbeiter, der
+gute Arbeit hat oder wenigstens glaubt, in guter Stellung zu sein, fühlt
+sich gegenüber dem Arbeiter, der keine Arbeit hat, zuweilen sehr
+überlegen. Und diese Überlegenheit läßt er den Arbeitslosen auch fühlen.
+Der Arbeiter ist des Arbeiters größter Teufel.
+
+„Na, ihr Beachcombers, ihr Herumtreiber, habt ihr wieder nischt zu
+fressen? Da wollt ihr wohl wieder hier raufkommen auf unsern Kasten, und
+da sollen wir euch wohl wieder was zu fressen geben, hä? Aber bloß zwei
+dürfen rauf. Ihr macht uns zu viel Schweinerei.“
+
+Da durften wir dann nicht in das Quartier kommen, oft genug. Nein, wir
+mußten vor der Tür stehenbleiben. Dann schütteten die Mitproletarier
+alles, was sie auf den Tellern übrighatten, und was sie manchmal schon
+im Munde gehabt hatten, in die große Blechschüssel, in der die Suppe
+geholt worden war, dann schoben sie uns die Schüssel raus, und wir
+mußten auf dem Verdeck essen, wo wir auf dem Boden zu hocken hatten.
+Wenn wir dann um einen Löffel bitten mußten – ich hatte, durch lange
+Erfahrung gewitzigt, immer meinen eignen in der Tasche –, dann sagten
+sie, Löffel bekämen wir nicht. Wir fischten dann mit den Fingern in dem
+Brei herum. Oder aber sie warfen uns ein paar Löffel zu und warfen sie
+so geschickt, daß sie in den Brei fielen, so daß wir sie mit unsern
+dreckigen Fingern herausfischen mußten, was den Leuten ein höllisches
+Vergnügen zu bereiten schien.
+
+Und diese Mannschaften waren noch nicht die schlimmsten. Da waren
+welche, die uns hinunterjagten vom Schiff, weil wir Spitzbubengesindel
+seien. Oder andre, die vor unsern Augen die schönsten Schüsseln voll
+Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ins Meer schütteten und ganze Brote
+hinterher warfen, nur um uns zu ärgern. Es war dann zuweilen ganz
+lieblich zu erleben, wenn einer oder der andre durch irgendeinen Umstand
+entweder entlassen wurde oder achtern abgekantet war, dann mit uns an
+der Beach, am Ufer lag, mit uns dann zum Abkochen gehen mußte und dabei
+lernte, wie gut es tut, in der Weise von seinen eignen Klassengenossen
+behandelt zu werden.
+
+Nicht alle waren so. Ich habe manchen Peseta freiwillig von
+Schiffsproleten bekommen, habe ganze Büchsen voll Corned Beef oder
+Leberwurst oder Blutwurst bekommen, Büchsen voll Gemüse, ganze Kilo
+Kaffee von den Köchen, ganze Brote, Kuchen und Puddings. Einmal zwölf,
+sage und wiederhole zwölf gebratene Hühnchen, von denen ich zehn selber
+wegwerfen mußte, weil ich sie nicht essen und nicht verwahren konnte,
+denn ich hatte ja keinen Eisschrank in meiner Hosentasche. Alles, was
+man besitzt auf der Welt, hat man bei sich und hat man an sich.
+
+Wenn man in spanischen, afrikanischen, ägyptischen, indischen,
+chinesischen, australischen und südamerikanischen Häfen an der Beach
+liegt, lernt man allerlei Menschen kennen und allerlei Methoden, mit
+deren Hilfe man sich am Leben erhält. Aber niemand läßt einen mit
+solcher Kaltblütigkeit verhungern wie in vielen Fällen der Arbeiter. Und
+der Arbeiter der eignen Nationalität ist der schlimmste aller Teufel.
+Während ich als Amerikaner von den amerikanischen Schiffen
+heruntergejagt wurde von der Mannschaft, habe ich als Deutscher auf
+französischen Schiffen wie ein Fürst gelebt. Die Mannschaft lud mich
+ausdrücklich ein, zu jedem Frühstück, zu jedem Mittagessen und zu jedem
+Abendessen auf dem Schiff zu erscheinen, solange es im Hafen, es war in
+Barcelona, läge. Und ich bekam das Beste, was nur ins Quartier kam,
+während mir auf deutschen Schiffen Mannschaften gleich auf der
+Falltreppe mit einem großen Schild entgegensprangen „Zutritt verboten!“
+Die deutschen Schiffe sind die einzigen Schiffe, die ich kenne, die
+zuweilen ein großes Schild im Hafen aushängen mit der Inschrift „Zutritt
+verboten!“ in deutscher Sprache und in der Sprache des Landes, in dessen
+Hafen sie liegen. Yes, Sir.
+
+Als ich in Barcelona lag, wurde mir erzählt, in Marseille lägen viele
+amerikanische Schiffe, die keine Mannschaft bekommen könnten, weil zu
+viele ausgerückt seien. Die Mannschaft eines Kohlendampfers nahm mich
+mit nach Marseille. Aber es war falscher Alarm. Es lag auch nicht ein
+einziges amerikanisches Schiff im Hafen, und auf den paar andern, die
+dort lagen, war auch nichts zu machen.
+
+Ganz verzweifelt schlich ich durch die Gassen im Hafenviertel. Ich ging
+in eine Hafenkneipe, wo viele Seeleute verkehren, um zu sehen, ob ich
+nicht vielleicht einen Bekannten treffen möchte, der mir aushelfen
+könnte; denn ich hatte keinen Copper in meiner Tasche.
+
+Als ich hineinkam und mich umsah nach einem Stuhl, näherte sich mir die
+Kellnerin, ein nettes junges Mädchen, und fragte, was ich trinken wolle.
+Ich sagte ihr, ich hätte kein Geld und wolle nur sehen, ob nicht ein
+Bekannter drin sei, von dem ich vielleicht etwas bekommen könne. Sie
+fragte mich, was ich sei. Ich sagte: „Deutscher Seemann.“
+
+Da sagte sie: „Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen zu essen!“
+
+Ich erwiderte: „Ich habe aber doch kein Geld.“
+
+„Das macht nichts“, sagte sie. „Sie werden gleich genug Geld haben.“
+
+Ich verstand das nicht und wollte mich aus dem Staube machen, weil ich
+glaubte, es sei irgendeine Falle.
+
+Nachdem ich gegessen und eine Flasche Wein vor mir stehen hatte, rief
+das Mädchen plötzlich ganz laut durch die Schenke: „Meine Herren, hier
+ist ein armer deutscher Seemann, der kein Schiff hat. Möchten Sie ihm
+denn nicht etwas geben?“
+
+Ich fühlte, daß ich totenbleich wurde, denn ich dachte jetzt, das sei
+die Falle, und man wolle einen Spaß haben dadurch, daß man mir hier eine
+Abreibung geben würde, die nicht von schlechten Eltern sei. Aber nichts
+dieser Art geschah. Die Leute hörten nur alle auf zu reden und drehten
+sich nach mir um. Einer stand auf, kam mit seinem Glas und stieß mit mir
+an: „Auf Ihr Wohl, Deutscher!“ Er sagte nicht einmal „Boche“ dabei. Dann
+nahm das Mädchen einen Teller und ging rund, und als sie den Teller dann
+vor mir ausschüttete, zählte ich siebzehn Franken und einige sechzig
+Centimes. Nun konnte ich mein Essen und meinen Wein gut bezahlen, und
+als ich mit dem Kohler zwei Tage später wieder nach Barcelona fuhr,
+hatte ich sogar noch etwas übrig von den Franken.
+
+Ich glaube nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern
+gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde.
+Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als Hunde.
+Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal aber
+auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander hetzen und
+das „Ksch-ksch“ braucht gar nicht einmal geschickt gemacht zu werden. Es
+braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie auch schon
+aufeinander los wie blödsinnig geworden ...
+
+Verflucht nochmal, es beißt auch nicht ein einziges Luder an und die
+Büchse Blutwurst ist gleich alle. Das kommt davon, wenn man döst und
+seine Gedanken woanders hat, statt auf das Geschäft zu achten. Sobald
+ich eine Portion beieinander habe, gehe ich raus, mache mir ein Feuer an
+und brate die Fische an einem Stock. Es ist einmal etwas andres als die
+immer in Öl gebackenen Fische.
+
+Wieder nichts dran und die Wurst abgebissen. Wie lange sitze ich hier?
+Sicher schon drei Stunden. Aber Fischen beruhigt die Nerven. Man hat
+nicht das Gefühl, daß man seine Zeit verplempert. Es ist nützliche
+Arbeit, die man verrichtet: man trägt seinen Teil zur Volksernährung
+bei, denn wenn ich die Fische esse, die ich hier jetzt fange, brauche
+ich nicht woanders die Nudelsuppe aufessen. Die kann dann gespart
+werden, und am Ende des Jahres findet man die gesparte Nudelsuppe in
+irgendeiner Statistik wieder, wo die Zeile, in der die gesparte
+Nudelsuppe erwähnt ist, mehr kostet als alle weggeschütteten Suppen des
+ganzen Landes zusammengenommen.
+
+Ich könnte die Fische aber auch verkaufen gehen. Vielleicht kriege ich
+soviel zusammen, daß ich zwei Peseta machen kann. Dann könnte ich wieder
+einmal zwei Nächte in einem Bett schlafen.
+
+Siehst du, mein Freundchen, da habe ich dich doch endlich erwischt. Du
+bist es, der mir die ganze Blutwurst abgefressen hat. Schwer ist er ja
+nicht. Ein halbes Kilo. Ich glaube, nicht ganz. Dreihundertfünfzig
+Gramm. Da zappelst du aber schön. Ich kann das nachfühlen. Ich habe auch
+schon verschiedene Male so gezappelt, wenn mich ein Cop am Kragen hatte.
+Aber es hilft nichts, ich habe Appetit auf Fische.
+
+Ja, das Wasser ist so schön kühl und die Sonne so schön warm. Hier hat
+mich auch noch kein Cop am Kragen gehabt. Und ich weiß, wie es tut. Die
+dreihundertfünfzig Gramm tun es auch nicht. Wenn du wenigstens ein Kilo
+hättest. Und weil du doch angebissen hast und mir die Freude machtest,
+mich hier nicht so vergeblich sitzen zu lassen, und weil ich liebe, frei
+zu sein, viel mehr liebe, als satt zu essen zu haben, und weil die Sonne
+lacht und das Wasser blaut, und weil du ein spanisches Fischlein bist:
+Hoppla, wirst nicht erschossen, schwimm wieder lustig los und freue dich
+deines munteren Lebens. Lauf nicht gleich einem andern ins Netz. Zieh ab
+und grüß dein Mädel.
+
+Da plätschert er und schwimmt er und lacht, daß ich es bis auf die Mauer
+höre. Grüß’ dein Mädel! ... Ach schiet ...
+
+„Sie sind mir aber auch ein Fischersmann“, sagt da jemand hinter mir.
+Ich drehe mich um und sehe einen Zollbeamten stehen, der mir die ganze
+Zeit zugesehen hat und jetzt laut lacht.
+
+„Aber da sind doch mehr Fische drin, das Wasser ist ja nicht so klein“,
+sage ich, während ich wieder Blutwurst an den Haken spieße.
+
+„Sicher sind da mehr drin. Das war doch aber ein ganz guter dicker
+Fisch.“
+
+„Sicher war er das, er hatte ja meine ganze Büchse Blutwurst im Magen,
+da soll er nicht dick sein.“
+
+„Warum fischen Sie denn da überhaupt, wenn Sie so gute Fische wieder
+hineinwerfen?“
+
+„Damit, wenn mich heute abend jemand fragen sollte, was ich den ganzen
+Tag getan habe, ich sagen kann, ich hätte gefischt.“
+
+„Dann fischen Sie nur weiter“, sagt der Zollbeamte und geht.
+
+Daß Fischen betätigte Philosophie ist, verstehen die wenigsten Menschen.
+Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des Wünschens,
+des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt.
+
+Da schon wieder einer. Hätte ich nur den vorigen nicht gehen lassen,
+dann wäre nun schon bald eine Portion zusammen. Aber ich werde doch
+keine Klassenunterschiede einführen. Den andern habe ich frei gelassen,
+nun kann ich doch diesen nicht seiner Dummheit wegen zum Tode
+verurteilen. Das heißt, Dummheit verdient eigentlich immer und überall
+die Todesstrafe, vorläufig wird sie nur mit Sklaverei bestraft. Wenn ich
+wüßte, ich bekäme noch drei solche wie du einer bist, dann müßtest du
+hier dran glauben. Ich habe Appetit auf Fische. Aber du bist ein
+köstliches kleines lebendiges Wunder, na, gehe schon wieder rein in das
+weite Meer. Hoppla, Freiheit ist doch das Größte und Beste am Leben. Ja,
+Teufel nochmal, soll ich euch denn allen hier die Hand geben? Schon habe
+ich abermals einen in der Hand. Ich weiß genau, wenn ich dich jetzt hier
+behalte, beißt kein einziger mehr an, weil sie dann alle wissen, sie
+können sich auf mich nicht verlassen. Und mit dir allein kann ich nichts
+anfangen. Es würde sich gar nicht lohnen, rauszugehen und ein Feuer
+deinetwegen anzuzünden. Wie lange hat das liebe Leben an dir gebaut, um
+dich zu dieser unwichtigen Größe zu bringen? Sechs Jahre, vielleicht
+sieben. Nun soll ich dich in einer Sekunde mit einem Hieb töten und dein
+Leben beenden? Zieh ab, freue dich des blauen Meeres und deiner
+Gefährten. Da schwänzelt er lustig vondannen. Gelt, Bürschchen, du
+weißt, was Freiheit wert ist, freue dich ihrer, schätze sie und sei
+glücklich.
+
+Das ist aber ein recht merkwürdiger Eimer, der da angeschwommen kommt
+... Sie macht gerade los und kommt nicht gut ab. Sie schleppt und
+schlittert und kratzt am Kai entlang. Offenbar will sie nicht raus, sie
+ist wasserscheu. Aber ganz gewiß, man kann sich drauf verlassen, es gibt
+auch wasserscheue Schiffe, yes, Sir. Das ist überhaupt der Fehler, der
+so oft gemacht wird, daß man den Schiffen die Persönlichkeit abstreitet.
+Die haben ihre Persönlichkeit, ihre Launen genau so gut wie ein Mensch.
+Diese alte Tante hier hatte eine Persönlichkeit. Das sah ich auf den
+ersten Hieb. Mit der war nicht gut Salz lecken.
+
+
+ 19
+
+Manches Schiff habe ich gefahren, das wissen die Götter. Und tausend
+Schiffe habe ich gesehen, das glaubt mir Thomas. Aber nie vorher habe
+ich ein Schiff gesehen, das diesem gleich gewesen wäre. Der ganze
+Rahmen, um damit gleich zu beginnen, war nicht nur ein guter Spaß, nein,
+der war eine Unmöglichkeit. Wenn man diesen Eimer ansah, zweifelte man,
+daß sie je auf dem Wasser schwimmen könnte. Viel eher schon glaubte man,
+daß sie ein gutes Transportmittel durch die Wüste Sahara sein müsse und
+mit Leichtigkeit die besten Kamele schlagen könnte. Ihre Form war weder
+modern noch mittelalterlich. Es wäre ein ganz vergebliches Bemühen
+gewesen, sie in irgendeine Periode der Schiffsbaukunst einzureihen. Am
+Bug trug sie den Namen „Yorikke“. Aber der Name war so dünn und so
+verwaschen, als ob sie sich schämte, so zu heißen. Achtern sollte der
+Seevorschrift gemäß ihr Heimatsort zu lesen sein. Aber wo sie her war,
+das wollte sie niemand verraten, wahrscheinlich schämte sie sich auch
+ihres Wohnortes. Auch ihre Nationalität hielt sie streng geheim,
+offenbar war ihr Paß nicht ganz in Ordnung. Jedenfalls war die
+Nationalitätsflagge, die auf dem Flaggenstock am Stern auswehte, so
+bleich, daß sie für jede Farbe aufnahmefähig war. Außerdem war die
+Flagge ganz ausgefranst, als ob sie in allen Seeschlachten der letzten
+viertausend Jahre den kämpfenden Flotten vorangeweht hätte.
+
+Welche Farbe ihr Kleid hatte, konnte ich nicht ergründen, obgleich das
+ja in mein Spezialfach schlug. Allem Anschein nach zu urteilen, war das
+Röckchen einmal, in einer fern zurückliegenden Zeit, schneeweiß gewesen,
+weiß wie die Unschuld eines neugeborenen Kindleins. Aber das muß sehr
+lange her sein, das muß gewesen sein in dem Jahr, als sich Abraham mit
+der Sarah verlobte in Ur in Chaldäa. Die Kanten der Reeling waren einmal
+grün gewesen. Auch das war lange, lange her. Seit jenen fernen Tagen
+hatte die Yorikke einige hundert neue Anstriche erlebt, wie es ja dem
+Laufe der Zeiten entsprach. Aber die Deckarbeiter hatten sich nie die
+Mühe gemacht, die alte Farbe abzuklopfen. Wahrscheinlich war ihnen das
+untersagt worden. Jedenfalls war der neue Anstrich immer wieder auf den
+alten gekommen, dadurch hatte die Yorikke nun einen Umfang erhalten, der
+sie doppelt so groß erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Hätte
+man sich die Arbeit gemacht, die einzelnen Anstriche sorgfältig
+abzupellen, dann hätte man genau feststellen können, welche Art von
+Farbe jedes einzelne Jahrhundert verwandte.
+
+Selbstverständlich, um nicht der Übertreibung angeschuldigt zu werden,
+hätte man die Farbe nicht nur an dem Außenkleid abpellen dürfen, wo die
+Yorikke verhältnismäßig noch am jüngsten war, weil man sie ab und zu in
+ein Verschönerungsinstitut geschickt hatte. Nein, man hätte die Farbe an
+allen Teilen des Schiffes, insbesondere also an den Inneneinrichtungen
+abziehen müssen, um zu erfahren, in welchen Farben die große Festhalle
+Nebukadnezars gehalten war, worüber wir ja heute noch im unklaren sind,
+was uns sehr viele Sorgen bereitet.
+
+Das Kleid sah zum Höllenerbarmen niederträchtig aus. Da waren große
+Flächen, wo die Deckarbeiter es mit einem schönen saftigen
+Bolschewistenrot versucht hatten. Dann aber schien der Eigentümer oder
+der Kapitän diese Farbe nicht zu lieben, und man malte weiter mit
+Adelsblau. Das Rot hatte Geld gekostet, und man ließ es ruhig stehen,
+Anstrich war Anstrich, und dem fressenden Salzwasser ist es
+gleichgültig, ob es Bolschewistenrot oder Freiheitsgrün zu fressen hat,
+die Hauptsache ist, daß Wind und Wogen etwas zu fressen kriegen, sonst
+fressen sie das Schiff. Der nächste Besitzer wieder dachte, daß ein
+schwarzes Schiff schöner sei und ein fettes Schwarz die mißtrauischen
+Augen der Versicherungsgesellschaften besser verkleistern möchte als
+irgendeine andre Farbe. Aber nie wagte jemand sich so hoch in die Kosten
+zu versteigen, daß er das, was einmal gestrichen war, mit der neuen
+Farbe überstrichen hätte, um dem ganzen Kleid eine einheitliche Nuance
+zu geben. Nur keine überflüssigen Ausgaben, es war ja ein – halt, das
+will ich noch nicht sagen, denn ich weiß es noch nicht. Aber ein alter
+Salzwasserfisch riecht frühzeitig, und ich bin ein alter
+Salzwasserfisch, wenn es aufs Riechen ankommt.
+
+Wenn nun Yorikke auf Fahrt war oder in einem Hafen lag, reichte die
+Farbe nicht mehr, und es wurde mit den Farben weitergemalt, die gerade
+noch da waren. Der Skipper schrieb nur immer an: „Farbe gekauft. Farbe
+gekauft. Farbe gekauft.“ Niemand kann von seinem Lohn allein leben. Aber
+die Farbe wurde nicht gekauft, sondern alles, was da war, wurde
+aufgebraucht, ob es braun, grün, violett, zinnober, gelb oder orange
+war.
+
+Also so sah die Yorikke von draußen aus. Mir wäre vor Schreck bald die
+Angelschnur aus der Hand geflitscht, als ich dieses Meerungeheuer zum
+ersten Male sah.
+
+Das kommt aber davon, wenn man den Deckarbeitern im Hafen keinen
+Tagesurlaub gibt, aus lauter Geiz. Der Erste Offizier weiß nicht, was er
+mit ihnen machen soll, und dann müssen sie anstreichen von morgens um
+sieben bis nachmittags um fünf, streichen, streichen, streichen, solange
+noch ein Pinselstiel auf der Welt ist und noch eine alte Blechbüchse an
+den Rändern eine Schicht verdickter und verkrusteter Farbe hat.
+
+Nun müssen die Deckarbeiter beim Streichen draußen an der Bordwand
+hängen an Tauen, oder sie sitzen auf schmalen Brettern, die an Tauen
+heruntergelassen werden. Kommt es nun vor, daß der ganze Kasten
+plötzlich einen gehörigen Schubs kriegt, sei es durch eine unerwartete
+große Welle oder durch das Aufrühren eines großen vorbeifahrenden
+Rieseneimers, oder weil beim Gezeitwechsel den Fangtauen nicht richtig
+nachgegeben wurde, dann fliegt der Anstreicher mit seiner Todesschaukel
+los von der Bordwand. Weil er nun lieber sein Leben retten will als den
+Farbeimer, so geht natürlich der Farbeimer über Stag und die bunte Tunke
+läuft an der Bordwand herunter. Der Eimer ist zwar gerettet und der Mann
+auch, der Eimer hing an einem Tau und der Mann angelte noch rechtzeitig
+ein Tau. Aber die Farbe! Aber die Farbe! An der Yorikke konnte man außer
+den verschiedenen Farbversuchen noch ganz genau alle Püffe nachzählen,
+die das gute Schifflein während des Anstreichens in den letzten zehn
+Jahren erlebt hatte. Diese Farbenergüsse zu überstreichen, wäre
+Verschwendung gewesen. Es war Farbe, und der Zweck, mit Farbe die
+mancherlei Schönheitsfehler der Yorikke zartfühlend zu verdecken, war ja
+durch den Puff erfüllt worden. An und für sich war es schon teuer genug,
+weil ja nicht alle Farbe bei dieser Gelegenheit auf der Yorikke blieb,
+sondern ein Teil im Meer verschwand und der andre Teil auf den Hosen des
+Deckarbeiters hängen blieb, wo er ganz überflüssig war. Mit diesen
+angestrichenen Hosen, die man jetzt hinstellen kann, ohne daß sie
+umfallen, ist das Ereignis keineswegs beendet. Nun kommt erst noch die
+Auseinandersetzung mit dem Ersten Offizier, der die Meinung vertritt,
+daß die Farbe wertvoller sei als der Mann, und statt an sein unwichtiges
+Leben zu denken, hätte er zuerst an die wertvolle Farbe denken sollen.
+Deckarbeiter kann er auf dem Straßenpflaster auflesen oder unter dem
+Galgen wegholen, aber Farbe kostet Geld, und der Skipper wird ihm einen
+Mordsspektakel machen, weil er nun wieder nicht mit dem Farbenbuch und
+mit der Rubrik „Farbe gekauft“ zurechtkommt. Häufig endet dieses
+Gespräch, nachdem die üblichen Fluchkanonaden alle Munition verschossen
+haben, damit, daß der gerettete Deckarbeiter sich seinen Lohn geben
+läßt, den Sack vollpfropft, über die Planke geht und dem Schiff
+Großfeuer in den Kohlenbunkern wünscht, wenn es fünfzehnhundert Meilen
+„off the coast“ ist. Einen verrückten Menschen erkennt man oft schon am
+Äußern, am Aussehen seines Gesichts, an der Zusammenstellung seiner
+Kleidung. Je verrückter er ist, um so auffallender wird sein Aussehen
+sein. Man konnte nicht gut sagen, daß die Yorikke einem vernünftigen
+Schiffe, einem geistig normalen Schiffe gleich oder auch nur ähnlich
+gesehen hätte. Das wäre eine Beleidigung für alle andern Schiffe der
+sieben Meere gewesen. Ihr Aussehen stimmte so vortrefflich mit ihrem
+Geist, mit ihrer Seele, mit ihrem Wesen und mit ihrem Betragen überein,
+daß man an der geistigen Gesundheit der Yorikke mit Recht zweifeln
+mußte. Es war ja nicht nur das äußere Kleid, nicht nur die Farbe. Alles,
+was man von dem Boote sehen konnte, stand in vollem, ungetrübtem
+Gleichklang mit der Haut und dem Gesicht. Die Lademasten standen wie
+dürre Äste fuchtelnd in der Luft. Wenn durch den Schornstein der Länge
+nach eine Kugel geschossen worden wäre, auch wenn es nur eine
+Revolverkugel gewesen wäre, sie wäre nie am andern Ende herausgekommen.
+Aber Rauch geht je auch um Ecken, andernfalls hätte die Yorikke nie
+rauchen können. Aus dem Schornstein jedenfalls nicht. Wie die Brücke mit
+dem übrigen Schiff in Verbindung stand, konnte ich nicht herausfinden.
+Es sah so aus, daß, wenn das Schiff abfuhr, es nach einer Stunde wieder
+umkehren mußte, um die Kommandobrücke abzuholen, die im Hafen
+zurückgeblieben war; denn der Skipper hätte es von seinem Standort aus
+nicht bemerken können, daß das Schiff schon eine Stunde unterwegs war,
+und nur wenn der Steward auf die Brücke gegangen wäre, um dem Skipper zu
+sagen, daß sein Essen in der Messe sei, hätte man herausgefunden, daß
+die Brücke mit dem Skipper drauf nicht mitgekommen war, sondern irgendwo
+im letzten Hafen schwebte oder festgeklemmt war.
+
+Als ich nun da auf der Mauer saß, so emsig mit Fischefangen beschäftigt,
+und ich sah die Yorikke, da lachte ich, da lachte ich so laut und so
+ungeheuerlich, daß die gute Yorikke einen Schreck bekam und um eine
+halbe Schiffslänge zurückglitt. Sie wollte nicht raus ins Wasser und
+wollte nicht. Sie kratzte und schrammte am Kai, daß es einen Hund
+jammern konnte und man Mitleid bekam mit dem beklagenswerten Tantchen,
+das da wieder hinausgetrieben werden sollte in die grausame Welt wilder
+Mächte und Elemente.
+
+Aber niemand empfand Mitleid mit ihr.
+
+Ich hörte das Knarren und Quietschen der Wintschen und das Hin- und
+Herlaufen und wußte, die werden jetzt das Tantchen gründlich vermöbeln
+und bös einheizen, und dann muß sie eben doch hopsen. Was kann
+schließlich ein alleinstehendes Mädchen gegen so viele rauhe Fäuste auf
+die Dauer machen? Sie kann kratzen und beißen, aber sie muß hervor
+hinter dem Zaun und muß mit zum Tanz gehen, ob ihr danach zumute ist
+oder nicht. Wenn so ein sprödes Dämchen erst einmal die Musik hört, dann
+ist sie die Tollste von allen. So war es sicher auch mit der Yorikke.
+Erst mal glücklich drin im Wasser, dann würde sie rennen wie ein junger
+Teufel, um nur schnell wieder in einem andern Hafen zu sein, wo sie sich
+ausruhen kann und von vergangenen Zeiten träumen, als man sie nicht so
+herumjagte wie in diesen hastigen Tagen. Sie ist doch schließlich keine
+Junge mehr und schon ein wenig schwer auf den Beinen. Wäre sie nicht so
+dick angezogen, würde sie sicher auch noch frieren in dem kalten Wasser,
+denn das Blut rennt nicht mehr so frisch durch die Adern wie damals als
+sie den Begrüßungsfestlichkeiten zusah, die von Cleopatra zu Ehren
+Antonius’ veranstaltet wurden.
+
+
+ 20
+
+Nach dem Aussehen eines Schiffes kann man genau die Beköstigung und die
+Behandlung der Mannschaft beurteilen, sobald man erst einmal eine Weile
+Salzwasser gerochen hat. Da bildet sich manch einer ernsthaft ein, daß
+er vom Meere, von Schiffen und Seeleuten etwas verstünde, wenn er ein
+dutzendmal auf einem Passagierschiff, vielleicht sogar Staatskabine,
+über Ozeane gefahren ist. Aber ein Fahrgast lernt weder etwas vom Meer,
+noch etwas von einem Schiff und noch viel weniger etwas vom Leben der
+Mannschaft. Die Stewards sind keine Mannschaft, und die Offiziere sind
+auch keine Mannschaft. Die einen sind nur Kellner und Hausdiener, und
+die andern sind nur Beamte mit Pensionsberechtigung.
+
+Der Skipper kommandiert das Schiff, aber er kennt es nicht. Wer auf dem
+Kamel reitet und den Ort angibt, wo er hinreiten will, weiß nichts von
+dem Kamel. Der Kameltreiber allein kennt das Kamel, zu ihm spricht das
+Kamel, und er spricht zu dem Kamel. Er allein kennt seine Sorgen und
+seine Schwächen und seine Wünsche.
+
+So ist es auch mit einem Schiff. Der Skipper ist der Kommandant, der
+Vorgesetzte, der immer anders will, als das Schiff will. Ihn haßt das
+Schiff, wie alle Vorgesetzte und Kommandanten gehaßt werden. Wenn
+Kommandanten wirklich einmal geliebt werden, oder es wird gesagt, daß
+sie geliebt seien, so werden sie nur darum geliebt, weil man so am
+besten mit ihnen und mit ihren Schrullen zurechtkommt.
+
+Aber die Mannschaft ist es, die das Schiff liebt. Die Mannschaft sind
+die echten und wahren Kameraden des Schiffes. Sie putzen an dem Schiff
+herum, sie streicheln es, sie kosen es, sie küssen es. Die Mannschaft
+hat häufig kein andres Heim als das Schiff; der Kommandant hat ein
+schönes Haus irgendwo auf dem Lande, er hat seine Frau, er hat seine
+Kinder. Es haben auch manche Seeleute eine Frau oder Kinder, aber ihre
+Arbeit mit dem Schiff und auf dem Schiff ist so hart und ermüdend, daß
+sie nur an das Schiff denken können und die Familie daheim ganz
+vergessen, weil sie keine Zeit haben, an Hause zu denken. Denn wenn sie
+anfangen wollen, an das Zuhause zu denken, dann beginnen sie gleich zu
+schlafen, weil sie zu müde sind.
+
+Das Schiff weiß ganz genau, daß es keinen Schritt gehen könnte, wenn die
+Mannschaft nicht wäre. Ohne Skipper kann ein Schiff laufen, ohne
+Mannschaft nicht. Der Skipper könnte nicht mal dem Schiff etwas zu essen
+geben, weil er nicht versteht, wie er aufschmeißen muß, damit die Feuer
+nicht ausgehen und doch die meiste Hitze geben, ohne Verdauungsstörungen
+zu erzeugen.
+
+Mit der Mannschaft spricht das Schiff, mit dem Skipper und den
+Offizieren nie. Der Mannschaft erzählt das Schiff Märchen und
+wunderschöne Geschichten. Alle meine Seegeschichten haben mir die
+Schiffe erzählt und keine Menschen. Das Schiff läßt sich auch gern etwas
+erzählen von der Mannschaft. Ich habe gehört, daß Schiffe lachten und
+kicherten, wenn die Mannschaft Sonntag nachmittags auf Deck saß und sich
+Witze erzählte. Ich habe Schiffe weinen sehen, wenn traurige Geschichten
+erzählt wurden. Und ich habe ein Schiff bitterlich schluchzen hören,
+weil es wußte, daß es auf der nächsten Fahrt untergehen würde. Es kam
+auch nie wieder und stand später bei Lloyds auf der Liste „Verschollen“.
+
+Das Schiff ist immer auf seiten der Mannschaft, nie auf seiten des
+Skippers. Der Skipper arbeitet nicht für das Schiff, er arbeitet für die
+Kompanie. Die Mannschaft weiß häufig gar nicht, zu welcher Kompanie das
+Schiff gehört; sie macht sich keine Gedanken darüber. Sie kümmert sich
+nur darum, was das Schiff selbst angeht. Wenn die Mannschaft unzufrieden
+ist oder rebelliert, rebelliert das Schiff sofort mit. Streikbrecher
+haßt das Schiff mehr als den Boden des Meeres; und ich habe ein Schiff
+gekannt, das mit einer ganzen Horde von Streikbrechern auf der ersten
+Ausfahrt, beinahe noch in Sicht der Küste, glatt auf den Boden ging.
+Keiner kam mehr zurück. Es ging lieber selber unter, als von
+Streikbrechern begrapscht zu werden. Yes, Sir.
+
+Wird die Mannschaft schlecht beköstigt oder schlecht behandelt, das
+Schiff nimmt sofort Partei für die Mannschaft und schreit in jedem Hafen
+die Wahrheit so laut hinaus, daß sich der Skipper die Ohren zuhalten muß
+und oft genug eine Hafenkommission aus dem Schlafe gescheucht wird und
+nicht eher Ruhe findet, bis sie eine Untersuchung angestellt hat. Ich
+glaube sicher, daß man mich für ein ganz verfressenes Subjekt hält. Aber
+für den Seemann ist ja das einzige, womit er sich außer seiner
+Beschäftigung mit dem Schiff befassen kann, das Essen. Andre Freuden hat
+er nicht, und hart arbeiten verursacht einen gesunden Hunger. Das Essen
+ist ein wichtiger Bestandteil seines Lohnes.
+
+Auf der Yorikke aber, wie sie auch laut genug hinausschrie, wurde der
+elendeste Fraß für die Mannschaft gegeben, den eine geizige Kompanie und
+ein Skipper, der auf Nebenverdienste sehen mußte, nur herstellen konnte,
+um die Mannschaft eben gerade noch am Leben zu erhalten. Wie der Skipper
+selbst beschaffen war, verriet Yorikke jedem, der die Sprache eines
+Schiffes verstand. Er trank gern, aber nur gute Tropfen; er aß gern,
+aber nur gute Dinge; er stahl, wo er nur stehlen konnte; er machte
+Nebengeschäfte, mit wem er nur konnte und auf wessen Kosten er nur
+konnte. Im übrigen war ihm alles sehr gleichgültig, und er belästigte
+die Mannschaft persönlich nur wenig. Er belästigte sie auf dem Umwege
+über die Offiziere und die Ingenieure. Die Ingenieure hätten auf
+Schiffen, die nicht verrückt waren, sondern normal, nicht einmal als
+Öler arbeiten können.
+
+Wie war es nur möglich, daß Yorikke eine Mannschaft bekam und eine
+Mannschaft halten konnte? Wie war es möglich, daß sie aus einem
+spanischen Hafen, aus diesem gesegneten Lande des Sonnenscheins und der
+Freiheit, ausfahren konnte mit voller Mannschaft? Da war ein Geheimnis
+verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein –?
+
+Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da
+ist es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht nochmal, o
+Sperlingsschwänze und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff.
+
+Aber daß ich das nicht gleich auf den ersten Hieb gemerkt habe. Ich habe
+eben gedöst.
+
+Richtig, da ist kein Zweifel mehr.
+
+Aber da war wieder etwas andres herum, daß sie es auch nicht sein
+mochte. Da ist ein Geheimnis dahinter. Mich soll doch gleich ein Eisbär
+am Hintern kratzen, wenn ich das nicht rauskriege, was mit dem Eimer los
+ist.
+
+Sie hatte sich nun doch endlich entschlossen zu gehen, freiwillig und
+gutwillig zu gehen. Ich hatte sie unterschätzt. Sie war wasserscheu aus
+guten Gründen. Der Skipper war ein Esel, yes, Sir. Yorikke war viel
+klüger als ihr Kapitän. Sie brauchte überhaupt keinen Kapitän, das sah
+ich jetzt. Sie war wie ein gutes altes Rassepferd, das man allein gehen
+lassen muß, wenn es den richtigen Weg gehen soll. Ein Kapitän braucht
+nur ein unterstempeltes und unterschriebenes Zeugnis vorzulegen, daß er
+ein Examen bestanden hat, und gleich wird ihm ein Eimer anvertraut und
+noch dazu ein so delikater wie die Yorikke einer ist. Gebt einem
+erfahrenen Deckarbeiter den Lohn, den der Skipper bekommt, und er wird
+einen Eimer wie die Yorikke besser über den Froschteich bringen als ein
+konzessionierter Kapitän, der nichts weiter tut, als den ganzen Tag
+herumzulaufen und darüber nachzudenken, wie und wo er die Kost für die
+Mannschaft noch etwas mehr beschneiden könnte, um für die Kompanie und
+für seine Tasche noch einen Nickel mehr herauszuschinden.
+
+Strömung und Wind waren gegen Yorikke auf dem Wege, den zu gehen der
+Skipper sie zu zwingen suchte. Ein so delikates Weibchen darf man nicht
+zwingen, wie und wohin sie gehen soll, dabei kann sie nur auf Abwege
+geraten. Der Lotse war nicht zu tadeln. Der Lotse kennt seinen Hafen
+gut, aber er kennt nicht das Schiff. Dieser Skipper aber kannte das
+Schiff noch viel weniger.
+
+Sie kroch quietschend an dem Kai entlang, und ich mußte jetzt die Beine
+hochziehen, sonst hätte sie die mitgenommen. Und so sehr versessen
+darauf, meine Beine nach Marokko zu schicken, während ich in Cadiz
+blieb, war ich denn doch nicht.
+
+Achtern strampelte sie mit der Quirlflosse, und hier an den Seiten
+spuckte und pißte sie wie besessen, als ob sie wer weiß wieviel gesoffen
+hätte, und als ob sie es wer weiß wie schwer hätte, auf den Weg zu
+kommen, ohne die Laternenpfähle mitzunehmen.
+
+Endlich glückte es dem Skipper, vom Kai klarzukommen. Aber ich war
+überzeugt, daß es Yorikke war, die einsah, daß sie sich nun um sich
+selber zu bekümmern habe, wenn sie mit heiler Haut davonkommen wollte.
+Vielleicht auch wollte sie ihrem Eigentümer ein paar Eimer Farbe sparen.
+
+Je näher sie kam, desto unerträglicher wurde ihr Aussehen. Und es kam
+mir der Gedanke, wenn jetzt der Henker hinter mir her wäre mit der
+offnen Schlinge, und ich könnte ihm entwischen allein nur dadurch, daß
+ich auf der Yorikke anmustere, ich würde die Schlinge vorziehen und zu
+dem Henker sagen: „Lieber Freund, nehmen Sie mich und machen Sie ja
+recht rasch, damit ich vor dieser Nagelkiste bewahrt bleibe.“ Denn jetzt
+sah ich etwas, das schlimmer war als alles, was ich je in dieser
+Hinsicht erblickt habe.
+
+
+ 21
+
+Auf dem Vordeck standen die Mannschaften, die auf Freiwache waren, und
+guckten über die Reeling hinunter auf den Kai, um ja noch mit ihren
+Augen alles an fester Erde auf die lange Fahrt mitzunehmen, was sie in
+diesen letzten Momenten erhaschen konnten. Ich habe verlumpte,
+abgerissene, verkommene, verdreckte, verlauste und verschwärte Seeleute
+genug in meinem Leben und in asiatischen und südamerikanischen Häfen in
+überreicher Vollkommenheit gesehen, aber solche Mannschaft und noch dazu
+eine, die nicht von einem Schiffbruch nach tagelangem Herumirren auf
+eine Küste geworfen wird, sondern die sich auf einem hinausfahrenden
+Dampfer befindet, je gesehen zu haben, konnte ich mich nicht erinnern.
+Daß so etwas denkbar wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah
+gewiß nicht elegant aus, und wenn ich ehrlich sein soll, ich war dem
+Abgerissensein viel näher als dem Nichtzerlumptsein. Doch dieser
+Mannschaft gegenüber sah ich aus wie der Scheik eines Chormädchens der
+Ziegfeld-Follies in New York. Das war kein Totenschiff. Gott mag mir die
+Sünde vergeben. Das waren ja Seeräuber vor ihrer ersten Beute; Piraten,
+die seit sechs Monaten von den Kriegsschiffen aller Nationen verfolgt
+werden; Buccaneers, die so tief gesunken sind, daß sie keinen andern
+Ausweg mehr sehen, als chinesische Gemüse-Dschunken auf dem Meer zu
+überfallen und auszurauben.
+
+Heilige Seeschlange, waren die zerlumpt, waren die dreckig! Einer hatte
+keine Mütze auf, weil er weder Hut noch Mütze besaß, sondern hatte ein
+Stück von einem grünen Unterrock wie einen Turban um den Kopf gewickelt.
+Ein andrer hatte, meine Herren! nein, Sie werden es nicht glauben, aber
+ich will doch gleich auf einem Auslegerboot als Kesselheizer angemustert
+werden, wenn es nicht wahr ist, einer hatte sogar einen Zylinderhut auf.
+Stellen Sie sich das vor, ein Seemann mit einem Zylinderhut. Hat die
+Welt so etwas je erlebt? Vielleicht war er die letzte halbe Stunde vor
+der Ausfahrt noch Schornsteinfeger gewesen. Oder er hatte hier auf dem
+Eimer den Schornstein gefegt. Vielleicht war das eine besondere
+Anordnung auf der Yorikke, daß der Schornstein nur im Zylinderhut gefegt
+werden darf. Ähnliche merkwürdige Anordnungen habe ich auf Schiffen
+erlebt. Aber die Yorikke gehörte nicht zu jenen Schiffen, wo man
+merkwürdige Anordnungen einführte; die Yorikke war ein Schiff, wo man
+mit den Anordnungen, die tausend Jahre alt sind, genug zu tun hat, um
+den Eimer in Gang zu halten. Nein, dieser Zylinder war nur darum im
+Gebrauch, weil der Mann keine andre Kopfbedeckung hatte, und wenn er sie
+gehabt hätte, offenbar Geschmack genug besaß, daß er zu der Frackweste,
+die er auf dem Leibe trug, nicht gut eine Tellermütze aufsetzen konnte.
+Es schien gar nicht so unmöglich zu sein, daß er von seiner eignen
+Hochzeit entsprungen war in jenem verhängnisvollen Augenblick, als es
+anfing, ernst zu werden. Und weil er keinen andern Zufluchtsort vor den
+Megären fand, er in seiner letzten Not die Yorikke erwischte, wo man ihn
+mit offnen Armen willkommen hieß. Hier suchte ihn keine der Megären,
+sicher nicht einen, der in Frack und Zylinder der Braut die Hacken
+zeigte.
+
+Hätte ich gewußt, daß sie wirklich Seeräuber wären, ich hätte sie
+angefleht, mich mitzunehmen zu Ruhm und Gold. Aber wenn man kein
+Unterseeboot hat, ist Seeräuberei heute nicht mehr lohnend genug.
+
+Nein, da es keine Seeräuber sind, dann schon lieber den Henker, als hier
+gezwungen sein, die Yorikke zu fahren. Das Schiff, das mich von dem
+sonnigen Spanien fortlocken kann, das muß schon eins sein, doppelt so
+gut wie die Tuscaloosa. Ach, wie lang ist das her. Ob sie noch in New
+Orleans zu Hause ist? New Orleans, Jackson Square, Levee und ach – na,
+wollen wir mal wieder Blutwurst aufspießen; sobald der bunte Eimer
+vorüber ist, werden wir ja vielleicht noch einen Zweipfünder machen.
+Wenn nicht, ist es auch gut; dann wollen wir mal sehen, was die
+Nudelsuppe macht, oder was es drüben auf dem Holländer zum Abendessen
+gibt.
+
+Wie eine Schnecke, die sich überfressen hat, sich aber gleichzeitig
+trainieren muß für das nächste Schneckenwettlaufen, so zog Yorikke
+vorüber.
+
+Als die Köpfe der Buschräuber gerade über mir waren, rief einer von
+ihnen herunter zu mir: „Hey, ain’t ye sailor?“
+
+„Yesser.“
+
+„Want a dschop?“ Auf sein Englisch braucht er sich nichts einzubilden,
+aber für enge Familienverhältnisse reicht es aus.
+
+Ob ich Arbeit haben will.
+
+Ei, orgelspielender Grizzlybär, der wird das doch nicht etwa ernst
+meinen?
+
+Ob ich Arbeit haben will?
+
+Nun bin ich verloren. Da ist diese Frage, die ich mehr gefürchtet hatte
+als die Posaune des Erzengels Michael am Auferstehungstage. Es ist doch
+üblich, daß man selbst um Arbeit nachfragen gehen muß. Das ist doch
+ewiges unveränderliches Gesetz, solange es nun schon Arbeiter gibt. Und
+ich bin nie fragen gegangen, immer aus Angst, es hätte einmal jemand ja
+sagen können.
+
+Wie alle Seeleute bin ich abergläubisch. Auf dem Schiff und auf dem Meer
+ist man auf Zufälle und also auch auf Aberglauben angewiesen, sonst
+hielte man es nicht aus und würde verrückt. Und dieser Aberglaube ist
+es, der mich zwingt, ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob ich Arbeit
+haben will. Denn würde ich nein sagen, so würde ich mein Glück
+verschwören, würde nie wieder im Leben ein Schiff bekommen und am
+allerwenigsten bekommen, wenn ich es so bitter notwendig brauchte.
+Manchmal glückt das Erzählen einer Geschichte, aber manchmal glückt es
+nicht, und der Mann brüllt „Polizei! Betrüger!“ Wenn man dann nicht
+schnell ein Schiff zur Hand hat, glaubt die Polizei jenem Manne, der
+keinen Spaß versteht und keine Ideen hat.
+
+Dieser Aberglaube hat mir schon manchen bösen Streich gespielt und mir
+Beschäftigungen auf den Hals gebracht, von denen ich nie geglaubt hätte,
+daß solche überhaupt in der Welt vorhanden seien. Er war die Ursache,
+daß ich Totengräbergehilfe in Guayaquil in Ecuador wurde, und daß ich
+auf einem Jahrmarkte in Irland mit meinen eignen Händen helfen mußte,
+das Kreuz, an dem unser Herr und Heiland Jesus Christus seinen letzten
+irdischen Seufzer aushauchte, splitterweise zu verkaufen. Jeder Splitter
+kostete eine halbe Krone, und das Vergrößerungsglas, das die Leute dazu
+kaufen mußten, um den Splitter auch zu sehen, kostete eine andre halbe
+Krone. Zu solcher Beschäftigung, die mir zweifellos nicht gut
+angeschrieben werden wird, kommt man aber, wenn man abergläubisch ist.
+Seitdem mir das in Irland zugestoßen ist, habe ich auch nichts mehr drum
+gegeben, ein braver und guter Mensch zu bleiben, denn ich wußte, daß ich
+nun alles Zukünftige verspielt hatte. Es war ja nicht, daß ich die
+Splitter hatte verkaufen helfen. Nein, das war nicht so schlimm, das
+wäre mir vielleicht gar als ein Verdienst angerechnet worden. Viel
+schlimmer war, daß ich auch geholfen hatte, mit dem Geschäftsinhaber in
+einem Hotelzimmer die Splitter aus einem alten Kistendeckel
+anzufertigen. Aber auch das wäre noch nicht so unverzeihlich gewesen,
+wenn ich nur nicht vor den Leuten meine Seele verschworen hätte, daß ich
+die Splitter selbst aus Palästina mitgebracht hätte, wo sie mir ein
+alter, zum Christentum bekehrter Araber, in dessen Familienbesitz die
+Splitter seit achtzehnhundert Jahren gewesen waren, anvertraut hätte mit
+der feierlichen Versicherung, daß ihm Gott im Traume erschienen sei und
+ihm anbefohlen habe, diese Splitter nur nach Irland und sonst nirgend
+woanders hin gelangen zu lassen. Die in arabischen Zeichen geschriebenen
+Dokumente konnten wir vorweisen und auch eine Übersetzung in Englisch,
+aus der hervorging, daß in dem Dokumente wirklich das drin stünde, was
+wir auf dem Jahrmarkte erzählten. Solche Streiche kann einem der
+Aberglaube spielen, yes, Sir.
+
+Hätten wir das eingenommene Geld wenigstens an ein Kloster oder an den
+Papst abgeschickt, dann wäre es ja auch nicht so schlimm gewesen und ich
+hätte Hoffnung, daß mir vergeben würde. Aber wir verbrauchten das Geld
+für uns, und ich war sehr bedacht darauf, daß ich auch meine richtigen
+Prozente und Tantiemen bekam. Aber ich war keineswegs ein Betrüger, ich
+war nur ein Opfer des Aberglaubens, meines Aberglaubens. Denn die guten
+Leute glaubten mir, die waren nicht abergläubisch.
+
+
+ 22
+
+So war es ganz natürlich, daß, als ich gefragt wurde, ob ich Arbeit
+haben wollte, ich ja sagte. Ich war innerlich gezwungen, ja zu sagen,
+und ich konnte diesem Zwange nicht entweichen. Ich bin sicher, daß ich
+bleich wurde vor Todesangst, auf diesen Eimer zu müssen.
+
+„A. B.?“ fragte der Mann.
+
+Glück zu, da war die Rettung. Die brauchten einen A. B., und ich war
+kein A. B. Ich hütete mich weislich, nun zu sagen: „Plain“, denn im
+Notfalle kann ein Deckarbeiter auch am Rade stehen, besonders wenn das
+Wetter ruhig ist und keine großen Kursveränderungen sind.
+
+Deshalb antwortete ich: „Nosser, no A. B. Black gang. Schwarze Bande.“
+
+„Fein!“ schrie der Mann herunter. „Das ist ja, was wir brauchen. Mach
+hurtig voran. Hopp auf.“
+
+Nun wurde mir alles klar. Sie nahmen, was sie kriegten, und woher sie es
+kriegten, weil sie um soundsoviele Mann zu kurz waren. Ich hätte sagen
+können: Koch, oder ich hätte rufen können: Zimmermann oder Boss’n, sie
+würden immer gerufen haben: „Hopp auf!“ Da war etwas nicht in Ordnung.
+Verflucht, sollte sie doch ein –, nein, trotz aller verdächtigen
+Begleitumstände, die Yorikke schien doch kein Totenschiff zu sein.
+
+Ich mußte die letzten Karten spielen.
+
+„Where ’re ye bound? Wohin geht ihr raus?“
+
+„Wo wollen Sie hin?“
+
+Die sind geeicht. Da ist kein Entrinnen. Ich kann rufen Südpol, ja, ich
+kann rufen Genf, sie werden mir, ohne zu zucken, entgegenrufen: „Da
+gehen wir hin.“
+
+Aber ich wußte ein Land, wo der Eimer nicht wagen dürfte, hinzugehen,
+das war England. Deshalb sagte ich: „England.“
+
+„Mann, was für ein Glück haben Sie!“ schrie die Stimme. „Wir haben
+Ladung, Stückgut für Liverpool. Sie können da abmustern.“
+
+Da hatten sie sich verraten. Das einzige Land, wo ich nicht abmustern
+konnte und auch kein andrer Seemann, der nicht auf einem englischen Boot
+fuhr, das war England. Aber dieser Antwort Liverpool konnte ich nicht
+ausweichen. Ich konnte ihnen doch nicht beweisen, daß sie schwindeln.
+
+Es scheint so lächerlich zu sein. Es konnte mich natürlich niemand
+zwingen, anzuzeichnen für irgendein Boot, auf keinen Fall, solange ich
+hier auf festem Boden stand und nicht unter der Gerichtsbarkeit und
+Gesetzesgewalt des Skippers. Aber das ist ja immer so: wenn man sich zu
+wohl und zu glücklich fühlt, dann möchte man es noch besser haben, läge
+dieses Besser-haben-Wollen auch nur darin versteckt, daß man sich nach
+einem Landschaftswechsel sehnt und eine stille ewige Hoffnung pflegt und
+nährt, daß jeder Wechsel zu Besserem führen müsse. Ich glaube, seit Adam
+sich im Paradiese langweilte, ist es der Fluch der Menschen, sich nie
+vollkommen glücklich zu fühlen und immer auf der Jagd nach einem größern
+Glück zu sein. Wenn ich an England denke mit seinem ewigen Nebel, seiner
+ewigen naßkalten Witterung, seiner Fremdenhetzerei, seines ewig stupid
+lächelnden Kronprinzen, dem die Maske angefroren ist, und es vergleiche
+mit diesem freien, sonnigen Lande und seinen freundlichen Bewohnern und
+mir nun vorstelle, daß ich alles dies zurücklassen soll, so ist mir aber
+doch in der Tat zum Sterben zumute.
+
+Aber da war das Schicksal. Ich hatte ja gesagt, ich hatte nun als guter
+Seemann, der zu seinem Wort steht, anzuzeichnen für den Eimer, und wenn
+er direkt auf den Meeresboden führe; mit diesem Boot, das ich
+ausgelacht, laut und heulend ausgelacht hatte, als ich es zum ersten
+Male gesehen, und das zu fahren ich nicht gedacht hatte, auch wenn ich
+den letzten Atemzug dadurch hätte aufhalten können. Nicht mit diesem
+Schiff und nicht mit dieser Mannschaft. Yorikke rächte sich dafür, daß
+ich sie ausgelacht hatte. Aber es geschah mir im Grunde ganz recht,
+warum war ich hier hinuntergegangen und hatte mich von ausfahrenden
+Schiffen sehen lassen. Da soll man mit der Nase wegbleiben, ausfahrende
+Eimer gehen einen gar nichts an, wenn es nicht der eigne ist, man soll
+sie in Ruhe lassen und nicht hinter ihnen herspucken wollen. Das ist
+immer Pech. Das können die nicht vertragen.
+
+Ein Seemann soll nicht von Fischen träumen, und er soll nicht an Fische
+denken, das ist nicht gut. Und ich war hierhergegangen und wollte sogar
+welche fangen. Jeder Fisch oder seine Mutter hat schon an einem
+ertrunkenen Seemann genascht, darum soll sich ein Seemann vor Fischen
+hüten. Wenn ein Seemann Fische essen will, soll er sie sich von einem
+ordentlichen Fischersmann kaufen. Fische fangen ist dessen Geschäft, dem
+tun sie nichts; wenn der von Fischen träumt, bedeutet es Geld.
+
+Ich schoß die letzte Frage, die möglich war: „Was wird gezahlt?“
+
+„Englisch Geld.“
+
+„Wie ist das Essen?“
+
+„Reichlich.“
+
+Nun war ich umzingelt. Nicht eine schmale Ritze blieb offen. Es gab für
+mein Gewissen auch nicht eine einzige Entschuldigung, mein Yes
+zurückzunehmen.
+
+Sie warfen ein Tau rüber, ich fing das Tau auf, schwang mich mit voran
+gestreckten Füßen gegen die Bordwand, und während sie von Deck aus das
+Tau einholten, stieg ich an der Wand empor und sprang oben über die
+Verschanzung.
+
+Als ich nun auf dem Deck stand, kam Yorikke merkwürdig rasch in volle
+Fahrt, und während ich das versinkende Spanien mit meinen Augen
+liebkoste, hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt durch jenes große Tor
+geschritten war, über dem die schicksalsschweren Worte stehen:
+
+ Wer hier eingeht,
+ Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht,
+ Er ist verweht!
+
+
+
+
+ ZWEITES BUCH
+
+
+ INSCHRIFT ÜBER DEM MANNSCHAFTSQUARTIER DES TOTENSCHIFFES
+
+ WER HIER EINGEHT,
+ DESS’ NAM’ UND SEIN IST AUSGELÖSCHT.
+ ER IST VERWEHT
+ VON IHM IST NICHT EIN HAUCH ERHALTEN
+ IN DER WEITEN, WEITEN WELT.
+ ER KANN ZURÜCK NICHT GEHN,
+ NICHT VORWÄRTSSCHREITEN,
+ DA, WO ER STEHT, IST ER GEBANNT.
+ IHN KENNT NICHT GOTT UND KEINE HÖLLE.
+ ER IST NICHT TAG, ER IST NICHT NACHT.
+ ER IST DAS NICHTS, DAS NIE, DAS NIMMER.
+ ER IST ZU GROSS FÜR DIE UNENDLICHKEIT
+ UND IST ZU WINZIG FÜR DAS SANDKÖRNLEIN,
+ DAS SEINE ZIELE HAT IM WELTENALL.
+ ER IST DAS NIEGEWESEN
+ UND DAS NIEGEDACHT!
+
+
+ 23
+
+Nun betrachtete ich mir die Haifischjäger in der Nähe. Der Eindruck, den
+ich von draußen gewonnen hatte, wurde keineswegs besser. Er wurde nicht
+einmal schlimmer, sondern er wurde einfach vernichtend. Ich hatte
+ursprünglich geglaubt, daß einige der Leute Neger und einige Araber
+wären. Aber jetzt erkannte ich, daß sie nur unter Kohlenstaub und Dreck
+so aussahen. Der Deckarbeiter steht ja nun auf keinem Schiff, die
+russischen Bolschewistenschiffe vielleicht ausgenommen, in der gleichen
+menschlichen Rangstufe mit dem Skipper. Wo sollte das aber auch
+hinführen? Man könnte die beiden ja eines schönen Tages miteinander
+verwechseln und herausfinden, daß der Deckarbeiter ein ebenso
+intelligenter Mensch ist wie der Skipper. Zuweilen wäre das sogar noch
+nicht einmal ein Beweis, daß der Deckarbeiter überhaupt Intelligenz
+besitzt.
+
+Hier gab es zweifellos sogar noch unter den Deckarbeitern Rangstufen. Da
+waren Deckarbeiter ersten Grades, Deckarbeiter zweiter, dritter und
+vierter Ordnung. Jene beiden Taschendiebe, die da standen, schienen
+Deckarbeiter fünften Grades zu sein. Ich weiß nicht, welches
+augenblicklich die unzivilisierteste Menschenrasse ist. Das wechselt ja
+mit jedem Jahre, je nachdem, wie wertvoll oder wie wertlos, für andre,
+das Land ist, wo diese Menschenrasse lebt. Aber diese beiden
+Deckarbeiter würden bei jener unzivilisierten Rasse wohl noch nicht
+einmal gebraucht werden können, um Kokosnüsse aufzuschlagen. So viele
+Deckarbeiter, daß jeder Grad seinen rechtmäßigen Vertreter hier haben
+konnte, hatte man für die Yorikke nicht auftreiben können. Infolgedessen
+waren die Deckarbeiter des ersten, des zweiten, des dritten und des
+vierten Grades nicht vertreten, nur zwei des fünften und drei des
+sechsten Grades. Die Vertreter des fünften Grades habe ich geschildert,
+die des sechsten kann ich nicht beschreiben, da ich sie mit nichts
+vergleichen kann, was sich sonst auf Erden findet. Sie waren durchaus
+Original, und ich muß mich damit begnügen, zu sagen, sie waren würdig
+vertreten, und man glaubte es ihnen ohne Legitimation, daß sie der
+sechsten Ordnung angehörten.
+
+„Gauten Tahk!“ Der Anführer der Taschendiebe und der Jahrmarktsbetrüger
+– halt, ich wollte sagen: der Anführer der Taschendiebe und der
+Roßtäuscher kam auf mich zu. „Ich bing da zwiehte Inkscheneer. Disser
+hier, was miehn Nachtbur ist, disser iehst da Dunkymänn.“ Das war ein
+Englisch! – Ich muß es wohl zukünftig mehr in eine besser lesbare
+Sprache übersetzen, um es verständlich zu machen. Er wollte mir
+mitteilen, daß er der Zweite Ingenieur und damit mein direkter
+Vorgesetzter sei, seit ich zur Schwarzen Bande gehörte, und daß sein
+Nachbar, der an seiner Seite stand, der Donkeyman sei, also mein
+Unteroffizier.
+
+„Und ich,“ stellte ich mich nun selbst vor, „ich bin der Generaldirektor
+der Kompanie, die diesen Eimer besitzt, und ich bin an Bord gekommen, um
+euch Burschen ordentlich Beine zu machen.“
+
+Denn wenn die beiden glaubten, sie könnten mich aufziehen, dann müssen
+sie sich schon einen andern suchen, nicht gerade einen, der schon als
+Küchenjunge fuhr, als seine Altersgenossen noch das Abc lernten. Mit
+solcher Vanille müßt ihr mir nun nicht kommen, dann haben wir den
+rechten Ton gleich von der ersten Wache an und werden nicht viel
+gewürzte Schokolade miteinander trinken.
+
+Aber er hatte nicht begriffen, was ich gesagt hatte; denn er sprach
+weiter: „Gehen Sie zum Quartier und suchen Sie sich Ihre Bunk.“
+
+Ja, da fallen mir aber doch die Holzschindeln vom Dach, der wird doch
+nicht etwa im Ernst geredet haben und ist tatsächlich der Zweite
+Ingenieur und mein Vorgesetzter, dieser ausgebrochene Galeerensträfling?
+Als hätte mich jemand mit einer Keule über den Schädel gehauen, so
+torkelte ich nun zum Forecastle, zum Quartier.
+
+Ein paar Mann lagen faul in ihrer Bunk. Als ich hereinkam, sahen sie
+mich schläfrig an, ohne irgendein Interesse oder irgendein Erstaunen zu
+zeigen. Solche unerwarteten Auffrischungen der Mannschaft schienen zu
+oft vorzukommen, als daß sie wert gewesen wären, sie zu beachten. Ich
+habe später einmal gehört, daß in einem Dutzend Häfen, die Yorikke
+gelegentlich anzulaufen pflegte, immer zwei oder drei Mann am Ufer
+lagen, die aus diesem oder jenem Grunde kein andres Schiff kriegen
+konnten oder unbedingt fort mußten, weil die Kaie zu heiß wurden, und
+nun täglich beteten: „O Herr der Schiffe und Heerscharen, laß’ die gute
+alte Yorikke hereinkommen!“ Denn auf der Yorikke fehlten immer zwei oder
+drei Mann, und ich bin sicher, daß die Yorikke noch nie in ihrem
+urlangen Leben jemals mit voller Mannschaft gefahren ist. Man sagte der
+Yorikke auch sonst noch etwas Häßliches nach. Es wurde behauptet, ihr
+Skipper sei schon viele, viele Male zu den Galgen gegangen und habe die
+Gehenkten untersucht, ob nicht noch ein Fünkchen Leben in ihnen
+zurückgeblieben sei und sie noch so viel Atem hätten, um ein Ja zu
+flüstern und angemustert zu werden für die Yorikke. Diese Nachrede ist
+häßlich, das weiß ich, aber sie ist nicht aus der Luft gegriffen und
+keiner Katze aus dem Ohrläppchen gesaugt. Ich fragte nach einer leeren
+Bunk. Einer der Leute deutete mit dem Kopfe nach einer oberen Schachtel.
+Ich fragte, ob auch niemand drin verreckt sei. Der Mann nickte und sagte
+dann: „Die untere Kommode ist auch frei.“
+
+So nahm ich die untere. Der Mann verlor jegliches Interesse an mir und
+meinem Tun.
+
+In der Bunk war keine Matratze, kein Strohsack, kein Kissen, keine
+Decke, kein Bettuch. Nichts. Nur das nackte wurmstichige Holz. Und sogar
+an dem Holze hatte man jeden Millimeter gespart, der nur gerade noch
+abzusparen war, damit man den Koffer für menschliche Gebeine noch Bunk
+nennen könne und nicht etwa einen Schirmkoffer. In jedem der beiden
+Bunks, die meinem gegenüber lagen, der eine oben der andre unten, lagen
+Lumpen und zerrissene alte Säcke. Das waren die Matratzen für die
+Mannschaften, die jetzt auf Wache waren oder auf dem Deck
+herumlungerten. Als Kissen hatten sie altes Tauwerk. Daß man auf altem
+Tauwerk schlafen könnte, mußte also doch keine Sage aus fernen Zeiten
+sein. In der Bunk, die über der meinen lag, in der also einer kürzlich
+verreckt war, vielleicht gestern erst, lagen keine Lumpen. Wenn ich auf
+meiner Bunk saß, so konnte ich die gegenüberliegende Bunk erreichen,
+ohne daß ich die Beine hätte lang ausstrecken brauchen. Ich stieß
+bereits mit den Knien an, während ich hier saß. Der Schiffsbauer war ein
+guter Rechner gewesen. Er hatte ausgerechnet, daß auf einem Schiff immer
+ein Drittel oder manchmal gar die Hälfte der Mannschaft auf Wache ist in
+der Zeit, wo die Bunks im Gebrauch sind. Aber es traf sich, daß wir drei
+Mann, die wir in diesem Abteil wohnten, alle dieselbe Wache hatten, so
+daß wir alle zu gleicher Zeit uns hier in diesem Raum, der zwischen den
+Bunks kaum einen halben Meter breit war, aus- und ankleiden mußten.
+Dieses Gewimmel von sich bewegenden Armen, Beinen, Köpfen und Schultern
+wurde noch unübersichtlicher, als in einem Nachbarquartier ein Mann mit
+seiner Bunk herunterbrach und die gebrauchen mußte, wo der eine verreckt
+war. Wie sich das ja immer so fügt, so war es auch hier; der neue
+Quartierbewohner gehörte mit zu unsrer Wache, und nun waren die
+Einzelheiten des Gewimmels beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr
+zu unterscheiden. Wenn es gar zu arg durcheinanderging, so daß die
+Schiffsglocke schon die Wache ausrief, dann schrie der eine oder der
+andre plötzlich ein brüllendes Halt! aus, bei dem nach stillem
+Übereinkommen jeder von uns still hielt für die Dauer einer Sekunde.
+Dieses Halt! durfte nicht unnützlich geführt werden, sondern nur dann,
+wenn einer in höchster Not war, daß er seinen linken Arm verloren hatte
+oder sein rechtes Bein sich mit dem linken Bein eines der andern
+Insassen so vertauscht hatte, daß man ohne dieses Halt! nie
+herausgefunden hätte, daß der Martin mit dem rechten Bein des Bertrand
+auf Wache ging, während Bertrand erst bei Tagesanbruch merkte, daß er
+die ganze Wache hindurch mit der rechten Hand des Martin und mit der
+linken des Henrik das Ruderrad gequirlt hatte, während ich die Hände
+Bertrands verdreckte und überhaupt nicht wußte, wer meine abnutzt.
+
+Ernstere Folgen hatte es schon, wenn im trüben Halbschlummer der
+rußenden Quartierlampe Bertrand mit seinem rechten Bein in das linke
+Bein seiner eignen Hose stieg, während er mit seinem linken Bein voll
+angezogen im rechten Bein der Hose Henriks steckte. Manchmal kostete es
+zwei halbe Hosen, manchmal kostete es nach allen Seiten herumfliegende
+Püffe, manchmal eine eingebrochene Bunk oder eine durchstoßene Tür.
+Immer aber kostete es eine ganze Freiwache Streitens und Zankens, um
+festzustellen, wer zuerst in das falsche Hosenbein gestiegen sei,
+wodurch der Unschuldige gezwungen wurde, sich rasch nach einem freien
+Hosenbein umzusehen, damit er nicht etwa mit einem unbekleideten Beine
+auf die Wache zu gehen gezwungen war. Es ist in der Tat zweimal
+vorgekommen, daß ein Hosenbein im Quartier zurückblieb, das beidemal von
+seinem rechtmäßigen Besitzer erst vermißt wurde als der Morgen aufkam.
+Es wäre ja vielleicht gegangen, wenn man sich geeinigt hätte. Aber wer
+sollte denn der Ausgestoßene sein, der eine Minute früher aufzustehen
+verdammt wurde? Beim Aufstehen begann ja gleich der wütende Streit
+darüber, daß eine halbe Stunde zu früh geweckt worden sei, wodurch
+gleich alle in die nötige Stimmung versetzt wurden, um jede
+Einigungsverhandlung auszuschließen und im Keime zu ersticken. Dieses
+Streiten und Wüten und Androhen, daß man der Wache das Zufrühwecken
+schon anstreichen wolle, erreichte seinen Höhepunkt gerade immer dann,
+wenn die Schiffsglocke die Wache aufrief. Dann paarte sich die Wut mit
+Nervosität, daß man nicht fertig würde, und gleich mit einem Anranzer
+die Wache beginnen müsse, weil der Hund wieder einmal zu spät geweckt
+habe, was er aus reinem Schabernack täte, wenn man an und für sich schon
+mit dem Zweiten nicht gut steht.
+
+
+ 24
+
+Elektrisches Licht hatte die Yorikke nicht; sie wußte offenbar in ihrer
+Unschuld auch gar nicht einmal, daß es so etwas gäbe. Das Quartier war
+erleuchtet von einer Petroleumlampe. Man muß diesen Leuchtapparat schon
+so nennen. Es war ein verbeulter Blechbehälter mit einer
+Kranzverschraubung, die aus Eisenblech war, die man aber durch
+betrügerische Mittel so behandelt hatte, daß man glauben sollte, sie sei
+aus reinem Messing. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, wo dieser
+Betrug aufrechterhalten werden konnte. Aber weil jedes Kind weiß, daß
+Messing nicht rostet und von jenem Messingkranz nur noch Rost
+übriggeblieben war, der durch eine lange Gewohnheit in der Form eines
+Zylinderkranzes zusammenhielt, so war der Betrug herausgekommen,
+freilich zu einer Zeit, als die Lampe nicht mehr umgetauscht werden
+konnte, weil die Garantie abgelaufen war. Die Lampe hatte auch einmal
+einen Zylinder gehabt. Der winzige Rest dieses Zylinders konnte allein
+nur dadurch als Überbleibsel eines brauchbaren Lampenzylinders
+zweifelsfrei festgestellt werden, weil zuweilen die Frage durch das
+Quartier schwirrte: „Wer ist denn heute dran, den Zylinder zu putzen?“
+Es war nie jemand dran, und es ging auch nie jemand dran. Diese Frage
+wurde auch nur aus alter Gewohnheit gestellt, um uns in dem Glauben zu
+lassen, wir besäßen einen Lampenzylinder. Ich habe nie jemand gesehen,
+der so viel Mut besessen hätte, „dran“ zu gehen. Er wäre nicht mehr
+davongekommen. Eine leise direkte Berührung des Zylinders hätte ihn in
+Staub zerfallen lassen, der Missetäter wäre dafür verantwortlich
+gewesen, man hätte ihm den Zylinder von der Heuer abgezogen, und auf
+diesem Wege hätte die Kompanie einen neuen Zylinder bekommen. Das Schiff
+noch lange nicht. Irgendwo hätte sich schon ein Glasscherben gefunden,
+der durch die Frage: „Wer ist denn heute dran?“ die Form eines Zylinders
+bekommen hätte. Die Lampe selbst war eine der Lampen, die jene sieben
+Jungfrauen getragen hatten, als sie auf der Hut waren. Unter solchen
+Umständen durfte man nicht gut erwarten, daß sie ein Seemannsquartier
+auch nur notdürftig erleuchten konnte. Der Docht war auch noch derselbe,
+den eine Jungfrau aus ihrem wollenen Unterrock geschnitten hatte. Das
+Öl, das wir für die Lampe faßten, und das aus betrügerischen Gründen
+Petroleum, manchmal sogar Diamantöl genannt wurde, war schon ranzig, als
+die Jungfrauen Öl auf ihre Lampen gossen. In der Zwischenzeit war es
+nicht besser geworden. Bei dem traulichen, zu traulichen Schein dieser
+Lampe, die laut Vorschrift die ganze Nacht hindurch im Quartier zu
+brennen hatte und die erstickend schlechte Luft noch mehr verdickte,
+weil sie nie brannte, sondern stets nur schmökte, sich an- und
+auszukleiden, entweder müde zum Zusammenbrechen oder völlig
+schlaftrunken durch ein handfestes Aufgerissenwerden, hätte in diesem
+engen Raum zu größeren Katastrophen geführt als ich zu erzählen für gut
+befunden habe, wenn nicht in den meisten Fällen abschwächende Umstände
+vorhanden gewesen wären. Es werden ja selten Dinge auf die äußerste
+Spitze getrieben. Um die Wahrheit zu gestehen, in den meisten Fällen
+wurde weder ausgekleidet, noch angekleidet. Nicht etwa, daß wir nichts
+zum An- und Auskleiden gehabt hätten. Das war es nicht. Etwas war schon
+immer noch vorhanden, daß wir wenigstens den guten Willen zeigen
+konnten. Aber was dann, wenn man weder eine Matratze, noch eine Decke,
+noch sonst etwa etwas Ähnliches hat?
+
+Als ich ankam, hatte ich in der Erinnerung an normale Boote gefragt:
+
+„Wo ist denn die Matratze für meine Bunk?“
+
+„Wird hier nicht geliefert.“
+
+„Kissen?“
+
+„Wird hier nicht geliefert.“
+
+„Decke?“
+
+„Wird hier nicht geliefert.“
+
+Mich wunderte nur, daß die Kompanie überhaupt das Schiff lieferte, das
+wir zu fahren hatten; und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man mir
+gesagt hätte, das Schiff muß jeder selber mitbringen. Ich war an Bord
+gekommen mit einem Hut, einer Jacke, einer Hose, einem Hemd und einem
+Paar – als sie noch neu waren, hatten sie Stiefel geheißen. Heute konnte
+man sie nicht gut so nennen, man würde es mir nicht geglaubt haben. Da
+waren aber andre an Bord, die nicht so reich waren. Einer hatte
+überhaupt keine Jacke, ein andrer überhaupt kein Hemd und ein Dritter
+hatte keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die er sich aus alten
+Säcken, Kistendeckeln und Tauwerk gemacht hatte. Später erfuhr ich, daß
+die, die am wenigsten hatten, beim Skipper am höchsten angesehen wurden.
+Sonst ist es gewöhnlich andersherum. Aber hier, je weniger jemand hatte,
+desto weniger unternahm er das Wagnis, auszusteigen und die gute Yorikke
+ihrem Schicksal zu überlassen.
+
+Meine Bunk war an der Korridorwand befestigt. Die gegenüberliegenden
+Bunks waren an einer Holzwand befestigt, die das Quartier in zwei
+Kammern teilte. An der andern Seite dieser Holzwand waren gleichfalls
+zwei Bunks und diesen beiden Bunks gegenüber an der äußeren Bordwand
+waren abermals zwei Bunks. Dadurch war es möglich gemacht worden, daß
+dieses Quartier, das für vier ausgewachsene Menschen schon reichlich
+knapp war, nun acht Leuten zum ständigen Wohnaufenthalt zu dienen hatte.
+Jene Holzwand, die das Quartier in zwei Kammern teilte, war aber nicht
+durch das ganze Quartier gezogen, weil sonst die Leute, die in der
+äußeren, der Bordwandkammer lagen, zur Seitenluke hätten herauskriechen
+müssen, die aber auch nicht groß genug war, daß sich jemand hätte
+hindurchzwängen können. Diese Wand war also nur in zwei Drittel Länge
+mitten durch den Raum gezogen, und da, wo diese Wand aufhörte, begann
+der Meßraum, der Speisesalon. Laut Vorschrift muß der Meßraum von den
+Schlafkammern getrennt sein. Das war hier vollkommen geglückt. Alle drei
+Räume waren derselbe Raum, durch die Wand aber war dieser Raum in drei
+Räume geteilt, wo eben nur die Türen immer offen waren. So hatte man
+sich das zu denken, denn die Kammern hatten keine besondere Tür, das
+Quartier hatte eine gemeinschaftliche Tür, die in den Korridor führte.
+In jenem Meßraum stand der rohe Eßtisch, und an jeder Längsseite des
+Tisches war eine rohe Bank. In einer Ecke, neben dem Eßtisch, stand ein
+alter verbeulter Blecheimer, der immer leckte. Er war Wascheimer,
+Badewanne, Scheuereimer alles in einer Gestalt. Außerdem diente er noch
+andern Zwecken, darunter auch solchen, um schwerbesoffene Seeleute um
+einige Kilo zu erleichtern, in den Fällen, wo der Eimer rechtzeitig
+erreicht wurde. Wurde er zu spät erreicht, wachte gewöhnlich ein
+Unbeteiligter in seiner Bunk auf, weil er von einem Wolkenbruch
+heimgesucht worden war, der alles mögliche in die Bunk gebracht hatte,
+das auf und unter der Erde erzeugt wird, mit der einzigen Ausnahme:
+Wasser. Wasser war nicht dabei, bei diesem Wolkenbruch, no, Sir.
+
+Da waren vier Kleiderspinde in diesem Quartier. Wäre es nicht der
+verrotteten Lumpen und alten Säcke wegen gewesen, die darin hingen, so
+hätte man die Spinde leer nennen können. Acht Mann lagen in diesem
+Quartier, aber es waren nur vier Spinde drin. Vier Spinde zuviel, denn
+wenn man nichts zum Reinhängen hat, braucht man auch kein Spind. Das war
+ja auch der Grund, weshalb nur vier vorhanden waren. Es war von
+vornherein ausgemacht, daß fünfzig Prozent der Mannschaft, die auf der
+Yorikke fahren, nichts haben, das sich lohnen möchte, in einem Spinde
+aufbewahrt zu werden. Türen hatten die vier Spinde nicht mehr, woraus zu
+schließen war, daß hundert Prozent der Mannschaft keine Spinde
+benötigten.
+
+Die Bullaugen waren auffallend klein und trübe. Die Frage, wer sie zu
+putzen hatte, tauchte zuweilen auf, aber niemand beantwortete sie mit
+„ich“, und wenn sie einer mit „Sie“ oder mit „du“ beantwortete, so wurde
+das unter Wutausbrüchen bestritten, bis man sich auf „er“ einigte. Wer
+immer auch dieser Er sein mochte: wenn er genannt wurde, war er auf
+Wache, konnte also an der Abstimmung dieser Frage nicht teilnehmen und
+hätte jetzt übrigens auch gar keine Zeit gehabt, sich um ungeputzte
+Bullaugen zu kümmern. Das Putzen des einen kam ja sowieso nicht in
+Frage, weil das Glas ausgebrochen und die leere Stelle mit
+Zeitungspapier verklebt worden war.
+
+Das war der Grund, weshalb selbst bei hellem Sonnenschein das Quartier
+in mysteriöse Dämmerung gehüllt war. Die beiden Bullaugen, die zum Deck
+hinausführten, durften bei Nacht nicht geöffnet werden, weil das
+Lampenlicht des Quartiers die Wache auf der Brücke störte. Deshalb stand
+in dem Quartier die Luft still wie festgerammt, weil kein Durchzug war.
+
+Jeden Tag wurde das Quartier gefegt von einem, der im Dreck stecken
+blieb und seine Füße nicht mehr herausziehen konnte oder eine Nähnadel
+oder einen Knopf verloren hatte. Einmal in der Woche wurde das Quartier
+mit Salzwasser überflutet, was wir scheuern und schrubben nannten. Es
+gab weder Seife, noch Soda, noch Bürsten. Wer sollte sie liefern? Die
+Kompanie nicht. Und die Mannschaft hatte nicht einmal Seife, um sich ein
+Hemd zu waschen. Man war schon selig, wenn man eine Krume Seife in der
+Tasche trug, um sich das Gesicht zuweilen waschen zu können. Liegen
+lassen durfte man die Krume nicht. Wenn sie wie ein Stecknadelknopf groß
+gewesen wäre, irgend jemand hätte sie gefunden, behalten und nie
+zurückgegeben.
+
+Der Dreck war so dick und so hübsch festgetrocknet, daß man eine Axt
+gebraucht hätte, ihn loszukriegen. Hätte ich je die Kraft gefunden, das
+zu tun, ich würde mich darüber hergemacht haben. Nicht aus übertriebenen
+Reinlichkeitsgefühlen, die gingen auf der Yorikke bald verloren, sondern
+aus wissenschaftlichen Gründen. Ich trug in mir die feste Überzeugung,
+und diese Überzeugung habe ich heute noch, daß, wenn ich nicht zu müde
+gewesen wäre und den Dreck schichtweise abgemeißelt hätte, dann hätte
+ich in den tieferen Schichten Geldmünzen der Phönizier gefunden. Was für
+Schätze ich gefunden hätte, wenn ich noch einige Schichten tiefer
+gedrungen wäre, wage ich gar nicht auszudenken. Vielleicht lagen da die
+abgeschnittenen Fingernägel des Urgroßvaters des Neandertalmenschen, die
+solange schon und so vergebens gesucht werden, und die so ungemein
+wichtig sind, um festzustellen, ob der Höhlenmensch schon etwas von Mr.
+Henry Ford aus Detroit gehört hätte, oder ob er imstande gewesen wäre,
+auszurechnen, wieviel Dollar Mr. Rockefeller jede Sekunde verdient, wenn
+er seine blaue Brille putzt, denn die Universitäten können nur dann auf
+einen Privatzuschuß rechnen, wenn sie einen Teil der Reklame zu
+übernehmen gewillt sind. Wenn man das Quartier verlassen wollte, so
+hatte man einen dunklen lächerlich schmalen Korridor zu durchwandern. An
+der gegenüberliegenden Seite unsers Quartiers lag ein ähnliches
+Quartier, nicht genau so, nur ähnlich, weil es noch verdreckter, noch
+muffiger und noch dunkler war als unsres. Das eine Ende des Korridors
+führte auf das Deck, das andre zu einer Fallgrube. Ehe man diese
+Fallgrube erreichte, waren zu beiden Seiten noch je eine winzig kleine
+Kammer, die für den Zimmermann, den Bootsmann, den Donkeyman und noch
+einen -mann bestimmt waren, die alle im Unteroffiziersrange standen, und
+die deshalb ihre eignen Quartiere hatten, damit sie nicht dieselbe Luft
+wie die gewöhnliche Mannschaft zu atmen verpflichtet waren, was der
+Autorität hätte schaden können.
+
+Die Fallgrube führte zu zwei Kammern, die eine war die Ketten- und
+Rüstkammer, während die andre die Schreckenskammer genannt wurde. Es war
+niemand auf der Yorikke, der behaupten konnte, er sei je in der
+Schreckenskammer gewesen oder habe je einen Blick hineingeworfen. Sie
+war immer fest verschlossen. Als einmal aus irgendeinem Grunde, ich weiß
+nicht mehr zu sagen, welches dieser unerhörte Grund war, nach dem
+Schlüssel für die Schreckenskammer gefragt wurde, stellte es sich
+heraus, daß niemand wußte, wo der Schlüssel sei, und daß die Offiziere
+behaupteten, der Skipper habe den Schlüssel. Der Skipper aber verschwor
+seine Seele und seine noch ungeborenen Kinder, daß er den Schlüssel
+nicht habe, und daß er strengstens verbiete, daß jemand die Kammer öffne
+oder gar hineingehe. Jeder Skipper hat seine Schrullen. Er hatte viele,
+unter andern jene, nie die Quartiere der Mannschaft zu inspizieren, was
+er jede Woche einmal zu tun, laut Vorschrift, verpflichtet war. Er
+begründete die Schrulle damit, daß er es nächste Woche ja tun könne, daß
+er sich gerade heute nicht den Appetit verderben wolle und auch das
+Besteck noch nicht gesetzt habe, was er jetzt zuerst einmal tun müsse.
+
+
+ 25
+
+Es waren aber doch einmal Leute in jener Schreckenskammer gewesen und
+hatten sich alles angesehen, was drin war. Diese Leute waren jetzt nicht
+mehr auf der Yorikke, sie waren sofort runtergefeuert worden, als es
+herauskam, daß sie es gewagt hatten, in jene Kammer einzudringen. Aber
+ihre Erzählung hatte sich doch auf der Yorikke erhalten. Solche
+Erzählungen erhalten sich immer, auch wenn die gesamte Mannschaft
+entlassen wird auf einen Ruck, besonders in jenen Fällen, wenn der Eimer
+auf einige Monate ins Trockendock muß.
+
+Die Mannschaft mag das Schiff verlassen. Die Erzählungen verlassen ein
+Schiff nie. Wenn das Schiff die Erzählung gehört hat, bleibt die
+Erzählung auch drauf. Sie dringt in das Eisen, in das Holz, in die
+Bunks, in die Ladeschächte, in die Kohlenbunker, in den Kesselraum. Und
+dort erzählt das Schiff in den Nachtstunden seinen Kameraden, den
+Mannschaften, die Geschichten wieder, Wort für Wort, genauer als wenn
+die Geschichten gedruckt wären.
+
+Auch diese Geschichten über die Schreckenskammer waren erhalten
+geblieben. In der Kammer hatten die beiden Eindringlinge mehrere
+menschliche Skelette gesehen. Wieviele es waren, hatten sie in ihrem
+grausigen Schreck nicht zählen können. Es wäre auch nur schwer
+möglich gewesen, weil die Skelette auseinandergefallen und
+durcheinandergeschüttelt worden waren. Es war aber eine ganze Anzahl. Es
+wurde auch bald festgestellt, wer die Skelette waren, oder richtiger,
+wem sie ursprünglich gehörten. Die Skelette waren die Überreste
+ehemaliger Mitglieder der Yorikke-Mannschaft, die von Ratten
+aufgefressen worden waren, die die Größe sehr großer Katzen hatten.
+Diese überlebensgroßen Ratten waren wiederholt gesehen worden, wenn sie
+aus irgendwelchen Löchern der Schreckenskammer herauswischten.
+
+Warum diese bedauernswerten Opfer den Ratten zum Fraße vorgeworfen
+worden waren, stand zuerst nicht zweifelsfrei fest. Es kamen Gerüchte in
+Umlauf, die sich schließlich aber auf eines kristallisierten. Diese
+armen Männer waren geopfert worden, um die Fahrtkosten für die Yorikke
+niedrigzuhalten und die Dividenden der Kompanie oder des Einzelbesitzers
+der Yorikke hochzuhalten. Wenn nämlich in einem Hafen ein Mann
+abmusterte und er wagte es, die Bezahlung der Überstunden zu verlangen,
+wie es laut Vereinbarung getan werden soll, so wurde er kurzerhand in
+die Schreckenskammer gebracht.
+
+Dem Skipper blieb ja kein andrer Ausweg. Die Bezahlung der Heuer und die
+Abmusterung wurden im Hafen vorgenommen. Dort konnte der Skipper den
+Mann, der seine Überstunden bezahlt haben wollte, nicht gut über Bord
+werfen; denn das hätten die Hafenbehörden sehen können und den Skipper
+wegen Hafenverunreinigung mit Geldstrafe belegt. Was er mit seinem Manne
+tat, darum hatten sich die Behörden nicht zu kümmern, nur was er mit dem
+Hafen und dem Hafenwasser tat. Hätte der Skipper nun den Mann einfach
+vom Boot gehen lassen, so wäre der Mann zur Polizei gegangen oder zum
+Konsul oder zu einer Seemannsgewerkschaft, und der Skipper hätte die
+Überstunden bezahlen müssen. Um das zu vermeiden, wurde der Mann kurz
+entschlossen in die Schreckenskammer eingeschlossen.
+
+Wenn das Schiff nun auf hoher See war, so ging der Skipper runter, um
+den Mann wieder rauszulassen, denn nun war er ja nicht mehr gefährlich.
+Aber die Ratten wollten den Mann jetzt nicht mehr hergeben, sie hatten
+schon angefangen, an ihm zu essen, und eine Anzahl von Paaren wartete
+bereits mit Heiratslizenzen, weil die Gelegenheit so günstig war, ein
+ganz ausgezeichnetes Hochzeitsessen geben zu können. Der Skipper
+brauchte den Mann bitter notwendig zum Arbeiten, und er mußte sich in
+einen Kampf mit den Ratten einlassen. Bei diesem Kampfe aber zog der
+Skipper jedesmal den Kürzeren und mußte endlich, um sein eignes Leben zu
+retten, die Kammer verlassen, ohne den Mann mitzukriegen. Hilfe konnte
+der Skipper ja nicht herbeirufen, dann wäre das alles herausgekommen,
+und er hätte von nun an die Überstunden bezahlen müssen.
+
+Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube
+ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der
+Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie
+gepackt worden. So hart, wie wir arbeiten mußten, haben Sklaven nie
+arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind
+Sklaven nie gewesen. Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden
+war, und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware mußte
+sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und
+übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur die Transportkosten,
+geschweige denn einen Preis, daß der Händler noch tüchtig daran
+verdienen konnte.
+
+Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die
+als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie
+Menschen. Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und
+darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten,
+bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie das
+Futter nicht mehr wert sind. Da gibt es zu dieser Stunde noch Schiffe
+zivilisierter Völker, auf denen die Seeleute gepeitscht werden dürfen,
+wenn sie sich weigern, die Arbeit von zwei Wachen dauernd zu übernehmen
+und von der dritten Wache noch die Hälfte, weil der Schiffsbesitzer so
+schlechte Löhne zahlt, daß die Mannschaft immer um ein Drittel zu kurz
+ist.
+
+Und der Seemann hat zu essen, was ihm vorgesetzt wird, ob der Koch
+gestern noch Schneider war, weil ein richtiger Koch für die Heuer nicht
+zu haben war, oder ob der Skipper an der Mannschaftskost so viel zu
+ersparen trachtet, daß die Mannschaft nie satt wird.
+
+Die Seegeschichten erzählen viel über Schiffe und über Matrosen. Wenn
+man diese Schiffe aber ein wenig aufmerksam betrachtet, dann sieht man,
+daß es Sonntag-Nachmittags-Schiffe sind, und die Matrosen in jenen
+Seegeschichten sind immer lustige Operettensänger, die sich die Hände
+maniküren und ihren Liebeskummer hätscheln.
+
+
+ 26
+
+Mit den schläfrigen Leuten im Quartier hatte ich alles in allem kaum
+zehn Worte gewechselt. Als ich meine Bunk hatte und mir gesagt war, daß
+es hier weder Decken noch Matratzen gäbe, war der Gesprächsstoff
+erschöpft.
+
+Über mir hörte ich das übliche Rattern und Knattern der Ketten, das
+dröhnende Hämmern des Ankers, der gegen die Bordwand schlug, ehe er zur
+Ruhe kam, das Rasseln der Wintschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln, das
+Kommandieren, das Fluchen, das alles notwendig ist, damit ein Schiff
+rausgehen kann. Dasselbe Geräusch hört man, wenn das Schiff reinkommt.
+
+Mich ärgert dieses Geräusch immer und macht mich mißmutig. Ich fühle
+mich nur wohl, wenn der Eimer draußen auf hoher See schwimmt. Ganz
+gleich, ob er heim geht oder raus. Aber ich will draußen sein mit dem
+Schiff. Ein Schiff im Hafen ist kein Schiff, sondern eine Kiste, die
+gepackt wird, in die eingepackt oder aus der ausgepackt wird. Im Hafen
+ist man auch gar kein Seemann auf dem Schiff; man ist eben gerade
+Tagelöhner. Die dreckigste Arbeit wird im Hafen gemacht, und man
+arbeitet, als ob man in einer Fabrik wäre, aber nicht auf einem Schiff.
+Solange ich das Rasseln und Kommandieren hörte, verließ ich das Quartier
+nicht. Wo gearbeitet wird, da soll man nicht nahe gehen. Denn steht man
+erst einmal in der Nähe, dann kann leicht etwas für einen dabei
+abfallen: „He, langen Sie doch da rasch mal zu.“ Ich denke ja gar nicht
+daran. Wozu denn? Ich kriege es ja nicht bezahlt. Da hängen sie in jedes
+Bureau und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung: „Do
+more!“ oder „Tu mehr!“ Die Erklärung wird einem kostenfrei gegeben auf
+einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz gelegt wird: „Tu mehr!
+Denn wenn du heute mehr tust, als man von dir fordert, wenn du heute
+mehr arbeitest, als wofür du bezahlt wirst, dann wird man dir auch eines
+Tages das bezahlen, was du mehr tust.“
+
+Mich hat noch nie jemand damit fangen können, darum bin ich ja auch
+nicht Generaldirektor der Pacific Railway and Steamship Co. Inc.
+geworden. Man kann es immer wieder in den Sonntagsblättern lesen und in
+den Zeitschriften und in den Bekenntnissen erfolgreicher Männer, daß
+allein durch dieses freiwillige Mehrarbeiten, das Ehrgeiz, Strebsamkeit
+und den Wunsch, kommandieren zu dürfen, verrät, schon manch einfacher
+schlichter Arbeitsmann Generaldirektor oder Milliardär geworden sei, und
+daß jedem, der diesen Spruch gewissenhaft befolgt, der gleiche Weg zum
+Generaldirektorposten offenstehe. Aber soviel Generaldirektorstellen und
+soviel Milliardärposten sind in ganz Amerika nicht frei. Da kann ich
+erst mal dreißig Jahre lang immer mehr und immer noch mehr arbeiten,
+ohne mehr bezahlt zu bekommen, weil ich ja doch Generaldirektor werden
+soll. Wenn ich dann gelegentlich einmal nachfrage: „Na, wie ist es denn
+nun mit dem Generaldirektorposten, ist noch nichts frei?“ so wird mir
+gesagt: „Bedaure sehr, momentan noch nicht, wir haben Sie aber
+vorgemerkt, arbeiten Sie noch eine Weile tüchtig so weiter, wir werden
+Sie nicht aus dem Auge verlieren.“ Früher hieß es: „Jeder meiner
+Soldaten trägt den Marschallstab in seinem Tornister“, heute heißt es:
+„Jeder unsrer Arbeiter und Angestellten kann Generaldirektor werden.“
+Ich habe als Junge ja auch Zeitungen ausgeschrien und Stiefel geputzt
+und mir mit elf Jahren schon meinen Lebensunterhalt verdienen müssen,
+aber ich bin bis heute weder Generaldirektor noch Milliardär geworden.
+Die Zeitungen, die jene Milliardäre als Jungen ausgerufen haben, und die
+Stiefel, die sie geputzt haben, müssen ganz andre Zeitungen und Stiefel
+gewesen sein, als die, mit denen ich in Berührung gekommen bin.
+
+Wenn man des Nachts so auf dem Ausguck steht, und es ist alles ruhig,
+kommen einem allerlei schnurrige Gedanken. So habe ich mir schon
+ausgemalt, was geschehen wäre, wenn die Soldaten Napoleons plötzlich
+alle ihren Marschallstab aus ihren Tornistern genommen hätten. Wer macht
+denn dann die Nieten warm in der Kesselschmiede? Die frischgeadelten
+Generaldirektoren natürlich. Wer sonst? Es ist ja niemand sonst
+übriggeblieben, der es machen könnte, und der Kessel soll doch fertig
+werden, und die Schlacht soll geschlagen werden, weil man sonst weder
+Generaldirektoren noch Marschälle braucht. Der Glaube füllt leere Säcke
+mit Gold, macht Zimmermannssöhne zu Göttern und Artillerieleutnants zu
+Kaisern, deren Namen Jahrtausende überstrahlt. Mach’ die Menschen
+gläubig, und sie prügeln ihren lieben Gott zum Himmel hinaus und setzen
+dich auf seinen Thron. Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube
+zerbricht alle Sklavenketten.
+
+Als das Gerassel endlich einschlief und ich bereits Deckarbeiter müßig
+herumstehen sah, verließ ich das Quartier und ging hinaus aufs Deck.
+Gleich hoppte der Taschendieb, der sich mir als Zweiten Ingenieur
+vorgestellt hatte, auf mich zu und sagte in seinem unsagbar komischen
+Englisch zu mir: „Der Skipper will mit Ihnen sprechen, kommen Sie mit.“
+
+Die Redewendung „Kommen Sie mit“ bereitet in neunzehn von zwanzig Fällen
+nur den Satz vor: „Wir werden Sie für eine gute Weile hierbehalten.“
+
+Auch wenn in diesem Ausnahmefalle der zweite Satz nicht gesprochen
+worden wäre, so war seine Folge doch schon entschieden. Yorikke lief
+bereits wie das leibhaftige Donnerwetter auf hoher See. Der Lotse hatte
+das Boot verlassen, und der Erste Offizier hatte die Wache übernommen.
+
+Der Skipper war ein noch junger Mann, sehr gut genährt, mit einem
+gesunden, roten und glattrasierten Gesicht. Er hatte wässerig blaue
+Augen, und in seinem gelbbraunen Haar waren brandrote Farbtöne. Er war
+außerordentlich gut gekleidet, beinahe überelegant. Die Zusammenstellung
+der Farben des Anzuges, der Krawatte, der Strümpfe und der eleganten
+Halbschuhe waren gut gewählt. Nach seinem Aussehen würde man ihn nicht
+für den Kapitän eines kleinen Frachtdampfers, nicht einmal für den eines
+großen Passagierschiffes gehalten haben. Er sah nicht aus, als ob er
+einen Eimer auch nur von einer offnen Reede zu einer andern offnen Reede
+bringen könnte, ohne dabei auf der andern Seite der Erdoberfläche zu
+landen. Er sprach ein gutes reines Englisch, wie man es in einer sehr
+guten Schule in einem nicht englisch sprechenden Lande lernen mag. Die
+Worte wählte er sehr sorgfältig aus, es machte den Eindruck, als ob er
+sehr geschickt, aber sehr rasch während des Sprechens nur solche Worte
+auswählte, die er fehlerfrei aussprechen konnte. Um dies mit Erfolg tun
+zu können, machte er im Sprechen Pausen, wodurch er die Vorstellung
+erweckte, daß er ein Denker sei. Der Kontrast zwischen dem Skipper und
+dem Zweiten Ingenieur, der ja ebenfalls Offizier war, hatte nichts
+Komisches an sich, sondern war so erschütternd, daß, wenn ich je im
+Zweifel gewesen wäre, wo ich war, ich es aus diesem Kontrast sofort
+gewußt hätte.
+
+„So, Sie sind der neue Kohlenzieher?“ grüßte er mich, als ich in seine
+Kabine trat.
+
+„Ich? Kohlenzieher? No, Sir, I am fireman, ich bin Heizer.“ Mir kam
+schon der Leuchtturm in Sicht.
+
+„Von Heizer habe ich nichts gesagt“, mischte sich jetzt der Taschendieb
+ein. „Ich habe gefragt Heizpersonal, nicht wahr, das habe ich doch
+gefragt?“
+
+„Das ist richtig,“ erwiderte ich, „das haben Sie gefragt, und das habe
+ich mit ja beantwortet. Aber nie in meinem Leben habe ich dabei an
+Kohlenzieher gedacht.“
+
+Der Skipper machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte zu dem
+Roßtäuscher: „Das ist nun Ihre Sache, Mr. Dils. Ich habe geglaubt, das
+sei in Ordnung.“
+
+„Ich will sofort das Boot verlassen, Skipper. Ich denke mit keiner Idee
+daran, als Kohlenzieher zu zeichnen. Sofort ausbooten. Ich protestiere,
+und ich werde mich beim Hafenamt beschweren wegen versuchten
+Shanghaiing.“
+
+„Wer hat Sie shanghaied?“ fuhr jetzt der Roßtäuscher auf. „Ich? Das ist
+eine unverschämte Lüge.“
+
+„Dils,“ sagte der Kapitän jetzt sehr ernst, „damit will ich nichts zu
+tun haben. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Das haben Sie auszubaden,
+das erkläre ich gleich hier. Machen Sie das draußen miteinander ab.“
+
+Der Taschendieb ließ sich aber nicht verwirren. „Was habe ich gefragt?
+Habe ich nicht gefragt: Kesselgang?“
+
+„Richtig, das haben Sie gefragt, aber Sie haben nicht gesagt –“
+
+„Gehört der Kohlenzieher zur Schwarzen Bande oder nicht?“ fragte der
+Ingenieur nun lauernd.
+
+„Allerdings gehört der Kohlenzieher dazu,“ bestätigte ich der Wahrheit
+gemäß, „aber ich habe –“
+
+„Dann ist es ganz in Ordnung“, sagte nun der Skipper. „Wenn Sie Heizer
+meinten, so hätten Sie das ausdrücklich sagen müssen, dann hätte Mr.
+Dils Ihnen schon gesagt, daß wir keinen Heizer zu kurz sind. Also gut,
+dann können wir ja nun schreiben.“
+
+Er nahm die Mannschaftslisten und fragte nach meinem Namen.
+
+Unter meinem guten Seemannsnamen auf einem Totenschiff? Niemals. So tief
+bin ich noch nicht gesunken. Ich kriege ja nie wieder in meinem Leben
+einen ehrenhaften Eimer. Lieber das Entlassungszeugnis aus einem
+anständigen Gefängnis, das ist besser als das Quittungsbuch eines
+Totenschiffes.
+
+So gab ich meinen guten Namen auf und sagte mich von meinen
+Familienbanden los. Ich hatte keinen Namen mehr.
+
+„Geboren in und wann?“
+
+Der Name war weg, aber ich hatte meine Heimat noch.
+
+„Geboren in und wann?“
+
+„In – in –“
+
+„In wo?“
+
+„Alexandria.“
+
+„In U. S.?“
+
+„Nein in Ägypten.“
+
+Nun war auch die Heimat weg; denn von nun hatte ich das Quittungsbuch
+der Yorikke als einzigen Ausweis für den Rest meines Lebens.
+
+„Nationalität? Britisch?“
+
+„No. Ohne Nationalität.“
+
+Ich sollte meinen Namen und meine Nationalität in den Listen der Yorikke
+für ewige Zeiten registriert wissen? Ein gutgewaschener Amerikaner,
+zivilisiert, ausgerüstet mit dem Evangelium der Zahnbürste und der
+Wissenschaft des täglichen Füßewaschens, sollte je eine Yorikke
+gefahren, je eine Yorikke bedient, gescheuert, angestrichen haben? Meine
+Heimat, nein, nicht meine Heimat, aber die Vertreter meiner Heimat
+hatten mich zwar ausgestoßen und verleugnet. Aber kann ich die Erde
+verleugnen, deren Hauch ich mit meinem ersten Atemzuge trank? Nicht der
+Vertreter wegen und nicht seiner Flagge wegen, aber der Liebe zur Heimat
+wegen, ihr zuliebe, ihr zu Ehren, habe ich sie abzuschwören. Auf der
+Yorikke fährt kein ehrlicher amerikanischer Junge, selbst wenn er dem
+Henker entlaufen sein sollte.
+
+„No, Sir, keine Nationalität.“
+
+Nach Seemannskarte, Heuerbuch, Paß oder sonst etwas Ähnlichem fragte er
+nicht. Er wußte, daß Leute, die zur Yorikke kommen, nicht nach solchen
+Dingen gefragt werden dürfen. Sie könnten ja sagen: „Ich habe keine
+Papiere.“ Was dann? Dann dürfte er sie nicht zeichnen lassen, und
+Yorikke würde keine Mannschaft haben. Beim nächsten Konsul mußte die
+Liste ja amtlich bestätigt werden. Aber dann war nichts mehr zu ändern,
+der Mann war bereits angemustert, hatte bereits gefahren, da war es
+nicht mehr möglich, ihm die konsulare Bestätigung zu verweigern. Der
+Konsul kennt amtlich keine Totenschiffe und nichtamtlich glaubt er nicht
+daran. Konsul zu sein, erfordert Talente. Die Konsuln glauben auch nicht
+an das Geborensein von Menschen, wenn der Geburtsschein das Geborensein
+nicht schwarz auf weiß beurkundet.
+
+Was blieb von mir noch übrig, nachdem Name und Heimat verspielt waren?
+Die Arbeitskraft. Das allein war es, das zählte. Das allein wurde
+bezahlt. Nicht zum vollen Werte. Aber etwas, damit nicht die
+Erschlaffung den Spaß verdirbt.
+
+„Die Heuer für die Kohlenzieher ist siebzig Peseta“, sagte der Skipper
+so wie nebenbei, während er in die Liste schreibt.
+
+„Wa–a–a–s?“ schreie ich. „Siebzig Peseta?“
+
+„Ja, haben Sie das nicht gewußt?“ fragt er mit einer müden Geste.
+
+„Ich habe angemustert für englische Heuer“, verteidige ich nun meinen
+Lohn.
+
+„Mr. Dils?“ fragt der Skipper. „Was ist das, Mr. Dils?“
+
+„Habe ich Ihnen englische Heuer versprochen?“ sagt der Roßtäuscher
+grinsend zu mir.
+
+Ich könnte diesem Hund gleich so eine in die Fresse hauen, aber hier
+will ich doch nicht in Eisen liegen. Nicht auf der Yorikke, wo mich die
+Ratten lebendig anfressen würden, wenn man sich nicht wehren kann.
+„Jawohl, Sie haben mir englische Heuer versprochen“, schrie ich nun in
+Wut auf den Gauner ein. Es ist ja das Letzte, was ich zu verteidigen
+habe, meinen Arbeitslohn. Den Hundelohn. Je schwerer die Arbeit, desto
+geringer der Lohn. Der Kohlenzieher hat die schwerste und teuflischste
+Arbeit auf dem Eimer und meist den schäbigsten Lohn. Englische Heuer ist
+ja auch nicht berühmt, aber wo in der Welt bekommt denn der Arbeiter
+seinen vollen Lohn? Wer den Arbeiter seinen Lohn nicht zahlt, ist ein
+Bluthund. Aber man braucht den Lohn mit dem Arbeiter, der die Arbeit so
+bitter benötigt, nur vorher ausmachen, dann ist es sein Lohn. Sein Lohn,
+und man ist kein Bluthund mehr. Gäbe es keine Gesetze, dann würde es
+auch keine Milliardäre geben. Worte kann man kneten, darum werden
+Gesetze in Worten niedergeschrieben. Dem Hungernden ist das Kneten bei
+Todesstrafe verboten; bei etwa mildernden Umständen ist Freiheitsstrafe
+vorgesehen, um Gnade üben zu können und die Menschlichkeit der Gesetze
+zu beweisen.
+
+„Jawohl, das haben Sie, Sie haben mir englische Heuer zugesagt“, schreie
+ich noch einmal.
+
+„Schreien Sie nicht so“, sagt der Kapitän und sieht von der Liste auf.
+„Wie ist das nun, Dils? Ich bin das endlich leid. Wenn Sie Leute
+annehmen, will ich doch, daß alles in Ordnung ist.“
+
+Der Skipper spielt fein. Yorikke darf stolz sein auf ihren Meister.
+
+„Von englischer Heuer habe ich gar nicht gesprochen“, sagt der
+Roßtäuscher.
+
+„Doch haben Sie das. Das kann ich beschwören.“ Das winzige Eckchen
+Recht, das mir noch geblieben ist, will ich verteidigen bis zum
+Äußersten.
+
+„Beschwören? Begehen Sie nur ja keinen Meineid, Mann. Ich weiß genau,
+was ich alles zu Ihnen gesagt habe, und ich weiß ganz genau, was Sie
+geantwortet haben. Ich habe hier genug Zeugen an Bord, die bei mir
+standen, als ich Sie anmusterte. Ich habe gesagt ‚englisches Geld‘, aber
+von englischer Heuer habe ich kein Wort gesagt.“
+
+Der Hund hat recht. Er hat in der Tat englisches Geld gesagt und das
+Wort Heuer gar nicht erwähnt. Ich hatte natürlich darunter englische
+Heuer verstanden.
+
+„Dann ist das ja wohl nun auch in Ordnung“, sagte der Skipper ruhig.
+„Sie bekommen natürlich ihre Heuer in englischen Pfunden und Schillings
+ausgezahlt. Für Überstunden werden fünf Pence bezahlt. Und wo wollen Sie
+abmustern?“
+
+„Im nächsten Hafen, den wir anlaufen.“
+
+„Das können Sie nicht“, sagt der Roßtäuscher grienend.
+
+„Jawohl, das kann ich.“
+
+„Können Sie nicht“, wiederholte er. „Sie haben gemustert für Liverpool.“
+
+„Das meine ich ja auch“, sage ich. „Liverpool ist ja der nächste Hafen,
+den wir anlaufen.“
+
+„Nein,“ antwortet der Skipper, „wir haben deklariert Griechenland, aber
+ich habe meine Absichten geändert und mache Nordafrika.“
+
+Deklariert und während der Fahrt Kurswechsel. Ei, lieber Freund, du bist
+deutlich. Marokko und Syrien bezahlen gute Preise für – –. Und wenn du
+das Geld noch schnell glücklich drin hast, dann wird angemustert auf
+große lange Fahrt. He? Einen Salzwasserfisch, der in so vielen Meeren
+geschwommen ist, dem kannst du nichts verstecken. Das wäre nicht der
+erste Blender, den ich fahre.
+
+„Sie haben mir gesagt Liverpool, und Sie haben ausdrücklich erwähnt, daß
+ich in Liverpool abmustern darf“, rufe ich erregt dem Taschendieb zu.
+
+„Kein Wort wahr, Skipper“, sagt der gerissene Bursche. „Ich habe gesagt,
+wir haben Stückgut für Liverpool, und er könne dort abmustern, wenn wir
+Liverpool machen.“
+
+„Das ist ja dann alles in Ordnung“, bestätigt nun der Kapitän. „Wir
+haben acht Kisten Ölsardinen für Liverpool, Stückgut, weit unter
+Frachtsatz. Lieferungsgrenze achtzehn Monate. Ich werde doch nicht
+dieser acht Kisten wegen, die als Nebengut gehen, Liverpool machen. Die
+sind Gelegenheitsgut, die keine Fracht kosten sollen. Wenn ich mehr
+aufnehme, daß es sich lohnt, gehe ich natürlich schon innerhalb der
+nächsten sechs Monate rauf.“
+
+„Das konnten Sie doch aber gleich sagen, daß es nicht Stückgut sei,
+sondern Schnappgut, das Sie für Liverpool haben.“
+
+„Das haben Sie ja nicht gefragt“, widerspricht der Roßtäuscher.
+
+Eine feine Gesellschaft. Schmuggeln, Deklarierungen fälschen, Häfen
+täuschen, Kurse schwindeln und Totenschiffe fahren. Denen gegenüber ist
+ein zünftiger Seeräuber ein Edelmann. Einen Seeräuber fahren, ist keine
+Schande, da würde ich weder Namen noch Nationalität abschwören.
+Seeräuber fahren, ist Ehrensache. Diesen Eimer fahren, ist eine Schmach,
+an der ich lange zu würgen haben werde, bis sie geschluckt und verdaut
+sein wird.
+
+„Wollen Sie hier Ihren Namen untersetzen.“
+
+Der Skipper reicht mir einen Federhalter.
+
+„Darunter? Nie! nie!“ Ich rufe es in Empörung.
+
+„Wie Sie wollen. Mr. Dils, bitte, schreiben Sie hier als Zeuge hin.“
+
+Dieser Taschendieb, dieser Roßtäuscher, dieser Gauner, dieser Betrüger,
+dieser Shanghaier, dieser Mann, für den der Strick, mit dem zwei Dutzend
+Raubmörder gehenkt worden sind, zu anständig und zu ehrenhaft wäre, soll
+da für mich unterschreiben. Dieses Aas soll nicht einmal unter meinem
+ausgedachten Namen seine aussätzige Hand hinlegen dürfen.
+
+„Geben Sie her, Skipper, ich unterschreibe selbst, es ist ja nun doch
+alles schon Schiet mit Rotz.“
+
+„Helmont Rigbay, Alexandria (Ägypten).“
+
+Da steht es. Fest und sicher. Nun, Yorikke, hoiho! Geh’ zur Hölle
+meinetwegen. Jetzt ist alles, alles egal. Ausgelöscht aus den Lebenden.
+Verweht. Kein Hauch von mir ist mehr in der Welt.
+
+ Holla–he! Holla–he! Hoiho!
+ Ich liege nicht an einem Riff,
+ Ich fahre auf dem Totenschiff
+ So fern vom sonn’gen New Orleans,
+ So fern vom lieben Louisiana.
+
+Holla–he! Morituri salutant! Die modernen Gladiatoren grüßen dich, o
+Cäsar Augustus Capitalismus. Morituri salutant! Die Totgeweihten grüßen
+dich, o Cäsar Augustus Imperator, wir sind bereit zu sterben für dich,
+für die heilige und glorreiche Versicherung.
+
+O Zeiten, o Sitten! Die Gladiatoren zogen in glänzenden Rüstungen in die
+Arena. Fanfaren schmetterten und Zimbeln klangen. Schöne Frauen winkten
+ihnen zu von den Brüstungen und ließen ihre goldgestickten Tüchelchen
+fallen; die Gladiatoren hoben sie auf, preßten sie an ihre Lippen,
+atmeten den berückenden Hauch, und ein süßes Lächeln dankte ihnen und
+grüßte sie. Unter dem begeisterten Beifallsgeschrei einer erregten
+Menge, unter den Klängen rauschender Kriegsmusik, hauchten sie ihren
+letzten Atem aus.
+
+Wir aber, die Gladiatoren von heute, wir verkommen im Dreck. Wir sind zu
+müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern, weil wir vor
+der Schüssel einschlafen. Wir verhungern, weil die Kompanie sparen muß,
+um die Konkurrenz auszuhalten. Wir sterben in Lumpen, schweigend, auf
+einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum. Wir sehen das Wasser kommen,
+und wir können nicht mehr rauf. Wir hoffen, daß der Kessel explodiert,
+um es kurz zu machen, weil die Hände eingeklemmt sind, die Feuertüren
+aufgerissen sind und die glühende Kohle an unsern Füßen und Schenkeln
+langsam frißt. Der Kesselbums? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das
+Verbrennen und Verbrühen nichts aus.
+
+Wir sterben ohne Fanfarenmusik, ohne das Lächeln schöner Frauen, ohne
+das Beifallsrauschen einer erregten, festlich gestimmten Menge. Wir
+sterben schweigend und in Lumpen, für dich, o Cäsar Augustus! Heil dir,
+Imperator, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität. Wir
+sind niemand, wir sind nichts.
+
+Heil dir, Cäsar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und Waisen
+Pension zu zahlen. Wir, o Cäsar, sind die getreuesten deiner Diener. Die
+Totgeweihten grüßen dich!
+
+
+ 27
+
+Es war halb sechs, als ein Neger das Abendbrot in das Quartier brachte.
+Das Abendbrot war in zwei verbeulten und fettigen Blechkumpen. Eine
+dünne Erbsensuppe, Pellkartoffeln und heißes braunes Wasser in einer
+zerhämmerten Emaillekanne. Das braune Wasser hieß: Der Tee.
+
+„Wo ist denn das Fleisch?“ fragte ich den Neger.
+
+„Nichts von Fleisch heute“, sagte er.
+
+Ich sah ihn an und bemerkte, daß er kein Nigger war, sondern ein Weißer.
+Er war der Kohlenzieher einer andern Wache.
+
+„Abendessen holen ist deine Sache“, wandte sich der Mann mir zu.
+
+„Ich bin hier nicht als Meßboy, als Moses, damit du das nur gleich
+weißt“, sagte ich darauf.
+
+„Hier gibt es keine Meßboy.“
+
+„Na?“
+
+„Das müssen hier die Kohlenzieher machen.“
+
+Die Hiebe setzen schon. Das kann ja nett werden. Ich sehe schon, warum
+und wozu. Das Schicksal will seinen Lauf haben.
+
+„Abendessen holt der Kohlenzieher der Rattenwache.“
+
+Der zweite Hieb. Jetzt zähle ich nicht mehr die Hiebe. Laß sie kommen
+und fallen. Mach das Fell dick.
+
+Also Rattenwache. Das war ja vorauszusehen. Wache von zwölf bis vier,
+die niederträchtigste Wache, die erfunden wurde, um Seeleute zu martern.
+Um vier kommt man von Wache. Man wäscht sich. Dann holt man Abendessen
+für die ganze Bande. Dann wäscht man das Geschirr für die ganze Bande,
+weil ja kein Meßboy da ist und die Kohlenzieher alles mitzumachen haben.
+Dann legt man sich in die Bunk. Da es bis zum nächsten Morgen um acht
+nichts mehr zu essen gibt, man aber in der Nacht auf Wache zu gehen hat
+und nicht nur zu gehen, sondern zu arbeiten und wie, so muß man tüchtig
+Abendbrot reinhauen, weil man sonst in der Nacht klappt. Mit dem vollen
+Magen kann man aber nicht schlafen. Bis um zehn manchmal sitzen auch
+noch die Freiwachen auf und spielen Karten oder erzählen sich etwas. Da
+sie keinen andern Raum haben, wo sie hingehen können, so sitzen sie
+hier. Man kann ihnen das Geplauder doch nicht verbieten, sie verlernen
+ja sonst die Sprache, und sie reden doch schon leise, um den schlafenden
+Mitarbeiter nicht zu stören. Aber das leise Reden stört noch mehr als
+das laute. Um elf fängt man an, einzuschlafen. Zwanzig vor zwölf kommt
+die Wecke. Raus und runter. Um vier kommt man von Wache. Wäscht sich.
+Vielleicht. Man fällt in die Bunk. Um halb sechs geht der Tageslärm auf
+dem Boot schon los. Um acht wird man aus dem Schlaf gerissen: „Frühstück
+ist da!“ Den ganzen Vormittag wird auf dem Boot gehämmert, genagelt,
+gesägt, kommandiert. Um zwanzig vor zwölf kommt keine Wecke, weil ja
+nicht angenommen wird, daß jemand um diese Zeit schlafen könne. Man ist
+schon auf und fällt in seine Wache. Und so fort, um vier – ja und immer
+so weiter.
+
+„Wer wäscht denn das Geschirr, wenn kein Meßboy da ist?“
+
+„Die Kohlenzieher.“
+
+„Wer scheuert denn die Aborte?“
+
+„Der Kohlenzieher.“
+
+Das ist ja eine durchaus ehrenwerte Beschäftigung, wenn man sonst nichts
+weiter zu tun hat. In diesem Falle ist es Schweinerei. Und wer die
+Aborte gesehen hätte, der würde gesagt haben: „Das ist die größte
+Schweinerei, die ich je in meinem Leben oder in einem Schützengraben
+gesehen habe.“ Aber ich habe erfahren gelernt, daß die Schweine saubere
+Tiere sind, die dem Pferde an Sauberkeit nichts nachgeben. Wenn ich den
+Bauer oder den Schweinezüchter in einen finstern Stall stecke, der zwei
+Schritte lang und zwei Schritte breit ist, ihn überfüttere, nie
+hinauslasse, nur ab und zu ein paar Hälmchen Stroh hinwerfe und die
+alten vermanschten nicht oder nur selten herausnehme, weil er sich ja in
+dem Mist so wohl fühlt, dann möchte ich einmal sehen, wie der Bauer in
+diesem Stall nach zwei Wochen aussieht, und wer das größere Dreckschwein
+ist, der Bauer oder sein Dickerchen. Unbesorgt, alles wird an den
+Menschen heimgezahlt werden, alles, was er Pferden, Hunden, Schweinen,
+Fröschen und Vögeln angetan hat. Dafür wird er einmal mehr büßen müssen,
+als was er seinen eignen Mitmenschen tat. Man kann keinen Abort
+scheuern, wenn man zu müde ist, um den Löffel mit Reis in den Mund zu
+bringen, no, Sir.
+
+Sonniges Spanien, das ist die Strafe, weil ich dich, du freundliche
+Wirtin, verließ!
+
+Auf einem guten Schifflein ist ein Nauke; ein Tagarbeiter, der so als
+Knochenbeilage mitgenommen wird, sich nie überarbeitet, immer überall da
+sein soll, um zuzufassen, seinen Deckarbeiterlohn bekommt und im großen
+und ganzen ein ganz angenehmes Leben führt. Nauke ist der Mann für
+alles. Und alles, was verkehrt geht, wird stets auf Nauke zurückgeführt.
+Er ist an allem schuld. Wenn in den Bunkern Feuer ausbricht, Nauke ist
+schuld, obgleich er nie in die Bunker darf, aber er hat die Luken nicht
+regelmäßig gehoben. Wenn dem Koch das Essen anbrennt, Nauke kriegt den
+Krach, obgleich er nie in die Küche darf, aber er hat an den
+Wasserkränen geschraubt, als er sie putzte. Wenn das Schiff untergeht,
+Nauke ist schuld, weil er, weil er – nun ja, weil er Nauke ist.
+
+Auf der Yorikke waren die Kohlenzieher die Nauken, und der Nauke der
+Nauken war – richtig geraten: der Kohlenzieher der Rattenwache. Wenn
+irgend etwas Dreckiges, Unangenehmes, Lebensgefährliches zu tun war,
+sagte es der Erste Ingenieur dem Zweiten, daß er es tun solle. Der sagte
+es dem Donkeyman, der dem Putzer und Öler, der dem Heizer und der Heizer
+sagte: „Das ist keine Heizerarbeit, das ist Kohlenziehers Sache.“ Und
+der Kohlenzieher der Rattenwache tat es, weil er es tun mußte.
+
+Kam der Kohlenzieher dann heraus mit blutenden und aufgeschlagenen und
+zerschrammten Knochen und mit zwanzig Brandwunden bedeckt, und hatte er
+an den Beinen hervorgezogen werden müssen, weil er sonst verbrüht worden
+wäre, dann ging der Heizer zum Öler und sagte: „Ich habe es getan.“ Der
+Öler zum Donkeyman: „Ich.“ Der Donkeyman zum Zweiten Ingenieur: „Ich.“
+Und der Zweite zum Ersten, und der Erste Ingenieur ging zum Alten und
+sagte: „Ich möchte das im Journal rapportiert haben: ‚Der Erste
+Ingenieur hat, während die Kessel über vollen Feuern lagen, um die Fahrt
+nicht nachzubüßen, unter Lebensgefahr einen Rohrbruch ersten Grades
+ausgeheilt. Schiff konnte ungeschwächte Fahrt beibehalten‘.“ Die
+Kompanie liest das Journal, und der Direktor sagt: „Wir müssen dem
+Ersten Ingenieur der Yorikke ein größeres Schiff geben, der Mann ist
+Besseres wert.“ Der Kohlenzieher hat die Narben, die er nie wieder los
+wird, und ist gekrüppelt. Aber warum mußte es denn der Kohlenzieher tun?
+Er konnte doch auch sagen wie die andern: „Das tu ich nicht, da komme
+ich nicht mehr lebendig heraus.“ Aber das konnte er eben nicht sagen. Er
+mußte, mußte es tun. „Ja, Mann, wollen Sie denn das ganze Schiff
+untergehen lassen und alle Ihre Kameraden dabei ertrinken lassen? Können
+Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“ Die Deckarbeiter konnten es ja
+nicht tun, die verstanden ja nichts von Kesseln. Der Kohlenzieher
+verstand auch nichts von Kesseln, er verstand nur Kohle zu schleppen.
+Der Ingenieur verstand etwas von den Kesseln, er wurde dafür ja als
+Erster Ingenieur bezahlt, weil er etwas von Kesseln verstand und bei
+seinen Prüfungen solche Dinge machen mußte. Aber der Kohlenzieher
+arbeitete vor den Kesseln und neben den Kesseln und hinter den Kesseln,
+und er war der Kohlenzieher, und er war der Mann, der die Verantwortung
+für den Tod so vieler Menschen nicht tragen wollte, auch wenn sein Leben
+dabei in die Kehrichttonne ging. Das Leben eines dreckigen Kohlenziehers
+ist kein Leben, niemand zählt es. Es ist weg und Schluß, reden wir nicht
+mehr davon. Eine Fliege kann man ja schließlich aus der Milch fischen
+und ihr das kleine Leben schenken, aber ein Kohlenzieher ist nicht einer
+Fliege gleich. Der Kohlenzieher ist Dreck, Staub, Scheuerlappen; er ist
+eben gerade gut genug, die Kohle zu ziehen.
+
+„Kohlenzieher, he!“ ruft der Erste Ingenieur, „wollen Sie einen Rum
+trinken?“
+
+„Ja, Chef.“
+
+Aber das Schnapsglas fällt ihm aus der Hand, der Rum ist weg. Die Hand
+ist verbrüht, yes, Sir.
+
+Das Abendessen stand auf dem Tisch. Hungrig war ich inzwischen auch
+geworden, und ich dachte, daß ich ganz gut etwas essen könnte. Das war
+meine Absicht. Aber die Absicht haben und die Absicht ausführen, sind
+zwei Dinge. Ich sah mich nach einem Teller und nach einem Löffel um.
+
+„Laß den Teller stehen, das ist meiner.“
+
+„Ja, wo kriege ich denn da einen Teller her?“
+
+„Wenn du dir keinen mitgebracht hast, dann wirst du wohl ohne Teller
+hier leben müssen.“
+
+„Wird denn hier kein Geschirr geliefert?“
+
+„Nur was du selber hast, das kannst du dir liefern.“
+
+„Wie soll ich denn da essen, ohne Teller, ohne Gabel und Löffel?“
+
+„Deine Sache.“
+
+„Höre, du Neuer,“ rief einer aus seiner Bunk heraus, „du kannst meinen
+Teller, meine Tasse und mein Geschirr haben. Hast es aber immer zu
+putzen dafür.“
+
+Da war einer, der hatte nur einen zerbrochenen Teller, aber keine Tasse;
+ein andrer eine Gabel, aber keinen Löffel. Wenn nun das Essen ins
+Quartier kam, entstand zuerst immer ein Streit darüber, wer zuerst den
+Löffel oder die Tasse oder den Teller gebrauchen dürfe; denn wer zuerst
+in den Besitz des Tellers oder des Löffels gelangte, fischte sich
+natürlich das Beste heraus. Niemand kann es ihm übelnehmen.
+
+Das, was Tee genannt wurde, war heißes braunes Wasser. Oft war es nicht
+heiß, sondern lauwarm. Das, was Kaffee genannt wurde, gab es zum
+Frühstück und um drei Uhr. Diesen Drei-Uhr-Kaffee habe ich nie gesehen.
+Grund: Rattenwache. Von zwölf bis vier war ich auf Wache. Um drei gab es
+den Kaffee. Um vier, wenn ich abgelöst wurde, war auch nicht ein Tropfen
+mehr von diesem Kaffee vorhanden. Manchmal war noch heißes Wasser in der
+Galley, aber wenn man keine eignen Kaffeebohnen hatte, so konnte man
+sich keinen Kaffee bereiten.
+
+Je weiter Kaffee oder Tee von wahrem Kaffee oder Tee entfernt sind,
+desto mehr hat man das Bedürfnis, ihn mit Zucker und Milch zu
+verschönern, um die Phantasie anzuregen. Alle drei Wochen erhielt jeder
+Mann eine kleine Büchse kondensierte und gezuckerte Milch und jede Woche
+ein halbes Kilo Zucker; denn Kaffee und Tee wurden von der Galley
+schlicht geliefert, also ohne Milch und Zucker.
+
+Hatte man die Milch gefaßt, so öffnete man die Büchse und nahm als
+sparsamer Mensch ein Löffelchen voll heraus, um dem Tee ein Wölkchen zu
+geben. Dann stellte man seine Büchse sorgfältig fort, um sie erst wieder
+beim nächsten Kaffee zu gebrauchen. Aber während man sich auf Wache
+befand, wurde die Büchse nicht gestohlen, aber von andern aufgebraucht
+bis auf den letzten Rest. Da die sichersten Verstecke am leichtesten
+gefunden werden, passierte mir das nur beim erstenmal, daß meine Milch
+verschwand. Als ich das zweitemal Milch faßte, löffelte ich sie auf
+einem Sitz völlig aus, das einzige Mittel, meine Ration zu retten, ein
+Mittel, das alle anwandten.
+
+Mit dem halben Kilo Zucker machte man es genau ebenso, er wurde sofort
+nach dem Fassen auf einen Ruck aufgegessen. Wir kamen einmal zu einer
+Einigung. Der Zucker des ganzen Quartiers wurde in eine gemeinsame
+Büchse geschüttet, und jeder sollte sich einen Löffel herausnehmen, wenn
+der Kaffee oder Tee kam. Die Folge dieser Einigung war, daß der ganze
+Zucker am zweiten Tage verschwunden war und mich nur die leere Büchse
+angähnte.
+
+Frisches Brot gab es jeden Tag. Und jede Woche bekam das Quartier eine
+Büchse Margarine, die gut reichen konnte. Aber niemand konnte sie essen,
+weil Schmierseife besser schmeckte.
+
+An Tagen, wo wir das Maul zu halten und die Augen zuzumachen hatten, gab
+es für jeden Mann zwei Glas Rum und eine halbe Tasse Marmelade. Das
+waren die Tage, an denen geblendet wurde.
+
+Zum Frühstück gab es Graupen mit Pflaumen oder Reis mit Blutwurst oder
+Kartoffeln und Hering oder schwarze Bohnen und Salzfisch. Alle vier Tage
+fing das wieder mit Graupen und Pflaumen an.
+
+Sonntag gab es zum Mittag Rindfleisch mit Mostrichsoße oder Cornedbeef
+mit Wasserbrühe, Montag Salzfleisch, das nie jemand aß, weil es nur Salz
+und Schwarte war, Dienstag getrockneten Salzfisch, Mittwoch
+Trockengemüse und Backpflaumen in einer blauwäßrigen Schleimerei aus
+Kartoffelstärke. Die Schleimerei hieß: Der Pudding. Donnerstag begann es
+wieder mit Salzfleisch, das nie jemand aß.
+
+Das Abendessen war eines der genannten Frühstücke oder Mittagessen. Zu
+jeder Mahlzeit gab es Pellkartoffeln, von denen nur die Hälfte gebraucht
+werden konnten. Der Skipper kaufte nie Kartoffeln. Sie wurden aus der
+Ladung genommen, wenn wir Südkartoffeln fuhren. Solange sie neu und jung
+waren, machten diese Kartoffeln einem Spaß und waren Leckerbissen, aber
+wenn wir lange keine Kartoffeln gefahren hatten, dann kamen die an die
+Reihe, von denen ich sprach.
+
+Als Blendladung fuhren wir manchmal nicht nur Kartoffeln, sondern auch
+Tomaten, Bananen, Ananas, Datteln, Kokosnüsse. Diese Ladungen allein
+machten es möglich, daß wir bei dem Essen bestehen konnten und nicht an
+Eßekel verreckten. Wer einen Weltkrieg mitgemacht hat, der hat
+vielleicht gelernt, was ein Mensch ertragen kann, ohne zu krepieren, wer
+aber auf einem echten Totenschiff oder auf einer echten Blendlaterne
+gefahren ist, der weiß es ganz sicher, wieviel ein Mensch aushalten
+kann. Das Ekeln gewöhnt man sich bald ganz ab.
+
+Das Geschirr, das mir so opferwillig zum Gebrauch angeboten wurde, war
+nicht ganz komplett, es bestand nur aus einem Teller. Als ich das
+notwendige Geschirr beisammen hatte, gebrauchte ich die Gabel von
+Stanislaw, die Tasse von Fernando, das Messer von Ruben, und den Löffel
+hätte ich von Hermann haben können, aber einen Löffel besaß ich selbst.
+Für diese Opferwilligkeit hatte ich das Geschirr aller hübsch sauber zu
+putzen, zweimal für jede Mahlzeit. Zuerst, wenn ich es übernahm, und
+dann, nachdem ich es gebraucht hatte.
+
+Als das Abendessen vorüber war, hatte ich die Kumpen zu waschen, also
+die verbeulten Blechwaschbecken, in denen das Essen aus der Galley
+geholt wurde. Zu diesem Waschen brauchte weder ich noch sonst jemand
+Seife, Soda oder Bürste, weil solche Dinge nicht vorhanden waren. Wie
+die Kumpen dann aussahen, wenn wieder das frische Essen hineingeschüttet
+wurde, braucht nicht erzählt zu werden.
+
+In diesem Dreck konnte ich nicht leben. Ich ging daran, das Quartier zu
+scheuern. Die Burschen waren nach dem Essen sofort in ihre Bunks
+gefallen wie tot. Während des Essens war kaum gesprochen worden. Es ging
+zu, als ob Schweine an einem Trog stehen. Drei Tage später erkannte ich
+diesen Vergleich nicht mehr. Die Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen oder
+deutliche Erinnerungen aus einem früheren Leben zu erwecken, war
+erloschen.
+
+„Seife wird nicht geliefert“, wurde mir brummend aus einer Bunk
+zugerufen. „Schrubber oder Bürsten auch nicht. Und nun halte Ruhe mit
+deinem Herumwirtschaften, wir wollen schlafen.“
+
+Ich sofort mittschiffs und zur Ingenieurskabine, wo ich anklopfte.
+
+„Ich will das Quartier scheuern und verlange Seife und eine kräftige
+Schrubberbürste.“
+
+„Was denken Sie denn von mir? Sie wollen doch nicht damit sagen, daß ich
+Ihnen Seife oder Bürsten zu kaufen habe? Nichts zu machen.“
+
+„Ja, aber nun ich selbst. Ich habe keine Seife für mich selbst. Und ich
+soll doch vor den Kesseln arbeiten.“ Das wollte ich doch sehen, ob ich
+keine Seife bekäme.
+
+„Das ist Ihre eigne Sache, wenn Sie sich waschen wollen, müssen Sie auch
+Seife haben. Seife gehört zu einer anständigen Seemannsausrüstung.“
+
+„Kann sein, mir ist das neu. Toiletteseife ja, aber nicht Arbeitsseife,
+und für Kesselbande hat der Ingenieur die Seife zu stellen oder der
+Skipper oder die Kompanie. Das ist mir gleichgültig, wer die Seife zu
+stellen hat. Ich will aber Seife haben. Was ist das überhaupt für eine
+Sauerei? Auf jedem anständigen Eimer wird alles gestellt, Matratze,
+Kissen, Bettuch, Decke, Handtuch, Arbeitsseife und vor allem Eßgeschirr.
+Das gehört zur Ausrüstung des Schiffes und nicht zur Ausrüstung des
+Mannes.“
+
+„Nicht bei uns. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja gehen.“
+
+„Sie unverschämter Patron, Sie.“
+
+„Raus aus meiner Kabine oder ich rapportiere zum Skipper und laß Sie
+festlegen.“
+
+„Das wäre mir ganz recht.“
+
+„Nicht wie Sie denken, Mann. So besoffen sind wir nicht. Ich brauche den
+Kohlenschlepper. Nein, ich lasse Sie festlegen mit einer vollen
+Monatsheuer, wenn Sie mir noch mal so kommen.“
+
+„Feine Leute, das muß ich sagen. Auch noch die paar Groschen abtricken.“
+
+Der Gauner saß da und grinste. Bei Klopperei kommt nie etwas heraus, und
+er trickt mir zwei Monatsheuern ab.
+
+„Erzählen Sie doch das alles Ihrer Urgroßmutter“, sagte er. „Sie wird
+sich das ruhig mit anhören. Aber ich nicht. Raus jetzt, aber flott.
+Vorwärts ins Bett, um elf haben Sie auf Wache zu gehen.“
+
+„Meine Wache fängt um zwölf an. Zwölf bis vier.“
+
+„Nicht bei uns und nicht mit den Kohlschleppern. Die Kohlschlepper
+fangen um elf an und ziehen von elf bis zwölf Asche, und um zwölf fängt
+die Arbeitswache an.“
+
+„So. Von elf bis zwölf ist wohl keine Arbeitswache?“
+
+„Asche ziehen, das haben die Kohlschlepper bei uns nebenbei zu machen.“
+
+„Aber Überstunden werden angeschrieben.“
+
+„Nicht bei uns. Und nicht für Ascheheben.“
+
+In welchem Jahrhundert lebte ich denn? Unter welche Menschenrasse war
+ich geraten? Halb im Dusel torkelte ich zum Quartier.
+
+Da war das Meer, das blaue herrliche Meer, das ich so sehr liebte, und
+in dem als anständiger Seemann zu versinken ich nie mit Grauen angesehen
+hatte. War es doch die große festliche Vermählung mit dem Weibe, das so
+launenhaft war, das so wütend rasen konnte, so viel herrliches
+Temperament hatte, das so berückend lächeln, so bezaubernde Schlaflieder
+singen konnte und so wunderschön, ach, so über alle Maßen schön war.
+
+Es war dasselbe Meer, auf dem tausende und tausende ehrlicher, gesunder
+Schiffe fuhren. Und nun hatte mich das Schicksal ausersehen, mich ein
+Schiff fahren zu lassen, das an Lepra erkrankt war, und das nur noch
+fuhr mit der Hoffnung, daß das Meer Erbarmen mit ihm haben möge. Aber es
+sah ganz so aus, ich hatte es im Gefühl, daß die See das mit Lepra
+behaftete Schiff nicht aufnehmen wollte, um sich nicht verpesten zu
+lassen. Noch nicht. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch wartete das
+Meer, noch hoffte es, daß es diese Pest nicht zu erdulden haben werde,
+das dieses Meeresgeschwür irgendwo auf dem Lande oder in einem
+verschmierten Winkelhafen zerplatzen und vergehen würde. Noch war
+Yorikkes Zeit nicht gekommen. Ich hatte noch kein Todesahnen, an meine
+Bunk hatte der Gast noch nicht geklopft. Denn als ich jetzt an der
+Reeling stand, über mir den sternenblinkenden Himmel und vor mir das
+grünlich flickernde Meer, an mein verlorenes New Orleans und an mein
+sonniges Spanien dachte, da überkam es mich: Hopp drüber Junge, schiet
+sie an mit dem Kohlschlepper und mach ein flottes sauberes Ende, damit
+du nicht deinen Rest verlierst. Aber dann war ja nur ein andrer armer
+müder, verlumpter, verhungerter, verdreckter und gehetzter
+Kohlschlepper, der Doppelwache bekam und mir die letzte Reise so schwer
+machte und ich immer wieder hoch kommen mußte.
+
+Ei zum Teufel nochmal, beiß zu und schiet. Die Yorikke kann dich, mein
+Junge, nicht unterkriegen. Nicht die Konsuln. Nicht die Yorikke. Nicht
+der Taschendieb. Bist ja von New Orleans, Junge. Rin in die Schiet und
+durchgeschwommen. Es gibt auch wieder mal Wasser und Seife. Der Gestank
+ist nur äußerlich. Patsch rin, daß es spritzt. Weg von der Reeling, und
+dem Biest, das dich unterkriegen will, eins in die Zähne gehauen! Spuck
+noch mal runter und nun weg in die Bunk!
+
+Als ich weg war von der Reeling, wußte ich, daß ich zwar auf einem
+Totenschiff und auf einer Blendkaroline war, aber daß es nicht mehr mein
+Totenschiff war. Mit der Yorikke half ich keine Versicherung fahren. Auf
+ihr wurde ich kein Gladiator. Ich spucke dir ins Gesicht, Cäsar Augustus
+Imperator. Spare deine Seife und fresse sie, ich brauche sie nicht mehr.
+Aber du sollst mich nicht mehr winseln sehen. Ich spucke dir ins
+Angesicht, dir und deinem Gezücht.
+
+
+ 28
+
+Einschlafen konnte ich nicht. Ich lag auf den blanken Brettern meiner
+Bunk wie ein eingelieferter Spitzbube auf der nackten Pritsche in einer
+Polizeiwache. Die schmökende Petroleumlampe füllte den Raum mit einem
+Dunst, daß Atmen eine Qual wurde. Da ich ja keine Decke hatte, fröstelte
+ich, denn die Nächte auf dem Meere können ganz verteufelt kalt werden.
+Gerade war ich in einen dämmernden Halbschlaf gefallen, als ich
+plötzlich mit kräftigen und ungeduldigen Händen so gerüttelt und
+gestoßen wurde, als sollte ich durch die Wand geworfen werden.
+
+„Raus du. Ist halb elf.“
+
+„Halb erst? Warum kommst du nicht um dreiviertel?“
+
+„Ich bin gerade oben, weil ich für den Heizer Trinkwasser hole. Ich kann
+nicht nochmal raufkommen. Mußt raus. Zehn vor zwölf weckst du deinen
+Heizer und holst ihm Kaffee.“
+
+„Kenn ihn nicht. Weiß seine Bunk nicht.“
+
+„Komm raus. Ich zeig dir.“
+
+Ich stand auf, und mir wurde die Bunk des Heizers gezeigt, der zu meiner
+Wache gehörte.
+
+„Mach voran. Rasch. Geh gleich zu der Aschenwintsche. Wir haben
+verflucht viel Asche.“ Der Mann verschwand wie ein Geist.
+
+Es war fast finster in dem Quartier, weil die Lampe kein Licht gab.
+
+Beim Licht einer zerbrochenen kleinen verräucherten Laterne zeigte mir
+der Kohlenzieher der Vorwache, es war Stanislaw, wie die Wintsche
+gehandhabt werden muß.
+
+„Höre mal, Stanislaw, das verstehe ich nicht“, sagte ich. „Ich kenne
+doch nun auch etwas von Salzkrusten, aber das habe ich noch nicht
+erlebt, daß die Kohlschlepper Wache aufzubüßen haben. Warum?“
+
+„Weiß ich gut. Ich bin auch nicht gerade aus den Windeln gerutscht.
+Woanders hat der Heizer beim Aschehieven zu helfen. Aber hier wird ja
+der Heizer allein nicht fertig, und wenn ihm der Schlepp nicht manchmal
+hilft, fällt er runter auf hundertzwanzig, daß es nur so rasselt, und
+der Eimer sackt und steht wie eine Böckchenpinne. Auf andern Eierkisten,
+auch wenn es Särge sind, hat die Wache zwei Heizer oder wenigstens
+einundeinenhalben. Aber ich denke doch, du weißt jetzt schon, wo du
+bist, mein Seemannsengelchen.“
+
+„Ich engele nicht. Da kannst du Zinnober drauf schlucken.“
+
+„Willst du achtern kanten? Glückt nicht. Wirst du schon noch lernen.
+Setz dich nur lieber gleich richtig in die Wolle und such dir das Boot
+aus, mit dem du klippen willst. Der Koch hier ist der Großvater. Der
+erzählt dir was, wenn du mit ihm angewärmt bist. Der Hund hat zwei
+Westen in seiner Bunk liegen.“
+
+„Haben wir denn keine Westen?“ fragte ich erstaunt.
+
+„Nicht mal ein Ring ist da. Vier Dekorationsringe mit Goldbronze. Aber
+ich rate dir, nimm keinen davon. Wenn du da den Kopf durchsteckst, nimm
+lieber einen Mühlstein. Mit dem Mühlstein hast du vielleicht noch
+Hoffnung, mit den Dekorationswürsten nicht.“
+
+„Wie kann der Hund denn das machen? Da muß doch in jeder Bunk eine Weste
+sein. Ich bin das so gewöhnt, daß ich das gar nicht beachtet habe, daß
+keine da ist.“
+
+Stanislaw lachte und sagte: „Du hast so eine Kanne noch nicht gefahren.
+Darum. Yorikke ist meine vierte Leichenkanne. Die sind ja jetzt zum
+Aussuchen.“
+
+„He–ho, Lawski!“ schrie sein Heizer den Aschenschacht hinauf.
+
+„Was ist los, Heizer?“ fragte Stanislaw runter.
+
+„Zieht ihr denn heute keine Asche, oder was ist los?“ blökte der Heizer
+rauf. Es war Martin.
+
+„Natürlich ziehen wir. Aber ich muß doch den Neuen anlernen. Der kennt
+doch die Wintsche nicht.“
+
+„Dann mach zu und komm runter. Mir ist ein Rost raus.“ Der Heizer schrie
+es rauf.
+
+„Erst muß die Asche gezogen werden. Der Rost hat Zeit. Ich muß den Neuen
+anlernen“, schrie Stanislaw wieder runter.
+
+„Nein, was Leichenkannen anbetrifft – wie heißt du denn eigentlich,
+Neuer?“
+
+„Ich? Pippip.“
+
+„Hübscher Name. Bist du Türke?“
+
+„Ägypter.“
+
+„Das ist gut. Ägypter hat gefehlt. Wir haben hier alle Nationen auf der
+Kanne.“
+
+„Alle? Auch Yanks?“
+
+„Ich glaube, du schläfst noch. Die beiden einzigen, die nie auf einer
+Leichenkanne fahren, das sind Yanks und Kommse.“
+
+„Kommse?“
+
+„Ach tu doch nicht so unschuldig, du Schaf. Bolsches. Kommunisten. Yanks
+kommen nicht, weil die in dem Dreck den ersten Tag verrecken würden, und
+weil denen auch immer von ihren Konsuln geholfen wird. Der winkt ihnen
+schon die Weisheit über die Eimer.“
+
+„Und die Komms?“
+
+„Die sind zu schlau, die riechen, was los ist, wenn sie nur den
+Mastknopf sehen. Kannst dich drauf verlassen. Die sind gekocht. Wo ein
+richtiger Komms drauf ist, kann keine Versicherung fahren. Die beerdigen
+dir jede Versicherungspolice, und wenn sie noch so fein gezuckert ist.
+Die haben dir Riecher, da können wir alle nicht mit. Und die haben auch
+immer gleich die schönste Sauerei mit der Inspektion. Aber nun kann ich
+dir auch erzählen, wenn da ein gesunder Eimer ist, wo nicht nur Yanks
+drauf sind, sondern Yanks, die Komms sind, Mann, das ist Honig. Das ist
+–. Ich kann es dir ja sagen, ich fahre überhaupt nur, um mal auf einen
+solchen Eimer zu kommen. Da gehe ich nie wieder runter. Da mache ich
+sogar den Nauke. Mir ganz egal. Wenn du mal einen Eimer sehen solltest,
+der von New Orleans ist oder da herum. Das ist eine Sache.“
+
+„So ein Schiff habe ich noch nicht gesehen“, sagte ich.
+
+„Kommst du auch nicht drauf, und wenn du hundert Jahre alt wirst und
+alles ausgestiegen ist. Du nicht. Ein Ägypter überhaupt nicht, und wenn
+er einen Paß hat wie Zucker. Jetzt ist es für mich auch vorbei. Wer die
+Yorikke gefahren hat, kommt nie wieder auf einen gesunden Eimer. Jetzt
+wollen wir mal dran gehen.“
+
+„Hängt er drin?“ schrie Stanislaw in den Schacht.
+
+„Hiev up!“
+
+Stanislaw schaltete den Hebel ein, und die Aschkanne rasselte rauf. Als
+sie in Reichhöhe war, warf er den Hebel wieder herum. Die Kanne ruckte
+noch mal rauf und noch mal runter und hing dann in der Schachtluke.
+
+„Nun hängst du die Kanne aus und trägst sie zur Schanze und schüttest
+sie aus. Da gib aber gut Achtung, daß dir die Kanne nicht mit über Stag
+geht. Dann sitzt du da. Dann können wir mit einer arbeiten, und wir
+können zwei Stunden früher aufstehen. Daß du’s weißt.“
+
+Die Kanne war glühend heiß, und obenauf lagen die rotglühenden
+Schlacken. Ich konnte sie kaum anfassen, aber es mußte sein. Und schwer
+war die Kanne. Sicher ihre fünfzig Kilo. Nun hatte ich die Kanne vor der
+Brust quer über das vier Meter breite Gangdeck zu schleppen und in den
+Holzschacht zu schütten, durch den die Asche ins Meer fiel und dort
+zischend verschwand. Dann trug ich die Kanne zurück, und ich hängte sie
+wieder in die Hievketten.
+
+„Das ist doch ganz klar, warum die Westen gegangen sind. Ich bin sicher,
+der Skipper hat sie verkauft, um nebenbei was zu machen“, sagte
+Stanislaw. „Aber des Verkaufens wegen war es nicht. Siehst du, wenn
+keine Westen da sind, kommen auch keine Zeugen vor das Seemannsgericht.
+Verstehst du jetzt den Zimt? Auf Zeugen kann man sich schlecht
+verlassen. Manchmal haben sie doch was gesehen oder gemerkt, und die
+Versicherung ist ja auch immer gleich dahinterher und schnappt sich die
+Leute. Die Boote mußt du dir mal bei Tage betrachten – wie war doch
+gleich dein Name? Ja, also die Boote mußt du dir mal bei Tage
+betrachten, Pippip. Da kannst du deine Stiefel durchschmeißen. Aber
+glatt. Noch weniger Zeugen.“
+
+„Na rede keinen Seetang, hä?“ sagte ich zur Antwort. „Der Skipper will
+doch auch runter.“
+
+„Sorge dich nur nicht um den Skipper. Denk zuerst an deine Haut. Der
+Skipper kommt schon runter. Wenn du alles so gut weißt, wie das, dann
+fehlt dir nichts mehr.“
+
+„Du bist doch aber auch schon von drei Leichenkannen runtergekommen oder
+etwa nicht?“
+
+„Auf zweien bin ich richtig ausgestiegen und habe den letzten Hafen
+nicht im Stich gelassen. Und beim dritten – aber du Esel, Glück mußt du
+eben auch haben. Wenn du kein Glück hast, dann bleibe nur überhaupt vom
+Wasser weg, sonst fällst du in die Waschschüssel und kommst nicht mehr
+hoch.“
+
+„Lawski! Mensch! Was ist denn los da oben?“ schrie nun wieder der Heizer
+rauf.
+
+„Die Ketten haben sich ausgehakt, verflucht nochmal“, blökte Stanislaw
+runter.
+
+„Das gibt heute eine lange Asche, wenn ihr so weiter macht“, kam wieder
+die Stimme aus der Tiefe.
+
+„So, nun probiere mal die Wintsche, aber sei vorsichtig, die haut wie
+das Donnerwetter. Die haut dir glatt den Schädel ab, wenn du nicht alle
+Gedanken beieinander hast.“
+
+Die schwere Kanne kam rauf und sauste oben gegen den Deckel, daß ich
+glaubte, sie würde den ganzen Schacht in Trümmer schlagen, aber ehe ich
+den Hebel herum hatte, setzte die Wintsche von selbst mit der
+Konterwirkung ein, und der Eimer raste wieder den Schacht hinunter. Er
+schlug unten mit einem fürchterlichen Getöse auf, die Schlacken
+spritzten herum, der Heizer schrie wie verrückt, und im selben
+Augenblick setzte abermals die Konterwirkung ein, und die Kanne, jetzt
+halb leer, raste wie wahnsinnig ein zweitesmal gegen die Deckung des
+Schachtes, schlug herum mit donnerndem Krachen, und mit einem
+entsetzlichen Geprassel fielen die Schlacken den Schacht hinunter, beim
+Fallen gegen die Eisenwände des Schachtes schlagend und das Getöse und
+Geratter so vermehrend, daß man glauben konnte, das ganze Schiff
+splittert auseinander. Die Kanne war schon wieder am Heruntersausen, als
+Stanislaw jetzt eingriff und den Hebel packte. Sofort stand die Kanne so
+brav da, als ob sie ein totes Geschöpf sei.
+
+„Ja,“ sagte Stanislaw, „so einfach ist das nicht. Das muß gelernt sein.
+Da brauchst du zwei Wochen, bis du den Dreh heraus hast. Geh besser
+runter und schippe ein, dann werde ich die Wintsche bedienen. Ich zeige
+es dir morgen mittag, bei Tage, da kriegst du das dann schon besser.
+Wenn die Wintsche in die Wicken gehauen wird, dann können wir die Asche
+mit der Hand hieven. Und das wünsche ich dir nicht und uns nicht. Dann
+laufen wir nicht mehr, dann kriechen wir nicht mehr, dann rollen wir nur
+noch von einem Platz zum andern.“
+
+„Laß es mich noch mal versuchen, Lawski. Ich will mal gnädige Frau zu
+ihr sagen. Vielleicht tut sie es dann.“
+
+Dann rief ich runter: „Hopp an.“
+
+„Hiev up!“ kam der Schrei.
+
+„Na, Frau Gräfin, wollen wir jetzt?“
+
+Der Prophet weiß, sie tat es, sie tat es so sanft, so zart. Sie stand
+auf den Millimeter. Ich glaube, daß ich Yorikke besser kannte als ihr
+Skipper oder der Großvater. Die Wintsche gehörte zu jenen Teilen des
+Schiffes, die schon in der Arche Noah mitgewirkt hatten und noch aus der
+Zeit vor der Sintflut stammten. In dieser Dampfwintsche waren alle
+Geister und Geisterchen zusammen, die in den übrigen Ecken und Winkeln
+der Yorikke nicht mehr Platz fanden, weil ihre Zahl zu groß war. Darum
+auch hatte die Wintsche ihre Persönlichkeit, die respektiert werden
+wollte. Stanislaw erwarb sich den Respekt durch eine langgeübte Hand,
+ich mußte es durch Worte machen.
+
+„Euer königliche Gnaden, noch mal, bitte.“
+
+Sieh da, abermals glitt die Aschkanne wie mit Sammetpfötchen
+gestreichelt. Aber freilich, oft genug noch, spielte sie toll und machte
+Splittereffekte, jedoch nur, wenn ich vergaß, sie mit Höflichkeit zu
+behandeln. Es waren manchmal recht ergötzliche Fangversuche, die ich
+anzustellen hatte, um den rauf- und runterrasenden Behälter zu
+schnappen. Bald sauste er oben durch, bald raste er runter und gleich
+wieder hoch. Wenn der Hebel nicht genau, aber haargenau gehalten wurde,
+schlug der Konterhub ein.
+
+Stanislaw war runtergegangen und schippte und rief die „Hiev-ups“ aus.
+Und ich hängte meine Kannen aus und ein, schleppte sie glühend heiß, wie
+sie waren, über das Gangdeck und schüttete sie in den Aschenschacht.
+
+Als fünfzig Kannen gehievt waren, schrie Stanislaw, daß wir den Rest
+lassen wollten für die nächste Wache, weil es zu spät sei. Ich dachte,
+daß ich nun zusammenbrechen würde, von diesem atemlosen Schleppen der
+unglaublich schweren Kannen. Aber ehe ich Zeit hatte, umzuklappen,
+schrie Stanislaw herauf: „He, mach voran, zwanzig vor zwölf.“
+
+Ich schleppte mich zum Quartier. Das Deck war nicht erleuchtet, um das
+Petroleum zu sparen; und ich schlug mir viermal die Schienenbeine auf,
+ehe ich bis zum Forecastle kam. Was da alles auf dem Deck herumlag, läßt
+sich nur dadurch näher beschreiben, daß ich sage: „Da lag alles auf dem
+Deck herum.“ Alles, was die Erde hervorbringt, je hervorgebracht hat.
+Unter diesem alles lag sogar ein schwerbesoffener Schiffszimmermann, der
+der Zimmermann der Yorikke war; sich in jedem Hafen sinnlos besoff und
+den ersten Tag auf Fahrt nicht einmal als Besenstiel gebraucht werden
+konnte. Der Skipper war nur froh, wenn ihm nicht jedesmal die A. B.s
+dabei Gesellschaft leisteten und wenigstens einer der A. B.s noch genug
+Leben zurückbehalten hatte, um am Ruder zu stehen. Der Zimmermann, die
+drei A. B.s und noch ein paar andre hätten ruhig Westen bekommen dürfen.
+Sie hätten keine Versicherung vermanscht, anders, sie hätten die
+wackligste Versicherung gerettet, ohne zu wissen, was man von ihnen
+wollte. Sie hatten auch die meiste Aussicht, mit in Boot eins zu kommen,
+das der Skipper brauchte, um das wohlgepflegte Journal zu retten und die
+Lizenz zu behalten mit Auszeichnung für Pflichteifer trotz Lebensgefahr.
+
+Ich hatte jetzt die Kaffeekanne zu nehmen, damit zur Galley zu gehen, wo
+der Kaffee auf dem Kochherd stand, und sie zu füllen. Dann hatte ich den
+Weg zum drittenmal zu machen, über das Verdeck, wo kein Licht brannte.
+Meine Schienbeine bluteten fürchterlich. Aber da war keine Handapotheke
+an Bord, und wenn wirklich der Erste Offizier irgendwo etwas versteckt
+hielt für erste Hilfe, wegen solcher Kleinigkeiten durfte man ihm nicht
+kommen.
+
+Jetzt bearbeitete ich meinen Heizer, um ihn hochzukriegen. Er wollte
+mich ermorden, daß ich es wagte, ihn schon zu wecken. Und als die Glocke
+ausrief und er den heißen Kaffee noch nicht hatte schlucken können,
+wollte er mich ein zweites Mal ermorden, weil ich ihn zu spät geweckt
+hatte. Sich zu streiten, ist Kraftvergeudung. Nur Narren streiten sich.
+Sag’ deine Meinung, wenn du überhaupt eine hast, was selten genug der
+Fall ist, und dann halt’s Maul und laß den andern reden, bis ihm das
+Maul aus den Angeln fällt. Sage immer ja zu der Meinung des andern, und
+wenn er dann fertig ist und nicht mehr japsen kann und dich fragt: „Na,
+habe ich nicht recht?“ dann erinnere ihn so nebenbei daran, daß du ihm
+deine Meinung ja schon längst gesagt hättest, daß er aber im übrigen
+durchaus recht habe. Eine Woche lang Heizer der Rattenwache wecken,
+macht jemand auf Jahre hinaus unfähig, Politik zu begreifen.
+
+Der Kaffee war heiß, schwarz und bitter. Kein Zucker, keine Milch. Brot
+war vorhanden, aber man mußte es trocken essen, weil die Margarine
+stank. Der Heizer kam zum Tisch, fiel auf die Bank, richtete sich hoch,
+und während er die Kaffeetasse an den Mund führen wollte, fiel sein Kopf
+herunter und schlug auf die Tasse, daß sie umkippte. Er schlief schon
+wieder und tastete träumerisch nach dem Brot, um sich ein Stück
+abzureißen, weil er das Messer nicht halten konnte vor Müdigkeit. Jede
+seiner Bewegungen wurde vom ganzen Körper ausgeführt, nicht nur mit den
+Händen, den Armen, den Fingern, den Lippen oder dem Kopfe. Die Glocke
+rief aus, er bekam einen Wutanfall, des Kaffees wegen, und sagte: „Geh’
+runter, ich komme gleich. Kümmere dich um Schlackenwasser.“
+
+Als ich an der Galley vorbeikam, sah ich Stanislaw im Dunkeln da
+herumwirtschaften. Er versuchte, Seife zu stehlen, die der Koch
+vielleicht irgendwie versteckt haben mochte. Der Koch stahl die Seife
+vom Steward, und der Steward stahl die Seife aus dem Koffer des
+Skippers.
+
+„Zeig mir doch mal den Weg runter in die Stokehold, in den Kesselraum,
+Lawski“, sagte ich zu ihm.
+
+Er kam raus, und wir hatten auf eine höhere Etage zu klimmen, die das
+Halbdeck vom Mittschiff war. Er zeigte mir einen schwarzen Schacht. „Da
+gehen die Leitern runter. Du kannst nicht fehlgehen“, sagte er und ging
+wieder zurück zur Galley.
+
+Aus der tiefschwarzen und doch so glänzend klaren Meeresnacht blickte
+ich hinunter in den Schacht. In einer unendlich erscheinenden Tiefe sah
+ich eine flackernde, dunstige, rauchige Helle. Diese Helle war rötlich
+von dem Widerschein der Kesselfeuer. Mir war, als sähe ich in die
+Unterwelt. In diesen rötlichen, dunstigen Schein trat jetzt eine nackte
+menschliche Gestalt, verrußt und mit glitzernden Streifen rieselnden
+Schweißes. Die Gestalt stand da, die Arme verschränkt und starrte
+bewegungslos auf die Quelle des rötlichen Scheines. Dann bewegte sich
+die Gestalt, ergriff ein langes schweres Schüreisen und stellte es an
+die Rückwand, nachdem sie unschlüssig damit herumgewirtschaftet hatte.
+Die Gestalt ging jetzt vor, bückte sich, und einen Augenblick darauf war
+es, als sei sie von Flammen umlodert. Dann reckte sich die Gestalt hoch,
+die Flammen waren verlöscht und übrig blieb nur der gespenstische
+rötliche Schein.
+
+Ich wollte die Leiter hinuntergehen. Als ich aber einen Fuß auf die
+oberste Sprosse gesetzt hatte, schlug mir eine entsetzliche Säule von
+Hitze, erstickendem Ölgestank, Kohlenstaub, Flugasche, dickem
+Petroleumqualm und Wasserdampf entgegen. Ich fiel zurück, und mit einem
+lauten Japser schnappte ich nach frischer Luft, weil ich glaubte, meine
+Lungen könnten nicht mehr arbeiten.
+
+Aber es half nichts. Ich mußte da hinunter. Da war ein Mann unten. Ein
+lebender Mensch, der sich bewegen kann. Und wo ein andrer Mensch sein
+kann, da kann auch ich sein. Ich kletterte rasch fünf oder sechs
+Sprossen, dann aber ging es nicht mehr. Mit einem Rasen sauste ich
+wieder hoch, um Luft zu bekommen.
+
+Die Leiter war aus Eisen, die Sprossen aus fingerdickem Rundeisen. Nur
+an der einen Seite war ein Geländer, die andre Seite, die äußere Seite,
+war ohne Geländer, also just die Seite war offen, wo man in den Schacht
+abstürzen konnte, während die Seite, die an der Wand der Maschinenhalle
+war, mit einem Geländer gesichert war.
+
+Als ich meine Lungen wieder aufgefüllt hatte, machte ich den dritten
+Versuch, und ich kam auf eine Plattform. Drei Schritte über die
+Plattform, die nur einen halben Schritt breit war, führten zum Ende der
+Platte, wo eine zweite Leiter tiefer in den Schacht ging. Diese drei
+Schritte konnte ich aber nicht machen. In Gesichtshöhe war hier die
+Aschenhievwintsche, und das Dampfrohr der Wintsche hatte einen langen,
+aber ganz dünnen Riß. Durch diesen Riß zischte ein brühend heißer
+Wasserdampf, scharf und schneidend wie eine Stichflamme. Der Riß lag so,
+daß selbst, wenn man sich bückte, man diesem schneidenden Dampfstrahl
+nicht ausweichen konnte. Ich versuchte, mich hochzurecken, aber dann
+wurden die Arme und die Brust angefressen und verbrüht. Inzwischen mußte
+ich hoch, um Luft zu schöpfen.
+
+Ich war auf falschem Wege. Das war nicht der meine. Ich ging wieder zur
+Galley, wo Stanislaw immer noch nach Seife suchte.
+
+„Ich gehe mit dir runter, komm los“, sagte er bereitwillig.
+
+Als wir auf dem Wege waren, sagte er: „Du bist doch nie Kesselbums
+gewesen, nicht wahr? Habe ich doch gleich gesehen. Zu einer Wintsche
+sagt man doch nicht guten Tag, der haut man eins auf den Schädel und
+fertig.“
+
+Ich war nicht in der Laune, ihm jetzt zu erzählen, wie man mit Dingen
+umzugehen hat, die eine Seele haben.
+
+„Recht hast du, Lawski, bin nie beim Kessel gewesen, habe noch nie da
+überhaupt reingeguckt. War Deckarbeiter, Steward, Kabinenjunge, seit ich
+meinen ersten Eimer gesehen habe. Nie schwarzen Gang gerochen, war mir
+immer zu stickig. Sag’, willst du mir nicht für die erste Wache eine
+Krume zur Hand gehen?“
+
+„Rede nicht lange. Freilich. Komm nur voran. Wir werden die Kohlsuppe
+schon kochen. Kenne deine Sorgen. Dein erster Leichenwagen. Ich kenne
+die Särge, kannst mir glauben. Aber manchmal dankst du Himmel und Hölle,
+daß dir eine Yorikke quer vor’n Bug kommt, und du hoppst drauf mit einem
+Wonnegefühl, als ob – ja, hab’ nur keine Bange. Wenn was krumm geht, ruf
+mich nur. Ich zieh dich schon raus aus dem Dreck. Wenn wir auch alle
+miteinander Tote sind, nur nicht verzagen. Schlimmer kann es nicht
+kommen.“
+
+Es kam aber schlimmer. Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein
+Toter sein, ein Toter zwischen Toten. Ausgelöscht kann man sein aus der
+Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und kann
+dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen man nicht
+entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer Weg zur
+Flucht offen gelassen ist.
+
+
+ 29
+
+Ich sah Stanislaw zu dem Schacht gehen, den ich soeben verlassen hatte,
+weil ich glaubte, ich hätte mich im Wege geirrt. Er kletterte die Leiter
+ohne zu zögern hinunter, und ich folgte ihm. Als wir am Ende der ersten
+Leiter waren und auf die Platte kamen, die unter dem heißen Dampfstrahl
+lag, sagte ich: „Da können wir nicht durch. Da wird uns die Haut bis auf
+die Knochen abgeledert.“
+
+„Meist gibt es was ab. Ich kann dir morgen meine Arme zeigen. Aber wir
+müssen durch“, sagte Stanislaw. „Hilft uns nichts. Kein andrer Weg zu
+den Kesseln für uns. Die Ingenieure lassen uns nicht durch die
+Maschinenhalle gehen, wir sind zu dreckig, und es ist gegen die
+Vorschrift.“
+
+Während er das noch sagte, sah ich, wie er plötzlich seine Arme um den
+Kopf schlug, sich so Gesicht, Ohren und Nacken schützend. Nun drehte,
+quetschte und reckte er sich zwischen die glühend heißen Dampfrohre, wo
+die Schutzpackungen längst abgefault und abgerissen waren, und der
+glühend heißen Kesselwand hindurch wie eine geölte Zitterschnecke. Das
+konnte ihm kein Schlangenmensch nachmachen, dachte ich, als ich das sah.
+Aber ich erfuhr nun, daß der ganze Kesselbums das so zu machen hatte,
+und ich verstand auch mit einemmal, warum es auf der Yorikke so viele
+Dinge zu essen gab, die kein Mensch essen konnte und die über Bord
+flankiert wurden. Das Flankieren durfte der Koch nicht sehen, dann gab
+es einen Mordskrach, weil alle Salzschwarten und alles Ungenießbare, das
+nicht in den Magen hineinwollte, weil der Magen sich sträubte, in die
+Küche zurückgebracht werden mußte, damit daraus Irish Stew,
+Frikandellen, Gulasch, Haschee und ähnliche Delikatessen gemacht werden
+konnten.
+
+„Hast du nun gesehen, Sohn, wie das gemacht wird? Besinne dich nicht
+lange. Wenn du dich erst besinnst und dir das anguckst und darüber
+nachdenkst, daß du an der einen Seite verbrüht werden magst und an der
+andern Seite hinuntersausen kannst in den Schacht, dann geht’s gar
+nicht. Arme um den Kopf, sieh so – und dann Schlange gemacht. Kann dir
+eines Tages von Nutzen sein, wenn du andern Leuten zu tief in die
+Taschen gelinst hast und man dir eiserne Vorhänge an die Fenster gehängt
+hat. Bin ich auch schon durchgekommen. Immer gut, wenn man in der Übung
+bleibt, du weißt nie, wie du es gebrauchen kannst. Hopp an.“
+
+Schwupp! da war ich durch. Ich fühlte Heißes an meinen Armen, aber das
+war sicher nur Einbildung.
+
+Am andern Ende der Platte ging eine lange eiserne Leiter weiter
+hinunter, zu den Grundmauern der Unterwelt. Diese zweite Leiter war so
+heiß, daß mein Taschentuch, das ich bisher benutzt hatte, wertlos wurde.
+Ich mußte mich mit den gebogenen Ellbogen in das Geländer hängen, um
+Halt an der Leiter zu greifen. Je tiefer ich kam, desto dicker wurde die
+Luft, desto heißer, qualmiger, öliger und unerträglicher. Die Hölle, die
+ich nun endlich nach meinem Tode erreicht hatte, konnte das nicht sein.
+In der Hölle hatten ja auch die Teufel zu leben, hier aber konnten keine
+Teufel leben, das war undenkbar.
+
+Doch da stand ein Mensch, ein nackter, schwitzender Mensch, der Heizer
+der Vorwache. Menschen konnten hier auch nicht leben. Aber sie mußten.
+Sie waren Tote. Ausgelöschte. Landlose. Paßlose. Heimatlose. Die mußten,
+ob sie konnten oder nicht. Teufel konnten hier nicht leben, denn ein
+Rest von Kultur ist selbst den Teufeln gelassen, das weiß Goethe. Aber
+Menschen mußten hier nicht nur leben, sie mußten hier arbeiten, und sie
+mußten hier so schwer arbeiten, daß sie alles vergaßen, zuletzt sogar,
+nachdem sie lange vorher sich selbst vergessen hatten, sogar vergaßen,
+daß hier zu arbeiten unmöglich sei.
+
+Mir ist oft, ehe ich gestorben wurde, und ehe ich zu den Toten kam,
+unverständlich gewesen, wie Sklaverei möglich sein kann, wie
+Militärdienst möglich sein kann, wie es möglich ist, daß Menschen,
+gesunde und vernünftige Menschen, sich ohne Protest vor Kanonen und
+Kartätschen jagen lassen, daß Menschen nicht tausendmal lieber
+Selbstmord begehen, als Sklaverei, Militärdienst, Galeerenketten und
+Peitschenhiebe zu ertragen. Seit ich bei den Toten war, seit ich selbst
+ein Toter bin, seit ich ein Totenschiff fuhr, ist auch dieses Geheimnis
+für mich gelöst, wie sich ja alle Geheimnisse erst nach dem Tode
+offenbaren. So tief kann kein Mensch sinken, als daß er nicht immer noch
+tiefer sinken könnte, so Schweres kann kein Mensch erdulden, als daß er
+nicht noch Schwereres ertragen könnte. Hier ist es, wo der Geist des
+Menschen, der ihn über das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier
+erniedrigt. Ich habe Packzüge von Kamelen, von Lamas, von Eseln und von
+Maultieren getrieben. Ich habe Dutzende unter diesen Tieren gesehen, die
+sich hinlegten, wenn sie nur mit einem Kilogramm überladen waren, die
+sich hinlegten, wenn sie sich schlecht behandelt glaubten, und die sich
+klaglos hätten zu Tode peitschen lassen – und auch das habe ich gesehen
+– als aufzustehen, die Last zu übernehmen oder die schlechte Behandlung
+weiter zu erdulden. Ich habe Esel gesehen, die zu Leuten verkauft worden
+waren, die Tiere schändlich peinigten, und die Esel hörten auf zu
+fressen und starben weg. Nicht einmal Mais vermochte ihren Entschluß zu
+ändern. Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu
+sein, er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu
+werden, er liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er
+denken kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. Weil er hofft, daß es
+auch wieder besser gehen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen.
+Mitleid mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und mit Soldatenkrüppeln? Haß
+gegen Tyrannen? Nein! Nein! Nein!
+
+Wäre ich über die Reeling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in
+einer Hölle sein, wo es selbst die Teufel nicht aushalten können. Aber
+ich sprang nicht und habe nun kein Recht, mich zu beklagen oder gar
+andre anzuklagen. Laß den Bettler verhungern, wenn du den Menschen in
+ihm achtest. Ich habe kein Recht, mein trauriges Schicksal zu beklagen.
+Warum sprang ich nicht? Warum springe ich jetzt nicht? Warum lasse ich
+mich peitschen und martern? Weil ich hoffe, ins Leben zurückkehren zu
+können. Weil ich hoffe, New Orleans wiederzusehen. Weil ich hoffe, und
+weil ich lieber durch die Schiet schwimme, als meine gehätschelte und
+getätschelte Hoffnung in die Schiet zu werfen.
+
+Imperator, du wirst niemals um Gladiatoren verlegen sein; die schönsten
+und stolzesten Männer werden dich anflehen: „O angebeteter, o
+bewunderungswürdiger Imperator, laß mich dein Gladiator sein!“
+
+
+ 30
+
+Natürlich kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja auch andre. Das sehe
+ich ja mit eignen Augen. Was ein andrer kann, das kann ich auch. Der
+Nachahmungstrieb des Menschen macht Helden und macht Sklaven. Wenn der
+nicht an den Peitschenhieben stirbt, dann werde ich sie wohl auch
+überleben können. „Siehst du, der da, der geht direkt drauf los auf das
+Maschinengewehrfeuer, Donnerwetter nochmal, das ist ein Kerl, verflucht
+nochmal, vor dem muß man Achtung haben, das ist ein Kerl, der hat Mumm
+in den Knochen.“ Natürlich kann ich das auch. So geht der Krieg voran,
+und so fahren die Totenschiffe, alles nach demselben Rezept. Die
+Menschen haben nur eine Schablone, nach der sie alles machen; das geht
+so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht anstrengen brauchen, um ein andres
+Rezept auszudenken. Man geht nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da
+fühlt man sich so schön sicher. Der Nachahmungstrieb ist schuld daran,
+daß die Menschheit innerhalb der letzten sechstausend Jahre keine
+Fortschritte gemacht hat, sondern trotz Radio und Fliegerei in derselben
+Barbarei lebt wie am Anfang der europäischen Periode. So hat es der
+Vater gemacht, und so hat es der Sohn nachzumachen. Schluß. Was für
+mich, den Vater, gut genug war, wird für dich, du Rotznase, wohl erst
+recht gut genug sein. Die heilige Konstitution, die für George
+Washington und die Revolutionskämpfer gut genug war, ist erst recht gut
+genug für uns. Und die Konstitution ist gut, denn sie hat hundertfünfzig
+Jahre schon ausgehalten. Aber auch Konstitutionen, die einmal junges
+feuriges Blut in den Adern hatten, bekommen mit der Zeit
+Adernverkalkung. Die beste Religion ist eines Tages heidnischer
+Aberglaube, und keine Religion macht hiervon eine Ausnahme. Allein das,
+was anders gemacht wurde, als bisher, allein das, was unter Protest der
+Väter und Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde, hat der
+Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben gegeben, daß
+eines fernen Tages doch ein Fortschreiten wird beobachtet werden können.
+Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, wenn die Menschen nicht mehr an
+Institutionen glauben und nicht an Autoritäten ...
+
+„Was stehst du denn rum? Wie heißt du überhaupt, Schlepp?“
+
+Mein Heizer war runter gekommen und brummte übelgelaunt herum.
+
+„Pippip ist mein Name.“
+
+Das schien seine Laune ein wenig zu verbessern.
+
+„Dann bist du wohl ein Perser?“
+
+„Nein, ich bin Abessinier. Meine Mutter war Parse. Die werfen ihre
+Leichen den Geiern vor.“
+
+„Wir den Fischen. Da scheint deine Mutter eine ganz anständige Frau
+gewesen zu sein. Meine war eine alte verfluchte Hure. Aber wenn du
+Hurensohn zu mir sagst, dann gibt es eins in die Fresse.“
+
+Also er war Spanier. Wenn die drei Worte sprechen, dann sind zwei davon
+„Hurensohn“. Es kommt auf den Grad der Freundschaft an, ob man zu jemand
+sagen darf, daß seine Mutter eine Groschenhure war. Je näher man dabei
+der Wahrheit kommt, desto mehr Aussicht hat man, sich plötzlich ein
+Messer aus den Rippen ziehen zu können. Je weiter man von der Wahrheit
+entfernt ist, desto früher hört man die Antwort: „Muchas gracias,
+Senjor, vielen Dank, bitte, genieren Sie sich nicht, stets zu Ihren
+Diensten.“ Niemand hat ein so zartes und so albernes Ehrgefühl wie der
+dreckigste Prolet. Und wenn die dreckigen Proleten eines Tages das
+Ehrgefühl dort haben werden, wo es wirklich hingehört, dann sind sie die
+Lacher. Heute haben sie ihr Ehrgefühl da, wo es die andern bei ihnen
+gerne sehen, weil sich dann so gut damit spielen läßt, zum Vorteil der
+andern. Was brauchst du Ehre, Prolet? Lohn brauchst du, guten Lohn, dann
+kommt die Ehre von selbst. Und wenn du auch noch die Fabrik hast, dann
+kannst du die Ehre ruhig den andern dauernd überlassen; dann erst wirst
+du erfahren, wie wenig sich die draus machen ...
+
+Der Heizer der Vorwache zog jetzt einen glühenden dicken Bolzen aus dem
+Feuer und steckte ihn in einen Eimer mit Frischwasser. In Seewasser kann
+man sich ja nicht waschen, das ist kaum gut genug zum Schlackenkühlen.
+Dann begann er sich zu waschen mit Sand und Asche, weil er ja keine
+Seife hatte.
+
+Der Kesselraum war durch zwei Lampen erhellt. Eine dieser beiden Lampen
+hing vor dem Dampfmeter, damit der Dampfdruck gelesen und von dem Heizer
+geregelt werden konnte. Die andre Lampe hing in einer Ecke und wartete
+auf den Schlepp. In dieser Welt der Toten wußte man nichts von einer
+Erde, wußte man nichts davon, daß es Azetylenlampen, Kunstgaslampen,
+Gasolinlaternen, Spirituslaternen gab, gar nicht zu reden von
+Elektrizität, die sich durch Ankoppelung einer Dynamo leicht hätte
+erzeugen lassen. Aber jeder Cent, ausgegeben für die Yorikke, war
+verschwendetes Geld. Die Fische mit Geld zu füttern, wäre närrisch, sie
+sollen zufrieden sein mit der Mannschaft. Diese Lampen hier waren bei
+den Ausgrabungen des alten Karthago gefunden worden.
+
+Wer die Form dieser Lampen kennen lernen will, gehe in ein Museum, sehe
+sich die römische Abteilung an, wo er unter den Töpferwaren auch diese
+Lampen, die wir hatten, finden wird. Es war ein Gefäß mit einer Tülle.
+In der Tülle steckte ein Ballen Putzwolle. Das Gefäß wurde gefüllt mit
+jener Flüssigkeit, die auch für die Jungfrauenlampe im Quartier zu
+dienen hatte, und die den auf Irrwege führenden Namen Petroleum trug.
+Viermal in einer Stunde mußte die Putzwolle weiter herausgezerrt werden,
+weil sie kohlte und den Kesselraum mit einem undurchsichtigen dicken
+schwarzen Rauch erfüllte, in dem die Rußflocken so dicht flogen wie
+Heuschrecken in Argentinien während einer Plage. Die Putzwolle mußte man
+mit den bloßen Fingerspitzen herauspulen, deshalb hatte man nach der
+ersten Wache abgeschmorte Fingernägel und angeschmorte Fingerspitzen.
+Wenn man mit seiner Lampe in den Kohlenbunkern saß, konnte man nicht die
+Lampe erst ausmachen, weil man ja sonst in den Kesselraum runter gemußt
+hätte, um sie wieder anzustecken.
+
+Stanislaw hatte heute bereits eine Doppelwache gerissen. Was das
+bedeutet, wird noch klar werden. Trotzdem er kaum noch kriechen konnte,
+blieb er doch mit mir noch eine volle Stunde im Kesselraum, um mir
+beizustehen.
+
+Neun Feuer mußten von dem Heizer bedient werden. Und um diese neun Feuer
+zu füttern, hatte der Schlepp die Kohle heranzuschaffen. Ehe aber mit
+dem Heranschaffen der Kohle begonnen werden konnte, waren andre Arbeiten
+zu verrichten. Da die Feuer selbst auf diese Arbeiten keine Rücksicht
+nahmen und sie jede Vernachlässigung sofort am Meter herausbrüllten oder
+gar auf der Brücke herausheulten, so mußte ein erheblicher Vorrat von
+Kohle im Kesselraum angeschichtet sein, der für diese Zeit der
+Nebenarbeiten langte. Diesen großen Vorrat mußte die abzulösende Wache
+für die neuantretende Wache hinterlassen, und diese neue Wache hatte,
+wenn sie abgelöst wurde, einen gleichen Vorrat der nächsten zu
+übergeben. Dieser Vorrat konnte nur geschaffen werden durch eine
+unmenschlich erscheinende Kraftanstrengung in der Zeit der beiden
+mittleren Stunden einer Wache, also bei meiner Wache von eins bis drei.
+Von zwölf bis eins kamen die Vorarbeiten und um drei begann das
+Aschehieven mit dem Schlepp der neuen Wache. In zwei Stunden also mußte
+alle die Kohle herbeigeschafft werden, die neun Feuer eines in voller
+Fahrt befindlichen Dampfers in vier Stunden verschlingen. Liegt die
+Kohle in den Bunkern in Front der Feuer, so ist das Heranschaffen der
+Kohle die kräftige Arbeitsleistung eines gesunden, starken und
+gutgenährten Arbeiters. Liegt die Kohle aber da, wo sie meist auf der
+Yorikke lag, so ist es die Arbeit von drei oder vier starken Männern.
+Hier hatte diese Arbeit einer zu tun. Und er tut sie. Er ist ja ein
+Toter. Der kann alles. Und niemand versteht besser anzutreiben, niemand
+versteht höhnischer zu sagen: „Schlapper Hund! Solltest mich mal sehen!“
+als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, als der Mit-Hungernde, als der
+Mit-Gepeitschte. Auch die Galeerensklaven haben ihren Stolz und ihr
+Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute Galeerensklaven zu sein und „nun
+einmal zu zeigen“, was sie können. Wenn das Auge des Auspeitschers, der
+mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, wohlgefällig auf ihm ruht, so
+ist er beglückt, als hätte ihm ein Kaiser persönlich einen Orden an die
+Brust geheftet.
+
+Der Heizer warf drei Feuer auf, immer zwei überschlagend. Dann brach er
+drei andre Feuer auf, die dazwischen lagen. Über jedem Feuer stand eine
+Nummer mit Kreide geschrieben, die Nummern von eins bis neun. Als das
+Aufwerfen und das Aufbrechen vorüber war, kam das Feuer drei an die
+Reihe. Es war ziemlich niedergebrannt, und er brach mit einer schweren
+langen Eisenstange die Schlacken von den Rosten. Die Schlacken saßen
+fest. Und von dem Feuer strömte eine brüllende Hitze heraus. Mit jeder
+Schlacke mehr, die herausgebrochen und vor das Feuer gezerrt war, wurde
+die Hitze mächtiger. Denn nun lagen die glühenden Schlacken vor den
+Feuertüren im Kesselraum und erhitzten ihn wie einen Glutofen. Der
+Heizer und auch ich, wir hatten nur die Hosen an, nichts weiter. Der
+Heizer hatte an den bloßen Füßen zerlumpte Tuchpantinen, während ich
+Stiefel hatte. Ab und zu sprang der Heizer hoch und trampelte die
+glühenden Schlackenkörner von den Füßen, auf die sie gesprungen waren.
+Die Schürstange konnte nur gehalten werden, weil der Heizer seine Hände
+mit Sacklumpen umwickelt hatte und Leder von einem alten Koffer zwischen
+Hand und Eisen hielt. Endlich wurde die Hitze, die von den Schlacken
+ausströmte, so gewaltig, daß der Heizer fort mußte vom Feuer. Jetzt
+wurden die Schlacken mit Wasser, das ich aus einem Bottich nahm,
+gelöscht. Der explosionsartig hochgehende Wasserdampf ließ uns beide
+zurück an die Wand springen. Die Schlacken gleich einzeln zu kühlen,
+wenn sie herauskommen, geht nicht, weil während des Kühlens der Heizer
+nicht arbeiten kann. Dann dauert das Ausschlacken zu lange, das Feuer
+fehlt und der Dampf geht so weit zurück, daß eine halbe Stunde wie
+wahnsinnig gearbeitet werden muß, um den Dampf wieder hochzukriegen.
+Runter geht er wie nichts, rauf nur langsam und mit mühseliger Arbeit.
+
+Alles, was auf der Yorikke war, diente dazu, der Mannschaft Leben und
+Arbeit zu erschweren. Der Kesselraum war viel zu schmal. Er war viel
+schmäler als die Feuerungskanäle lang waren. Wenn die Schürstange also
+in die Feuerung gestoßen oder herausgezogen werden sollte, so mußte der
+Mann mit der Stange alle möglichen Wendungen und Drehungen verüben, um
+die Stange zu handhaben, weil sie immer gegen die Rückwand stieß. Durch
+diese Tänze, die der Heizer zu machen hatte, kam es nicht selten vor,
+daß er bald dort stolperte und in einen Kohlenhaufen fiel, bald hier.
+Bald stieß er sich an der Wand die Knöchel der Finger auf, bald an der
+Feuertür. Wenn er fiel und instinktiv nach einem Halt griff, so griff er
+in glühende Schlacken oder er packte die glühende Schürstange an. Es kam
+auch vor, besonders wenn das Schiff rollte, daß er mit dem Gesicht in
+die Schlacken oder auf die rotglühende Schürstange oder auf die Feuertür
+fiel oder mit den bloßen Füßen auf einen herausgenommenen heißen Rost
+oder auf heiße Schlacke trat. Mein Heizer glitschte einmal bei einem
+unerwartet schweren Roller des Bootes aus und fiel mit dem nackten
+Rücken in die weißglühende Schlacke, die vor dem Feuer lag. Totenschiff,
+yes, Sir. Totenschiffe gibt es, die Leichen drin machen, und
+Totenschiffe gibt es, die Leichen draußen machen, und Totenschiffe gibt
+es, die Leichen überall machen. Yorikke machte alles und alle, sie war
+ein gutes Totenschiff.
+
+War die Schlacke heraus und gelöscht, so wurde frische Nußkohle
+aufgeworfen. Diese Kohle mußte der Schlepp inzwischen aus der
+Haufenkohle herausgelesen haben, es mußte gute, nicht zu große
+Stückkohle sein, damit sie leicht anbrannte und damit das Feuer schnell
+wieder in Gang kam. Denn die Kohle, die auf der Yorikke verfeuert wurde,
+war die billigste und schlechteste Kohle, die es nur gab, sie erzeugte
+nur wenig Hitze; und das war die weitere Ursache, warum der Schlepp
+unglaubliche Riesenmengen von Kohle herbeischaffen mußte, um den Dampf
+hochzuhalten. Nun wurden die andern Feuer wieder nachgesehen, während
+ich die Schlacke nach der Mitte der Kesselwand zu schaufelte, wo sie
+nicht im Wege lag.
+
+Der andre Heizer hatte sich inzwischen fertig gewaschen, war aber die
+ganze Zeit über immer in Gefahr gewesen, von dem glühenden Schüreisen
+gestoßen und angeschmort zu werden oder von einer springenden Schlacke
+verbrannt zu werden. Aber das kümmerte ihn nicht sehr, er war tot. Man
+konnte es jetzt auch sehen. Gesicht und Körper waren von dem Waschen mit
+Sand und Asche ziemlich rein geworden. In die Augen konnte er aber nicht
+gut mit Sand und Asche gehen, darum hatten die Augen breite schwarze
+Ringe. Das gab dem Gesicht das Aussehen eines Totenschädels, um so mehr,
+als die Backen vor schlechter Ernährung und vor übermäßiger Arbeit tief
+eingefallen waren. Er zog sich seine Hose an und sein durchlöchertes
+Hemd und kletterte die Leiter hoch. Ich hatte gerade Zeit genug, einmal
+einen Blick nach oben zu werfen, als ich ihn die Schlange machen sah.
+
+Stanislaw schaffte indessen Kohle heran, damit ich wenigstens den Vorrat
+bekam. Es kamen dann die Feuer sechs und neun an die Reihe. Als sechs
+ausgeschlackt und aufgeschüttet war und die übrigen Feuer soweit
+vorbereitet waren, um auch neun ausschlacken zu können, kam Stanislaw
+und sagte zu mir: „Nun bin ich fertig. Ich kann nicht mehr. Es ist eins.
+Ich habe fünfzehn Stunden jetzt ununterbrochen gewürgt. Um fünf muß ich
+schon wieder Asche hieven. Es ist ja gut, daß du da bist, wir hätten das
+nicht mehr länger machen können. Ich will dir nur jetzt gestehen, wir
+sind nur zwei Schlepps, wenn du eingerechnet bist. Wir haben also nicht
+zwei Wachen jeder, sondern drei, und dazu kommt zu jeder Wache eine
+Stunde Aschehieven extra. Und morgen haben wir, auch noch extra, die
+Berge von Asche, die auf Deck liegen, weil im Hafen ja keine Asche
+ausgeworfen werden darf, abzuschaufeln. Wird für jeden vier Stunden
+extra machen.“
+
+„Das sind doch dann alles Überstunden, die Doppelwachen, das Abschaufeln
+der Deckasche und das Aschehieven“, sagte ich.
+
+„Ja, das sind alles Überstunden. Wenn es dir Vergnügen macht und du
+gerne schreibst, kannst du dir die ganzen Überstunden anschreiben. Aber
+bezahlen tut sie dir keiner.“
+
+„Das ist mir aber bei der Heuer ausgemacht worden“, antwortete ich.
+
+„Was ausgemacht wird, hat keine Geltung bei uns. Nur was du in der
+Tasche hast, das hat Geltung. Und in die Tasche kriegst du immer nur
+Vorschuß, Vorschuß, Vorschuß. Immer soviel, daß es zum Besaufen gerade
+langt und vielleicht für ein Paar Pantinen oder ein Hemd, aber nicht
+mehr. Denn wenn du anständig aussiehst und ruhig durch die Straße gehen
+kannst, könntest du ja vielleicht wieder lebendig werden. Verstehst du
+jetzt den Dreh? Kannst nicht fort. Mußt Geld haben, mußt eine ganze
+Hose, eine ganze Jacke, ganze Stiefel und Papiere haben. Kriegst du
+nicht. Kannst nicht lebendig werden. Wenn du aussteigst, läßt er dich
+einfangen, wegen Desertion. Die haben dich gleich mit deinen Lumpen und
+keinen Papieren. Dann zieht er dir zwei oder drei Monatsheuern ab wegen
+Desertion. Kann er. Tut er. Dann bettelst du wegen eines Schillings auf
+den Knien für Schnaps. Schnaps mußt du haben. Tot sein tut manchmal doch
+weh, auch wenn man sich schon lange daran gewöhnt hat. Gute Nacht.
+Waschen tu ich mich nicht, ich kann nicht mehr die Hand heben. Laß dir
+keine Roste durchfallen, das kostet Blut, Pippip. Gute Nacht.“
+
+„Heilige Maria, genotzüchtigter Gabriel, Joseph und Arimathia,
+Eberklöten und Bockpinnen, Himmelkreuzdonnerwetter – –“
+
+Der Heizer schrie wie besessen und nahm einen gewaltigen Anlauf, um eine
+neue Serie von Flüchen und Verwünschungen loszulassen, daß die Bewohner
+aller Höllen schamrot werden mußten. Von der Erhabenheit seines Gottes,
+von der jungfräulichen Reinheit der Himmelskönigin, von der Würde der
+Heiligen blieb nichts mehr bestehen. Sie sanken in den Kot der Straße
+und wurden durch die Jauche der Gosse geschleift. Die Hölle hatte ihre
+Schrecken für ihn verloren, ihn konnte kein noch so fürchterlicher
+Bannstrahl des Himmels mehr treffen, denn als ich fragte:
+
+„Heizer, was ist denn los?“ da heulte er wie eine blutdürstige Bestie:
+
+„Sechs Roste sind rausgefallen. Heilige verhur – –“
+
+
+ 31
+
+Stanislaw hatte beim Raufgehen gesagt, daß das Herausfallen der Roste
+Blut kostet. Damit meinte er, wenn einer rausfällt. Jetzt waren sechs
+raus. Sie einzusetzen kostete nicht nur Blut und nicht nur abgestoßene
+Fleischstücken und abgeschmorte Hautfetzen, das kostete blutendes
+Sperma, herausgezerrte Sehnen, das Mark floß einem wie wäßrige Lava aus
+den Knochenröhren, die Gelenke krachten wie Holz, das gebrochen wird.
+Und während wir arbeiteten wie verblödete Maden, fiel der Dampf und fiel
+und fiel. Und wir sahen die Arbeit, die uns bevorstand, den Dampf wieder
+hochzubringen. Sie kroch und würgte sich in unsre Kadaver, während wir
+mit den Rosten würgten. Seit jener Nacht stehe ich über den Göttern. Ich
+kann nicht mehr verdammt werden. Ich bin frei, darf unbekümmert tun und
+lassen, was ich will. Ich darf Götter verfluchen, darf mich verwünschen,
+darf handeln, wie es mir gefällt. Kein menschliches Gesetz, kein
+göttliches Gebot mehr kann meine Handlungen beeinflussen, denn ich kann
+nicht mehr verdammt werden. Die Hölle ist ein Paradies. Keine
+menschliche Bestie kann Höllenqualen ausdenken, die mich erschrecken
+könnten. Wie immer auch die Hölle beschaffen sein mag, sie ist Erlösung.
+Erlösung vom Einsetzen rausgefallener Roste auf der Yorikke.
+
+Der Skipper ist nie im Kesselraum gewesen und keiner der beiden
+Offiziere. Freiwillig ging niemand in diese Hölle. Sie machten sogar
+einen Umweg, wenn sie am Einsteigschacht vorbei mußten. Die Ingenieure
+wagten sich in den Kesselraum nur, wenn die Yorikke sanft im Hafen lag
+und der Kesselbums Reinigungsarbeiten machte, Rohre ziehen,
+Maschinenhalle putzen und ähnliche dreckige Tagesarbeiten. Selbst dann
+hatten die Ingenieure diplomatisch mit den Schwarzen Banditen umzugehen.
+Denn die waren immer und immer in einem Zustande, dem Ingenieur einen
+Hammer an den Schädel zu pfeffern. Was bedeutete dem Kesselbums
+Gefängnis, Zuchthaus oder der Henker? Nicht einen Pfifferling machten
+die sich daraus.
+
+Von der Maschinenhalle aus führte ein schmaler niedriger Gang zwischen
+dem Steuerbordkessel und der Steuerbordwand zu dem Kesselraum. Dieser
+Gang war von der Maschinenhalle durch eine schwere eiserne kleine Tür,
+die wasserdicht war – was auf der Yorikke wasserdicht genannt werden
+konnte – abgetrennt. Kam jemand von der Maschinenhalle, und hatte er die
+Luke passiert, so mußte er mehrere Stufen hinuntergehen, um den Gang zu
+erreichen. Dieser Gang war drei Fuß nur breit und so niedrig, daß man
+ganz gebückt gehen mußte, um sich nicht den Kopf an den eisernen,
+scharfkantigen Querstreben einzurennen. Der Gang war, wie alles auf der
+Yorikke und wie auch der Kesselraum, stockdunkel bei Tage und bei Nacht.
+Zudem war der Gang heiß wie ein Hochofen. Wir, die Schlepps, fanden uns
+in dem Gange mit verbundenen Augen zurecht, denn er gehörte mit zu den
+Spezialmarterwegen. Durch diesen Gang hatten wir einige hundert Tonnen
+Kohle nach den Kesseln zu schaufeln und zu quetschen, von den Bunkern,
+die neben der Maschinenhalle lagen. Wir kannten diesen Martergang und
+seine labyrinthischen Rätsel. Andre Leute kannten ihn nicht so gut.
+
+Fiel nun der Dampf erheblich, weit unter hundertdreißig, dann mußte der
+wachhabende Ingenieur etwas tun. Dafür wurde er ja bezahlt. Der Erste
+kam auch nicht in den Kesselraum. Auf Fahrt nie. Ein zerschlagenes
+Schulterblatt hatte ihn gelehrt, daß man den Kesselbums auf Fahrt nicht
+belästigen darf. Er rief nur von oben, vom Deck aus, den Schacht
+hinunter: „Der Dampf fällt!“ Dann war er aber auch schon weg. Denn von
+unten kam das Gebrüll: „Du gottverfluchter Hurenhund, das wissen wir
+selber. Komm runter, du Schwein, wenn du was willst.“ Dabei flogen aber
+auch schon Kohlenstücken gegen die Einsteigluke.
+
+Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten Sitten,
+wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen geben will, daß er
+anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben ab, nach
+innen mehr als nach außen.
+
+Der Zweite Ingenieur war noch verhältnismäßig jung, vielleicht
+sechsunddreißig. Er war ein großer Streber und wollte gern Erster
+werden. Er glaubte, seine Strebsamkeit am besten beweisen zu können
+dadurch, daß er den Kesselbums herumjagte, besonders wenn Yorikke im
+Hafen lag, denn dann hatte er das Maschinenkommando. Er war kein guter
+Lerner und lernte schwer, eigentlich nie, mit dem Kesselbums der Yorikke
+umzugehen. Es gibt Ingenieure, die vom Kesselbums angebetet werden. Ich
+habe einmal einen Skipper gekannt, der vom Kesselbums wie ein Gott
+verehrt wurde. Der Skipper ging jeden Tag persönlich in die Galley:
+„Koch, ich will das Essen sehen, das meine Heizer und Kohlschlepps heute
+kriegen. Will ich kosten. Das ist Dreck. Das geht über Bord. Die Heizer
+und Kohlschlepps fahren einen Dampfer, niemand sonst.“ Und wenn er einen
+Schlepp oder einen Heizer auf dem Deck traf: „Schlepp, wie war das Essen
+heute; genug Fleisch? Wie kommt ihr mit der Milch zurecht? Abends kriegt
+ihr eine Extraration an Eiern und Speck. Bringt euch der Junge auch
+regelmäßig den kalten Tee runter, der angeordnet ist?“ Und merkwürdig,
+die Heizer und Schlepps auf jenem Eimer hatten ein Benehmen, daß sie zum
+Gesandtschaftsball hätten eingeladen werden können.
+
+Als beim Einsetzen der Roste der Dampf fiel und fiel, kam der Zweite,
+der die Wache hatte, durch den Gang, lugte um die Kesselecke und sagte:
+
+„Was ist mit dem Dampf los? Der Kasten wird gleich stehenbleiben.“ Der
+Heizer hatte in dem Augenblick gerade die rotglühende Schürstange in der
+Hand, mit der er einen Rost vom Aschenzug aus einzustützen versucht
+hatte. Mit einem fürchterlichen Geheul, mit blutunterlaufenen Augen und
+schäumendem Munde richtete er sich auf und raste wie ein Irrsinniger mit
+der glühenden Stange auf den Ingenieur los, um ihm die Stange durch den
+Leib zu rennen. Aber wie ein Funke war der Ingenieur hinter der Ecke
+verschwunden und sauste den Gang zurück. In der Schnelligkeit, mit der
+er floh, maß er die Höhe des Ganges nicht genügend und schlug sich den
+Schädel an einer der Querstreben auf. Der Heizer hatte die Stelle, wo
+der Ingenieur gestanden hatte, getroffen. Der Stoß war so gewaltig, daß
+ein Fladen von dem Mauerwerk, das den Kessel gegen Hitzeverlust
+schützte, absprang und die Stange sich oben verbog. Doch der Mann gab
+die Verfolgung nicht auf. Er raste hinter dem Zweiten her mit der
+Stange, und er hätte ihn mitleidlos erschlagen und zermanscht, wenn der
+Ingenieur nicht rechtzeitig, blutüberströmt von dem Gegenrennen an den
+Eisenstreben, die Stufen erreicht und die Luke hinter sich zugeschlagen
+und verrammelt hätte.
+
+Der Ingenieur rapportierte den Fall nicht, wie kein Unteroffizier oder
+Offizier, der von einem gemeinen Soldaten unter vier Augen gebackpfeift
+wurde, die Backpfeifen rapportieren würde, um nicht zugeben zu müssen,
+daß ihm das geschehen konnte. Hätte der Ingenieur den Fall rapportiert,
+so hätte ich als Zeuge geschworen, daß der Ingenieur hereingekommen sei
+und den Heizer mit einem Schraubenschlüssel habe erschlagen wollen, weil
+angeblich nicht genügend Dampf gewesen sei und der Heizer ihm gesagt
+habe, er möge machen, daß er rauskäme, er sei ja besoffen, und da ist er
+in seiner Trunkenheit rausgetorkelt und hat sich den Kopf aufgeschlagen.
+Das ist nicht gelogen. Abgesehen von allem andern, der Heizer ist mein
+Leidensgefährte. Und wenn die andern blöken: „Right or wrong, my
+country! Recht oder Unrecht, mein Vaterland!“, so habe ich, verflucht
+nochmal, Recht und Schuldigkeit, zu rufen: „Right or wrong, my
+fellow-worker! Recht oder Unrecht, meine Mitproleten!“
+
+Am nächsten Tage fragte der Erste den Zweiten, wie er zu dem Loch im
+Schädel gekommen sei. Der Gefragte erzählte die Wahrheit. Aber der
+Erste, ein schlauer Bursche, rapportierte nichts, sondern sagte zum
+Zweiten: „Da haben Sie verteufelt Glück gehabt, Mensch. Machen Sie das
+nicht nochmal. Wenn Roste raus sind, lassen Sie sich nicht sehen, gucken
+Sie zum Einsteigeschacht rein, aber melden Sie sich mit keinem Atemzuge,
+daß Sie da sind. Lassen Sie den Dampf runtergehen, soviel er will, und
+wenn der Kasten stehenbleibt. Wenn Sie runtergehen, solange Roste raus
+sind und die nächste halbe Stunde danach, werden sie mitleidlos
+totgeschlagen und in den Feuerungskanal geschoben. Kein Mensch erfährt
+je, wo Sie geblieben sind. Ich warne Sie.“
+
+So ein Streber war der Zweite doch nicht, daß er sich diese Warnung
+nicht zu Herzen genommen hätte. Er ist nie wieder in den Kesselraum
+gekommen, wenn Roste gefallen waren, und wenn er sonst kam, weil der
+Dampf büßte und nicht hochkommen wollte, dann kam er wohl rein, sagte
+keine Silbe, sah nach dem Dampfmeter, stand eine Weile, bot dem Heizer
+und dem Schlepp eine Zigarette an und sagte dann: „Wir haben ludermäßige
+Kohle, da kann ein Heizer von Gold gemacht sein und er kann keinen Dampf
+halten.“
+
+Heizer sind ja keine Idioten und verstehen natürlich sofort, was der
+Ingenieur will, und tun das Beste, was sie können, um den Dampf
+hochzukriegen. Denn nicht nur andre Leute, sondern auch Proleten haben
+Sportgefühl. Aber es soll sich kein Arbeiter über seine Vorgesetzten
+beschweren, er hat immer die, die er verdient, und die er sich macht.
+Ein gutgezielter und gutsitzender Hieb zur rechten Zeit ist besser als
+ein langer Streik oder ein langes Herumärgern. Ob man die Arbeiter als
+„Rohlinge“ bezeichnet, kann ihnen gleichgültig sein. Respektieren soll
+man sie, das ist die Hauptsache. Nur nicht schüchtern sein, Prolet. Was
+Übles man der Yorikke auch immer sonst nachreden konnte, in einem Dinge
+verdiente sie, mit Lorbeer gekrönt zu werden: Sie war ein vortrefflicher
+Lehrmeister. Ein halbes Jahr Yorikke, und man hatte keine Götzen mehr.
+Hilf dir selbst und verlaß dich nicht soviel auf andre. Gefallene Roste
+einsetzen, ist selbst auf einem gesunden Eimer kein Vergnügen, wie ich
+später erfuhr. Es ist immer eine sehr ärgerliche Sache. Doch nicht mehr
+als das. Auf der Yorikke aber war es Blutarbeit.
+
+Jeder Rostbarren wog etwa vierzig bis fünfzig Kilo. Diese Barren lagen
+mit ihren Nocken auf einer Querleiste vorn und auf einer Querleiste am
+Ende des Feuerungskanals. Die Querleisten waren einmal gut und neu
+gewesen, zu der Zeit, als der große Streik ausbrach beim Bau des Turms
+von Babel und jene Sprachverwirrung eintrat, die auf der Yorikke ihren
+Höhepunkt erreicht hatte.
+
+Kein Wunder, daß in der langen Zwischenzeit jene Querleisten ihre
+stützende Wirkung verloren hatten. Die Leisten waren verschmort. Die
+Roste lagen mit ihren Nocken nur auf winzigen Narben jener abgeschmorten
+Querbalken. Beim Aufbrechen der Schlacke brauchte man nur einen
+Millimeter zu unvorsichtig sein, oder die Schlacke brauchte nur sehr
+fest sitzen, dann rutschte ein Rostbarren ab und fiel hinunter in den
+Aschfall. Der Rostbarren war glühend und mußte aus dem Aschfall
+herausgefischt werden mit einem merkwürdigen Instrument, das Rostzange
+hieß und etwa zwanzig Kilo wog. Hatte man den Barren gefischt, so mußte
+er in den Feuerungskanal gehoben und in seine alte Lage gebracht werden.
+Da die Querbalken abgeschmort waren im Laufe der Jahrtausende, so waren
+die verschrumpelten und verbrannten Narben, auf denen der Barren ruhen
+sollte, weniger als einen halben Zoll breit. Hatte man den Barren vorn
+glücklich drin, rutschte er hinten ab und fiel wieder in den Aschfall
+zurück, wo er abermals herausgefischt werden mußte, um das Einsetzen ein
+zweitesmal zu versuchen. Diesmal lag er hinten glücklich in der Narbe,
+aber er erreichte vorn nicht den Rest des Balkens und fiel nun vorn in
+den Aschfall. Fiel der Barren an einem Ende in den Aschfall, so gab auch
+das andre Ende nach, und der ganze Barren fiel runter. Dieses
+Herausfischen und Wiedereinheben mußte so lange versucht werden, bis der
+Barren durch ein glückliches Zusammentreffen mehrerer glücklicher
+Umstände an beiden Enden diesen knappen halben Zoll von Auflagefläche
+gewonnen hatte.
+
+Handelte es sich nur um einen Barren, so war das schon das Schlimmste,
+was man sich nur an Arbeit vorstellen kann. Aber durch das Fischen und
+durch das Einlegen stieß man zuweilen einen Nachbar-Barren an und der
+folgte dem Rufe und fiel gehorsam auch nach in den Aschfall, dabei
+seinen nächsten Nachbar mit sich reißend. Beim Einlegen des letzten
+Nachbars fiel ein weiterer Nachbar herunter, der an und für sich schon
+nur noch einen Millimeter auflag und schon eine Stunde sehnsüchtig
+darauf gewartet hatte, daß ihn doch jemand berühren möge, damit er
+endlich einen Grund habe, auch in den Aschfall rutschen zu können und
+den Tanz mitzumachen.
+
+Während dieser Fischzeit und Einlegezeit brannte das Feuer in dem Kanal
+natürlich lustig weiter, die Barren waren glühend, die Zange war
+glühend, das Schüreisen, mit dem die Barren während des Einlegens von
+unten aus gestützt wurden, war glühend und die Barren hatten ein
+Gewicht, daß sie selbst dann eine ansehnliche Last darstellten, wenn sie
+eiskalt waren und man sie in den Armen vor sich tragen konnte.
+Ununterbrochen durfte man nicht an den Barren arbeiten, weil die übrigen
+Feuer bedient werden mußten, damit sie nicht verlöschten. Alles, was an
+vorrätiger Kohle im Kesselraum lag, wurde in der Zeit aufgefressen und
+mußte nachgeschleppt werden.
+
+Als wir endlich die sechs Roste drin hatten und keiner es wagte, in der
+Nähe der Feurungstür fest aufzutreten, um die Barren nicht zu
+erschüttern und sie von ihren Millimeterstütznarben abzuwerfen, fielen
+wir beide leblos in einen Kohlenhaufen. Leblos ist die richtige
+Bezeichnung; denn jegliches Leben in uns war für eine halbe Stunde
+erloschen. Wir bluteten, aber wir fühlten es nicht, unsre Haut war in
+Streifen und großen Flecken von Armen, Händen, Brust und Rücken
+abgeschmort, aber wir fühlten es nicht. Wir hatten nicht mehr die Kraft,
+zu atmen.
+
+Ein Hauch des Lebens kam endlich zurück, und wir hatten den Dampf wieder
+hochzubringen. Aus den fernsten Winkeln des Schiffes mußte die Kohle
+geschleppt werden, denn die Kohlenbunker lagen da, wo sie am wenigsten
+Laderaum wegnehmen konnten. Die Laderäume waren die Hauptsache.
+Ihretwegen fuhr die Yorikke, ihretwegen fährt jedes Schiff. Die Kohle,
+das Essen für das Schiff, war Nebensache, wie das Essen für die
+Mannschaft Nebensache war. Wo ein Winkel frei war, der als Laderaum
+nicht verwendet werden konnte, da wurde Kohle verbunkert, und da mußte
+sie weggeschleppt werden. In einer Wache von vier Stunden verbrauchten
+die neun Feuer der Yorikke mehr als vierzehnhundertfünfzig volle schwere
+Schaufeln Kohle. Diese vierzehnhundertfünfzig Schaufeln mußten
+herbeigeschleppt werden. Und das mußte getan werden neben dem
+Ausschlacken, neben dem Aschfallziehen, neben dem Aschehieven und, in
+gebenedeiten Wachen, neben dem Rosteeinsetzen.
+
+Das mußte getan werden von nur einem Kohlenschlepp, dem dreckigsten Mann
+der Mannschaft, dem verachtetsten, der weder Matratze hatte, noch eine
+Decke, noch ein Kissen, noch einen Teller, noch eine Gabel, noch eine
+Tasse, mußte getan werden von einem Manne, dem satt zu essen zu geben
+nicht durchführbar war, weil die Kompanie behauptete, sonst nicht
+konkurrenzfähig zu sein. Und daß Kompanien konkurrenzfähig sein müssen,
+darauf achtet sogar der Staat. Dafür achtet er um so weniger darauf, daß
+die Menschen konkurrenzfähig bleiben. Beide, Kompanien und Arbeiter,
+können nicht gleichzeitig konkurrenzfähig gemacht werden.
+
+Um vier wurde mein Heizer abgelöst. Ich nicht. Ich ging meine Ablösung,
+den Stanislaw, um zwanzig vor fünf wecken, zum Aschehieven. Ich mußte
+ihn aus der Bunk ziehen. Er war wie ein Klotz.
+
+Er war schon lange auf der Yorikke. Er war daran gewöhnt. Wenn jemand,
+vielleicht der Passagier einer Luxuskabine, durch Neugier getrieben, an
+dem Kesselschacht vorbeikommt, so ist sein erster Gedanke:
+
+„Wie ist es möglich, daß da Menschen arbeiten können?“
+
+Aber da flüstert ihm sofort der, der immer zur Hand ist und ihm das
+Leben erträglich macht, ins Ohr: „Das sind die gewöhnt, die merken davon
+nichts.“
+
+Damit kann man alles entschuldigen, und damit entschuldigt man alles. So
+wenig wie sich ein Mensch an Lungentuberkulose gewöhnt, so wenig wie er
+sich daran gewöhnt, dauernd zu hungern, so wenig kann sich ein Mensch
+daran gewöhnen, etwas zu ertragen, was am ersten Tage körperliche und
+seelische Qualen bereitet, die man niemand gönnen mag, der
+Menschenantlitz trägt. Mit der nichtswürdigen Ausrede: „Die sind daran
+gewöhnt!“ entschuldigt man auch das Auspeitschen der Sklaven.
+
+Stanislaw, ein robuster Bursche, hatte sich nie daran gewöhnt, ich habe
+mich nie daran gewöhnen können, und ich habe nie einen Menschen gesehen,
+der sich an Qualen je gewöhnt hätte. Weder Tiere noch Menschen können
+sich an Qualen gewöhnen, nicht an körperliche, nicht an seelische. Sie
+werden nur abgestumpft, und das nennt man Gewöhnung. Doch ich glaube
+nicht, daß je ein Mensch so abgestumpft werden kann, daß er sich nicht
+nach Erlösung sehnt, daß er nicht in seinem Herzen den ewigen Schrei
+trägt: „Ich hoffe, daß mein Befreier kommt!“ Nur der allein hat sich
+gewöhnt, der nicht mehr hofft. Die Hoffnung der Sklaven ist die Macht
+der Herren.
+
+„Ist das schon fünf?“ sagte Stanislaw. „Ich habe mich doch soeben erst
+hingelegt.“ Er war noch so dreckig wie er raufgegangen war. Auch jetzt
+konnte er sich nicht waschen. Er war zu müde.
+
+„Ich will dir sagen, Stanislaw, ich halte es nicht aus. Ich kann um elf
+nicht Asche hieven und um zwölf ablösen. Ich gehe über die Reeling.“
+Stanislaw saß auf der Bunk, guckte mich verschlafen an, gähnte und
+sagte: „Tu das nicht. Ich kann nicht deine Wache auch noch machen. Ich
+mache auch über die Reeling. Gleich hinterher. Nein. Mache ich nicht.
+Dann schon lieber Pflaumenmus unter den Kessel. Dann geht alles mit und
+die können keinen mehr fangen. Das ist eigentlich ein Spaß. Das mit
+Pflaumenmus.“
+
+Der arme Stanislaw war noch ganz im Dusel. Dachte ich.
+
+
+ 32
+
+Um sechs Uhr morgens war meine Wache zu Ende. Ich hatte dem Stanislaw
+keinen Kohlenvorrat hinterlassen können. Ich konnte die Schaufel nicht
+mehr halten. Ich brauchte keine Matratze, keine Decke, kein Kissen,
+keine Seife. Ich fiel in meine Bunk, dreckig, ölig, fettig, verschwitzt
+wie ich war. Meine Hosen waren für dauernd verdorben, auch mein Hemd und
+meine Stiefel. Dick verschmiert mit Öl, Kohlenstaub und Petroleum.
+Löcher reingebrannt, versengt, zerrissen. Wenn ich nun an der Reeling
+der Yorikke stand im nächsten Hafen, in Reih und Glied der übrigen
+Taschendiebe, Einbrecher und entlaufenen Sträflinge, dann war ich nicht
+mehr zu unterscheiden. Ich hatte nun auch meine Sträflingskleidung, in
+der ich nicht mehr aussteigen konnte, ohne sofort gefaßt und
+zurückgeliefert zu werden. Ich war jetzt ein Teil der Yorikke geworden,
+mußte mit ihr gehen auf Tod und Verderben. Es gab kein Entrinnen mehr.
+
+Jemand riß mich auf und schrie mir ins Ohr: „Frühstück ist da.“ Es kann
+kein Frühstück auf der Welt bereitet werden, das imstande gewesen wäre,
+mich aus der Bunk zu bringen. Was war mir Frühstück, was war mir Essen?
+Ein schwarzes, dickes, dunstiges, schwerwuchtendes Etwas. Manch einer
+sagt: „Ich bin so müde, daß ich keinen Finger mehr rühren könnte.“ Der
+das sagen kann, weiß nicht, was Müdesein bedeutet. Fingerrühren? Nicht
+einmal die Augendeckel schlossen ganz, vor Müdigkeit. Meine Augen waren
+halb geöffnet, und ich empfand das trübe Tageslicht wie einen lastenden
+Schmerz, aber ich konnte und konnte die Augenlider nicht schließen. Sie
+schlossen nicht selbsttätig und sie schlossen nicht auf meinen Willen.
+Denn den Willen konnte ich nicht aufbringen. Ich hatte nicht den Wunsch,
+sondern nur ein lastendes Unbehagen: „Möchte doch das Tageslicht
+weggehen.“
+
+Und als ich nicht dachte, sondern widerstandslos empfand: „Was kümmert
+dich das Tageslicht?“, da riß mich der schwere eiserne Haken eines
+Ladekrans hoch, dem Kranführer flitschte der Hebel aus der Hand, ich
+sauste aus dreißig Meter Höhe hinunter, klatschte flach auf den Ladekai
+und ein dicker Schwarm von Leuten stürmte auf mich los und schrie:
+
+„Raus, zwanzig vor elf, Asche hieven.“
+
+Nachdem die Asche gehievt war, holte ich das Mittagessen aus der Galley,
+hatte mit meinen Kumpen die Leiter Mittschiffs raufzugehen und die
+Leiter zum Vordeck wieder runterzuklimmen. Ich aß ein paar Pflaumen, die
+„Der Pudding“ hießen, und die in einem blauen Stärkeschleim steckten.
+Etwas andres und mehr zu essen war ich zu müde. Ich wusch mich nicht,
+sondern trat so meine Wache an. Als ich um Sechs abends wieder abgelöst
+wurde, war ich zu müde, um mich zu waschen. Das Abendessen war kalt und
+steif. Das rührte mich nicht. Ich schlug in meine Bunk.
+
+Das ging drei Tage und drei Nächte. Ich hatte keinen andern Gedanken als
+nur: Elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs. In
+diesem Begriff sammelte sich für mich der Weltbegriff und das
+Persönlichkeitsbewußtsein. Ich war ausgelöscht. An Stelle des Ichs stand
+nichts andres als elf bis sechs. Zwei unsagbar wehe Schreie schnitten
+sich mir mit Grausamkeit in das, was Hirn, Fleisch, Seele, Herz gewesen
+war. Sie bereiteten einen Schmerz, der gellend scharf war. Mag sein, daß
+man einen ähnlichen kreischenden Schmerz empfindet, wenn einem das
+nackte Gehirn mit einer Stahlfeder gekitzelt wird. Die Schreie kamen
+immer von weit her, waren immer dieselben, immer gleich grausam und
+schmerzhaft: „Raus, zwanzig vor elf!“ – – „Heilige genotzüchti – Roste
+durchgefallen!“
+
+Als vier Tage und fünf Nächte um waren, bekam ich Hunger, aß und begann,
+mich daran zu gewöhnen.
+
+„So schlimm ist das eigentlich gar nicht, Stanislaw“, sagte ich, als ich
+ihn ablösen kam. „Die Frikandellen schmecken ganz gut. Wenn man nur
+etwas mehr Milch bekäme. Na, der Vorrat, den du mir hinterläßt, ist auch
+nicht gerade berühmt. Das stochern wir in einen hohlen Zahn vom Feuer
+eins. Wie kann man denn beim Ersten einen Rum rausschinden?“
+
+„Spielend, Pippip. Siehst ja klapprig genug aus. Glaubt er dir. Gehst
+jetzt gleich rauf und sagst, hast dir den Magen verdorben und mußt
+immerfort kotzen. Sagst, kannst nicht auf Wache gehen, kotzt grün.
+Gleich hast du ein Weinglas weg. Zweimal die Woche kannst du drauf
+reiten auf das Rezept. Wenn du mehr kommst, zieht es nicht mehr. Dann
+gießt er dir unversehens halb Rizinus mit ein, merkste erst, wenn du
+geschluckt hast. Und kannst ihm doch nicht gut in die Kabine spucken,
+mußte dann aufscheuern. Also schluckste. Gib das Rezept nicht weiter.
+Ist bloß für uns beide. Die Heizer haben ein separates. Pfeifens aber
+nicht, die Gauner.“
+
+Ich gewöhnte mich immer mehr.
+
+Dann kam die Zeit, wo ich schon wieder Nebengedanken bekam, wo ich nicht
+in einem ermüdeten Dämmerzustande, sondern ganz trocken dem Zweiten
+zuschrie, wenn er nicht sofort den Kesselraum verließe, er nicht nur
+einen Hammer, sondern auch noch einen Knebelbolzen an den Schädel
+kriegen würde, und daß er mich wehrlos über Bord schmeißen dürfe, wenn
+ich ihm nicht ganz gewiß mit dem Hammer die Vorderfront und mit dem
+Bolzen die Hinterpartie seines Idiotenschädels einschlüge, und daß er
+uns diesmal nicht durch den Gang entkommen würde.
+
+Er hätte in der Tat nicht entkommen können. Er hatte wohl auch das
+Gefühl. Wir hatten in dem Gange eine Stange aus Eisen so angebracht, daß
+sie in der Schwebe hing. Von der Rückwand des Kesselraumes aus führte
+eine Schnur zu jener Eisenstange. Wollte er entfliehen, so sprang einer
+sofort zu der Schnur und zog sie an. Dadurch wurde die Stange aus der
+Schwebe ausgelöst und fiel so in seinen Weg, daß er in der Falle war. Ob
+er lebend herausgekommen wäre oder mit kurz und klein geschlagenen
+Gliedmaßen nur, hing lediglich von der Anzahl der rausgefallenen Roste
+ab.
+
+Es vergingen manchmal fünf Wachen, ohne daß auch nur ein Rost
+herausfiel. Aber die Roste brannten ja auch durch und mußten durch neue
+ersetzt werden, weil sonst die Feuer durchbrachen. Zuweilen hatte man so
+viel Glück, daß bei dem Neueinsetzen nur ein Nachbar mitging, und daß
+man die beiden mit Geduld und Blut so andächtig behandeln konnte, daß es
+bei den beiden blieb. Dafür aber kamen dann auch die Prüfungen um so
+schärfer, daß nicht nur sechs fielen, sondern acht, und nicht nur in
+einem Feuerzug, sondern in zwei oder drei in derselben Wache. Fürwahr,
+es wurde einem nichts geschenkt.
+
+Als wir Goldküste machten, kamen wir in Wetter, und was für ein Wetter!
+Ehre sei Gott in der Höhe, und blas’ mir die Trompeten! Das war ein
+Lüftchen. Da bring mal die Kumpen mit Suppe und Schneidergulasch heil
+über Mittschiff zum Quartier. Fleckenseife und Benzin nochmal! Das will
+gelernt sein.
+
+Nun das Aschehieven. Da hat man die schwere Aschkanne ausgehängt und
+trägt sie warm im Ärmchen rüber über das Gangdeck zum Ascheschacht. Aber
+ehe man mit seiner geliebten Kanne dort ankommt, hat Yorikke übergerollt
+und man saust mit seiner holden gefüllten Kanne das ganze Gangdeck
+entlang und sauber zur Gangstieg. Kachelt Yorikke achtern aus, landet
+man mit seiner Aschkanne immer noch fest im Arm unten auf dem Vordeck,
+läßt Yorikke vorn die blanken Oberschenkel sehen, rasselt man mit der
+Kanne nach achtern und rollt das ganze Achterdeck rauf und runter und
+der Erste Offizier schreit von der Brücke herunter: „He, Schlepp, wenn
+Sie über Stag gehen wollen, man immer los, es hält Sie niemand, aber die
+Aschkanne lassen Sie gefälligst hier. Die können Sie beim Fischen nicht
+gebrauchen.“
+
+Unten vor den Kesseln ist es dann auch viel gemütlicher als sonst. Wenn
+der Heizer gerade mit einem schön einstudierten Schwung eine volle
+Schaufel aufschmeißen will, dreht er sich plötzlich und schmeißt einem
+die Schaufel voll Kohlen klatschend ins Gesicht oder zwischen die
+Eingeweide. Beim nächsten Überholer kommt er gar nicht zum Schwunge,
+sondern fliegt mit seiner Schaufel in einen Kohlenhaufen, in dem er
+verschwindet und aus dem er erst hervorkraucht, wenn Yorikke wieder hier
+überlegt.
+
+In den Bunkern, wenn es Oberbunker sind, die auch mit Gut beladen werden
+können, ist der Spaß noch größer, weil man mehr Spielraum hat. Man hat
+glücklich am Steuerbordschacht zweihundert Schaufeln aufgeschichtet und
+beginnt gerade damit, sie nach dem Kesselschacht abzuwerfen.
+
+Ratsch! legt Yorikke über nach Backbord. Und Schlepp, seine Schaufel und
+seine schönen zweihundert Würfe Feuergut rutschen in einem wilden
+Gemengsel über nach Backbord und steigen an der Backbordwand hoch.
+Yorikke macht nun einen Längser, man kommt ins Gleichgewicht und
+beschließt die zweihundert Würfe am Backbordschacht abzuwerfen. Eine
+Schaufel hat man gerade unten, da legt sich Yorikke zur Abwechslung nach
+Steuerbord über und das Gemengsel, mit dem Schlepp in der Mitte, rasselt
+nach Steuerbord, wo es ursprünglich herkam. Jetzt aber überlistet man
+die gute Yorikke. Man überlegt nicht lange, prasselt gleich zehn,
+fünfzehn Schaufeln runter in den Steuerbordschacht, dann rennt man noch
+rechtzeitig rüber nach Backbord, und wenn die Lawine dort nachkommt,
+gleich wieder fünfzehn Würfe den Backbordschacht runter, und wie der
+Satan rüber nach Steuerbord, schon ist die Lawine hinterher, fünfzehn
+Würfe hier in den Schacht und so kriegt man seine Kohle vor die Kessel,
+wenn sie in den Oberbunkern lagern.
+
+Ein Kohlschlepp muß ebensoviel von Navigation verstehen wie der Skipper,
+sonst würde er zu manchen Zeiten nicht ein Kilo Kohle vor die Kessel
+kriegen. Natürlich ist der Schlepp am ganzen Körper braun und blau, die
+Nase zerschunden, die Schienbeine aufgeschlagen, die Hände und Arme
+abgeschunden. Lustig ist das Seemannsleben, hoiho!
+
+Und lustiger noch ist es, daß Hunderte von Yorikken, Hunderte von
+Totenschiffen auf den sieben Meeren fahren. Alle Nationen haben ihre
+Totenschiffe. Die stolzesten Kompanien, die die schönsten Flaggen
+protzig wehen lassen, schämen sich nicht, Totenschiffe zu fahren. Wozu
+zahlt man denn Versicherungsprämien. Nicht zum Vergnügen. Alles muß
+seinen Profit abwerfen.
+
+Es fahren viele Totenschiffe auf den sieben Meeren, weil es viele Tote
+gibt. Nie gab es so viel Tote, als seit der große Krieg für die Freiheit
+gewonnen wurde. Für jene Freiheit, die Pässe und Nationalitätsnachweise
+der Menschheit aufzwang, um ihr die Allmacht des Staates zu offenbaren.
+Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten, der absoluten
+Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und Maitressen ist
+besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines größeren
+Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des Staates und
+seiner Lakaien.
+
+Erhebe die Freiheit zu einem religiösen Symbol, und sie wird leicht die
+blutigsten Religionskriege entfesseln. Wahre Freiheit ist relativ. Keine
+Religion ist relativ. Am wenigsten relativ ist die Profitgier. Sie ist
+die älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen.
+Yes, Sir.
+
+
+ 33
+
+Wird man so zuschanden gearbeitet, daß man nicht einmal mehr „pip“ sagen
+kann, so kümmert man sich um nichts, was um einen herum vor sich geht.
+Laß geschehen was da will, nur in die Bunk und geschlafen. Man kann so
+müde gearbeitet werden, daß man aufhört, an Widerstand zu denken, daß
+man aufhört, an Flucht zu denken, daß man aufhört, an Müdigkeit zu
+denken. Man wird Maschine, man wird Automat. Um einen herum darf nun
+geraubt oder gemordet werden, man sieht nicht hin, man hört nicht hin,
+nur schlafen, schlafen, nichts weiter.
+
+Dösig stand ich an der Reeling und schlief im Stehen. Eine gute Anzahl
+von Feluken mit ihren merkwürdigen spitzen Segeln waren in der Nähe.
+Aber das fiel nicht auf. Die waren immer herum. Fischer und Schmuggler,
+und was sie sonst für Geschäfte haben mochten, Geschäfte, an die man zu
+denken nicht wagen würde.
+
+Ich ruckte zusammen und wurde völlig wach. Ich konnte nicht begreifen,
+was es war, das mich so aufriß. Es schien ein mächtiges Getöse zu sein.
+Aber als ich mich auf das Getöse eingestellt hatte, kam mir zum
+Bewußtsein, daß es kein Getöse war, das mich so überwach gemacht hatte,
+sondern daß es eine schwere Ruhe war. Die Maschine hatte aufgehört zu
+arbeiten, und das verursacht merkwürdige Gefühle. Tag und Nacht hört man
+das Stampfen und Dröhnen der Maschine, es dröhnt im Kesselraum wie ein
+rollendes Donnern, in den Bunkern wie ein dumpfes schweres Hämmern, im
+Quartier wie ein drehendes, ratterndes Keuchen und Pumpen. Es kriecht
+einem in Fleisch und Hirn. Man hat es in allen Fibern seines Körpers.
+Der ganze Körper wird ein holpriges Stampfen. Der ganze Mensch fällt in
+den Rhythmus der Maschine ein. Er spricht, er speist, er liest, er
+arbeitet, er hört, er sieht, er schläft, er wacht, er denkt, er fühlt
+und lebt in diesem Rhythmus. Und plötzlich hört das Stampfen der
+Maschine auf. Man empfindet einen eigentümlichen Schmerz. Man wird leer
+in sich, als ob man in rasender Geschwindigkeit in einem Aufzuge
+hinuntersause. Die Erde versinkt einem unter den Füßen, und man
+empfindet, daß der Boden des Schiffes herausgefallen ist, und daß man
+auf den Boden des Meeres sinkt.
+
+Yorikke stand und wogte leicht auf dem glatten ruhigen Meer. Die Ketten
+rasselten und der Anker fiel.
+
+Stanislaw kam in dem Augenblick vorbei mit der Kaffeekanne.
+
+„Pippip,“ rief er mich an und sagte halblaut, „jetzt haben wir unten
+aber zu hopsen, ei verflucht nochmal. Müssen den Dampf hochpfeifen auf
+hundertfünfundneunzig.“
+
+„Du bist wohl verrückt, Stanislawski,“ sagte ich, „da fliegen wir ja
+gleich ohne Aufenthalt durch bis auf den Sirius. Bei hundertsiebzig
+klappern uns ja schon die Eingeweide.“
+
+„Deshalb drücke ich mich ja hier oben rum, so viel ich kann“, griente
+Stanislaw, „da rennt man mit dem Schädel nicht erst lange gegen die
+Platte. Man geht dann gleich wie ein Gummiball ab, und ehe die Brocken
+nachkommen, schwimmt man schon. Als ich die Feluken so verdächtig in der
+Nähe sah, habe ich wie ein Wahnsinniger Vorrat gemacht, um nur recht
+viel Gelegenheit zu haben, raufzukommen. Dem Heizer habe ich gesagt, ich
+habe Durchfall. Das nächstemal mußt du dir was andres aussuchen, man
+kann nicht immer den gleichen Hanfsamen erzählen, sonst will er selber
+raufgehen und schmeckt die Pomeranzen.“
+
+„Was ist denn los?“
+
+„Na, du bist mir ein Schaf. Es wird geblendet. Skipper zieht die
+Prozente ein für die Versicherung. So einen Esel, wie du bist, habe ich
+in meinem Leben nicht gesehen. Was denkst du denn, wo du drauf bist?“
+
+„Leichenwagen.“
+
+„Das hast du ja wenigstens schon klar. Aber die rennen doch so einen
+Eimer nicht runter ohne Musik. Das bilde dir nur ja nicht ein. Die
+Yorikke ist geliefert. Der Totenschein liegt schon bei der Kompanie, die
+brauchen bloß noch das Datum reinschreiben. Na, und siehst du, Mensch,
+wenn man schon auf der letzten Violinsaite spielt, dann ist doch alles
+Kick und Kaktus. Die Yorikke kann alles machen, was sie will, sie ist
+verzweifelt, sie steht auf der Totenliste. Die kann alles riskieren,
+verstehst du? Guck mal da rauf, auf den Laternenkorb. Da hängt der
+Boss’n mit der Prismatüte und guckt raus, ob die Luft dicht ist. Dann
+kannst du aber mal die Yorikke loskartoffeln sehen, Mensch, die olle
+ausgeleierte Schachtel macht dir in der ersten Viertelstunde einen Satz,
+daß dir himmelangst wird, bei dem Dampfdruck. Entweder ruff in den Mond
+oder raus mit fünfunddreißig Meilen. Da sollst du mal die Yorikke sehen.
+Nach einer halben Stunde pfeift und keucht sie aus allen Knopplöchern
+und hat für vier Wochen Asthma. Aber sie ist raus. Und das ist die
+Hauptsache. Jetzt muß ich aber runter. Ich komme gleich wieder, wenn ich
+ein paar geschippt habe. Dann muß ich wieder abknöppen gehen.“
+
+Wir fuhren gewöhnlich hundertfünfzig, auch hundertfünfundfünfzig Druck,
+wenn die Yorikke gegen schweres Wetter zu kämpfen hatte. Hundertsechzig
+war ihre „Achtung!“, hundertfünfundsechzig „Warnung!“, hundertsiebzig
+„Gefahr!“. Hier blies sie ab mit markdurchdringendem Geheule. Um ihr das
+Heulen auszutreiben, waren jetzt die Tränendrüsen zugeschraubt. Wenn sie
+Lust hatte, konnte sie nach innen in sich hineinweinen, ihr grausames
+Schicksal beweinen und mit Trauer zurückdenken an jene Zeit, wo auch sie
+ein ehrliches rotbäckiges Jungferlein war. Sie hatte alle Stadien eines
+abenteuerlichen Weibes durchgemacht in ihrem langen, reichen Leben. Sie
+war auf glänzenden Bällen gewesen, wo sie die Königin des Festes war und
+umworben wurde von den schönsten Herren. Sie hatte sich mehrfach
+verheiratet, war ihren Männern durchgebrannt, war in üblen Hotels
+gefunden worden, war dreißigmal geschieden worden, hatte von neuem Glück
+gehabt und war in die Gesellschaft wieder aufgenommen worden, hatte
+wieder Dummheiten gemacht, sich eine Zeitlang dem Suff ergeben und
+schottischen Whisky nach Norwegen und nach den Krabbenlöchern an der
+Küste des States Maine geschmuggelt, und nun war sie endlich
+Kuppelmutter, Testamentsschleicherin, Giftmischerin und Engelmacherin
+geworden. So tief kann eine Frau sinken, die aus bester Familie kam und,
+versehen mit ausgezeichneter Erziehung und mit seidenen Röckchen und
+Fähnchen ins Leben zog. Aber das Unglück vieler schöner Frauen ist, daß
+sie nicht zur rechten Zeit zu sterben verstehen ...
+
+Die Ladeluken wurden geöffnet und es wurde in den Eingeweiden der
+Yorikke emsig herumgewühlt.
+
+Die Feluken waren nahe gekommen, und zwei machten längsseit fest. Sie
+waren von marokkanischen Fischern bemannt. Die kamen wie die Katzen an
+Bord. Die Lademasten wurden ausgeholt und fingen kreischend an zu
+arbeiten. Drei Marokkaner, die wie Fischer gekleidet waren, jedoch sonst
+den Fischern nicht glichen, klug und intelligent aussahen, gingen mit
+dem Zweiten Offizier zur Kabine des Skippers. Der Offizier kam wieder
+heraus und überwachte das Verladen. Der Erste stand auf der Brücke und
+hatte die Augen überall, am Horizont, auf dem Wasser, auf dem Schiff.
+Vorn in seinem Gurt hatte er einen schweren Browning stecken.
+
+„Alles dicht, Boss’n?“ schrie er rauf zum Mast.
+
+„Alles dicht, aye, aye, Sir.“
+
+„All right! Keep on!“
+
+Die Kisten schwangen lustig durch die Luft und runter in die Feluken.
+Dort waren andre Marokkaner mit flinken Händen tätig, die Kisten unter
+den Ladungen von Fischen und Früchten zu verstauen. War eine Feluke
+geladen, so machte sie los und stieß ab. Sofort kam eine andre
+herbeigerudert, machte fest und nahm die Ladung ein.
+
+Jede Feluke, die ihre Ladung hatte, stieß ab, heißte die Segel und flog
+davon. Jede segelte in eine andre Richtung. Einzelne in die Richtung, wo
+auf keinen Fall Land liegen konnte, es wäre denn, daß sie nach Amerika
+hätten segeln wollen.
+
+Der Zweite Offizier hatte einen Block mit eingeschobenem Kohlenpapier
+und einen Bleistift. Er zählte die Kisten. Dann rief ihm einer der
+Marokkaner, der als Lademeister zu arbeiten schien, eine Zahl zu, der
+Offizier antwortete die gleiche Zahl zurück und schrieb sie dann auf.
+Auch der Lademeister schrieb auf einem Stück Papier mit. Die Zahlen
+wurden in Englisch gerufen.
+
+Endlich wurden keine Kisten mehr heraufgezogen und die Luken
+geschlossen. Die letzte Feluke, die Ladung genommen hatte, war schon
+weit fort. Die ersten konnte man nicht mehr sehen. Sie waren hinter dem
+Horizont verschwunden oder vom Dunst verschluckt. Die andern sah man in
+verschiedenen Richtungen wie kleine Stückchen weißen Papiers
+herumschwimmen.
+
+Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
+festgemacht. Sie hatte keine Ladung eingenommen. Sie hatte nur ihre
+Fischladung.
+
+Die drei Marokkaner, die mit dem Skipper in der Kabine gewesen waren,
+kamen jetzt mit ihm heraus. Sie lachten und schwätzten miteinander. Dann
+verabschiedeten sich die drei mit großen schönen Gesten ihrer Arme und
+Hände, kletterten am Fallstieg hinunter, stiegen in ihr Schifflein,
+stießen ab, heißten die Segel, der Fallstieg wurde hochgezogen, die
+Ankerkette rasselte, und Yorikke war auf voller Fahrt.
+
+Nach zehn Minuten etwa kam der Skipper raus und rauf zum Deck:
+
+„Wo steht sie?“
+
+„Sechs ab von der Küste.“
+
+„Bravo. Dann sind wir ja raus?“
+
+„Yes, Sir!“
+
+„Kommen Sie frühstücken. Wir wollen einen heben. Geben Sie dem Ruder den
+Kurs und kommen Sie.“
+
+Damit war der Spuk vorbei.
+
+Aber der Spuk hatte etwas zurückgelassen. Wir alle bekamen großes
+Nach-Sturm-Frühstück. Bratwürste, Schinken, Kakao, Bratkartoffeln und
+pro Kehle ein Wasserglas Rum, der uns in unsre Blechtassen gefüllt
+wurde. Dieses Nach-Sturm-Frühstück war das Maulpflaster für uns. Das
+Maulpflaster für den Skipper sah anders aus. Das konnte man nicht essen,
+man mußte es in die Brieftasche stecken.
+
+Aber wir waren ja so zufrieden. Wir wären mit dem Skipper in die Hölle
+gefahren, wenn er gesagt hätte: „Los, Jungens!“ Und keine
+Daumenschrauben hätten aus uns herausquetschen können, was wir gesehen
+hatten.
+
+Wir hatten nur gesehen, daß an der Maschine ein Lager heiß gelaufen war,
+daß wir uns vor Anker legen mußten, bis der Schaden wieder repariert
+war, und daß, während wir vor Anker lagen, Feluken ankamen, die uns
+Fische und Früchte hatten verkaufen wollen. Der Koch hat für zwei
+Mahlzeiten Fische gekauft, und die Offiziere haben sich Ananas und
+frische Datteln und Orangen gekauft.
+
+Das können wir beschwören, weil es die Wahrheit ist, yes, Sir.
+
+Einen so guten Kapitän läßt man nicht im Stich, no, Sir.
+
+
+ 34
+
+Sobald man nicht überarbeitet wird, gleich kümmert man sich um andre
+Dinge und steckt seine Nase in Sachen, die einen gar nichts angehen, die
+einen nur auf Ideen und Gedanken bringen, die verderblich sein müssen,
+wenn man sie pflegt und hätschelt. Seemann, bleib bei deinem Ruder und
+bei deinem Farbenpott; dann bist du auch immer ein braver Seemann und
+ein anständiger Kerl.
+
+Der Ingenieur hatte einen Kohlenbunker aufschrauben lassen, der nahe den
+Kesseln lag, weil der Bunker für Ladung gebraucht werden sollte. Jetzt
+konnte man die Kohlenschächte des Kesselraumes so schön und mollig
+auffüllen. Und als die Schächte aufgefüllt waren, der Bunker leer war
+und Yorikke die Ladung übernommen hatte, begann eine wollüstige Zeit.
+Sie dauerte nur drei Tage, dann waren die Schächte wieder leer, aber es
+waren doch schöne Tage, ganz unvergeßlich.
+
+Es waren die Tage der Galeerensklaven, wenn die Segel voll sitzen und
+nur tote Kreuzerfahrten gemacht werden. Sie bleiben angeschmiedet, damit
+sie die Gewohnheit nicht verlieren; sie werden weiter gepeitscht, damit
+sie das Gefühl nicht verlieren und nicht an Aufruhr denken; sie müssen
+weiter arbeiten, damit die Muskeln nicht zu schlapp werden. Aber sie
+dürfen sich hin und wieder ausruhen und den Kopf auf die Riemenstangen
+fallen lassen, weil unter den vollen Segeln die auslegenden Riemen
+bremsen und nicht in Richtung wirken.
+
+Auch die vollen Kesselschächte konnten bremsend wirken, wenn man nicht
+ruhte, und sie hätten den Kesselraum so verstopfen können, daß der
+Heizer nicht arbeiten konnte, vielleicht gar Feuer ausbrach.
+
+Die Ladung wurde ebenfalls auf offner See eingenommen. Irgendwo an der
+Küste Portugals mußte es sein; denn die Bootsleute sprachen
+portugiesisch. Es ging ähnlich zu wie weiter südlich an den Küsten
+Afrikas das Ausladen.
+
+Auch hier kamen drei Mann zuerst an Bord, die wie Fischer aussahen,
+jedoch keine Marokkaner waren. Auch sie gingen mit dem Skipper in dessen
+Kabine. Es wurde geladen, es wurden Zahlen in Englisch gerufen und in
+Arabisch geschrieben. Dann zogen die Boote mit ihren Fisch- und
+Apfelsinenladungen wieder ab, in alle Richtungen hinaus. Zuletzt stiegen
+auch die drei in ihr Boot und setzten ab.
+
+Diesmal gab es kein großes Nach-Sturm-Frühstück, sondern nur Kakao und
+Stollenkuchen mit Rosinen. Es gab ja auch nichts zu schwören.
+
+„Denn was soll man schwören?“ sagte Stanislaw. „Wenn da einer kommt und
+hebt die Luke auf und guckt rein und sieht die Kisten, was willst du da
+schwören? Kannst doch nicht gut schwören, es ist keine Kiste da, wenn
+der Mann sie in der Hand hat. Aber da kommst du auch gar nicht zum
+Schwören. Da sind die Kisten und fertig. Kann nur der Skipper schwören,
+wo er mit den Kisten hin will. Und der wird ihnen schon was schwören, da
+kannst du Schlacke drauf fressen.“
+
+Jetzt hatte ich und natürlich auch Stanislaw feine Wachen. Wenn
+ausgeschlackt war, wurden die Aschenfälle gezogen, dann hob ich dem
+Kohlefall das Schürzchen hoch, und der Kesselraum lag voll, Vorrat mit
+eingeschlossen.
+
+Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so rum in den Eingeweiden.
+Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen,
+Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die Kisten
+aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel oder Seife.
+Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben, alles
+behalten können und das übrige noch dazu kriegen. Moral ist die Butter
+für die, denen das Brot fehlt.
+
+Man muß die Kisten nur wieder gut zumachen und darf das Hemd und die
+Stiefel nicht gleich anziehen. Wenn es rauchig wird, verkauft man es
+besser im nächsten Hafen. Nimmt jeder ab. Der Seemann ist billig. Er
+spart ja die Ladenmiete und kann deshalb unter Fabrikpreisen verkaufen.
+
+Seine Ausgaben hat man auch. So leicht ist es nicht, an die Kisten zu
+kommen. Man muß Schlangenmensch sein. Das hatte ich ja gelernt. Jeden
+Tag ein paarmal Training; wenn man nachließ, spürte man es sofort an den
+verbrühten Armen und den verschmorten Stellen auf dem Rücken. Es hat
+auch seine Schwierigkeiten, in den Laderäumen rumzuwirtschaften und
+seine Ware zu suchen und in Empfang zu nehmen. Da rutscht so eine Kiste,
+ein paar andre rutschen nach und man ist gefangen in der Falle oder zu
+Brei zerquetscht. Licht hat man ja keins, sondern Wachszündhölzchen,
+damit man den Waren heimleuchten kann.
+
+Die Yorikke fuhr keine echten Werte, sie fuhr Totenwerte. Alte
+Schrauben, versichert als Corned Beef. Aber diese Einladungen und
+Ausladungen ließen meinen Geschäftssinn nicht ruhen. Das waren keine
+alten Schrauben und das waren auch keine Zementfüllungen. Ich kenne die
+Marokkaner, die machen sich nichts aus Schrauben und gebackenem Zement.
+Außerdem hatte ich gesehen, daß nur ein Rettungsboot dicht war und daß
+die Offiziere mit dem Skipper auf Wertschätzung standen.
+
+Die beiden Offiziere beanspruchten Boot zwei; sie durften nicht mit in
+Boot eins, dann wären Skipper und Offiziere erschlagen worden, weil man
+wußte, was los war. Ein zweites Boot mußten sie schon klarmachen. Die
+beiden andern Boote waren ja für den Bootsmann und die A. B.s, den
+Kesselbums und einen Ingenieur. Wenn der zweite Offizier mit zum Skipper
+in Boot eins stieg, das fiel niemand auf, aber beide Offiziere durften
+nicht rein. Solange also nicht Boot zwei überholt war, konnte der
+Yorikke nichts geschehen. Geschah ihr trotzdem etwas, dann lag der Fall
+treu und alles konnte in Boot eins steigen, und wer nicht Platz hatte,
+wurde rausgepfeffert. Da packen alle Hände zu. Dann ist es auch nicht
+nötig, Zeugen zu verheiligen, weil alles, was heimkommt, bester Zeuge
+ist, denn es war eine treue Beerdigung, an der Versicherung kann keine
+Maus knabbern.
+
+Boot zwei also war für mich das Signal für die Beerdigung. Es war noch
+knistertrocken, also hatte auch die Yorikke noch andre, treue Werte an
+Bord und nicht nur reine Totenwerte. Wenn es auch Blender waren, so
+wollte ich doch wissen, was die Blender im Magen hatten. Wissenschaft
+macht sich manchmal bezahlt.
+
+Da war ich drin im Laderaum und betrachtete mir die Kisten.
+
+ „Garantiert echtes schwäbisches Pflaumenmus“
+ „Garantiert reine Früchte und Zucker“
+ „Kein Farbenzusatz“
+ „Erste schwäbische Pflaumenmusfabrik A.-G.“
+ „Oberndorf a. N.“
+
+Wir sind schöne Esel. Da fressen wir die Schmierseife rein, die
+Margarine heißt, und hier liegt das schönste schwäbische Pflaumenmus
+stapelweise aufgeschichtet. „O Stanislaw, ich habe dich für einen so
+intelligenten Burschen gehalten, aber du bist das größte Rindvieh auf
+Erden.“
+
+Das war mein erster Gedanke. Stanislaw hatte immer so einen großen Mund,
+er tat immer so klug, er wußte immer alles, wußte immer, wohin die
+Yorikke ging und wohin sie nicht ging. Aber das Pflaumenmus hatte er
+doch nicht entdeckt.
+
+Kisten aufmachen ist Spielerei, wenn man Übung hat. Feine große Büchsen.
+Das gibt ein Fressen morgen, dick drauf geschmiert auf das warme Brot.
+Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Garantiert reine Früchte und
+Zucker. Kein Ersatz aus deutscher Rübenzeit. Reine Früchte und Zucker.
+Die Marokkaner wissen schon, was gut ist. Das ist besser als Datteln und
+Rosinen, schwäbisches Pflaumenmus aus der Ersten Pflaumenmusfabrik. Mit
+dem Meißel, den ich zum Aufmachen der Kiste gebraucht hatte, öffnete ich
+jetzt gleich eine Büchse. Ich war mit zwei Büchsen zum Bunker gekrochen,
+wo ich ja meine Lampe unbekümmert brennen durfte. Es konnte mir schon
+keiner raufkommen, weil ich das Brett, das über zwei Streben lag und das
+zur Bunkerluke führte, weggezogen hatte. Von den Ingenieuren wäre
+sowieso keiner über das Brett gegangen; denn das erforderte Mut.
+Besonders stark war das Brett nicht, und es war auch nicht mehr neu. Es
+war nicht ausgemacht, ob es heute oder morgen brach. Und wenn es brach,
+oder wenn man beim Drübergehen infolge eines unerwarteten Stampfers der
+Yorikke das Gleichgewicht verlor, so sauste man zwanzig Fuß tief runter
+in den Kesselraum und schlug sich auf dem Wege dahin einen Schädelbruch,
+wenn man Glück hatte. Wenn man Pech hatte, so war es schon ganz egal, ob
+man einen oder zehn Schädelbrüche hatte. Aber besser ist besser, dachte
+ich, und darum hatte ich das Brett weggezogen. Die Büchse war auf. Es
+war keine Blendung, verflucht noch mal. Es war tatsächlich garantiert
+reines Pflaumenmus. Offenbar hatte ich Goldstaub erwartet, weil ich so
+erstaunt war. Das hätte ich von der Yorikke nicht gedacht. Sie fährt
+treues, echtes Gut. Und ich habe das arme Weib unter Verdacht gehalten,
+daß sie Deklarierungen kleistert und Blender fährt. Man soll doch nie
+voreilig urteilen, wenn man es mit Weibern zu tun hat.
+
+Man soll nicht voreilig urteilen, wenn man es mit –.
+
+Schmeckt das Zeug? Schmeckt ganz gut. Schmeckt – na – na – warte mal –
+schmeckt etwas ranzig. Nein, schmeckt nach – nach – nach was denn zum
+Donnerwetter nochmal? Die haben Coppers reingetan, die Säue. Die haben
+Kupfermünzen rein getan, damit die Pflaumen Farbe behalten sollen.
+Garantiert kein Farbzusatz. Ist keine Farbe, aber schmeckt danach.
+Wollen doch noch mal kosten. Ja, Teufel, schmeckt nach Grünspan, direkt
+nach Messing. Kann ich nicht essen auf Brot. Ich werde den Geschmack
+nicht los. Frißt sich auf der Zunge ein und klietscht gegen den Gaumen.
+
+Vielleicht nur oben so schlimm. Gehen wir mal tiefer mit dem Finger in
+die Marmelade! Was ist denn das? Da sind ja noch die ganzen
+Pflaumenkerne drin geblieben. Das ist ja eine Marmelade. Scheint echt
+schwäbisch zu sein, die Kerne alle drin zu lassen.
+
+Na? Was ist denn das? Das sind aber merkwürdige Pflaumen, die echt
+schwäbischen Pflaumen. Die haben sehr mysteriöse Kerne. Die Kerne sind
+ja aus Blei, tatsächlich aus Blei. Und damit das Blei nicht beschädigt
+wird, hat es einen weißen Stahlpanzer. Und jeder Kern steckt auf einer
+Messinghülse. Daher der Messinggeschmack. Und in den Hülsen? Was ist
+denn da drin? Zucker. Feiner Zucker. Schwäbischer Zucker muß das sein.
+Ist schwarz und schmeckt ganz salzig. Garantiert reine Früchte und
+Zucker. Feine Blender. Man soll nicht voreilig urteilen, Yorikke ...
+
+Dann ging ich auf die zweite Reise. Mausefallen. Daß die Marokkaner so
+wild auf Mausefallen sein sollten, glaubte ich nicht. Es waren wirklich
+Mausefallen in den Kisten. Als ich aber nach den Kernen suchte, fand ich
+Mausefallen ohne Fallen, mit einem R am Ende. Mauser.
+
+Da waren Kisten mit Kinderspielzeug. „Blechautos mit aufziehbarem
+Federwerk.“ Ich suchte nicht nach den Kernen und sparte mir die Mühe,
+weil die Blechautos mit aufziehbarem Federwerk aus der „Ältesten Suhler
+Spielwarenfabrik“ kamen. Aber England war viel besser und viel
+gründlicher vertreten als Belgien und benachbarte Gebiete. Belgien hatte
+Zuckerwaren beigesteuert und England Kasserollen aus Weißblech. Die
+Marokkaner haben ganz recht. Spanien den Spaniern, Frankreich den
+Franzosen und China den Chinesen. Wir lassen keine Chinesen
+rein. Aber wenn die uns nicht reinlassen, dann ist unser
+Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra! befleckt, bedreckt, beschiet und muß
+mit Blutfleckseife ausgewaschen werden, yes, Sir.
+
+He, Skipper, auf mich kannst du zählen. Du machst das Geschäft, und ich
+habe das Wohlgefallen.
+
+
+ 35
+
+„Stanislaw, nun sag mal, warum frißt du denn die Margarine immer so in
+dich hinein? Hast du denn gar kein Schamgefühl?“
+
+„Was willst du machen, Pippip. Erstens habe ich Hunger, und zweitens
+kann ich doch nicht meine Lumpen auskochen, den Saft eindicken und dann
+als Marmelade aufs Brot schmieren. Hab doch weiter nichts aufs Brot. Und
+immer das trockene Brot hinterwürgen, Mensch, du wirst ja ganz dusselig
+davon. Kriegst ja Betonfundamente in den Bauch.“
+
+„Du bist schön dumm,“ sagte ich nun, „weißt du, daß wir Marmelade
+geladen haben?“
+
+„Natürlich weiß ich“, sagte Stanislaw, ruhig weiter kauend.
+
+„Warum machst du denn nicht eine Kiste dicht?“ fragte ich.
+
+„Das ist doch keine Marmelade für uns.“
+
+„Warum denn nicht?“
+
+„Die ist bloß gut für Marokkaner, Spanier und Franzosen und natürlich
+für die Lieferanten. Aber für uns, für dich und für mich, ist das keine
+Marmelade. Die kannst du nicht verdauen. Die kannst du nur verdauen,
+wenn man sie dir in die Rippen pfeffert. Aber dann kriegst du die
+Lauferei, da läufst du gleich so sehr, daß du deinen Urgroßvater noch
+einholen und mit ihm zusammen gehen kannst.“
+
+Der wird doch nicht etwa?
+
+Ich platzte gleich raus: „Weißt du denn etwa schon, was da drin ist. Du
+hast doch nicht etwa –?“
+
+„Nachgesehen? Für was für ein großes Kamel hältst du mich denn
+eigentlich? Die drei Edlen waren noch beim Skipper in der Kabine und
+oben wurde noch die Luke dicht gemacht, damit auch ja niemand dran kann,
+da hatte ich schon eine Kiste auf. Ich brauche doch nur lesen
+Pflaumenmus oder Marmelade oder Dänische Butter oder Corned Beef oder
+Ölsardinen oder Schokolade, da bin ich doch auch schon dahinter.“
+
+„Da ist aber tatsächlich Pflaumenmus drin“, erwiderte ich.
+
+„Es ist immer was drin. Aber das kannst du nicht essen. Das schmeckt zu
+sehr nach Grünspan. Stirbst an Blutvergiftung. Auf der letzten Reise,
+ehe du raufkamst, da hatten wir Corned Beef. Natürlich auch Blender,
+aber ich habe gründlich abgehäutet, das kann ich dir sagen. Das war
+fein. Da war nichts dran. Das war in Pergament gefettet. Manchmal hat
+man eben Glück. War gute amerikanische Ware. Ging nach Damaskus oder da
+herum.“
+
+„Wie waren denn die Knochen?“
+
+„Die Knochen? In Corned –? Ach so, die Knochen meinst du. Das waren
+K’rabben. K–rabben. Karabiner. Made in U. S. A. Feines Modell. Da hat
+der Skipper schwer Draht gezogen. Da gab es Kognak, Rinderbraten, Huhn
+und frisches Gemüse. Da mußte nicht nur das Maul, da mußten auch die
+Glotzen und die Riecher gepflastert werden. Ein französischer Jäger
+kriegte uns auf, ehe wir raus waren. Die haben geschnüffelt, mit
+Zigaretten und mit Franken rumgeschmissen. Aber mußten wieder abziehen
+und dem Skipper Verbeugungen machen.“
+
+„Hat denn keiner für die gewinkten Franken gepfiffen?“
+
+„Bei uns? Auf der Yorikke? Wir sind alle Dreck und haben nichts mehr zu
+melden. Wir sind tot. Du auch. Na, und sieh mal, jemand anders ins
+Portemonnaie sehen oder in den Glasschrank gucken oder Kisten aufmachen
+in einem Schuppen oder auf der Yorikke, dem Zweiten und dem Ersten noch
+dazu den Hammer an den Schädel feuern, das ist alles Ehrensache.
+Behältst du immer den Kopf hoch, behältst du immer deinen Murr, deinen
+Stolz. Aber pfeifen bei der Polizei oder der auch nur mit einem
+Fingernagel helfen, das ist schäbig. Da kannst du dir nicht mehr in die
+Augen gucken. Wenn die was wollen, laß sie doch machen. Aber du bist
+doch ein anständiger Kerl, da putzt man den Burschen nicht die
+Brillengläser. Ich will lieber auf der Yorikke und mit der Yorikke
+verrecken, als mit einem Polizisten tauschen.“
+
+Wir lagen auf der Reede an der portugiesischen Küste, um Deckungsgut
+einzunehmen und die Yorikke zu klären. Die Yorikke war plötzlich in
+Verdacht gekommen. Deshalb nahm der Skipper nur echtes Gut ein und ließ
+sehr saubere Deklarierungen gegen die Yorikke laufen, an denen auch
+nicht ein Pünktchen zu deuteln war. Es war sehr billiges Gut, denn hohes
+vertraute der Yorikke niemand an. Wer sie kannte, nicht. Aber da gibt es
+ja so unendlich viel Gut, das an sich keinen besonderen Wert darstellt,
+aber doch gefahren werden muß und doch wieder zu gut ist, um nur als
+Ballast zu gehen. Den Wert bekommt dieses Gut erst, wenn es abgeliefert
+ist.
+
+Nach fünf Uhr des Nachmittags hatten wir nichts mehr zu tun, und die
+Arbeit begann erst wieder am nächsten Morgen um sieben. Das war die
+Arbeitszeit, wenn wir auf Reede oder am Kai in einem Hafen lagen. Die
+Arbeit in diesen Fällen war meist unangenehm, aber doch nicht gar so
+schwer wie auf der Fahrt.
+
+Hier war es dann, daß wir schon manchmal einige Stunden beieinander
+sitzen konnten, um in Ruhe zu schwätzen. Ein Schiff ist immer groß
+genug, daß man irgendwo sitzen kann, ohne daß man sich mit den Ellbogen
+stößt.
+
+So viele Leute auf der Yorikke waren, so viele Nationen waren auch
+vertreten. Jede Nation hat ihre Toten, die leben und atmen, aber
+gegenüber der Nation doch tot für ewig sind. Manche Staaten haben ganz
+offen ihre Totenschiffe. Diese Totenschiffe nennt man dann
+Fremdenlegion. Wer sie überlebt, kann vielleicht ein neues Leben damit
+erkauft haben. Er hat einen neuen Namen erworben, der ihm bestätigt
+wird, und er hat einen neuen Platz in einer Nation gefunden, als wäre er
+als Säugling eben hineingeboren.
+
+Alle Kommandos auf der Yorikke wurden in Englisch gegeben, und alle
+Unterhaltung wurde in englischer Sprache gepflogen, weil sonst eine
+Verständigung nicht denkbar gewesen wäre. Es war ein höchst merkwürdiges
+Englisch. Nur der Skipper sprach ein reines, fehlerfreies Englisch. Alle
+übrigen dagegen sprachen etwas, das mit Englisch nichts zu tun hatte. Es
+war Yorikkisch. Eine eigne Sprache.
+
+Wie die Sprache klang und aussah, läßt sich nur schwer schildern. Jeder
+Seemann weiß zwei Dutzend englische Worte. Und jeder weiß drei bis sechs
+Worte, die der andre nicht weiß, aber von ihm lernt durch das
+Zusammenleben an Bord, wenn nur Englisch gesprochen wird. Dadurch eignet
+sich jeder in kurzer Zeit etwa zweihundert Worte an. Zweihundert Worte
+der englischen Sprache auf diese Weise, aber nur auf diese Weise gelernt
+und dazu die Zahlen, die Namen der Tage und Monate in Englisch,
+ermöglichen jedem Menschen, alles das klar und zweifelsfrei
+auszudrücken, was er innerhalb dieses Kreises sagen will. Ganze Romane
+kann er mit diesem Sprachschatz erzählen. Er kann natürlich kein
+englisches Buch lesen und noch viel weniger eine englische Zeitung.
+Keine andre europäische Sprache kann diesen Vorteil ihren Schülern
+bieten, sich so leicht und so rasch im Leben verwenden zu lassen.
+
+Ehe ich aber das Yorikkisch verstand und mich in Yorikkisch ausdrücken
+konnte, vergingen mehrere Tage. Hätte ich Worte und Wortverbindungen so
+gebraucht, wie ich sie seit meinen ersten nassen Windeln gehört und
+geplappert hatte, würde mich niemand auf der Yorikke, der Skipper
+ausgenommen, verstanden haben, und man würde mir kaum geglaubt haben,
+daß ich Englisch spräche.
+
+Wie war das Yorikkische Englisch entstanden, und wie war das Englisch
+auf andern Totenschiffen entstanden?
+
+Das Sprachengewirr unter den Angehörigen der verschiedenen Nationen, die
+auf der Yorikke fuhren, machte eine gemeinsame Sprache notwendig. Da
+jeder, wenn er nur ein paar Wochen fährt, einige englische Brocken weiß
+und gleich mitbringt, so ergibt sich ganz von selbst das Englisch als
+Kommando- und Umgangssprache.
+
+Da ist das Wort First-Mate, Erster Offizier, das die meisten wissen, und
+da ist das Wort Money, das jeder weiß.
+
+Nun aber kommt die lebendige Entwicklung, eine Sprachentwicklung, wie
+sie sich nicht nur auf der Yorikke zeigte, sondern wie sie sich in
+ganzen Völkern zeigt und von jeher gezeigt hat.
+
+Mate wird in London-West ganz anders ausgesprochen als in London-Ost,
+und der Amerikaner spricht achtzig Prozent der Worte anders aus als der
+Engländer, und sehr viele schreibt er auch ganz anders und verwendet sie
+in ganz andern Ideenverbindungen.
+
+Der Zimmermann hat das Wort First-Mate nie in England gehört, sondern
+von einem Schweden, der das Wort von einem Seemann aus London-Ost gehört
+hatte. Der Schwede konnte es schon selbst nicht richtig aussprechen,
+außerdem hatte er es noch in dem üblen Petty-coat-lane oder
+Cockney-Dialekt gehört, den er für die richtige und allein gültige
+Aussprache halten mußte, weil er ja das Wort von einem Engländer
+vernommen hatte. Wie das Wort nun von dem Zimmermann ausgesprochen
+wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Ein Spanier bringt die
+Aussprache des Wortes Money, ein Däne bringt Coal, ein Holländer Bread,
+ein Pole Meal, ein Franzose Thunder und ein Deutscher Water.
+
+Das Wort First-Mate läuft durch alle Stadien der Laute, die ein Mensch
+geben kann: Feist-Moat, Fürst-Meit, Forst-Miet, Fisst-Määt und noch so
+viel mehr als Leute auf der Yorikke sind. Nach einer kurzen Zeit aber
+schleifen sich die verschiedenartigen Aussprache-Färbungen gegeneinander
+ab und es kommt zu einer einheitlichen Aussprache, in der sich alle die
+Tonfarben wiederfinden in abgeschwächter Form. Wer neu hinzukommt,
+selbst wenn er genau weiß, wie das Wort richtig ausgesprochen wird, ja
+selbst wenn er Professor der Phonetik in Oxford wäre, muß das Wort
+Yorikkisch aussprechen, wenn er zu jemand den Befehl bringen soll, daß
+der First-Mate ihn zu sehen wünsche, weil der Mann sonst gar nicht
+wüßte, was man von ihm wolle. Der Professor merkt nach kurzer Zeit gar
+nicht mehr, daß er die Worte Yorikkisch ausspricht, weil er sie nur in
+dieser Form hört und sie sich in dieser Form in sein Gedächtnis
+einprägen. Von den Vokalen bleibt nicht viel an richtiger Aussprache
+übrig, aber von den Konsonanten bleibt genug übrig, um das Wort nach
+einigem Hinhören doch zu verstehen. Dadurch bleibt die Sprache immer
+Englisch in ihrem Skelett und kann auf jedes andre Schiff übertragen
+werden. Gäbe es keine Buchdruckerkunst, so würde es so viele ganz
+selbständige Sprachen geben wie es Dialekte gibt. Hätten die Amerikaner
+nicht die gleiche Schriftsprache wie die Engländer, würde heute die
+Sprache der beiden Völker ebenso verschieden sein wie die Sprache der
+Holländer und der Deutschen.
+
+Der Seemann ist, soweit die Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An
+welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden und
+kann sich verständlich machen. Und wer eine Yorikke überwinden und
+überleben kann, den kann nichts mehr in Schrecken versetzen, für ihn ist
+nichts unmöglich.
+
+
+ 36
+
+Stanislaw wurde nur von mir und den Heizern Stanislaw oder Lawski
+gerufen. Alle übrigen, auch die Offiziere und Ingenieure riefen ihn
+Pole, manche Pollack. Die Mehrzahl der Leute wurden nach ihrer
+Nationalität gerufen: He, Spanier oder Russ oder Holländer. Und das war
+ein ironischer Witz des Schicksals. Ihre Nation verleugnete sie und
+stieß sie von sich, auf der Yorikke war ihre Nation ihre ganze
+Persönlichkeit. Jeder, der auf einem Schiff angezeichnet werden soll,
+wird zum Konsul gebracht, zum Konsul jenes Staates, unter dessen Flagge
+des Schiff fährt. Der Konsul hat die Anmusterung zu bestätigen und zu
+registrieren. Er prüft die Papiere des Seemanns, und wenn ihm die
+Papiere nicht gefallen, verweigert er die Registrierung, und der Mann
+kann nicht mustern. Die Anmusterung vor dem Konsul muß im Hafen
+erfolgen, ehe der Mann seine Arbeit beginnt.
+
+Yorikke hätte auf diese Art nie einen Mann bekommen, vielleicht nicht
+einmal Ingenieure und Offiziere; denn wer mit seinen Papieren in Ordnung
+war, ging der Yorikke in weitem Bogen aus dem Wege. Die Yorikke verdarb
+die besten Papiere eines Mannes, und ein Mann, der von der Yorikke
+abzeichnete, hatte ein oder zwei Jahre dreiviertel und halbe Yorikken
+erst zu fahren, ehe er sich wieder beim Skipper eines ehrlichen Schiffes
+sehen lassen konnte, falls er überhaupt je auf eine dreiviertel Yorikke
+kommen konnte. Denn selbst da war der Skipper mißtrauisch. „Auf der
+Yorikke haben Sie gefahren? Wo werden Sie denn verlangt? Was haben Sie
+denn ausgefressen?“ Das sagt der Skipper.
+
+Und der Mann sagt: „Ich konnte kein andres Schiff kriegen und nahm
+deshalb die Yorikke für eine Reise.“
+
+„Ich will keine Scherereien haben mit der Polizei oder mit den Konsuln.
+Ich möchte nicht gern, daß es heißt, auf meinem Schiff haben sie unter
+der Mannschaft einen Raubmörder verhaftet, der in Buenos-Aires verlangt
+wird“, sagt der Skipper.
+
+„Aber, Skipper, wie können Sie denn das sagen? Ich bin ein ganz
+ehrlicher Mann.“
+
+„Ja, ja. Aber von der Yorikke. Ich kann doch nicht von Ihnen fordern,
+daß Sie mir von allen Ländern der Erde ein polizeiliches Leumundszeugnis
+beibringen, nicht älter als vier Wochen. Da haben Sie zwei Schillinge,
+für ein gutes Abendessen, aber Anmusterung? Ich möchte doch lieber nicht
+das Risiko übernehmen. Vielleicht kriegen Sie ein andres Schiff, liegen
+ja eine Masse hier. Gehen Sie mal zu dem Italiener da drüben. Kann sein,
+er nimmt es nicht so hart.“
+
+Der Skipper der Yorikke konnte mit keinem seiner Leute zum Konsul gehen,
+wahrscheinlich nicht einmal mit seinem Ersten Offizier, und ich würde
+mich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht beim Konsul sehen lassen
+dürfte, ohne daß der Konsul sofort den Hörer abnimmt und zum Skipper
+sagt: „Setzen Sie sich, bitte, Herr Kapitän, nur einen Augenblick, dann
+stehe ich zu Ihren Diensten.“
+
+Diese Dienste würde der Skipper vielleicht nicht abwarten, sondern etwas
+andres tun; rin ins Auto, rauf auf die Yorikke, Anker gehievt und
+abgesurrt mit hundertfünfundneunzig und zugeschraubten Tränendrüsen.
+
+Die Yorikke bekam alle Leute unter dem Schiffsnotgesetz. Sie kamen rauf,
+wenn der Blaue Peter eingezogen wurde und der Lotse schon an Bord war.
+Kein Konsul der Erde wird dann verlangen, daß der Skipper nun wieder
+anhalten und mit einem Mann zum Konsul gehen soll. Das verlangt noch
+viel weniger irgendeine Hafenbehörde. Früher konnte man den Mann nicht
+anmustern, weil keiner da war, und weil man nicht wußte, daß von der
+Mannschaft sich einer besaufen und achtern abkanten würde. Das merkte
+man erst, als das Lotsensignal gepfiffen wurde und der Mann nicht an
+Bord war.
+
+Selten verriet jemand auf der Yorikke einem andern seinen wahren Namen
+und seine wahre Nationalität. Ebenso selten erfuhr man, unter welchem
+Namen und unter welcher Nationalität jemand angemustert hatte. Kam
+jemand neu, so fragte ihn der Offizier oder der Ingenieur oder ein Mann,
+eben irgendeiner, der mit ihm zuerst zu tun hatte: „Wie heißen Sie?“
+Darauf sagte der Gefragte: „Ich bin Däne.“ Damit hatte er zwei Fragen
+beantwortet und nun hieß er Der Däne oder nur Däne. Mehr zu fragen,
+hielt man für überflüssig. Man wußte meist oder glaubte meist, daß Däne
+schon gelogen war, und sich mehr anlügen zu lassen, darauf ging man
+nicht aus. Willst du nicht belogen werden, dann darfst du auch nicht
+fragen.
+
+Um uns an einem faulen Abend, während wir auf der Reede lagen, die Zeit
+zu vertreiben, erzählte mir Stanislaw seine Geschichte und ich ihm
+meine. Ich erzählte ihm nicht meine wahre Geschichte, sondern eben eine
+Geschichte. Ob er mir eine wahre Geschichte erzählte, weiß ich nicht.
+Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, ob das Gras grün ist,
+es kann ja nur in meinen Augen eine grüne Täuschung verursachen.
+
+Aber gute Gründe machen mich glauben, daß die Geschichte, die mir
+Stanislaw erzählte, der vollen Wahrheit entsprach, weil sie den
+Geschichten aller Reisenden auf Totenschiffen so ähnlich war.
+
+Sein Name, den ich, wie die ganze Geschichte, auf dem Eimer nicht
+verraten durfte, war Stanislaw Koslowski. Er war geboren in Posen und
+dort bis zu seinem vierzehnten Jahre in die Schule gegangen. Indianer-
+und Seegeschichten verlockten ihn, er rannte von Hause fort, kam nach
+Stettin, verbarg sich dort auf einem dänischen Fischkutter und fuhr mit
+ihm nach Fünen. Dort fanden ihn die Fischersleute in ihrem Kutter
+halberfroren und halb verhungert. Er sagte, er sei aus Danzig, borgte
+sich von seinem Buchbinder, wo er die Seegeschichten zu kaufen pflegte,
+den Namen aus und gab ihn als seinen Namen an. Er erzählte weiter, daß
+er ein Waisenkind sei und von den Leuten, bei denen er in Pflege sei, so
+schlecht behandelt und so verprügelt werde, daß er ins Meer gesprungen
+sei, um sich zu töten. Da er aber schwimmen könne, so habe er zu
+schwimmen angefangen und sich auf dem Kutter versteckt. Er schloß seine
+Erzählung unter Tränen mit den Worten: „Wenn ich zurück nach Deutschland
+muß, binde ich mir Hände und Füße zusammen und springe sofort ins Meer.
+Zu den Pflegeeltern gehe ich nicht zurück.“
+
+Die Fischersfrauen weinten alle herzzerbrechend über das traurige
+Schicksal des kleinen deutschen Jungen und nahmen ihn auf. Zeitungen
+lasen sie nicht, und in die dänischen Zeitungen kam es wohl auch nicht,
+daß ganz Deutschland nach dem Jungen abgesucht wurde und die
+gräßlichsten Geschichten in Umlauf waren, was wohl alles mit dem Jungen
+geschehen sein könne.
+
+Bei den Fischersleuten auf Fünen mußte er schwer arbeiten, aber es
+gefiel ihm hundertmal besser als in den Straßen von Posen; und wenn er
+daran dachte, daß man ihn zu einem Schneider hatte in die Lehre geben
+wollen, so verging ihm alle Lust, seinen Eltern auch nur das kleinste
+Zeichen zu schicken, daß er am Leben sei. Die Furcht, Schneider werden
+zu müssen, war größer als die Liebe zu Vater und Mutter, die er ganz
+niedlich hassen konnte für ihre Absicht, ihn zu einem tüchtigen
+Schneider ausbilden zu lassen.
+
+Mit siebzehn Jahren verließ er die Fischersleute mit deren
+Segenswünschen, um nach Hamburg zu gehen und für große Fahrt zu mustern.
+In Hamburg war kein Schiff zu haben, und er nahm für einige Monate
+Arbeit bei einem Segelmacher. Er meldete sich vorschriftsmäßig unter
+seinem richtigen Namen an, bekam seine Invalidenkarte und ließ sich
+endlich ein gutes deutsches Seemannsbuch ausstellen.
+
+Dann fuhr er los auf große Fahrt auf ehrlichen deutschen Schiffen. Dann
+wechselte er und fuhr auf einem Holländer. Und dann kam der blutige Tanz
+ums goldene Kälbchen. Als das los ging, war er mit seinem Holländer im
+Schwarzen Meer. Auf der Heimfahrt passierte das Schiff den Bosporus,
+wurde von den Türken untersucht, und er mit noch einem Deutschen wurde
+herausgeholt und in die türkische Kriegsmarine gesteckt, unter anderm
+Namen, weil er seinen richtigen nicht angab.
+
+Dann kamen zwei deutsche Kriegsschiffe nach Konstantinopel, die in einem
+italienischen Hafen gelegen hatten und dort den Engländern, die ihnen
+auflauerten, entwischt waren. Stanislaw kam nun auf eines dieser Schiffe
+und diente weiter unter türkischer Flagge, bis er eine passende
+Gelegenheit fand, den Türken den Abschied zu geben.
+
+Er fand Heuer auf einem Dänen. Der Däne wurde von einem deutschen
+Unterseeboot durchsucht, und ein Schwede, der auf dem Schiff fuhr, und
+dem er erzählt hatte, daß er nicht Däne, sondern Deutscher sei, verriet
+ihn an die Offiziere des Unterseebootes. Stanislaw kam nach Kiel und
+wurde unter falschem Namen in die deutsche Kriegsmarine gesteckt.
+Artilleriedienst.
+
+In Kiel traf ihn ein andrer Kuli, mit dem er früher auf einem deutschen
+Handelsschiff gefahren war. Durch den kam der richtige Name heraus, und
+Stanislaw wurde nun mit seinem richtigen Namen in der deutschen
+Kriegsmarine geführt.
+
+Stanislaw war dabei, als in der Nähe von Skagen zwei sich bekämpfende
+Nationen, die Engländer und die Deutschen, zu gleicher Zeit Sieger
+wurden und die Engländer mehr Schiffe verloren als die Deutschen und die
+Deutschen mehr als die Engländer. Stanislaw wurde von dänischen
+Fischerbooten aufgepickt und ins Dorf gebracht. Da er mit dänischen
+Fischersleuten umzugehen verstand und hier ein Bruder jener Frau war,
+die ihn in Fünen aufgenommen hatte, so lieferten ihn die Fischer nicht
+ab an die dänische Regierung, sondern versteckten ihn und brachten ihn
+endlich als Dänen auf einem guten Schiff in Esbjerg unter, mit dem
+Stanislaw wieder auf große Fahrt kam. Diesmal hütete er sich, zu
+verraten, daß er Deutscher sei, und so konnte er allen Unterseebooten,
+englischen und deutschen, ins Gesicht lachen.
+
+Die Regierungen vertrugen sich, die großen Räuber setzten sich alle zu
+einem fetten Versöhnungsbankett nieder, und die Arbeiter und kleinen
+Leute in allen Ländern hatten die Unfallkosten, die Hospitalrechnungen,
+die Beerdigungskosten und das Versöhnungsbankett zu bezahlen. Dafür
+durften sie den einziehenden Heeren, die „im Felde gesiegt“ hatten, mit
+kleinen Fähnchen und Taschentüchern zuwedeln und den übrigen Heeren, die
+„im Felde nicht besiegt“ waren, mit brausender Begeisterung zurufen:
+Macht nischt, das nächste Mal! Und als den Arbeitern und den Kleinen
+schwindlig wurde von der Höhe der Rechnungen, die sie bezahlen sollten,
+weil die großen Räuber nichts verdient und sogar das noch für die
+Wohltätigkeit geopfert hatten, da führte man die kleinen Leute an das
+Grab des „Unbekannten Kriegers“, wo sie so lange standen und man so
+lange auf sie einredete, bis sie dran glaubten, an die Pflicht des
+Bezahlens und an die Echtheit des Unbekannten Kriegers. Wo man sich
+keinen Unbekannten Krieger leisten konnte, weil man keinen hatte, da
+schläferte man das Denken der Arbeiter damit ein, daß man ihnen den
+Dolch im Rücken zeigte und sie raten und streiten ließ, wer ihn
+reingesteckt habe.
+
+Dann kam die Zeit, wo in Deutschland ein Zündholz zweiundfünfzig
+Billionen Mark kostete, während die Herstellung jener zweiundfünfzig
+Billionen Mark in Nicht-Billionen-Scheinen mehr kostete als ein ganzer
+Eisenbahnwaggon voll Zündhölzer. Da fand es die dänische Kompanie an der
+Zeit, ihre Schiffe nach Hamburg ins Trockendock zu schicken zum
+Überholen. Die Mannschaften wurden entlassen und in ihre Heimat
+geschickt. Stanislaw war mit dem Schiff nach Hamburg gekommen und war
+nun gleich in seinem Heimatlande.
+
+
+ 37
+
+Das dänische Heuerbuch war nicht viel wert. In Dänemark lagen so viele
+Schiffe auf, daß man kaum auf Musterung rechnen konnte. Und Stanislaw
+wollte endlich wieder einmal ein richtiges Seemannsbuch haben.
+
+Er ging zum Seemannsamt, wo er dachte, das Buch zu bekommen.
+
+„Müssen Sie erst eine Bescheinigung von der Polizei beibringen.“ – „Ich
+habe hier mein altes Seemannsbuch.“
+
+„Das ist ein dänisches. Wir sind hier nicht in Dänemark.“
+
+Das dänische Seemannsbuch trug einen andern Namen, nicht den richtigen
+Namen Stanislaws.
+
+Er ging zur Polizei, sagte seinen richtigen Namen und wollte eine
+Bescheinigung haben, damit er ein Seemannsbuch bekommen könne.
+
+„Hier gemeldet?“ wurde er gefragt.
+
+„Nein. Bin gestern erst angekommen. Mit einem Dänen“, sagte Stanislaw.
+
+„Dann lassen Sie sich erst Ihren Geburtsschein schicken, sonst können
+wir Ihnen keine Bescheinigung geben“, sagte die Polizei.
+
+Stanislaw schrieb nach Posen, um seinen Geburtsschein zu bekommen. Er
+wartete eine Woche. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete zwei Wochen.
+Der Geburtsschein kam nicht.
+
+Nun schrieb Stanislaw einen Einschreibebrief und packte fünfzig
+Billionen Mark bei für Unkosten.
+
+Stanislaw wartete drei Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete
+vier Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Was kümmert man sich in Polen
+um den Geburtsschein eines Mannes, der in Deutschland wohnt. Man hat
+andre Sorgen. Da ist erst mal Oberschlesien. Und da ist erst mal Danzig.
+Und wer weiß, wo die Geburt registriert ist. In diesem Kram können wir
+uns nicht zurecht finden. Das ist alles nichts für uns. Das Geld, das
+Stanislaw mitgebracht hatte, ein hübsches Päckchen dänischer Kronen, war
+längst über alle Berge. Berge? Nein, war längst über ganz St. Pauli. In
+St. Pauli kennt man dänische Kronen und weiß sie zu schätzen, sind
+beinahe ebenso gut wie Dollar. „Was willst du machen, wenn da die Mädels
+sind? Kannst doch nicht gut abwinken. Sieht ja aus, als ob du nicht mehr
+–. Ja, da waren halt die Kronen im –.“
+
+„Verhungern und Kohldampf schieben tun nur die Dussel und Idioten“,
+sagte Stanislaw. „Ein ehrliches Handwerk ernährt immer seinen Mann.“
+
+Da fiel schon mal eine Kiste auf dem Güterbahnhof aus einem Güterwagen,
+wo die Tür zu leicht aufging. „Mußt bloß da sein, wenn sie fällt, und
+mußt sie nicht liegen lassen. Das ist der ganze Witz an der Geschichte“,
+sagte Stanislaw.
+
+Dann gingen auch schon mal ein paar Zuckersäcke im Hafen auf. „Wenn du
+da mit einem leeren Rucksack gehst“, sagte Stanislaw, „und es geht ganz
+von allein so ein Zucker- oder Kaffeesack auf, und der ganze Brassel
+rutscht dir in den Rucksack, da machst du doch nicht den Rucksack los,
+schüttest den Kaffee wieder aus und gehst deiner Wege. Das wäre ja
+Gottversuchen. Wenn du den Kaffee wieder ausschüttest und es sieht
+einer, denkt er gar noch, du hättest ihn gestohlen, und er läßt dich
+hochgehen.“
+
+Es gab auch Salvarsan und Koks. „Für die arme leidende Menschheit muß
+man ein Herz haben, da kannst du nicht drum rum. Weißt nicht, wie es dir
+tun kann, wenn du Salvarsan nötig hast und kannst es nicht kriegen. Mußt
+nicht nur immer an dich denken, mußt auch mal an andre denken, wenn es
+dir gut gehen soll.“
+
+„Siehst du, Pippip,“ ergänzte Stanislaw seine Erzählung, „jedes Ding hat
+seine Zeit. Da kommt dann eine Zeit, wo du dir sagen mußt, nun trachte
+aber nach etwas anderm. Das ist der Fehler, daß die meisten nicht zur
+rechten Zeit sagen können: Nun aber runter von der Ella, sonst kommst du
+nicht mehr raus und die Olsche schnappt dich. Und da sagte ich mir,
+jetzt mußt du einen Kasten kriegen, und wenn du ihn stehlen sollst,
+sonst sitzt du fest.“
+
+Als Stanislaw zu dieser Überzeugung gekommen war, ging er wieder zur
+Polizei und sagte, daß sein Geburtsschein nicht gekommen sei.
+
+„Die verfluchten Pollacken,“ sagte der Inspektor, „das machen sie aus
+Niedertracht. Wir werden ihnen schon noch die Hölle heiß machen, lassen
+Sie nur erst mal die Franzosen in Afrika und die Engländer in Indien und
+China die Hände voll Dreck haben, dann werden wir schon was pfeifen.“
+
+Stanislaw, den die politische Meinung des Inspektors nicht
+interessierte, der aber aus Höflichkeit zugehört, genickt und mit der
+Faust auf den Tisch geschlagen hatte, sagte nun: „Wo krieg ich denn nun
+mein Seemannsbuch her, Herr Inspektor?“
+
+„Haben Sie denn nicht schon mal in Hamburg gewohnt?“
+
+„Natürlich. Vor dem Kriege.“
+
+„Lange?“
+
+„Über ein halbes Jahr.“
+
+„Gemeldet gewesen?“
+
+„’türlich.“
+
+„Welchen Bezirk?“
+
+„Hier in diesem Bezirk. Auf diesem Revier.“
+
+„Dann gehen Sie nur einmal rasch zur Hauptmeldestelle und lassen Sie
+sich einen Meldeauszug geben. Dann kommen Sie damit her und bringen Sie
+zwei oder drei Photographien mit, die ich Ihnen stempeln kann.“
+
+Stanislaw bekam den Meldeauszug und eilte zurück zu dem Inspektor. Der
+Inspektor sagte: „Der Auszug ist richtig, wenn ich nur genau wüßte, daß
+Sie auch der sind, der hier im Auszug genannt ist?“
+
+„Das kann ich beweisen. Ich kann ja den Segelmacher Andresen, bei dem
+ich gearbeitet habe, herbringen. Aber da steht ja ein Wachtmeister, der
+mich vielleicht noch kennt.“
+
+„Ich? Sie kennen?“ fragte der Wachtmeister.
+
+„Ja. Ihnen habe ich neun Mark Ordnungsstrafe zu verdanken, die Sie mir
+eingebracht haben, wegen einer Prügelei. Damals hatten Sie noch eine
+Fliege an der Unterlippe, die Sie jetzt abrasiert haben“, sagte
+Stanislaw.
+
+„Ja–a–a–! Jetzt kann ich mich auf Sie besinnen. Richtig, Sie arbeiteten
+bei dem Andresen. Wir hatten ja noch die Geschichte mit Ihnen. Posen
+suchte Sie, weil Sie als Junge zu Hause durchgebrannt waren. Wir ließen
+Sie dann hier, weil Sie ja hier anständig in Arbeit waren.“
+
+„Dann stimmt das alles“, sagte nun der Inspektor. „Jetzt kann ich Ihnen
+die Bescheinigung geben und die Photographien stempeln.“
+
+Am nächsten Tage ging Stanislaw mit der Bescheinigung zum Amt.
+
+„Die Bescheinigung stimmt. Der Inspektor bestätigt, daß er Sie
+persönlich kennt. Aber. Aber die Reichsangehörigkeit bezweifeln wir
+noch. Da steht Deutsche Reichsangehörigkeit. Das müssen Sie uns
+beweisen.“
+
+Das sagte man ihm auf dem Amt.
+
+„Ich habe doch in der K. M. gedient und bin am Skagerrak verwundet
+worden.“
+
+Der Beamte zog die Augenbrauen hoch und machte eine Gebärde, als ob von
+dem, was er jetzt sagen wolle, der Weiterbestand der Erde abhängig sei.
+„Als Sie in der Kaiserlichen Marine dienten und am Skagerrak verwundet
+wurden, wo wir es den scheinheiligen Hunden aber gründlich gegeben
+haben, da waren Sie deutscher Reichsangehöriger. Das wird nicht in
+Zweifel gestellt. Aber ob Sie heute noch deutscher Staatsangehöriger
+sind, das ist von Ihnen zu beweisen. Solange Sie uns das nicht beweisen
+können, sind wir nicht in der Lage, Ihnen ein Seefahrtsbuch
+auszustellen.“
+
+„Wo muß ich denn da hingehen?“
+
+„Da müssen Sie zum Polizeipräsidium gehen. Abteilung
+Staatsangehörigkeit.“
+
+
+ 38
+
+Stanislaw mußte doch wieder nach seinem ehrlichen Handwerk sehen, um
+nicht zu verhungern. Da half nichts. Seine Schuld war es
+nicht. Arbeit gab es nicht einen Brocken. Alles saugte an der
+Arbeitslosenunterstützung. Stanislaw machte keinen Versuch, sie
+mitzunehmen. Ehrliches Handwerk war ihm lieber.
+
+„Es drückt einen so nieder, wenn man immer zwischen Arbeitslosen steht
+und dort der paar Pfennige wegen halbe Tage in Reih und Glied anstehen
+und jeden Tag hinlaufen muß. Dann schon lieber Schmalmachen nachts auf
+der Straße oder aufpassen, ob nicht jemandem die Brieftasche juckt“,
+sagte Stanislaw. „Meine Schuld ist es nicht. Hätten die mir ein Buch
+gegeben, als ich das erstemal da war, wäre ich längst fort. Ich kriege
+schon einen Kasten.“
+
+Auf dem Polizeipräsidium fragte man ihn: „Sie sind in Posen geboren?“
+
+„Ja.“
+
+„Geburtsschein?“
+
+„Hier ist die Quittung vom Einschreibebrief. Schicken keinen.“
+
+„Die Bescheinigung von dem Inspektor in Ihrem Revier genügt mir. Es ist
+nur die Staatsangehörigkeit. Haben Sie für Deutschland optiert?“
+
+„Ob ich was habe?“
+
+„Ob Sie für Deutschland optiert haben? Ob Sie, als die polnischen
+Provinzen abgegeben werden mußten, vor einer deutschen zuständigen
+Behörde die Erklärung persönlich zu Protokoll gegeben haben, daß Sie
+deutscher Staatsangehöriger bleiben wollen?“
+
+„Nein“, sagte Stanislaw. „Das habe ich nicht getan. Davon habe ich gar
+nichts gewußt, daß man das tun müsse. Ich habe geglaubt, wenn ich
+Deutscher einmal bin und nichts andres werde, daß ich dann auch
+Deutscher bleibe. Ich war doch in der K. M. und habe Skagerrak
+mitgekämpft.“
+
+„Damals waren Sie Deutscher. Damals gehörte die Provinz Posen noch zu
+Deutschland. Wo waren Sie denn, als die Optionen gemacht werden mußten?“
+
+„Auf großer Fahrt. Draußen.“
+
+„Da hätten Sie zu einem deutschen Konsul gehen müssen und dort Ihre
+Option zu Protokoll geben müssen.“
+
+„Aber ich habe doch gar nichts davon gewußt“, sagte Stanislaw. „Wenn man
+draußen fährt und hat seine verfluchte schwere Arbeit, dann hat man
+keine Zeit, an solche dummen Sachen zu denken.“
+
+„Hat Ihnen denn Ihr Kapitän nichts gesagt?“
+
+„Ich fuhr einen Dänen.“
+
+Der Beamte dachte eine Weile nach und sagte dann: „Da ist nichts mehr zu
+wollen. Sind Sie vermögend? Haben Sie Landbesitz oder Hausbesitz?“
+
+„Nein, ich bin Seemann.“
+
+„Ja, wie gesagt, da ist nichts mehr zu wollen. Alle Fristen, sogar die
+Versäumungsfristen sind abgelaufen. Und Sie können sich nicht einmal
+berufen darauf, daß Sie irgendwo durch höhere Gewalt gehindert worden
+seien, zu optieren. Sie waren nicht schiffbrüchig in irgendeinem Lande,
+das außerhalb des üblichen Verkehrs liegt. Sie konnten zu jeder Zeit
+einen deutschen Konsul oder den Konsul einer andern Macht, der uns
+vertrat, aufsuchen. Die Aufforderung zur Option ist in der ganzen Welt
+bekanntgemacht worden, und das ist wiederholt geschehen.“
+
+„Wir kommen nicht dazu, Zeitungen zu lesen. Deutsche sieht man nicht,
+und andre versteht man nicht. Und wenn man eine Zeitung wirklich mal
+kriegt, da steht es dann nicht drin, weil das nicht in jede Nummer
+eingesetzt wird.“
+
+„Ich kann nichts machen, Koslowski. Es tut mir leid. Ich möchte Ihnen ja
+gerne helfen. Aber ich habe nicht die Vollmachten. Sie können sich noch
+an das Ministerium wenden. Aber das dauert lange, und ob Sie Erfolg
+haben, ist noch sehr fraglich. Die Polen kommen uns in keiner Weise
+entgegen. Warum sollen wir dann ihre Stuben rein fegen. Vielleicht kommt
+es noch so weit, daß sie in Polen alle, die für Deutschland optiert
+haben, ausweisen, und dann tun wir das natürlich auch.“
+
+Überall erzählte man dem armen Stanislaw politische Ansichten, anstatt
+ihm ernsthaft zu helfen. Wenn ein Beamter jemand nicht helfen will, so
+sagt er, er möchte ja so gerne helfen, aber er habe keine Macht und
+keine Vollmachten. Wenn man aber laut mit einem Beamten spricht oder ihn
+nachdenklich ansieht, dann kommt man ins Gefängnis wegen Beleidigung
+eines Staatsbeamten und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Dann
+ist er plötzlich der Staat selbst, ausgerüstet mit allen Vollmachten und
+allen Gewalten, sein Bruder spricht das Urteil, und sein andrer Bruder
+schließt einen in die Zelle oder schlägt einem den Knüppel über den
+Schädel. Was ist der Wert des Staates, wenn er dir nicht helfen kann in
+deinen Nöten?
+
+„Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, Koslowski,“ sagte der Beamte,
+während er mit dem Stuhle rückte, „gehen Sie zum polnischen Konsul. Sie
+sind Pole. Der polnische Konsul muß ihnen einen polnischen Paß
+ausstellen. Dazu ist er verpflichtet. Sie sind in Posen geboren. Wenn
+Sie den polnischen Paß haben, dann können wir eine Ausnahme hier machen
+und Ihnen, weil Sie hier ortsansässig sind und auch schon früher hier
+gewohnt haben, ein deutsches Seemannsbuch ausstellen. Das ist alles, was
+ich Ihnen raten kann.“
+
+Stanislaw ging am nächsten Tage zum polnischen Konsul.
+
+„Sie sind in Posen geboren?“
+
+„Ja. Meine Eltern wohnen noch da.“
+
+„Haben Sie in Posen oder in einer der Provinzen, die von Deutschland,
+Rußland oder Österreich abgetreten werden mußten, zur Zeit der Abtretung
+gewohnt?“
+
+„Nein.“
+
+„Auch nicht zwischen neunzehnhundertzwölf und dem Tage der Abtretung?“
+
+„Nein. Ich fuhr auf See.“
+
+„Was Sie taten und wo Sie fuhren, will ich jetzt noch nicht wissen.“
+
+„Stanislaw, da war der richtige Zeitpunkt, ihn über die Barriere zu
+ziehen.“
+
+„Weiß ich, Pippip, aber ich wollte doch erst den Paß haben, dann hätte
+ich ihm eine auf die Nase gesetzt, eine Stunde ehe mein Schiff abging.“
+
+„Haben Sie bei einer polnischen Behörde innerhalb Polens, die hierfür
+zuständig war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist persönlich zu
+Protokoll gegeben, daß Sie Pole bleiben wollen?“
+
+„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich in den letzten Jahren nicht
+in Posen oder in Westpreußen war.“
+
+„Das ist keine Antwort auf meine klare Frage. Ja oder nein?“
+
+„Nein.“
+
+„Haben Sie vor einem rechtmäßig bestallten polnischen Konsul im
+Auslande, der ausdrücklich bevollmächtigt war, Willenserklärungen
+solcherart anzunehmen, persönlich zu Protokoll gegeben, daß Sie
+polnischer Staatsangehöriger bleiben wollen?“
+
+„Nein.“
+
+„Was wollen Sie denn dann hier? Sie sind Deutscher. Scheren Sie sich zu
+den deutschen Behörden und belästigen Sie uns ja nicht mehr.“
+
+Stanislaw erzählte das nicht kochend, sondern mehr traurig, weil er aus
+Gründen andrer Art dem Konsul nicht seine Meinung nach Seemannsart hatte
+sagen können.
+
+„Sieh mal einer an,“ sagte ich, „was diese neuen Staaten sich leisten.
+Das ist schon allerhand. Die werden es noch weit bringen. Du solltest
+nur mal sehen, wie weit es Amerika auf diesem Gebiete schon gebracht
+hat, und wie es sich abrackert, es noch viel weiter zu bringen und das
+muffigste und verstaubteste preußisch-kaiserliche Beamtenhirnchen an
+Muffigkeit und Beschränktheit zu übertrumpfen. Gehe mal nach Deutschland
+oder nach Polen oder nach England oder nach Amerika und hilf mal deiner
+Ella mit Rotwein und Zimt und Nelken aus der Appelsoße, da hast du
+gleich ein Jahr weg, daß es nur so hagelt. Der Staat darf keinen
+Menschen verlieren. Wenn du aber ausgewachsen bist, dann will dich
+keiner haben. Du hast ja kein Vermögen, keinen Landbesitz, keinen
+Hausbesitz. Da geben die Staaten Millionen an Dollar aus, halten
+Tausende von Vorträgen, machen Filme und drucken Bücher, damit die
+Jungen nicht in die Fremdenlegion gehen sollen. Aber wenn ein Junge
+kommt und hat keinen Paß, geben sie ihm einen Tritt in den Hintern. Dann
+muß er in die Fremdenlegion oder, was viel schlimmer ist, aufs
+Totenschiff. Das Volk, das zuerst die Pässe aufheben und den Zustand
+wieder herbeiführen wird, der vor dem Freiheitskriege war, und der
+niemand schadete und allen das Leben erleichterte, das Volk, das zuerst
+diese Tat vollführt, wird den Toten der Totenschiffe das Leben
+zurückgeben und den Besitzern der Totenschiffe den Spaß verderben.“
+
+„Möglich“, sagte Stanislaw. „Von der Yorikke kommt keiner mehr runter.
+Wie es heute ist, nicht. Er hat nur eine Aussicht, wenn sie abrutscht,
+und man rutscht nicht mit ab. Aber so sicher ist das auch nicht, man
+kann leicht auf einer andern Yorikke landen.“
+
+Stanislaw ging nun wieder zum Polizeipräsidium, Abteilung
+Staatsangehörigkeit.
+
+„Der polnische Konsul nimmt mich nicht auf.“
+
+„Das war vorauszusehen. Was machen wir nun, Koslowski. Sie müssen doch
+Papiere haben, sonst kriegen Sie kein Schiff.“
+
+„Sicher, Herr Kommissar.“
+
+„Gut, ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, und da gehen Sie
+morgen früh um zehn zum Paßamt. Ist hier gleich dabei, Zimmer
+dreihundertvierunddreißig. Da kriegen Sie dann einen Paß. Mit dem Paß
+holen Sie sich dann Ihr Seemannsbuch.“
+
+Stanislaw war froh, und die Deutschen hatten bewiesen, daß sie Leute
+waren, die noch am wenigsten Bureaukraten genannt werden konnten. Er
+ging zum Paßamt, gab seine Bescheinigung ab und seine Photographien,
+unterschrieb seinen schönen Paß, bezahlte vierzig Trillionen Mark und
+bekam seinen Paß.
+
+Alles stimmte in dem Paß. Es war ein gutes Papier. Stanislaw hatte nie
+in seinem ganzen Leben je ein so gutes Papier gehabt. Damit konnte er
+direkt nach New York fahren, so gut war das Papier. Er hätte nicht
+einmal nach Ellis Island gebraucht.
+
+Alles stimmte, Name, Geburtsdatum, Beruf, Geburtsort. Was ist denn das?
+„Staatenlos.“ Macht nichts, brauche ich nicht. Kriege ein Seemannsbuch.
+Und das, was bedeutet das? „Nur für das Inland gültig.“ Wahrscheinlich
+denken die Beamten, daß man auch in der Lüneburger Heide mit Dampfern
+fahre, oder daß man auf Elbkähnen rudern wolle.
+
+Wieder ein Tag mehr, und Stanislaw ist auf dem Seemannsamt.
+
+„Seefahrtsbuch? Können wir nicht ausstellen. Sie haben ja
+keine Staatsangehörigkeit. Und die Staatsangehörigkeit, die
+Heimatsberechtigung ist für das Seefahrtsbuch die Hauptsache, der
+übrigen Sachen wegen kann man auch mit der Invalidenkarte auskommen.“
+
+„Wie soll ich denn da ein Schiff kriegen? Sagen Sie mir das bloß.“
+Stanislaw war zu Ende mit seiner Weisheit.
+
+„Sie haben ja einen Paß, da kriegen Sie jedes Schiff. Es geht ja aus dem
+Paß hervor, wer Sie sind, was Sie sind, und daß Sie hier in Hamburg
+wohnen. Sie sind doch ein alter befahrener Mann, Sie kriegen spielend
+ein Schiff. Kriegen jeden Ausländer, verdienen Sie mehr als auf
+deutschen Schiffen bei diesem Tiefstand der Mark.“
+
+Stanislaw bekam ein Schiff. Einen schönen Holländer. Gute Heuer. Als der
+Heuerbas den Paß sah, sagte er: „Feine Sache“, und als der Skipper den
+Paß sah, sagte er: „Gute Papiere, das habe ich gern; wir wollen jetzt
+zum Konsul gehen, anmustern und registrieren, Akten verlesen.“
+
+Der Konsul registrierte und trug den Namen Stanislaw Koslowski ein. Dann
+sagte er: „Seemannsbuch?“
+
+Und Stanislaw antwortete: „Paß.“
+
+„Ebensogut“, erwiderte der Konsul.
+
+„Paß ist ganz neu, hier vom Präsidium, zwei Tage alt. Alles in Ordnung.
+Der Mann ist gut.“ Das sagte der Skipper und zündete sich eine Zigarre
+an.
+
+Der Konsul nahm den Paß, blätterte darin herum, nickte wohlgefällig,
+weil es ein Meisterwerk gutgeölter Bureaukratie war. Solche Dinge
+behagten dem Konsul.
+
+Plötzlich hielt er inne und erstarrte zu einer Eiskruste.
+
+„Können nicht mustern“, sagte er.
+
+„Was?“ rief Stanislaw.
+
+Und „Was?“ rief der Skipper und ließ vor Erstaunen die Zündholzschachtel
+auf den Boden fallen.
+
+„Mustere ich nicht an“, sagte der Konsul.
+
+„Warum denn nicht? Ich kenne ja den Beamten vom Präsidium, der die
+Unterschrift gegeben hat, persönlich.“ Der Kapitän wurde ungeduldig.
+„Der Paß ist durchaus einwandfrei. Aber ich kann nicht mustern. Er hat
+ja keine Staatsangehörigkeit“, ereiferte sich der Konsul.
+
+„Das ist mir ganz Wurscht“, sagte darauf der Skipper. „Ich will den Mann
+haben, mein Erster kennt ihn, und die Schiffe, auf denen der Mann
+gefahren hat, sind Topp. Solche Leute, wie den hier, will ich um mich
+haben.“
+
+Der Konsul hatte das Paßbüchlein zugeklappt und patschte sich damit auf
+die offne linke Hand.
+
+Er sagte nun: „Sie wollen den Mann gern haben, Herr Kapitän? Wollen Sie
+ihn adoptieren?“
+
+„Unsinn!“ bellte der Skipper.
+
+„Übernehmen Sie persönlich die Verantwortung dafür, daß Sie den Mann
+wieder loswerden können?“
+
+„Verstehe ich nicht“, brummte der Skipper.
+
+„Der Mann darf in keinem Lande landen. Er darf an Land gehen, solange
+das Schiff im Hafen liegt. Wenn das Schiff fort ist, und er wird
+aufgegriffen, hat die Kompanie oder Sie, Kapitän, den Mann wieder aus
+dem Lande herauszubringen. Wo wollen Sie ihn hinbringen?“
+
+„Er kann doch hier nach Hamburg jederzeit zurück“, sagte der Skipper.
+
+„Kann. Kann. Nein, er kann nicht. Deutschland kann seine Aufnahme
+verweigern und gibt ihn der Kompanie zurück oder Ihnen. Deutschland
+braucht ihn nicht mehr aufzunehmen, sobald er auch nur die Grenze
+übertreten hat. Er hat einen Weg. Er kann sich eine Bescheinigung
+verschaffen, daß er jederzeit nah Hamburg oder Deutschland zurück dürfe
+und da wohnen darf. Aber eine solche Bescheinigung kann nur das
+Ministerium ausstellen, und das Ministerium wird es kaum so ohne
+weiteres tun, weil diese Bescheinigung gleichbedeutend ist mit deutscher
+Staatsbürgerschaft. Und dann kommt es wieder zu dem Ausgangspunkt
+zurück. Könnte er eine Staatsbürgerschaft erwerben, dann hätte er sie,
+er ist ja Deutscher, ist in Posen geboren. Aber weder Deutschland, noch
+Polen erkennen ihn an. Nur wenn Sie oder Ihre Kompanie volle
+Verantwortung für den Mann übernehmen –“
+
+„Wie kann ich denn das?“ rief der Kapitän unwillig aus.
+
+„Dann kann ich den Mann nicht anmustern“, sagte der Konsul ruhig, strich
+den Namen aus dem Buche wieder aus und händigte Stanislaw den Paß ein.
+
+„Hören Sie,“ der Skipper drehte sich noch einmal um und sagte zu dem
+Konsul, „hören Sie, können Sie denn keine Ausnahme machen? Ich möchte
+den Mann gern haben. Er ist ein vorzüglicher Rudermann.“
+
+„Tut mir leid, Kapitän, dazu reichen meine Vollmachten nicht aus. Ich
+habe mich an meine Vorschriften zu halten. Ich bin nur ein Diener.“
+
+Der Konsul hob die Schultern hoch bis zu den Ohren, als er das sagte,
+seine Arme gingen mit hoch, und die Unterarme hingen nun rechtwinklig
+und wackelnd im Ellbogengelenk. Das sah aus, als ob man ihm die Flügel
+gerupft und gestutzt hätte.
+
+„Verfluchter Schietkram, verfluchter“, schrie der Skipper, warf seine
+Zigarre wütend auf den Fußboden, trampelte wie wild darauf rum, ging zur
+Tür und warf die Tür krachend zu.
+
+Draußen auf dem Korridor stand Stanislaw.
+
+„Was mache ich denn bloß mit dir, Junge“, sagte der alte Skipper. „Ich
+möchte dich ja so gerne mitnehmen. Aber nun kannst du nicht mal mehr
+Notmusterung machen, der Konsul kennt deinen Namen. Da hast du zwei
+Gulden, mach’ dir einen vergnügten Abend. Muß mich nach einem andern A.
+B. umsehen.“
+
+Skipper und schöner Holländer waren weg.
+
+
+ 39
+
+Aber ein Schiff mußte Stanislaw unbedingt haben.
+
+„Ehrliches Handwerk ist ganz gut, für eine Weile. Aber nicht zu lange.
+So eine Kiste oder so ein Sack, das tut ja niemand weh. Das sind
+Geschäftsunkosten in einem großen Hause. Die Kiste kann ja auch bei
+Verladung in die Brüche gehen. Aber man wird das ehrliche Handwerk
+leid.“
+
+Ich sagte nichts darauf und ließ ihn ruhig reden.
+
+„Ja, man wird es wahrhaftig leid,“ setzte Stanislaw fort, „man kriegt
+das Gefühl, als ob man jemand auf der Tasche liegt. Eine Zeit, ja, aber
+dann wird es einem so widerlich, immer auf der Tasche zu liegen. Man
+will doch auch was tun, was schaffen. Sehen will man, wie das rennt, was
+man arbeitet. Siehst du, Pippip, so am Ruder stehen, in schwerem Wetter,
+und den Kurs halten ... Das ist eine Sache, da kann das ganze ehrliche
+Handwerk nicht mit. Verflucht und zugenäht, nein, da kann es nicht mit.
+Da stehst du und stehst, und der Kasten will herumhauen und rauswichsen
+aus dem Kurs. Aber da hältst du ihn an der Kandare. Sieh mal so.“
+
+Stanislaw packte mich beim Gürtel und versuchte mich herumzuwitschen,
+als ob er das Ruderrad in der Hand hätte.
+
+„Du, ich bin kein Ruder, laß los!“
+
+„Und dann, wenn du es durchhältst im schweren Wetter, und es rutscht dir
+noch nicht einmal einen viertel Strich ab, Pippip, ich kann dir sagen,
+da könnte man schreien und brüllen vor lauter Vergnügen, daß man diesen
+Riesenkasten so an der Schlippe halten kann, daß er tun muß, wie du
+willst, wie ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee. Und wenn dann der
+Erste oder gar der Skipper auf die Rose guckt und sagt: ‚Kos’ki, Junge,
+Sie können aber mal Kurs halten, verflucht feine Arbeit, könnte ich
+selber nicht besser machen. Weiter so, dann halten wir die Karline gut
+in der Zeit!‘ ja, Mensch, Pippip, da lacht dir das Herz, da könnte man
+gleich so wegheulen und natschen, daß dir der Rotz die Backen
+runtertrippt, vor lauter Vergnügen. Siehst du, das kann das ehrliche
+Handwerk nicht und nie. Lachst ja auch, wenn dir ein Schnapp glückt,
+aber lachst doch nicht so, lachst mehr scheinheilig und drehst dich
+immer um dabei, ob nicht schon einer hinter dir her ist.“
+
+„Ich habe ja an dicken Eimern noch nicht gerudert, aber doch schon an
+kleinen, und ich denke, du hast recht“, sagte ich. „Aber beim Anpinseln
+geht es einem auch so. Wenn dir eine grüne oder braune Kante so recht
+fein glückt, ohne zu klecksen und ohne auszurutschen, da hat man auch
+seinen Spaß.“
+
+Stanislaw schwieg eine Weile, spuckte über die Reeling, schob sich ein
+neues Dickerchen zwischen die Zähne, den er vor einer halben Stunde von
+einem Händler, der mit einem Boot herangepullt war, gekauft hatte und
+sagte: „Wirst vielleicht lachen. Kohlenschleppen, wenn man eigentlich A.
+B. ist, und ein besserer A. B. als diese Räuber hier, ist ja vielleicht
+eine Schmach. Aber doch nicht. Hat auch seine Freuden. Auf so einem
+Kasten ist alles wichtig. Wenn nicht geschleppt wird, kann der Heizer
+keinen Dampf halten, und wenn der keinen Dampf hält, steht die Karre wie
+eine Ramme im Lehm. Und mal so fünfhundert Schaufeln in einem Zug auf
+zehn Schritt Entfernung durch die Schachtluke pfeffern und einen Vorrat
+hinhauen, daß der Heizer kaum noch treten kann, bloß um mal zu sehen,
+was du schaffen kannst, wenn du mal rangehst an die Ella, und du siehst
+dir den Berg an, den du so auf einen Sitz hingehauen hast, da lacht dir
+auch das Herz im Leibe. Du könntest den Berg wahrhaftig abknutschen vor
+Vergnügen, wenn er da so dick aufgeschichtet daliegt und dich so
+verwundert anglubscht, weil er doch eben noch oben in einem Bunker war
+und nun mit einemmal hier vor den Kesseln liegt. Nein, an Arbeit, an
+gesunde Arbeit, kann das schönste ehrliche Handwerk nicht ran.
+
+Und warum macht man das ehrliche Handwerk überhaupt? Weil man keine
+Arbeit hat, weil man keine kriegt. Mußt doch was tun, kannst doch nicht
+den ganzen geschlagenen Tag im Bett liegen oder dich in den Straßen
+rumtreiben, wirst ja ganz vertattelt im Kopf.“
+
+„Na und was dann, als du den Holländer nicht kriegtest?“ fragte ich.
+
+„Arbeit mußte ich haben, und ein Schiff mußte ich haben, weil ich sonst
+verrückt geworden wäre. Den guten Paß, das feine Papier, verkaufte ich
+für Dollar. Dann platzte wieder ein Sack, und ich hatte ein paar
+Silberlinge in der Hand. Machte mit ein paar dänischen Fischern ein
+saftiges Spritgeschäft, das ich ihnen durch den Zoll brachte, na und da
+hatte ich ja feine Pinke.
+
+Ich mich in den Zug gesetzt und runter nach Emmerich. Komme auch glatt
+rüber. Drüben aber, als ich mir eine Karte nach Amsterdam kaufen will,
+werde ich geschnappt, und nachts bringen sie mich über die Grenze und
+schieben mich rüber.“
+
+„Was?“ fragte ich. „Du willst doch nicht etwa sagen, daß die Holländer
+Leute nachts über die Grenze bringen, ganz heimlich?“
+
+Ich wollte hören, wie es Stanislaw ergangen war.
+
+„Die? Die?“ sagte Stanislaw, und streckte seinen Kopf weit vor und
+bohrte mich fest mit seinen Augen. „Die machen noch ganz andre Sachen.
+Da ist jede Nacht an den Grenzen das schönste Austauschgeschäft mit
+Menschen. Die Deutschen schleppen ihre lästigen Ausländer und
+Bolschewisten über die holländische, belgische, französische und
+dänische Grenze, und das machen die Holländer, die Belgier, die
+Franzosen, die Dänen. Ich bin sicher, die Schweizer, die Tschechen, die
+Polen machen es genau ebenso.“
+
+Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Kann ich nicht glauben. Das ist ganz
+ungesetzlich.“
+
+„Aber sie machen’s. Sie haben es doch mit mir gemacht, und ich habe an
+der Grenze und in Holland ein paar Dutzend getroffen, mit denen sie es
+von allen Seiten aus gemacht hatten.
+
+Was wollen Sie denn tun? Totschlagen und eingraben können sie doch die
+Leute nicht. Sie haben ja nichts verbrochen. Haben bloß keinen Paß und
+können keinen kriegen, weil sie nicht geboren sind oder nicht optiert
+haben. Jedes Land versucht, seine Paßlosen und Staatenlosen loszuwerden,
+weil die Leute ihnen immer wieder Scherereien machen. Wenn sie mit den
+Pässen aufhören, hört diese Warenverschiebung auch auf. Also, ob du es
+glaubst oder nicht, mit mir haben sie es getan.“
+
+Stanislaw ließ sich aber nicht einschüchtern weder mit der Drohung
+Arbeitshaus, noch mit der Drohung Gefängnis, noch mit der Drohung
+Internierung. Er ging in derselben Nacht wieder rüber nach Holland,
+machte es klüger und kam nach Amsterdam. Er kriegte einen Italiener, ein
+ganz schmachvolles Totenschiff, und ging mit ihm nach Genua. Dort
+segelte er achtern raus, kriegte wieder ein Totenschiff, diesmal einen
+unmittelbaren Leichenmacher, und ging mit ihm aufs Riff. Er, mit noch
+ein paar andern, überlebte die Leichen, strolchte sich bettelnd durch zu
+einem andern Hafen und kam über ein andres Totenschiff, wo er infolge
+einer gräßlichen Schlägerei abkanten mußte, auf die Yorikke.
+
+Wo bleibt er? Wo bleibe ich? Wo bleiben alle die Toten eines Tages? Am
+Riff. Früher oder später. Einmal trifft es. Man kann nicht ewig
+Totenschiffe fahren. Man muß die Fahrerei eines Tages doch bezahlen, ob
+man noch soviel Glück hat. Und man muß immer auf ein Totenschiff. Kein
+andrer Ausweg ist einem geblieben. Das feste Land ist mit einer
+unübersteigbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind,
+ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es
+ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines
+Sinnes entwickeln will und muß, dem einzelnen Menschen, der nicht
+numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler
+Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen
+müssen. Vorläufig aber hat Cäsar Kapitalismus an diesem Mord noch kein
+wesentliches Interesse, weil er den Kehricht, der über die
+Zuchthausmauern geworfen wird, noch gebrauchen kann. Und Cäsar
+Kapitalismus läßt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht.
+Auch der Kehricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch
+seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre,
+unverzeihliche Sünde.
+
+„In der Bunk über mir,“ sagte ich eines Tages zu Stanislaw, „da ist
+einer verreckt, wurde mir erzählt. Weißt du was davon, Lawski?“
+
+„Freilich, weiß ich davon. Wir waren ja sozusagen Brüder. Er war ein
+Deutscher. War aus Mülhausen im Elsaß. Seinen richtigen Namen weiß ich
+nicht. Kümmert mich auch nicht. Er sagte, er hieße Paul. Gerufen wurde
+er Franzos oder French eigentlich. War Kohlschlepp. Er hat mir mal in
+einer Nacht, als wir zusammen im Achterbunk saßen und er wie ein kleiner
+Junge heulte, erzählt, was mit ihm los war.“
+
+Paul war in Mülhausen geboren und hatte Kupferschmied, glaube ich,
+gelernt in Straßburg oder in Metz. Ich habe das verwechselt, weil es nur
+so nebenbei war.
+
+Er ist dann auf die Wanderschaft gegangen nach Frankreich und Italien.
+In Italien war er interniert, als der Dreck da losging, oder warte mal,
+nein, es war anders. Er war in der Schweiz gewesen als es losging, hatte
+kein Geld, wurde rübergeschoben und eingezogen. Dann wurde er auf einem
+Patrouillengang von den Italienern gefangengenommen. Er brach aus, stahl
+sich Zivilsachen, grub seine feldgrauen Lumpen ein und trieb sich in
+Mittelitalien und Süditalien herum. Er kannte ja die Gegenden, weil er
+da gearbeitet hatte.
+
+Endlich wurde er erwischt. Daß er ausgekniffener Kriegsgefangener war,
+wußte man nicht, man hielt ihn für einen Deutschen, der sich da während
+der ganzen Zeit herumgetrieben hatte, und so kam er in ein
+Internierungslager für Zivilgefangene. So war die Geschichte.
+
+Ehe noch die Zivilgefangenen ausgetauscht wurden, war er schon wieder
+ausgebrochen und walzte rauf durch die Schweiz. Er wurde abgeschoben
+nach Deutschland und arbeitete da in einer Brauerei. Dann kam er in
+revolutionäre Geschichten rein, wurde verhaftet und mit Landesverweis
+bedacht als Franzose. Die Franzosen nahmen ihn nicht an, weil er schon
+ewige Zeiten fort war von Mülhausen und weder für Frankreich, noch für
+Deutschland optiert hatte. Was kümmert man sich als Arbeiter um solchen
+Quatsch. Da hat man andres zu denken und zu sorgen, besonders wenn man
+keine Arbeit hat und rumlaufen muß wie verrückt, um wenigstens was für
+den Magen zu schaffen.
+
+Aber er wurde wegen der bolschewistischen Sachen, von denen er gar
+nichts verstand, landesverwiesen. Er kriegte zweimal vierundzwanzig
+Stunden Zeit, sich zu verduften, oder sechs Monate Arbeitshaus. Kam er
+raus aus dem Arbeitshaus, so bekam er wieder zwei Tage Zeit, und war er
+nicht weg in der Zeit, dann blühte ihm wieder Arbeitshaus oder Gefängnis
+oder Internierungslager. Arbeitshaus haben sie ja nicht mehr oder nennen
+es nicht mehr so, wie er mir sagte. Aber sie haben dafür ähnliche
+Einrichtungen. Die Brüder finden immer eine neue Schikane, wenn sie mit
+einer alten aufräumen aus irgendwelchen Gründen. Was wissen die von
+menschlichen Gründen? Da gibt es bloß Verbrecher und Nichtverbrecher.
+Wer nicht beweisen kann, daß er bestimmt kein Verbrecher ist, der ist
+eben einer.
+
+Also raus mußte er. Er war ein halbes Dutzend mal schon beim
+französischen Konsul gewesen, aber der wollte nichts von ihm wissen,
+schmiß ihn raus und verbot ihm das Betreten des Konsulats.
+
+Paul walzte nun nach Luxemburg, machte die Grenzen und kam nach
+Frankreich. Als er geschnappt wurde, sagte der Esel, er sei Franzose. Es
+blieb ihm ja nichts weiter übrig. Es wurde nachgeforscht, und die fanden
+raus, daß er sich auf diesem Wege die französische Staatsangehörigkeit
+in ungesetzlicher Weise habe erschleichen wollen. Das ist ein großes
+Verbrechen. Ein saftiger Einbruch ist lange kein so großes Verbrechen.
+Die hätten ihm ein paar Jahre aufgeknackst.
+
+Na, kurz und gut, er kriegte ein Mauseloch, um zu entwischen.
+Anmusterung für die Fremdenlegion. Da konnte er sich ja ein Zehntel
+französische Staatsangehörigkeit verdienen, wenn er es aushielt.
+
+Aber er hielt es nicht aus und mußte kippen.
+
+Wie er mir erzählte, ist das ja nun so mit dem Abbrennen. Wo willst du
+hin? Rüber auf spanisches Gebiet? Gut. Wenn nur der Weg nicht so weit
+wäre. Aber da kommen Marokkaner, die sich das Kopfgeld verdienen wollen.
+Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, wenn man sie um ein paar
+Datteln oder um einen Schluck Wasser anbettelt. Und zurück als
+Deserteur, dann schon lieber mit einem Stück spitzen Holz erstechen.
+
+Dann wieder trifft man Marokkaner, die ziehen einen aus bis aufs Hemd
+und lassen einen liegen im Sonnenbrand und im Sande.
+
+Dann trifft man welche, die rauben einen nicht aus, aber schlagen einen
+tot oder martern einen tot, weil er von der verhaßten Legion ist oder
+von den verhaßten Christenhunden einer ist.
+
+Da sind auch welche, die verschleppen einen und verkaufen einen tief ins
+Innere als Sklave zu den Göpelmühlen. Auch ein Vergnügen, lieber die
+Kaldaunen aus dem Leibe reißen.
+
+Aber der Junge hatte Glück, ein ganz verfluchtes Glück. Er traf
+Marokkaner an, die ihn erschlagen wollten oder an den Pferdeschwanz
+binden und abhäuten. Aber er konnte ihnen verständlich machen, noch
+rechtzeitig genug, denn sie lassen sich für gewöhnlich in keine
+Diskussionen ein, daß er Deutscher sei. Na, die Deutschen sind ja auch
+Christenhunde, aber sie haben gegen die Franzosen gekämpft, das wird
+ihnen hoch angerechnet, wie man in Spanien und in Mexiko es den
+Deutschen hoch anrechnet, daß sie fünfzigtausend Amerikanern unter die
+Erde verholfen haben. Bei den Marokkanern haben aber die Deutschen noch
+einen andern Stein im Brett, sie haben an der Seite der Türken, an der
+Seite der Mohammedaner gegen die Engländer und Franzosen gekämpft, und
+sie haben die mohammedanischen Glaubensgenossen, die auf seiten der
+Engländer und Franzosen kämpften und von den Deutschen gefangen wurden,
+nicht als Kriegsgefangene, sondern als dreiviertel Freunde behandelt.
+Das weiß jeder, der Allah und den Propheten anruft, ob er in Marokko
+wohnt oder in Indien.
+
+Es ist nur so ungemein schwer, einem nichttürkischen Mohammedaner das
+begreiflich zu machen, daß einer Deutscher ist. Er denkt sich die
+Deutschen ganz anders aussehend als die verhaßten Franzosen und
+Engländer, und wenn er nun sieht, daß der Deutsche auch nicht viel
+anders aussieht, so glaubt er es ihm nicht und denkt, der Mann will ihn
+beschwindeln. Wenn er nun gar als Deutscher in der Fremdenlegion dient,
+um die Mohammedaner dort zu bekämpfen, so glaubt es ihm selbst der nicht
+mehr, der vielleicht zuerst ihn für einen Deutschen gehalten hätte. Denn
+ein Deutscher kämpft nicht auf seiten der Franzosen gegen die
+Mohammedaner, die um ihre Freiheit kämpfen, weil die Deutschen das
+selbst wissen, was es bedeutet, wenn man um die Freiheit und
+Unabhängigkeit seines Landes gegen Franzosen und Engländer zu kämpfen
+hat.
+
+Wie es geschah, niemand kann es sagen. Durch ein unbegreifliches Gefühl,
+das in den Marokkanern plötzlich auftauchte, glaubten sie ihm, daß er
+Deutscher sei, und daß er nie gegen Marokkaner gekämpft habe. Sie nahmen
+ihn auf, pflegten ihn, fütterten ihn gut und gaben ihn von Sippe zu
+Sippe und von Stamm zu Stamm weiter, bis er an der Küste landete und
+dort mit den Pflaumenmushändlern auf die Yorikke gebracht wurde.
+
+Der Skipper nahm ihn mit Freuden auf, weil er einen Kohlschlepp
+brauchte, und Paul war glücklich, unter uns zu sein.
+
+Aber nach zwei Tagen schon, obgleich er mit Rosten kein Pech hatte und
+die Kohlen damals gut zur Hand lagen, sagte er: „Ich wollte, ich hätte
+die Fremdenlegion nicht gekippt. Das hier ist zehnmal schlimmer als die
+böseste Kompanie in unsrer Division. Wir lebten demgegenüber ja wie die
+Fürsten. Hatten menschliches Essen und menschliche Quartiere. Ich gehe
+hier in die Wicken.“
+
+„Mach keine solchen Töne, Paul“, sagte Stanislaw, um ihn aufzurichten.
+Aber Paul, der vielleicht auch durch die Strapazen der Flucht schon
+etwas abgekriegt hatte, fing an Blut zu spucken. Immer mehr. Dann kotzte
+er Blut in großen Fladen. Und eines Nachts, als ich ihn ablösen kam, lag
+er auf einem Kohlenhaufen oben im Bunker im dicken Blut. Tot war er
+nicht. Ich schleife ihn ins Quartier und packte ihn in seine Bunk da
+oben. Früh als ich ihn wecken kommen wollte, war er tot. Um acht kam er
+über Bord. Der Skipper nahm nicht mal die Mütze ab, er tippte bloß so an
+den Rand. Eingewickelt wurde er auch nicht. Er hatte nur Lumpen, die vom
+Blut verkleistert waren. Ans Bein kriegte er einen dicken Klumpen Kohle.
+Ich glaube, selbst diesen Klumpen Kohle gönnte ihm der Skipper nur mit
+schiefem Maul. Ins Journal ist Paul nicht gekommen. Luft, verwehte Luft.
+
+
+ 40
+
+Paul war nicht der einzige Schlepp, den die Yorikke verschluckt und
+verdaut hat, während Stanislaw drauf war. Da war der Kurt, ein Junge von
+Memel, auch nicht optiert. Zu der Zeit trieb er sich in Australien
+herum, wurde aber nie erwischt, um interniert zu werden. Schließlich
+kriegte er namenloses Heimweh und mußte nach Deutschland. Irgendwo in
+Australien hatte er was ausgefressen. Eine Streikbrechergeschichte mit
+Streikbrecherverholzen, und einer von diesen Lumpen war liegengeblieben
+und nicht mehr aufgestanden. Kurt konnte nicht zum Konsul gehen, um auf
+treuem Wege wegzukommen, denn wenn es sich um Streik handelt oder um
+Geschichten, die nach Kommunismus riechen, dann bocken die Konsuln
+gleich alle zusammen, auch wenn sie ein paar Monate vorher sich noch
+anspucken wollten. Der Konsul hätte ihn sicher der Polizei verwinkt, und
+Kurt hätte seine zwanzig Jahre machen müssen. Ein Konsul ist immer auf
+seiten des Staatsgedankens. Des Staatsgedankens, dieses großen
+erlauchten Wortes, das nichts als Unfug stiftet und die Menschen zu
+Nummern macht. Und diese Staatsidee ist so stark in den Konsuln
+entwickelt, daß sie zugunsten der Staatsidee ihre eignen Söhne
+verkaufen, nur damit der Staat recht behalten kann. Streik ist ja gegen
+den Staat gerichtet. Manchmal, wenn er ein treuer und nicht ein
+geschobener Streik ist.
+
+Es gelang Kurt, ohne Papiere bis nach England zu kommen. Aber England
+ist eine böse Sache. Eine Insel ist immer bös. Man kann rauf, aber nicht
+mehr runter. Kurt konnte nicht mehr runter. Er mußte zum Konsul. Der
+Konsul wollte wissen, warum er von Brisbane in Australien fort sei,
+warum er dort nicht den deutschen Konsul aufgesucht habe, und warum er
+auf illegalen Wegen nach England gekommen sei.
+
+Kurt konnte das nicht erzählen und wollte es auch nicht erzählen, weil
+ja England für ihn auch nicht sicherer war als Australien. Die Engländer
+hätten ihn sofort an Australien zur Aburteilung ausgeliefert.
+
+Auf dem Konsulat in London oder in Southampton oder in welcher Stadt in
+England es sein mochte, bekam Kurt in dem Bureau des Konsuls, wo alles
+an die Heimat erinnerte, ein so übermächtiges Heimwehgefühl, daß er
+bitterlich zu weinen anfing. Darauf schrie ihn der Konsul an, er möge
+hier kein Theater machen, sonst schmisse er ihn raus, solche Vagabunden
+kenne er schon zur Genüge. Kurt gab ihm die einzige richtige Antwort,
+die ein echter Junge für solche Gelegenheiten auf Lager hält, und um der
+Einladung den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ergriff er einen
+Sandstreuer oder was es war und feuerte es dem Konsul an den Kopf. Der
+fing gleich an zu bluten und an zu schreien, aber Kurt war raus wie der
+Teufel.
+
+Er hätte sich den Weg zum Konsul sparen können, denn da er von Memel war
+und nicht optiert hatte, konnte ihm der Konsul ja doch nicht helfen.
+Dazu reichten dessen Vollmachten nicht aus. Wie gewöhnlich. Er war ja
+nur Diener des Götzen.
+
+Dadurch war Kurt nun endgültig tot und konnte die Heimat nicht
+wiedersehen. Es war ihm ja durch eine Amtsperson bestätigt worden, daß
+sein Heimweh nur Theater war. Was weiß eine Amtsperson davon, daß ein
+Vagabund, ein zerlumpter Weltherumtreiber auch Heimweh bekommen kann?
+Solche Gefühle sind nur denen vorbehalten, die weiße Wäsche haben und
+jeden Tag ein reines Taschentuch aus der Kommode nehmen können. Yes,
+Sir.
+
+Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was
+Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist,
+daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das
+treue Heimatsgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon mehr
+übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo ich bin und wo mich niemand
+stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will, was ich
+tu, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine Heimat, da
+ist mein Vaterland.
+
+Der Junge von Memel kriegte einen Spanier und kam schließlich auf die
+Yorikke als Schlepp.
+
+Schutzvorrichtungen gab es auf der Yorikke nicht, erstens kosten sie
+Geld und zweitens hindern sie an der Arbeit. Ein Totenschiff ist keine
+Kleinkinderbewahranstalt. Mach die Augen auf, und wenn was abgeht, so
+ist das nur faules Fleisch oder ein fauler Finger, der doch nicht
+arbeiten wollte.
+
+Das Wasserstandglas an den Kesseln hatte weder ein Schutzglas, noch ein
+Drahtgitter. Eines Tages platzte es, als Kurt auf Wache war. Es war auch
+kein Langhebel dran, wodurch das Rohr, das zum Wasserstandglas führte,
+von einem sicheren Platz aus hätte abgedrosselt werden können. Das
+kochende Wasser strahlte heraus, und der Kesselraum war in dichten
+heißen Dampf gehüllt.
+
+Das Rohr mußte abgedrosselt werden. Mußte gemacht werden. Aber der
+Drosselhahn war direkt unter dem gebrochenen Glas, zwei Zoll von der
+Strahlöffnung entfernt. Es mußte abgedrosselt werden, sonst lag der
+Eimer einen halben Tag fest, und wenn schweres Wetter aufkam, konnte das
+Schiff nicht manövrieren und wurde gepfeffert, daß kein Splitter mehr
+heil blieb.
+
+Wer drosselt ab? Der Schlepp natürlich. Der Vagabund opferte sein Leben,
+damit Yorikke manövrierfähig blieb und erst dann zu den Fischen ging,
+wenn es befohlen wurde.
+
+Und Kurt drosselte ab. Dann brach er zusammen und wurde von dem
+Ingenieur und dem Heizer in seine Bunk getragen.
+
+„So etwas von Schreien“, erzählte mir Stanislaw, „kannst du dir nicht
+denken. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen und nicht auf dem Bauche
+und nicht auf den Seiten. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter wie ein
+zerrissenes Hemd, alles Blasen und Blasen, dick wie ein Kopf, und eine
+neben der andern. Hätte man ihn in ein Hospital gebracht, ich weiß ja
+nicht, vielleicht hätte man ihm helfen können mit Hauteinsetzen. Aber
+man hätte schon eine ganze Kalbshaut gebrauchen müssen, um ihn wieder
+zurechtzuflicken. Und geschrien und geschrien und geschrien! Ich wünsche
+nur, daß der Konsul ihn im Schlafe gehört hätte, er wäre den Schrei
+nicht mehr los geworden. Die sitzen am Tisch und schreiben Formulare
+voll. Hundert Meilen hinter der Front des nackten Lebens.
+
+Tapferkeit im Kriege? Quatsch! Tapferkeit auf dem Felde der Arbeit. Aber
+da kriegst du keinen Orden. Da bist du kein Held. Er hat sich
+totgeschrien. Abends kam er über Bord, der Junge von Memel. Na, Pippip,
+ich muß die Kappe abnehmen, guck mich nicht so an. Da mußt du
+Präsentiert das Gewehr! machen. Kannst nicht anders. Über Bord, mit
+einem Klumpen Kohle am Bein. Sah aus wie ein Sträfling. Der Zweite
+Ingenieur sah hinterdrein und sagte dann: „Verfluchte Geschichte, jetzt
+haben wir wieder keinen Schlepp.“ Das war alles, was er sagte. Und
+gerade er war der Mann, der es hätte machen müssen; denn es war eine
+Reparatur, und solche Reparaturen gehen den Schlepp gar nichts an. Ja,
+das war der Kurt. Steht auch nicht im Journal. Der Zweite Ingenieur
+steht drin. Der Koch hat es gesehen, als er Seife stehlen ging in die
+Kabine vom Skipper. Na, was sich unsereiner dafür schon kauft.“
+
+
+ 41
+
+Mit den übrigen Mannschaften redete ich sehr wenig. Sie waren meist
+brummig, übelgelaunt und schläfrig, wenn sie nicht besoffen waren, was
+in jedem Hafen vorkam. Aber, wenn ich ganz ehrlich sein soll, so waren
+es eigentlich sie, die nicht mit uns redeten. Ich war ja nur Schlepp,
+ich und der Stanislaw. Und der Schlepp ist ja nicht, bei weitem nicht so
+viel wie ein A. B., nicht einmal so viel wie ein Deckarbeiter. Das sind
+alles Herren im Vergleich zum Schlepp. Der Schlepp wühlt im Dreck und in
+der Asche und ist erst recht Dreck und Asche. An ihm kann man sich ja
+die Finger dreckig machen. Und nun gar erst der Zimmermann oder gar, um
+noch höher zu gehen, der Bootsmann. Denen gegenüber ist man nur ein
+Würmchen. Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste
+Rangunterschiede zu machen wie der Arbeiter.
+
+Nun erst in der Fabrik. Der die Schrauben drehen darf, tausendweise,
+alle nach Schablone, was ist der für ein großer Mann gegenüber dem, der
+die Schrauben in einem Korbe wegschleppen muß. Und der die Schrauben
+wegschleppen darf, was ist der für eine unerreichbare Größe gegenüber
+dem, der die Säle ausfegen darf. Und der, der ausfegen darf, wirft sich
+in die Brust und sagt: „Ach der, der sucht ja bloß den Dreck durch, der
+muß ja die Messingspäne aussuchen, mit dem kann ich doch nicht
+verkehren. Wie sieht denn das aus?“
+
+Unter den Toten hört der Rangunterschied nicht auf. Er wird noch größer
+beinahe. Wer da hinten an der Mauer nur gerade so verscharrt ist, weil
+er ja irgendwo liegen muß, der ist nichts. Der in einem Tannensarg
+begraben wird, ist schon mehr. Nachts, wenn sie tanzen, guckt er den
+Verscharrten mit keiner Miene an, sondern sieht sehnsüchtig rüber zu
+denen, die mit ihrem Eichensarg tanzen. Zu denen, die mit einem
+Metallsarg mit goldenen Ecken gravitätisch herumwandern, wagt er gar
+nicht aufzusehen; das würden die sich auch sehr verbitten. Damit man das
+alles gleich von vornherein klarstellen kann, darum werden ja die einen
+in Metallsärgen mit vergoldeten Ecken begraben und die andern in einer
+viereckigen Holzkiste in einem Winkel verscharrt. Erst die Würmer und
+die Maden, diese revolutionären Aufräumer und Umwälzer, die machen sich
+nichts aus Rangunterschieden. Die sind alle gleich weiß und alle gleich
+groß und sie wollen fressen; und das Fressen nehmen sie sich, wo sie es
+kriegen, sie holen es sich aus dem Metallsarg mit vergoldeten Ecken
+ebenso rasch wie aus der Kiste.
+
+Der Herr Zimmermann und der Herr Bootsmann und der Herr Donkeyman waren
+Petty-Offiziere, Unteroffiziere. Sie waren genau so dreckig wie wir,
+waren auch nicht länger befahren als wir, waren für den geregelten Gang
+der Yorikke viel weniger wichtig als wir, aber die Schlepps mußten den
+Herrn Donkeyman bedienen. Mußten ihm das Essen aus der Galley holen, auf
+den Tisch stellen und wieder abservieren. Damit der Rangunterschied
+gewahrt blieb. Der Donkeyman ist der Wintschenmaschinist, und wenn das
+Schiff im Hafen liegt und die Heizer und Schlepps haben Tagarbeit, dann
+muß er die Kessel heizen, auch des Nachts. Auf der Fahrt murkst er im
+Wege herum, putzt an den Maschinen hier ein wenig, dort schmiert er ein
+Lager, dann muß er einen Selbstöler auseinandernehmen und auswaschen und
+dann wieder da ein wenig Dreck wegnehmen und ihn hier hinlegen. Dafür
+braucht er nicht in den großen Quartieren schlafen, sondern in kleinen,
+wo nur zwei oder drei Bunks sind, und dafür bekommt er Sonntag
+Grießpudding mit Himbeersaft und in der Woche zweimal Backpflaumen in
+blauer Stärke, während wir keinen Pudding am Sonntag und nur einmal in
+der Woche Backpflaumen in blauer Stärke fassen. Wenn wir aber zweimal
+Backpflaumen kriegen mit versteinertem Salzfisch, dann bekommt er
+dreimal Backpflaumen. Er, der Bootsmann, der Zimmermann, die
+Unteroffiziere. Dafür hat er hinter uns her zu sein und aufzupassen, daß
+wir nicht etwa einen Kesselbunker aufschrauben, wenn schweres Wetter ist
+und die Achterbunker noch ein paar Kilogramm haben. Was würde Cäsar mit
+seinen Armeen machen, wenn er keine Unteroffiziere hätte, die auf der
+ersten Sprosse der Leiter zum Generalfeldmarschall stehen?
+Unteroffiziere, die von oben kommen, sind nicht zu gebrauchen; sie
+müssen von unten kommen, gestern noch geprügelt worden sein, dann sind
+sie gut zu gebrauchen, die können am besten prügeln.
+
+Dann kamen die A. B.s und dann die Deckarbeiter. Stanislaw konnte mehr
+als alle drei A. B.s zusammen, aber er war nur Dreck. Sie hätten sich
+erst wohlgefühlt, wenn angeordnet worden wäre, daß die Schlepps, wenn
+sie an dem Donkeyman vorbeigehen wollten, zu fragen hätten, ob es ihnen
+auch erlaubt sei, an ihm vorbeizugehen.
+
+Dennoch waren sie alle Tote, und dennoch waren sie alle auf dem Wege zu
+den Fischen.
+
+Soweit das Erhabenheitsgefühl bei ihnen nicht verletzt wurde, konnte man
+mit ihnen umgehen, und sie fühlten sich durchaus im gleichen
+Schiethaufen mit uns. Die weniger Befahrenen unter den Deckarbeitern
+waren noch zu unsicher unter uns alten Seehunden, um irgendwelchen
+Sprossensinn uns gegenüber zu entwickeln. Mit der Zeit kam dann doch ein
+Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das seinen Grund in der uns allen
+gemeinsamen Schicksalslage hatte. Wir alle waren Verwehte, wenn es auch
+keiner für sich zugeben wollte und immer noch auf ein Entspringen
+hoffte. Uns allen drohte das gleiche Schicksal der Gladiatorenopferung,
+was wir alle wußten, ohne es offen auszusprechen. Seeleute sprechen
+nicht von Schiffbruch und nicht von Untergang, das ist nicht gut. Lockt
+nur den Gast aufs Schiff. Aber gerade dieses wartende Wissen, dieses
+bebende Zählen der Tage von einem Hafen zum andern, dieses verhaltene
+Nichtaussprechen der Tatsache, daß, wie lange es auch immer dauern möge,
+wir doch mit jedem Tage näher und sicherer dem letzten Tage kommen, wo
+es um den brutalen Kampf, ums nackte Leben gehen würde, knüpfte uns mit
+einem merkwürdigen Band zusammen.
+
+Es ging nie einer allein in den Hafen, immer zu zweien oder dreien.
+Seeräuber konnten nicht ein Viertel so schlimm aussehen wie wir. Wir
+kamen nie in Händel mit den Mannschaften andrer Schiffe. Zum Teil waren
+wir ihnen zu dreckig und zu zerlumpt, zum Teil hakten sie nicht ein. Wir
+konnten sagen, was wir wollten, sie taten, als hörten sie es nicht,
+tranken ihren Wein aus oder ihren Schnaps und gingen ihrer Wege. Sie
+waren die ehrliche Arbeiterklasse, der vierte Stand; wir waren der
+fünfte, der noch lange nicht dran ist, solange nicht der vierte erst
+einmal an der Krippe sitzt. Vielleicht waren wir gar der sechste und
+hatten noch ein paar Jahrhunderte zu warten.
+
+Die vom vierten, dem ehrlichen Stand, ließen sich auch darum nicht mit
+uns ein, weil sie uns für Desperados hielten. Das waren wir ja auch. Uns
+war alles gleichgültig. Was immer auch geschah, es konnte uns nichts
+Schlimmeres geschehen. Also los, weg mit ihm.
+
+Wenn wir in eine Seemannskneipe kamen, war der Wirt immer ängstlich
+darauf bedacht, uns nur ja recht schnell heraus zu haben, obgleich wir
+alles über die Kante hauten, was wir in der Tasche hatten oder im Munde,
+weil die Taschen zerrissen waren, oder auch im Mützenleder, wenn es noch
+vorhanden war. Wir waren gute Kunden, aber solange wir in der Taverne
+waren, ließ der Wirt kein Auge von uns und beobachtete jeden Schritt und
+jeden Blick. Schien es ihm, daß einer mit den Augen zuckte und einen vom
+ehrlichen Stand zu deutlich anguckte, ging der Wirt sofort zu dem Manne
+hin, der angeguckt worden war, und bearbeitete ihn, daß er das Lokal
+verließe. Er mußte ihn ja vorsichtig und zart behandeln, denn hätte der
+Betreffende gemerkt, was los war, so hätte er vielleicht doch einmal
+gelippt, und dann war die Appelsoße im Gange.
+
+Wahrscheinlich hatte sich mit der Zeit durch die übermäßige Arbeit, die
+wir zu leisten hatten, durch die seltsame, verlorene Lage, in der wir
+uns alle befanden, durch die unaufhörliche Spannung vor dem krachenden
+Schrei der aufgebrannten Yorikke, die nicht zu den Fischen wollte, in
+unsre Gesichter etwas eingegraben, das alle Menschen, die nicht auf der
+Yorikke fuhren, mit unsagbarem Grauen erfüllte. Es mußte etwas in unsern
+Gesichtern und in unsern Augen liegen, das Frauen manchmal erbleichen
+und aufschreien machte, wenn wir unerwartet in ihren Gesichtskreis
+traten. Selbst Männer sahen uns scheu an und drehten und wendeten sich,
+um einen andern Weg zu machen, damit sie nicht an uns vorbei brauchten.
+Die Polizei folgte uns mit den Augen, solange sie auch nur ein
+Zipfelchen von uns sah. Merkwürdig war es mit Kindern. Manche fingen an
+zu schreien, wenn sie uns sahen, und liefen fort wie gehetzt, manche
+wieder blieben stehen, rissen die Augen weit auf, wenn wir vorüber
+kamen, manche wieder folgten uns atemlos, als hätten sie Traumgestalten
+verwirklicht gesehen, und manche, und das war recht seltsam, kamen auf
+uns zu, gaben uns die Hand, lachten uns an und sagten: „Guten Tag,
+Mann!“ oder „Guten Tag, Seemann!“ oder so etwas. Unter denen, die uns
+die Hand gaben, waren aber wieder einige, die, nachdem sie uns die Hand
+gegeben hatten, aufblickten mit großen Augen, uns mit offnem Munde
+anstarrten, dann plötzlich wegrannten und sich nicht mehr umdrehten.
+
+Waren wir so tot, daß die Kinderseele den Tod in uns sah und fühlte?
+Waren wir den Kindern erschienen, als sie noch unter dem Herzen ihrer
+Mütter träumten? Schlang sich ein geheimnisvolles Band um uns
+Fortgehende und Totgeweihte und um die Kinderseelen, die gerade über die
+Schwelle des Lebens getreten sind und noch den Schatten des unbekannten
+Reiches im Bewußtsein tragen? Wir die Gehenden – sie die Kommenden, die
+Verwandtschaft lag im Gegensatz.
+
+Richtig sauber gewaschen waren wir nie. Mit Sand und Asche kann man sich
+nicht sauber waschen. Wenn man in einem Hafen dachte, daß man ja auch
+Seife haben wollte, war das Geld schon weg für andre Dinge, die einem
+auch wichtig erschienen, Wein und Gesang und alles das übrige. Singen
+konnten wir auch. Es war ein Grölen und Heulen, aber niemand rief vom
+Fenster hinunter, daß wir ruhig sein sollten. Sie hüteten sich. Die
+Polizei hörte nichts und sah nichts.
+
+Manchmal kauften wir ja auch ein Stück Seife, aber man hatte es nur
+einen Tag. Dann war es weg für immer. Man kann doch nicht die Seife den
+ganzen Tag im Munde halten, um sie zu schützen. Und weil man das Geld
+auch nicht dauernd im Munde halten konnte und es auch nicht gestohlen
+haben wollte und sich dann noch ärgern mußte, gab man es aus. Das
+einfachste Ding von der Welt.
+
+Es kam vor, daß wir uns rasieren ließen, wenn wir daran dachten, solange
+wir noch Geld hatten, oder wenn wir zufällig in eine Schaufensterscheibe
+guckten und uns selber nicht mehr kannten. Denn einen Spiegel hatten wir
+nicht. Das war gut, so wußte keiner, wie er selbst aussah im Gesicht. Es
+war ja immer der andre, der so fürchterlich aussah, daß die Frauen
+aufschrien und sich in den Häusern versteckten. Nicht rasiert, das
+Gesicht rot und verschrammt von dem Sand und der Asche, die nackten Arme
+voll Brandnarben und die Kleidung versengt, verbrannt, zerrissen,
+verlumpt.
+
+Nach einem englischen, französischen, deutschen, dänischen oder
+holländischen Hafen gingen wir nie. Da hatten wir nichts zu suchen.
+Immer an den Küsten Afrikas oder Syriens. Nur selten gingen wir in
+Spanien oder Portugal an einen Kai, meist blieben wir draußen auf der
+Reede liegen und nahmen die Ladung von Leichtern und von Booten über.
+Der Skipper mochte wohl wissen, warum er in manchen Häfen nicht an den
+Kai ging, sondern sich auf Reede vor Anker legte. Dann signalisierte er
+nach einem Boot und fuhr hinein zum Hafen, um die Papiere in Ordnung zu
+bringen beim Konsul oder bei den Hafenbehörden.
+
+Wir gingen unsre eignen Wege. Es gibt keine Totenschiffe. Das sind Dinge
+der Vorkriegszeit. Es gibt keine, weil man sie in einem Hafen, in einem
+bekannten Hafen nicht sieht. Sie sind da draußen in der Ferne, wo jede
+Bucht ein Hafen ist, wenn ein Schuppen hingebaut wird. In den
+chinesischen Gewässern, in den indischen, in den persischen, den
+malaiischen, an den Küsten des südlichen und östlichen Mittelmeeres, an
+den Küsten Madagaskars, an den Westküsten und Ostküsten Afrikas, an den
+Küsten Südamerikas, in der Südsee. Platz genug für alle und für ein paar
+Tausend mehr. Sowenig wie man je alle Vagabunden von den Landstraßen der
+Erde wird vertreiben können, weil ja auch ganz anständige Leute darunter
+sein mögen, die eben gerade nur mal knapp bei Gelde sind, ebensowenig
+wird man die Totenschiffe von den sieben Meeren vertreiben können. Wer
+sie suchen wollte, findet sie nicht. Es gibt ja dreimal mehr Wasser auf
+der Erde als Land; und wo Wasser ist, da ist auch eine Straße für ein
+Schiff, aber wo Land ist, da ist noch lange nicht eine Straße für einen
+Vagabunden.
+
+Die Yorikke hätte nie jemand gefunden. Sie hatte einen Skipper, der sich
+aufs Handwerk verstand. Er konnte mit Fürsten umgehen, sie würden ihn
+für ihresgleichen gehalten haben. Kam jemand irgendetwas verdächtig vor,
+er schlug die Geschicktesten. Seine Papiere waren immer in Ordnung,
+soweit sie sich auf die Yorikke und auf ihren Mageninhalt bezogen. Kein
+zehnmal konzessionierter und überwachter Postdampfer konnte bessere
+Papiere zeigen. Und das Journal? Es stimmte auf die Minute.
+
+Da kam mal ein spanisches Kriegsboot auf, als wir noch innerhalb der
+Seegrenze waren. Das Boot suchte. Jedes Kind wußte, daß Corned Beef mit
+Knochen ein gutes Geschäft ist.
+
+Das Boot signalisierte, aber der Skipper pfiff drauf. Dann feuerte das
+Boot den Stopper. Und Yorikke stoppte. Es hatte nicht mehr gelangt. Sie
+war noch drin. Na, solche Boote machen sich ja nichts draus. Sie
+versuchen auch außerhalb der Grenze zu picken. Der Skipper muß vor
+Gericht beweisen, daß er nicht mehr drin war, sondern schon anderthalb
+Seemeilen raus. Soll er mal beweisen, das ist nicht so einfach. Es steht
+kein Grenzpfahl im Wasser. Die Rumjäger in den States kennen überhaupt
+keine Seegrenze. Manchmal glückt es dem Skipper aber doch, zu beweisen,
+daß er raus war. Na, dann wird eben bezahlt. Und eine halbe Stunde drauf
+wird es woanders schon wieder versucht. Nur der Mensch, der kleine, der
+muß das Gesetz achten, der Staat braucht das nicht. Er ist die Allmacht.
+Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn
+er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet; er
+raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut befindet; er
+zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will.
+Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er den Menschen
+bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine Gebote Gottes,
+die er den Kindern mit dem Knüppel einbläuen läßt. Er macht sich seine
+Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der Allwissende und der
+Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, und wenn sie ihm eine
+Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er sie selbst. Er hat keinen
+Richter über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, und wenn der Mensch
+anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er ihm mit der Flagge
+Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen herum, daß der Mensch ganz
+duselig wird, und brüllt ihm ins Ohr: „Haus und Herd – Weib und Kind“
+und bläst ihm in die Nasenlöcher den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche
+Vergangenheit. Und dann plappern die Menschen alles nach, weil der
+Allmächtige sie in ausdauernder Arbeit zu Maschinen und Automaten
+gemacht hat, die ihre Arme, Beine, Augen, Lippen, Herzen und
+Gehirnzellen genau so bewegen, wie es der allmächtige Staat haben will.
+Das hat nicht einmal der allmächtige Gott zuwege gebracht, und der
+konnte doch auch etwas. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er nur ein
+armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbständig, sobald sie
+erst einmal ihre Arme und Beine bewegen konnten. Sie liefen ihm davon,
+achteten seine Gebote nicht, sündigten wie toll und setzten ihn endlich
+ab. Bei dem neuen allmächtigen Gott haben sie es schwerer, weil er noch
+zu jung ist, und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten
+und den Apfel vom Baume zu reißen.
+
+Wir stoppten. Blieb uns ja nichts andres übrig. Er hätte uns sonst
+hochgeblasen. Und dann kamen sie rauf.
+
+„Möchten die Papiere sehen. Ja, danke, die sind in Ordnung. Wir dürfen
+doch wohl einmal überprüfen. Wir halten Sie nicht auf. Ein paar Minuten
+nur.“
+
+„Bitte, bitte, meine Herren, aber nicht zu lange. Ich habe Verspätung,
+oder ich muß Ihre Regierung haftbar machen.“ Der Skipper lacht. Wie der
+Mann zu lachen verstand. Mit seinem Lachen, das so halb ironisch, so
+halb ungemein lustig war, leerte er alles aus, was da noch verdächtig
+sein konnte.
+
+Die guten Leute hatten etwas von Corned Beef mit Knochen vernommen. Wie
+Ameisen krochen sie in dem Laderaum herum und suchten Corned Beef von
+Chikago. Und der Skipper lachte und lachte.
+
+Es war kein Corned Beef da. In der Galley waren ein paar Büchsen. Zum
+Hausgebrauch für das Mitschiff.
+
+Aber da war Kakao. Holländischer, garantiert reiner, entölter, Van
+Houtens. Kisten und Kisten voll. Aller Kakao in Blechbüchsen. Damit das
+Aroma nicht verlorengeht.
+
+Der Untersuchungsoffizier tippte auf eine Kiste, die ganz mitten drin
+lag. Die Kiste kam hoch. Er lief sie öffnen.
+
+Und der Skipper lachte. Und der Offizier wurde nervös. Er wollte es
+nicht merken lassen, aber er konnte es nicht verbergen. Das Lachen
+machte ihn halbverrückt.
+
+Schöne große Büchsen. Alle mit Etiketten verklebt. Der Skipper trat an
+die Kiste, nahm eine Blechbüchse heraus und reichte sie dem Offizier zu,
+während er seinem Lachen einen ganz unterstrichnen sarkastischen Ton
+gab. Der Offizier sah den Skipper an, dann sah er die Büchse an und nun
+trat er mit einem schneidigen Schritt auf die offene Kiste zu und nahm
+sich selbst eine Büchse heraus, gleich neben der Lücke. Er riß das
+Etikett hastig ab und öffnete die Büchse. – Kakao.
+
+Der Skipper schüttelte sich vor Lachen.
+
+Plötzlich fiel dem Offizier wieder das Corned Beef mit Knochen ein und
+er schüttele den Kakao aus der Büchse völlig aus.
+
+Kakao. Da war nichts andres drin. Nichts als garantiert reiner entölter
+Van Houtens Kakao.
+
+Aber der Offizier, zitternd vor Nervosität, nahm jetzt dem Skipper die
+Büchse aus der Hand, riß das Etikett ab, hob den Blechdeckel ab und da
+war – Kakao. Er steckte den Deckel wieder auf und gab die Büchse dem
+Skipper mit einem „Danke!“ zurück.
+
+Was in dem Skipper vorging, als ihm der Offizier die Büchse aus der Hand
+nahm, weiß nur er allein. Aber er lachte, daß man es drüben auf dem
+Kriegsboot, das beigedreht hatte, hören konnte.
+
+Der Offizier entschuldigte sich, gab das Revisionsdokument, in das er
+das Zeichen der geöffneten Kiste einschrieb mit der Quittung für die
+beiden verdorbenen Büchsen Kakao, stieg mit seinen Leuten in die
+Schaluppe und setzte ab zu seinem Boot.
+
+Als er abstieß, rief der Skipper rüber zur Galley: „Koch, heute abend
+Kakao für die Mannschaft und Rosinenstollen.“
+
+Dann ging er näher zur Kiste, suchte eine Weile herum, bis er fand, was
+er haben wollte, nahm die gewünschte Büchse heraus und übergab sie dem
+Koch. Dann ließ er die Kiste wieder zunageln und verstauen.
+
+Ich hatte auf Deck gestanden, als dies geschah. Und da man Gelegenheiten
+nie verpassen soll, so machte ich mich nachts gleich daran, ein paar
+Blechbüchsen Kakao flottzumachen. Im nächsten Hafen brachten sie immer
+ein paar Schillinge ein, oder man konnte sie für Tabak eintauschen.
+
+Fünf zog ich ab und verstaute sie im Bunker.
+
+Bei der Ablösung sagte ich zu Stanislaw: „Hast du schon mal an den Kakao
+gedacht? Ehrliches Handwerk. Ein paar Schillinge sind drin.“
+
+„Da ist kein Schilling drin. Wenn es Kakao wäre. Aber es sind ja
+Kakaobohnen, und wenn du nicht die passenden Kakaomühlen dazu verkaufen
+kannst, kriegst du nicht einen roten Penny dafür.“
+
+Das kam mir verdächtig vor. Stanislaw hatte also schon an das Handwerk
+gedacht. Wahrscheinlich schon eine Kiste aufgehabt, als die zweite noch
+am Lademast hing.
+
+Ich kletterte sofort rauf in den Bunker und machte eine Büchse auf.
+Stanislaw hatte recht. Es waren Kakaobohnen. Sehr harte, mit
+Messinghülsen. In der zweiten Büchse, dasselbe. In der dritten, vierten,
+fünften: dasselbe. Ich machte sie wieder schön zu und packte sie zurück
+in die Kisten. Für arabische und marokkanische Kakaobohnen hatte ich
+kein Interesse; die passenden Mühlen, falls wir sie an Bord hatten,
+hätte ich ja doch nicht sicher heruntergekriegt.
+
+Nur der Skipper war fähig, Kakaobohnen in Kakaopulver zu verwandeln. Er
+konnte es auf zwei Arten. Er konnte das Wunder vollbringen dadurch, daß
+er die Blechbüchse in der Kiste ließ, er konnte es aber auch dadurch,
+daß er die Büchse in die Hand nahm. Er war ein Meister in der schwarzen
+Magie, yes, Sir.
+
+
+ 42
+
+Wir machten Tripolis und hatten verteufelt schweren Seegang. Wir wurden
+im Kesselraum hin und her gepfeffert, und in den Bunkern war es noch
+schlimmer. Ich betrachtete mir, wenn ich mal ein wenig zum Verschnaufen
+im Kesselraum auf einem Kohlenhaufen saß, zuweilen das kleine
+Glasröhrchen, das einen erwachsenen Seemann so martervoll verschlucken
+kann, wenn es dazu in der Laune ist. Dabei legte ich mir die Frage vor,
+ob ich das Rohr abdrosseln würde, wenn das Röhrchen zum Tanzvergnügen
+geht.
+
+Natürlich sagte ich nein. Aber wer kann sagen, was er tun wird, wenn die
+Frage nicht gestellt wird, sondern wenn die Frage entschieden werden muß
+und man gar nicht daran denkt, daß die Frage überhaupt existiert? Der
+Heizer kann ja drunter liegen und kann nicht mehr allein fort. Meinen
+Heizer im Stich lassen, daß er mir mein ganzes Leben hinterher schreit:
+„Pippip! Pippip! Ich verbrühe! Hol mich raus, Pippip! Ich kann nicht
+sehen, meine Augen sind rausgebrüht, Pippip, schnell, es ist gleich
+vorbei! Pip–pip–p–“
+
+Na, nu laß mal da deinen Heizer liegen. Da gehst du eben, auch wenn du
+weißt, ihr bleibt beide da liegen.
+
+Vielleicht gehe ich auch nicht. Warum? Mein Leben ist auch etwas wert.
+Mein Leben –
+
+„Pippip, Schlepp, spring Back, nicht gucken, Backbord und her!“
+
+Der Heizer brüllt es, daß er das Hämmern der Maschine überkreischt.
+
+Ohne aufzugucken, mache ich einen Satz rüber nach Backbord und falle
+dort in die Knie, weil ich über das Schüreisen falle, das im Wege liegt.
+Gleichzeitig erfolgt ein Krach und ein Rasseln, das betäubend ist.
+
+Unter seinem schwarzen dicken Kohlenstaub, den er im Gesicht hat, sehe
+ich, daß der Heizer ganz bleich ist. Auch Tote können noch erbleichen.
+Ich klaube mich auf mit zerschundenen Schienbeinen und aufgeschlagenen
+Kniescheiben und drehe mich um.
+
+Die Aschenhuze, die Aschenführung, ist runtergekommen.
+
+Diese Aschenführung ist ein runder Blechkanal, wie ein großer
+Blechschornstein, mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. In ihm
+werden die Aschkannen hochgehievt, damit sie nicht hin und her
+schlenkern können, sondern oben in den Aushebeschacht geführt werden.
+
+Die Huze hängt weit in den Kesselraum hinein bis etwa neun Fuß über dem
+Boden. Oben ist sie an einen Kranz festgenietet. Sie ist sicher dort an
+den Nieten durchgerostet, und jetzt bei dem Wetter hat sie den Rest
+bekommen und ist abgebrochen. Wo will sie hin? Sie muß in den
+Kesselraum. Sie ist senkrecht fallendes, sehr starkes Eisenblech und hat
+hundert Kilo oder mehr. Schneidet den Kopf und den ganzen Körper der
+Länge nach durch. Geht wie mit dem Rasiermesser. Oder schlägt den Arm ab
+und nimmt die eine Schulter mit. Wenn sie Gnade übt, nur den halben Fuß.
+Wer denkt an die Aschenhuze, daß die einmal abrosten könnte am Kranz.
+Sie hängt seit der Zerstörung Jerusalems da drin und ist nie
+runtergefallen. Die ganzen vielen Jahrhunderte nicht. Und nun mit
+einemmal fällt es ihr ein, runterzukommen.
+
+Seemannslos. Arbeiterlos. Deine Schuld. Geh zur rechten Zeit drunter
+weg, dann kann dir nichts passieren.
+
+Hallo, Heizer, da bin ich ja nochmal mit einem Sprung davongekommen.
+Gleich beim ersten Schrei: „Schlepp, Back!“ gesaust wie ein Affe. Nicht
+erst lange gedacht, was los ist. Die Yorikke entwickelt die Instinkte,
+sie hält einen in Form.
+
+„Ja, Heizer, verflucht nochmal, das war ein Sprung zur rechten Zeit.“
+
+Danke! ist nicht. Wozu? Morgen dir, übermorgen Stanislaw. Wer weiß, wen
+die nächste Kugel trifft. Wir sind im Kriege. Kopp weg. Aber ehe du es
+hörst, ist er schon weg, der Kopp. Der Rest bleibt liegen. Wird nicht
+bezahlt. Über Bord. Klumpen Kohle ans Bein. An die Mütze getippt.
+Grabmusik: „Nun haben wir wieder keinen Schlepp.“
+
+Das Glasröhrchen ist heil. Es hat sein Opfer. Der Aschenhuze hat der
+Heizer den Spaß verdorben. Aber dafür wartet die Rache. Was ist das
+nächste Glasröhrchen? Wer ist der Nächste? Junge, zieh dir den Gürtel
+fest. Da ist Warnung in der Luft. Warnung für dich. Es schwirrt der Gast
+herum, er kriecht in den Winkeln und lauert in den Ecken. Beim
+nächstenmal macht er bessere Arbeit und läßt nicht gerade den Heizer
+zufällig nach oben blicken, daß er sieht, wie sich erst die eine Hälfte
+am Kranz löst und dann die andre. Beim nächstenmal ist es vielleicht das
+Brett da oben, auf dem du rüberbalancierst zur Bunkerluke.
+
+Mein Junge, ich glaube, du steigst am besten aus in Tripolis. Wenn du
+auch tot bist, man macht doch gern noch manchmal einen Spaziergang aus
+den Gräbern und sieht, was draußen los ist, weil man sich so rasch an
+die stickige Luft im Grabe nicht gewöhnen kann. Mußt ja wieder rein ins
+Grab oder in ein Totenschiff, aber hast doch eine Nase voll frischer
+Luft mitgenommen und beim zweiten Male geht es schon besser. Aber
+Tripolis war nichts mit Aussteigen. Wir konnten keinen Schritt tun ohne
+Bewachung. Beim geringsten Versuch, achtern abzubleiben, hätten sie uns
+gepackt und zurückgebracht. Hätten dem Skipper eine Kostenrechnung
+gemacht, und er hätte sie von der Heuer abgezogen. Es war auch nichts in
+Syrien. Man konnte nicht abkanten. Wir waren freie Männer, freie
+Seeleute. Durften in die Häfen gehen, durften in den Kneipen rumsaufen,
+durften tanzen und unser Geld verspielen oder es uns aus den Taschen
+räubern lassen. Alles durften wir tun, weil wir ja freie Seeleute und
+keine Sträflinge waren. Aber sobald Yorikke das Blaue Peterlein flattern
+ließ, und man drückte sich auffällig weit vom Kai oder von den Molen
+herum oder gar in verschnörkelten Gäßchen und dunklen Winkeln, da hatte
+einen auch schon einer am Arm:
+
+„Monsieur, s’il vous plaît, Ihr Schiff wartet, wir werden Sie begleiten,
+damit Sie nicht den Weg verfehlen.“
+
+Und war man dann erst wieder drauf auf der Yorikke, hatten sie das
+Recht, draußen am Kai zu stehen und einem das abermalige Verlassen des
+Bootes zu verbieten, denn Blau Peterlein flatterte, und das hieß, nun
+hat die Freiheit wieder mal ein Ende.
+
+Stanislaw hatte schon recht gehabt: „Kommst nicht mehr runter. Und wenn
+du kommst, die kriegen dich und stecken dich auf einen andern
+Toteneimer, der vielleicht noch schlimmer ist. Denn die Toten nehmen
+dich immer wieder auf, auch aus den Händen der Polizei. Mit Dank.
+Drücken dem Engelmacher noch zehn Schillinge in die Hand dafür. Füttern
+dich sogar, bis sie dich auf ein andres Totenschiff, das hereinkommt,
+verkaufen können. Müssen dich doch los werden. Können dich doch nicht
+nach der Heimat deportieren, hast ja keine.“
+
+„Da brauche ich doch aber nicht raufzugehen.“
+
+„Mußt rauf. Der Skipper sagt, er hat dich gezeichnet, auf Handschlag.
+Dir glaubt man nichts, dem Skipper glaubt man. Er ist ja ein Skipper und
+hat eine Heimat, wenn es auch nur selbst eine geschwindelte ist und er
+selber nicht mehr heim darf. Aber er ist der Skipper. Mußt rauf. Er hat
+dich gemustert. Hat dich nie gesehen. Aber auf Handschlag gemustert.
+Mußt rauf. Bist Deserteur.“
+
+„Aber, Stanislaw, nun rede mal klar. Da gibt es doch noch Recht“, sagte
+ich, weil ich glaubte, er übertreibt.
+
+„Das ist doch schon mein viertes. Es ist dein erstes. Und ich bin durch
+mit allen Zipfeln.“
+
+„Man kann dich doch nicht zwingen. Ich bin doch freiwillig auf die
+Yorikke gekommen“, wandte ich ein.
+
+„Ja, das erstemal kommt man halb freiwillig. Aber hättest du deine
+Sachen alle klar gehabt, wärst du nicht freiwillig gekommen. Wenn du
+deine Sachen in Ordnung hast, kann dir niemand mit solchem Zimt kommen,
+wie Handschlag, Deserteur und so. Da sagst du, du willst zum Konsul. Da
+müssen sie dich gehen lassen und können mitkommen. Wenn der Konsul sagt,
+daß er dich annimmt, daß er dich anerkennt, müssen sie abziehen. Da ist
+nichts von Handschlag, da heißt es zu dem Skipper: ‚Wer sind Sie? Wann
+wurde das Schiff zum letztenmal inspiziert? Wie sind die Gebührnisse für
+die Mannschaft, Essen, Löhnung, Quartiere?‘ Da zuppelt er ab, der
+Skipper und sagt nichts mehr von Handschlag. Kannst du zum Konsul gehen?
+Hast du Papiere? Hast du ein Vaterland? Na also. Können sie mit dir
+machen, was sie wollen. Glaubst du nicht? Steig aus, versuche es.“
+
+„Hast du denn dein dänisches Heuerbuch nicht mehr?“ fragte ich
+Stanislaw.
+
+„Eine Frage! So eine dumme Frage! Wenn ich das noch hätte, wäre ich doch
+nicht hier. Ich hab’s doch gleich für zehn Dollar verkauft, als ich den
+schönen Paß in Hamburg kriegte. Auf einen Dänen darf er nicht damit
+gehen, auch nicht zu einem dänischen Konsul. Der nimmt es ihm gleich ab,
+weil es angemeldet ist; es ist doch ein Schwimmer. Lebt doch nicht mehr.
+Aber für kleine Verhältnisse ist es hundert Dollar wert. Wenn ich es nur
+hätte. Hab mich doch auf meinen eleganten Paß verlassen. War doch wie
+eine Festung, so gut und so sicher. Kerngesund. Echt bis auf die
+Pupille. Besser als zehn Eide. Konnte von der ganzen Erde aus
+angeklingelt werden in Hamburg, ohne Murren. Bloß die Nummer gewinkt.
+Schon war die Antwort da: Paß ist klar wie ein Diamant. Aber er war doch
+bloß Gipsfront. Hatte bloß ein schönes Gesicht und nichts dahinter.“
+
+„Warum hast du es denn nicht noch woanders damit versucht?“
+
+„Habe ich doch, Pippip. Denkst du denn, ich laß so einen eleganten
+Schwenker gehen, ohne ihn ein halbes Dutzend mal anzuziehen und zu
+sehen, ob er nicht doch noch paßt? Ich hatte doch auch einen Schweden.
+Da sind wir gar nicht erst bis zum Konsul gekommen. Der Skipper nahm
+ihn, guckte rein und sagte gleich: „Nichts zu machen mit uns. Ich werde
+Sie nicht mehr los.“
+
+„Die Deutschen hätten dich doch aber genommen“, sagte ich nun.
+
+„Zuerst einmal zahlen die ja hundemäßig. Damals wenigstens. Was sie
+heute zahlen, weiß ich nicht. Ich hätte auch gern einen genommen. War
+mir ja egal. Aber wenn du da ankamst, gleich sprangen sie dir ins
+Gesicht: ‚Nehmen keine Pollacken. Pollacken raus. Freßt oberschlesische
+Steinkohle. Könnt ja euren Pollackenrachen nicht voll kriegen.‘ Und
+lauter solche Sachen. Das wäre dann die ganze Fahrt so gegangen. Auch
+wenn ich hätte mustern können. Die andern, die Mannschaften sind ja noch
+zehnmal schlimmer, noch zehnmal verhetzter. Hältst du gar nicht aus.
+Geht vom frühen Morgen bis zum Abend: ‚Saupollack. Dreckpollack.
+Mistpollack. Wollt ihr nicht auch noch Berlin einsacken, ihr
+Pollackenschweine?‘ Hältst du nicht aus, Pippip. Gehst über die Reeling.
+Dann schon lieber Yorikke. Da schmeißt keiner dem andern seine
+Nationalität vor, weil keiner mehr eine Nationalität hat, mit der er
+protzen kann.“
+
+So verging ein Monat nach dem andern. Ehe ich es mir versah, war ich
+vier Monate auf der Yorikke. Und ich hatte gedacht, ich könnte dort
+keine zwei Tage leben.
+
+
+ 43
+
+Lasset uns Menschen machen ein Bild, das uns gleich sei, und lasset uns
+ihnen die Fähigkeit geben, zu glauben und sich zu gewöhnen, damit sie
+uns nicht eines Tages absetzen. Yorikke war erträglich geworden. War
+eigentlich doch ein ganz feines Schifflein. Das Essen war gar nicht so
+schlecht, wie es schien. Es gab ja hin und wieder Nach-Sturm-Frühstück.
+Auch schon mal Kakao mit Rosinenstollen. Und zuweilen ein halbes
+Wasserglas Kognak oder ein volles Wasserglas Rum. Manchmal gab der Koch
+sogar ein halbes Kilo Zucker extra her, wenn man ihm schöne Nußkohle für
+die Galley aus den Bunkern klaubte.
+
+Der Dreck in den Quartieren war zu ertragen. Wir hatten ja keine Bürste
+und keinen Feger. Wir fegten mit einem Sacklumpen. Seife hatten wir ja
+auch keine. Und wenn wir uns ein Stück kauften für den persönlichen
+Gebrauch, werden wir es doch nicht aufbrauchen für Reinquartier. Wir
+waren doch nicht verrückt.
+
+Die Bunk war auch gar nicht so hart, wie sie erst erschien. Ich hatte
+mir aus Putzwolle ein Kissen zurecht gemacht. Wanzen? Gibt es auch
+anderswo. Nicht nur auf der Yorikke. Es war ganz gut zu ertragen. Es sah
+auch niemand mehr so dreckig aus und so zerlumpt, wie in den ersten
+Tagen. Auch die Eßgeschirre waren nicht mehr so schmierig.
+
+Mit jedem Tag war alles ein klein wenig sauberer und besser und
+erträglicher geworden. Wenn Augen sehr lange dasselbe sehen, sehen sie
+es nicht mehr. Wenn müde Glieder jeden Tag auf demselben harten Holze
+ruhen, schlafen sie bald wie auf Daunen. Wenn die Zunge jeden Tag
+dasselbe schmeckt, weiß sie nicht, wie andres wohl schmecken mag.
+Wenn alles rundherum kleiner wird, sieht man nicht, wie man
+zusammenschrumpft, und wenn alles dreckig ist, was einen umgibt, sieht
+man nicht, wie dreckig man selbst ist.
+
+Die Yorikke war recht erträglich. Mit Stanislaw konnte man sich gut
+unterhalten. Er war ein kluger und intelligenter Junge, der viel gesehen
+und alles mit ganz klaren Augen gesehen hatte, und der sich das Hirn
+nicht so leicht verkleistern ließ. Mit den Heizern konnte man auch
+sprechen. Wußten auch dies und jenes Neue zu erzählen. Die Deckarbeiter
+waren auch keine verblödeten Dummköpfe. Dummköpfe kamen nie zu den Toten
+und nur selten Durchschnittsmenschen. Denn die haben immer alles schön
+in Ordnung. Die können nie über die Mauer fallen, weil sie nie
+hochklettern, um zu sehen, wie es auf der andern Seite wohl aussehen
+mag. Die glauben, was man ihnen darüber erzählt. Die glauben, daß auf
+der andern Seite der Mauer Mordbrenner sitzen. Die Mordbrenner sitzen
+immer auf der andern Seite der Mauer. Und wer das nicht glaubt und
+einmal nachsehen will, ob es wahr ist, auf die Mauer klettert und dabei
+runterfällt, dem geschieht es ganz recht, daß er draußen bleibt. Und
+wenn er schon auf die andre Seite will, um den Mordbrennern die
+überflüssigen Hosenknöpfe zu verkaufen, dann soll er wenigstens durch
+das Tor gehen, damit man sieht, wer es ist, und damit der Nachtwächter,
+der über der Haustür den Adler und die Fahnenstange hat, damit man auch
+gleich weiß, daß er der Nachtwächter seines Landes ist, das Trinkgeld
+nicht einbüßt. Wer kein Trinkgeld bezahlen kann und keinen Zettel in der
+Tasche hat, auf dem abgestempelt wurde, daß er der Sohn seiner Mutter
+ist, soll daheim bleiben. Freiheit ja, aber muß abgestempelt sein.
+Freizügigkeit der Erdenbewohner ja, aber nur mit Zustimmung der
+Nachtwächter. Vier Monate Heuer hatte ich beim Skipper stehen.
+Hundertzwanzig oder einige mehr Pesetas Vorschuß gingen ab. Blieb ein
+ganz hübsches Sümmchen übrig. War auch dann noch ein ganz nettes
+Sümmchen, wenn es in Pfunde umgerechnet wurde.
+
+Umsonst wollte ich nun auch nicht gerade gearbeitet haben und das Geld
+dem Skipper schenken. Und so hatte er mich nur um so fester. Aber wo und
+wann und wie abmustern? Gab es doch nicht. In keinem Hafen wurde die
+Abmusterung bestätigt. Keine Papiere, kein Heimatsland. Werden den Mann
+nie wieder los. Kann nicht abmustern.
+
+Es gab nur eine Abmusterung. Die Gladiatorenabmusterung. Abzeichnung auf
+dem Riff. Abzeichnung bei den Fischen. Kam man klar, dann flog man auf
+eine Küste. Da konnten sie einen nicht gleich wieder ins Wasser fegen.
+Schiffbrüchiger. Es regt sich das Mitleid der Menschen, besonders derer,
+die in Küstenstrichen wohnen. Mit Toten gibt es kein Erbarmen, mit
+Schiffbrüchigen ist es etwas andres.
+
+Dann muß sich ja auch der Nachtwächter der Flagge melden, unter der man
+aufs Riff ging. Er zahlt nicht für den Mann, er zahlt für den Rapport,
+damit die Versicherung besser geölt wird. Denn wenn der Rapport nicht
+einläuft, dann kommt die Verschollenwartezeit, und das bedeutet einen
+erheblichen Zinsverlust. Wenn der Rapport da ist und das Mitleid mit dem
+Schiffbrüchigen eingetrocknet ist, dann wandert man wieder zu den Toten.
+Erst ganz langsam, dann schneller und immer schneller. Die Kompanie ist
+für den Mann haftbar und sie ist verantwortlich für seine Fortschaffung.
+Wohin mit ihm? Kein Skipper will ihn haben. Er wird ihn nicht mehr los.
+Auf ein Totenschiff. Er will nicht, weil er genug hat, vom letztenmal.
+Handschlag, versuchte Desertion, zehn Schilling in die Hand, Blaues
+Peterlein, rauf. Guten Morgen, da wären wir wieder.
+
+Die Fische können warten. Er kommt. Einmal kommt er. Er kommt, entweder
+mit dem Glasröhrchen oder mit der Aschenhuze oder mit einer Kohlenlawine
+im Bunker oder mit dem Riff. Aber er kommt. Er kann nicht pensioniert
+werden oder ein Weib nehmen und einen kleinen Bootshandel anfangen. Er
+muß immer wieder in die Arena. Bis er es vergißt, daß er in der Arena
+ist, yes, Sir ...
+
+Nun lagen wir in Dakar. Ein durchaus anständiger Hafen. Nichts gegen ihn
+einzuwenden.
+
+Kesselreinigen. Kesselreinigen, wenn die Feuer unter dem zu reinigenden
+Kessel nur gerade einen knappen Tag aus sind und der Nachbarkessel unter
+Dampf bleibt. Und dieses Vergnügen in einer Gegend, wo man sagt: „Guck
+mal da rüber, wo die grünen Zaunpfähle stehen mit dem großen A dran, das
+ist der Äquator, kannst auch sagen Mittagslinie, dann mußt du aber das A
+abschrauben und ein Messingschild anhängen mit dem großen M drauf. Aber
+ob du nun Mittagslinie sagst oder Äquator oder überhaupt nichts, es ist
+immer egal heiß und glühend. Wenn du den Äquator anfaßt, die Hand ist
+sofort weg, wie abrasiert, bloß noch ein paar Krümelchen Asche sind
+übrig. Wenn du ein Stück Eisen auf den Äquator legst, schmilzt das wie
+Butter. Wenn du zwei Stück zusammenhältst, die schweißen autogen. Glatt
+ohne Naht, brauchst bloß drücken.“
+
+„Weiß ich,“ sagte Stanislaw, „wir sind mal rübergefahren über den
+Äquator, da war es gerade Weihnachten. Da war doch der immer noch so
+heiß, daß du die dicken eisernen Bordwände man bloß so mit dem Finger
+durchbohren konntest. Brauchtest gar nicht bohren. Bloß so mit dem
+Finger antippen, da war schon ein Loch drin. Wenn du gegen die eiserne
+Bordwand spucktest, flog die Spucke durch wie nichts, war gleich wieder
+ein Loch. Der Skipper sah das von der Brücke und schrie: ‚Ihr wollt wohl
+hier ein Kaffeesieb aus dem Schiff machen. Sofort die Löcher wieder
+zugemacht.‘ Und da wischten wir so ein klein wenig mit der Hand rüber
+oder mit dem Ellbogen und da waren die Löcher wieder zu. Es war ja
+gerade so weich wie Kuchenteig. Die eisernen Masten hatten sich ganz
+umgebogen, so wie ein langes Wachslicht, das du auf einen heißen
+Kochherd stellst. Es war eine Schweinerei, bis wir sie wieder gerade
+hatten. Mit dem Äquator darf man nicht spaßen.“
+
+„Ganz gewiß nicht,“ gab ich zu, „darum hat man ja zu beiden Seiten des
+Äquators rund um die Erde einen Lattenzaun gemacht mit Warnungsschildern
+dran. Kannst du ja schon auf der Landkarte sehen, den Zaun. Ihr habt den
+dummen Fehler gemacht, ihr seid drüber weggefahren. Wir waren schlauer.
+Wir sind durch die Unterwassertunnel drunter hergefahren. Da ist es
+schön kühl. Merkst gar nicht, daß du unter dem Äquator herfährst.“
+
+„Die Äquatortunnel kenne ich. Aber die Kompanie wollte nicht die
+Tunneldurchfahrtkosten bezahlen. Die berechnen pro Tonne einen Schilling
+Tunnelkosten. Wie geht es denn da rein in den Tunnel?“
+
+„Aber Mensch, das ist doch ganz einfach,“ erwiderte ich, „da ist ein
+großes Loch im Meer und da geht das Schiff eben rein, mit dem Bug
+zuerst, fährt durch und kommt an der andern Seite wieder raus, da ist
+auch so ein Loch im Wasser.“
+
+„Ist tatsächlich ganz einfach,“ gab Stanislaw zu, „das hätte ich mir
+viel komplizierter gedacht. Ich habe gedacht, das Schiff wird in eine
+Art Taucheranzug gesteckt und dann runtergezogen. Unten ist eine
+Maschine, die da zieht, und dann geht es unten lang auf Zahnradschienen
+und an der andern Seite wird das Schiff dann wieder hochgezogen.“
+
+„So hätte man das natürlich auch machen können,“ sagte ich, „aber das
+ist zu umständlich. Könnten sie auch gar nicht machen für einen
+Schilling die Tonne.“
+
+„Zum Kreuzdonnerwetter nochmal, wird das Geschwätze da drin im Kessel
+nun bald aufhören oder nicht“, schrie der Zweite Ingenieur in den
+Kessel, während er den Kopf zum Mannloch durchsteckte. „Wenn da in einem
+fort erzählt wird, kann der Kessel nicht rein werden.“
+
+„Komm doch rein, du Hund, wenn du den Hammer an den Schädel haben
+willst.“ Ich schrie es wie wild, halbverrückt von der Hitze. „Klopp dir
+den Kessel allein, du Roßtäuscher, du verfluchter. Dir werde ich ja
+überhaupt noch was erzählen.“
+
+Ich wollte ja gern, daß er mich rapportiert und daß ich rausgefeuert
+werde. Dann hätte ich ein Quittungsbuch kriegen müssen und mein Geld.
+Aber dazu waren die ja viel zu schlau. „Ebenso wie die Offiziere im
+Kriege. Kann man noch so beleidigen und in die Fresse hauen, melden dich
+nicht,“ sagte Stanislaw, „haben dich lieber draußen als daß du im
+Gefängnis im Trocknen sitzt.“
+
+Kesselreinigen am Äquator, wenn das Feuer nur knapp einen Tag gelöscht
+ist und der Nachbarkessel unter Dampf liegt. Meine Herren! Wer nie sein
+Brot mit Tränen aß, der trinkt es jetzt wie Himbeerlimonade. Wir saßen
+nackt drin, aber die Wände waren so glühend heiß, daß wir uns anziehen
+mußten und dicke Polster aus Sacklumpen unter die Knie zu legen hatten,
+um nicht anzubrennen.
+
+Dann klopfen. Und was der Kesselstein für einen Staub macht. Das ist,
+als ob man die Lunge, den Schlund, die Kehle mit Glas abkratzt. Wenn man
+den Mund bewegt, knirscht es zwischen den Zähnen, als ob man Sand mahlt,
+und es kriecht einem am ganzen Rückenmark ein entsetzliches Empfinden
+hoch, als würde das Rückenmark von einem Ende aus herausgebohrt.
+
+Der Kessel ist an sich schon nicht allzu geräumig. Nun liegen auch noch
+die Feuerzüge drin, und man muß auf dem Rücken liegen, auf dem Bauche,
+um überall hinzukommen. Wie eine Schlange windet man sich in den Zügen
+herum. Wo man mit der bloßen Hand hinfaßt, ist es so heiß, als fasse man
+auf eine heiße Herdplatte.
+
+Dann springt einem Kesselstein in die Augen. Und das harte scharfe
+Körnchen bereitet einem Schmerzen, daß man glaubt, wahnsinnig zu werden.
+Dann wird es mit dreckigen und schweißigen Händen herausgefischt und das
+Auge rötet sich von den Martern, die man ihm angetan hatte. Eine Weile
+geht es gut, und ratsch: wieder ist ein scharfer Splitter drin, und die
+Marter geht von neuem los.
+
+Schutzbrillen? Die kosten Geld. Für solchen Unfug hat die Yorikke kein
+Geld. So wurde es vor tausend Jahren gemacht, und so wird es heute
+gemacht. Meist sind die Brillen auch nicht viel wert. Entweder man sieht
+nichts durch oder sie drücken oder der Schweiß läuft einem zwischen die
+Plüschdichtungen und frißt sich in die Augen.
+
+Hätte man elektrische Lampen gehabt, wäre das ja eine kleine
+Erleichterung. Aber nun die Lampen aus Karthago. In fünf Minuten ist der
+Kessel schwarz und dick von Rauch. Aber es muß geklopft werden.
+
+Und die Hämmer dröhnen innerhalb des Kessels, als ob tausend Donner
+einem unmittelbar auf das Trommelfell pauken. Es ist keine federnde
+Resonanz, sondern ein hart vibrierendes gell-kreischendes Pochen.
+
+Fünf Minuten, dann müssen wir raus, um Luft zu holen. Wir kochen in
+Schweiß, die heißen Lungen fliegen und flattern, das Herz tobt, als
+wollte es die Brust durchsprengen, und wir zittern in den Knien.
+
+Luft, nur Luft. Koste es, was es wolle. Und wir stehen in der
+Meeresbrise, die auf uns wirkt, als wäre sie ein Schneesturm in
+Saskatchewan. Ein breites hartes Schwert stößt durch unsern Körper in
+seiner ganzen Länge. Wir frieren und beben und sehnen uns zurück in die
+heiße Glut des Kessels.
+
+Wieder fünf Minuten, und wir schreien: Luft. Alle drei, die wir drin
+sind, drängen wir an das kleine Mannloch, durch das wir uns zwängen
+müssen. Nur einer kann zu gleicher Zeit durch und muß sich wie eine
+Katze drehen und winden, um herauszukommen. Während der Zeit, wo er sich
+durch das Mannloch zwängt, kommt auch nicht ein Hauch von Luft in den
+Kessel. Mit Mühe kriege ich, der ich Zweiter bin am Loch, die Arme durch
+und zwänge mich hinaus. Der Heizer fällt innen um und schlägt hart auf.
+Er ist besinnungslos.
+
+„Stanislaw, der Heizer muß raus, hat schlapp gemacht“, rufe ich mit
+letztem Atem. „Wenn wir ihn nicht holen, zockt er ab und erstickt.“
+
+„Ei–ei–ne Mi–nu–te, Pip–, Hab’ noch keine Luft wieder.“
+
+Es dauert nicht lange, und das Schwert sitzt uns wieder im Körper und
+wir sehnen uns nach der kochenden Hitze des Kessels.
+
+Wir nehmen ein Tau. Ich winde mich wieder durch und hole den Heizer
+fest. Und nun arbeiten wir, ihn hinauszukriegen. Das ist das Schwerste.
+Hineinwinden und herauswinden kann man sich. Aber einen leblosen
+Menschen da durchzuziehen, das erfordert unendliche Geduld und
+Geschicklichkeit und Kenntnisse in der Anatomie. Der Kopf ist rasch
+durch. Aber die Schultern.
+
+Endlich schnüren wir die Schultern zusammen wie ein Paket, ganz fest und
+dann können wir ihn hieven und er kommt.
+
+In den Schneesturm bringen wir ihn nicht, sondern wir lassen ihn im
+Kesselraum und legen ihn sogar dicht in die Nähe der Feuer des
+Nachbarkessels. Wir binden seine Schultern los.
+
+Der Atem ist weg. Ganz weg. Aber das Herz pocht. Leise, doch regelmäßig.
+Wir gießen ihm Wasser über den Kopf und pressen einen nassen Sack aufs
+Herz. Dann fächeln wir ihm Wind ins Gesicht, blasen ihn an wie
+Holzkohlen und tragen ihn endlich unter die Windhuze.
+
+Stanislaw muß rauf und die Windhuze in den Wind stellen, damit frische
+Luft auf den Heizer fällt.
+
+Jetzt läßt sich der Hund von einem Roßtäuscher natürlich nicht sehen;
+aber wir brauchen uns nur etwas im Kessel erzählen, dann ist diese
+widerwärtige Fratze gleich am Mannloch und stopft uns die Luft ab mit
+seiner klobigen Knochenbeule. Er kriegt doch noch den Spitzhammer an den
+Kadaver geworfen. Möchte er wenigstens ein Wasserglas Rum für den Heizer
+bringen, der Schuft. Wir wollen ihn ja gar nicht trinken. Nur ein
+Schlückchen, um den Glasstaub aus der Kehle und aus den Zähnen zu
+kriegen.
+
+Der Heizer ist unter der Windhuze, und ich fange mit Armbewegungen an.
+Allmählich kommt er. Und er kommt immer besser. Als wir ihn hoch haben,
+auf den Kohlenhaufen setzen und in die Ecke drücken, damit er einen Halt
+hat, kommt der Zweite Ingenieur.
+
+„Was ist denn das, zur Hölle nochmal,“ schreit er gleich, „werdet ihr
+bezahlt für Faulenzen oder für was?“
+
+Stanislaw oder ich oder wir beide hätten ja nun sagen können: „Der
+Heizer war ...“
+
+Aber wir hatten beide dasselbe Gefühl, und unser Instinkt war wieder
+einmal richtig. Arbeiter brauchen nur auf ihren Instinkt hören, dann
+handeln sie schon ganz richtig.
+
+Gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, hatten wir uns gebückt, in jede
+Hand einen sauberen dicken Brocken Kohle genommen und noch in derselben
+Sekunde dem Zweiten an seine Knochenbeule und an seinen Kadaver
+gefeuert.
+
+Die Arme um den Kopf herum, rannte er davon. Stanislaw lief ihm ein paar
+Schritte nach und schrie: „Du Giftkröte, wenn du einen halben Schilling
+für den Pfeffer abziehst, den du erwischt hast, kommst du auf der
+nächsten Fahrt in den Feuerkanal und dann in die Aschkanne und du sollst
+mich ins Gesicht spucken dürfen, wenn ich dich nicht in die Feuerung
+schiebe. Biest von einem Ingenieur.“
+
+Das Biest machte keine Meldung beim Skipper. Wäre uns auch ganz egal
+gewesen. Wir wären mit Wonne in Dakar ins Gefängnis gegangen. Hat auch
+keinen Penny Strafe abgezogen. Solange wir Kessel reinigten, und das
+dauerte ein paar Tage, ist er nie wieder in die Nähe gekommen. Von dem
+Tage an behandelte er uns wie rohe Eier und bekam mehr diplomatische
+Fähigkeiten, als der Erste sie besaß. Wirkt Wunder, wenn man Kohle oder
+einen Hammer oder eine Schürstange zur Hand hat, und man weiß sie am
+rechten Orte zu gebrauchen.
+
+Als der Kessel sauber war, bekamen wir zwei Glas Rum und Vorschuß. Wir
+in die Stadt und rumgeguckt. Man denkt ja immer, man könnte einen
+treffen, den man nicht erwartet. Ich hätte wegpacken können auf einem
+Franzosen, der nach Barcelona ging. Aber ich wollte meine vier Monate
+Heuer dem Skipper nicht schenken. Warum sollte ich denn umsonst
+arbeiten? So ließ ich den netten Franzosen allein. Stanislaw hätte mit
+einem Norweger stauen können, der nach Malta ging. Aber er hatte
+dieselben Gründe. Die Heuer. Er hatte viel mehr stehen als ich.
+
+So trieben wir uns im Hafen herum. Stanislaw ging auf den Norweger und
+ich schlenderte für mich weiter.
+
+
+ 44
+
+Da lag weit draußen die Empreß of Madagascar, die Kaiserin von
+Madagaskar, ein Engländer, neun Tausend Tonnen, vielleicht noch mehr.
+Das wäre so ein Eimerchen, um damit abzuflippen und zu versuchen, für
+eine Weile aus dem Grabe aufzustehen und einen Spaziergang zu machen.
+Feines neues Bötchen. Wie lackiert, so sauber. Sogar das Gold ist noch
+nicht mal abgewettert. Funkelfarbenneu. Aber da ist keine Schanz, da ist
+nichts frei, auf so einem pfirsichweichen Backfischlein. Lächelt so
+kokett rüber, zwinkert mit den angefärbten Wimperchen und flickert mit
+den unterstrichenen Augäpfeln, daß es eine wahre Freude ist. Muß mal
+rüber und das holde Geschöpfchen aus der Nähe besehen.
+
+Verflucht nochmal, wenn nur die Heuer nicht wäre, ich würde wahrhaftig
+mal anklingeln. Aber die Heuer lasse ich nicht im Stich. Wenn ich den
+Zweiten nur dazu kriegte, daß er mich rausfeuert. Vielleicht einen
+Brocken Bolschewistenhetzerei machen. Aber die pfeifen drauf. Hetz’ so
+viel du magst, kommst nicht runter. Und machst du es zu bunt, zieht er
+dir zwei Wochen Heuer ab. Arbeitest umsonst.
+
+Wenn die Kaiserin früher abfährt als die Yorikke und ich bin darauf mit
+Notheuer, ist nichts mehr zu wollen. Aber wo ladet mich die Empreß
+wieder ab? Nach England darf sie mich nicht mitnehmen, wird mich nicht
+los. Loswerden muß sie mich. Aber wo? Schiebt mich ab auf ein
+Totenschiff, irgendwo unterwegs oder in irgendeinem Hafen, wo gerade ein
+Schuppen steht.
+
+Aber fragen kostet ja nichts. – „Hallo!“
+
+„Hallo! What is up?“ Er hat eine weiße Mütze auf, der es runter ruft.
+
+„Ain’t no chance for a fireman, chap? Ist bei euch keine Stelle frei für
+einen Heizer?“ rufe ich hinauf. „Papiere?“ „No, Sir.“
+
+„Sorry. Bedaure, nichts zu machen.“
+
+Habe ich ja gewußt. Ist ein sauberes Fräuleinchen. Muß alles in Ordnung
+sein. Heiratslizenz notwendig. Hat noch eine Mutter, die die Hand drauf
+hält. Mutter Lloyd in London.
+
+Ich gehe lang runter an dem Eimer. Auf dem Achterdeck sitzt Mannschaft.
+Spielen Karten. Verflucht nochmal, was reden denn die für ein Englisch.
+Das ist ja Yorikkisch. Und das auf einem glattlackierten Engländer, wo
+das Gold noch nicht mal abgeblättert ist? Da stimmt etwas nicht. Spielen
+Karten, aber zanken sich nicht und lachen nicht.
+
+Laß mal sehen. Klingelfisch und Haifischflosse, die sitzen da herum und
+spielen, als ob sie auf ihrem eignen Grabhügel sitzen und um ihre Maden
+spielen. Zu essen haben sie gut, sehen gutgemästet aus. Aber das
+traurige Kartenspiel und die trüben Gesichter, und das alles auf einem
+brandneuen Engländer? Da stimmt etwas nicht. Was tut denn der überhaupt
+hier in Dakar-Hafen? Was hat er denn geladen?
+
+Eisen, Alt-Eisen. An der Westküste Afrikas? Gleich beim Äquator?
+Alt-Eisen? Well, die Dame Kaiserin geht in Ballast heim und nimmt das
+Alt-Eisen mit. Nach Glasgow. Bezahlt wenigstens die Fahrt zur Hälfte.
+Alt-Eisen ist besser als Sand und Steine.
+
+Nichtsdestoweniger. Das schöne neue Schifflein Empreß und kann keine
+Ladung kriegen von Afrika nach England?
+
+Wenn ich hier an der Beach liegen würde, hätte ich es in drei Stunden
+raus, was da los ist mit der blanken Kaiserin. Sie wird doch nicht etwa
+–? Na, bist auch schon eingetrant, siehst auch schon in allen Ecken
+Gespenster. Die Empreß of Madagascar, dieser pfirsichweiche und
+schwellende Backfisch aus Glasgow sollte hier bereits auf den Strich
+gehen? Aufgeschminkt?
+
+Nein, sie ist nicht geschminkt. Alles Natur. Sie ist keine drei Jahre
+alt. Alles echt. Noch nicht einmal eine Niete abgeschliffen am Röckchen.
+Alles wie geleckt und duftet gesund oben und unten. Aber die Mannschaft,
+die Mannschaft. Da ist etwas nicht in Ordnung.
+
+Was geht es mich an. Jedes Kind will seine Freude haben.
+
+Ich gehe zurück zum Norweger.
+
+Ich setze rauf. Stanislaw ist noch da. Sitzt im Quartier und schnackt
+mit ein paar Dänen. Hat eine Büchse guter dänischer Butter in der Tasche
+und ein Stück Prachtkäse.
+
+„Pippip, kommst gerade zur Zeit, kannst Abendbrot mitmachen, ein treues
+dänisches Abendbrot, vollwertig und echt“, sagt Stanislaw.
+
+Wir lassen uns nicht nötigen und machen das Abendbrot mit.
+
+„Habt ihr den Engländer da drüben gesehen, die Empreß?“ frage ich,
+während wir alle im Meßraum sitzen und futtern.
+
+„Liegt schon eine Weile hier“, sagt einer.
+
+„Feines Mädchen“, forsche ich nun.
+
+„Oben Seide, unten meide“, sagt einer von den Dänen.
+
+„Na?“ frage ich, „meiden? Warum meiden? Ist doch ganz echt.“
+
+„Freilich ist sie echt“, ruft ein andrer dazwischen. „Kannst du
+notmustern wenn du willst. Mit Honig und Schokolade. Kriegen jeden Tag
+Henkersmahlzeit. Pudding und Braten.“
+
+„Kreuzdonnerwetter nochmal, komm endlich klar“, sage ich nun. „Was ist
+los? Ich habe doch wegen Schanz gefragt, ist nichts zu machen.“
+
+„Lieber Freund, siehst doch nicht so aus, als ob du gestern zum
+erstenmal Seewasser geschluckt hast. Sie ist ein Leichenwagen.“
+
+„Du bist wohl verrückt und mit Teer gepinselt?“ rufe ich.
+
+„Ein Leichenwagen, sage ich dir“, wiederholt der Däne und gießt sich
+Kaffee ein. „Willst du auch noch Kaffee? Wir brauchen mit der Milch, mit
+dem Zucker und der Butter nicht sparen. Wir können wühlen. Kannst eine
+Büchse Milch mit heimnehmen. Willst du?“
+
+„Die Frage allein rührt mich zu Tränen“, sage ich und fülle mir meine
+Tasse mit Kaffee, mit richtigem Bohnenkaffee. Ich hatte vergessen, wie
+das schmeckt, denn Yorikke gab nur Kaffee-Ersatz mit zwanzig Prozent
+Kaffee, damit unser Herz nicht beschädigt würde.
+
+„Ein Leichenschiff, sage ich dir noch einmal.“
+
+„Wie meinst du das? Leichen von Frankreich nach Amerika, daß sie drüben
+die Mütter in den Blumentopf pflanzen können, um sich an der Ehre zu
+erfreuen und sich am Kriege zur Beendigung aller Kriege begeistern zu
+können?“
+
+„Rede doch nicht so ausländisch, Mensch.“
+
+„Sie fährt Leichen, aber keine Kriegerleichen aus Frankreich.“
+
+„Sondern?“
+
+„Kleine Engelchen. Seemanns-Engelchen. Seemanns-Leichen, du Sägefisch,
+wenn du das nicht endlich verstehst.“
+
+„Hat die Kaiserin die an Bord?“
+
+„Mensch, mit dir kann man ja Bunkerwände einrennen.“
+
+„Natürlich hat die Tante sie an Bord. Siebenachtel fertig. Können zu
+Hause in ihrer Dorfkirche schon ruhig in die Gedenktafel für Seeleute
+eingekratzt werden. Braucht nicht mehr ausradiert werden. Wenn du deinen
+Namen auch auf der Gedenktafel in deiner Dorfkirche haben willst,
+brauchst du nur mitgehen. Sieht überhaupt sehr vornehm aus, wenn du
+neben deinem Namen stehen hast ‚Empreß of Madagascar‘. Klingt doch nach
+etwas. Sieht doch besser aus, als wenn da nur daneben steht Berta oder
+Emma oder Nordkap. Man muß auch daran denken, wen du als Nachbar kriegst
+auf der Tafel. ‚Empreß of Madagascar‘, da ist Schwung drin, Junge.“
+
+„Warum soll denn die schon Versicherung fahren?“ Das leuchtete mir nun
+durchaus nicht ein. Das war wieder nur so Gerede. Blasser Neid, weil sie
+nicht selber drauf waren, auf dem neuen Eimer.
+
+„Kinderleichte Sache.“
+
+„Ist doch höchstens drei Jahre aus den Windeln“, warf ich ein.
+
+„Endlich beweist du, daß du länger aus den Windeln bist. Sie ist genau
+drei Jahre alt. War für große Fahrt gebaut, Ostasien und Südamerika.
+Sollte zwölf Knoten machen. War Bedingung. Als sie losackerte, machte
+sie vier und wenn es gut ging vier und einen halben. Das kann sie nicht
+aushalten, dabei geht sie pleite.“
+
+„Können sie doch umbauen.“
+
+„Schon zweimal versucht. Wird immer schlechter. Hat ursprünglich sogar
+sechs Knoten gemacht, nach dem Umbau nur noch vier. Die muß runter vom
+Wasser, muß die Versicherung bringen. Haben die Versicherung sicher fein
+gedreht, daß sie Lloyd passieren konnte. Aber geht ja alles zu
+schieben.“
+
+„Und nun soll sie abrasseln?“
+
+„Sie hat schon zweimal gebrummt. Hat aber nicht gefleckt. Das erstemal
+saß sie auf Sand. Sauber wie hingestreichelt. Haben sicher schon in
+Glasgow darauf gezecht. Kam aber Schwerwetter hoch mit Mordsflut und die
+hob die edle Dame runter vom Sand wie Himmelfahrt mit Trompeten und
+Pauken. Und sie schwenkte lustig ab. Da mag der Skipper schön geflucht
+haben. Beim zweitenmal, das war vorige Woche, wir lagen schon hier, da
+ist sie draußen zwischen Klippen gefegt. Saß fein fest. Drahtlose
+Station war zerhauen. Natürlich. Mußte der Skipper Flaggen setzen.
+Anstandshalber. Sind doch immer Zeugen rum. Da kam ein französisches
+Patrouillenboot, gerade wo der Skipper schon so ganz gemütlich ausbooten
+ließ. Die Patrouille flaggte rüber: „Warten. Hilfe unterwegs!“ Da hat
+der Skipper aber geflucht. Möchte nur wissen, wie er das Journal wieder
+in Ordnung gebracht haben mag. Er hatte es doch schon aufgezaubert. Wird
+schön radiert haben, Junge, Junge. Er hatte einen Fehler gemacht. Heißt,
+es ging wohl nicht anders. War bei Ebbe aufgesessen. Nun kamen drei
+Schlepper und hoben ihn ab von den Klippen bei Flut. Ganz elegant. Hatte
+nicht mal eine Schramme abbekommen. Das ist Pech. Muß nun auch die
+Bergungskosten bezahlen. Geht alles runter von der Versicherung. Fragt
+sich, ob die Versicherung die ganzen Kosten trägt. Hängt vom Journal
+ab.“
+
+„Und was nun?“
+
+„Jetzt macht er den Verzweifler. Muß er machen. Dreimal kann er nicht
+abkommen. Dann macht die Versicherung eine Untersuchung und streicht die
+Versicherung. Verlangt einen andern Skipper drauf, der treu fährt. Dann
+ist es aus. Dann muß die Empreß zum Abwracken. Fahren kann sie nicht.“
+
+„Warum liegt sie denn da so lange, wenn sie keine Reparatur hat?“
+
+„Kann nicht raus. Hat keine Heizer.“
+
+„Das ist Unsinn. Hätte er mich doch nehmen können. Ich sagte ihm doch
+rauf, ich sei Heizer.“
+
+„Hast du Papiere?“
+
+„Sei nicht so albern, Mensch.“
+
+„Wenn du keine Papiere hast, nimmt er dich nicht. Er muß ein vornehmes
+Gesicht behalten. Tote wären für ihn verdächtig. Aber ob du Zulukaffer
+bist oder Hottentotte oder taubstumm, das ist ihm gleichgültig. Mußt nur
+Papiere haben und mußt befahren sein. Unbefahrene Leute ist nicht gut,
+da kann die Versicherung mauern und Geschichten machen. Die Heizer haben
+sich rausgemacht. Haben sich verbrannt und liegen im Hospital, sonst
+hätten sie ja nicht fortgekonnt. Die Heizer sind am schlimmsten dran,
+die kommen nicht raus, wenn es ein verzweifelter Aufbrummer ist. Da ist
+gleich Wasser vor den Kesseln, und die Kessel gehen auch gewöhnlich
+gleich hoch, wenn sie so plötzlich kalte Dusche kriegen. Die haben
+gleich die explodierende Lungenentzündung weg.“
+
+„Wartet er jetzt ab, bis die Heizer wieder raus sind aus dem Hospital?“
+
+„Das nützt ihm nichts. Die brauchen nicht mehr rauf, wenn sie nicht
+wollen. Können sauber abmustern. Haben feine Papiere und können in Ruhe
+auf einen andern warten.“
+
+„Wie denkt die Tante denn fortzukommen?“
+
+Die Leute lachten in sich hinein, und der, der diesen Fall am besten
+studiert zu haben schien, sagte: „Die sind auf Kindsraub aus. Auf
+Shanghaien. Kann ich dir zuflüstern, Junge. Ja, eine feine elegante
+Dame, die Kaiserin von Madagaskar. Oben Seide, unten meide. Meide, in
+die Nähe zu gehen.“
+
+Dagegen ist die Yorikke ja eine hochachtbare Dame. Sie täuscht nichts
+vor. So wie sie aussieht, so ist sie. Ehrlich bis auf das Gerippe.
+Beinahe fange ich an, Yorikke zu lieben.
+
+Ja, Yorikke, ich muß es dir gestehen: Ich liebe dich. Liebe dich
+aufrichtig um deiner selbst willen. Habe an meinen Händen sechs
+schwarzblaue Fingernägel und an den Zehen vier schwarzgrünblaue
+Zehennägel. Alles um deinetwillen, geliebte Yorikke. Auf die Zehen sind
+Roste geschlagen, und jeder Fingernagel hat seine eigne schmerzhafte
+Geschichte. Meine Brust, mein Rücken, meine Arme, meine Füße haben
+Narben von bösen Brandwunden. Jede einzelne Narbe wurde geboren unter
+einem Schmerzensschrei, der dir galt, Geliebte.
+
+Dein Herz heuchelt nicht. Dein Herz weint nicht, wenn es nicht zum
+Weinen fühlt, es jubelt nicht, wenn es keine Freude fühlt. Dein Herz
+heuchelt nicht, es ist rein und lauter wie pures Gold. Wenn du lachst,
+Herzliebste, so lacht deine Seele, lacht dein Leib und lacht dein
+lustiges Zigeunerkleid. Und wenn du weinst, Herzallerliebste, dann weint
+selbst das kalte Riff, an dem du vorübergehst.
+
+Ich will dich nimmermehr verlassen, Geliebte, nicht um alle Schätze der
+Welt. Ich will mit dir wandern, mit dir singen, mit dir tanzen und mit
+dir schlafen. Ich will mit dir sterben, in deinen Armen meinen letzten
+Seufzer tun, du Zigeunerin der Meere. Du protzest nicht mit deiner
+glorreichen Vergangenheit und deinem uralten Stammbaum bei Tantchen
+Lloyd in London. Du protzest nicht mit deinen Lumpen, und du spielst
+nicht mit ihnen. Sie sind dein rechtmäßiges Gewand. Du tanzest in deinen
+Lümpchen froh und stolz wie eine Königin und singst dein Zigeunerlied,
+dein Lumpenlied:
+
+
+ DAS TANZLIED DES TOTENSCHIFFES
+
+ Was gehn euch meine Lumpen an?
+ Da hängen Freud’ und Tränen dran.
+ Was kümmert euch denn mein Gesicht?
+ Ich brauche euer Mitleid nicht.
+
+ Was kümmert euch, was mir gefällt?
+ Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt.
+ In euren Himmel will ich gar nicht rein,
+ Viel lieber dann schon in der Hölle sein.
+
+ Ich brauch’ gewiß nicht eure Gnaden,
+ Und selbst wenn Tote ich geladen,
+ Wenn Schimpf und Schand’ sind an mir dran,
+ Euch geht das einen Sch...dreck an.
+
+ Ich pfeife auf das Weltgericht.
+ An Auferstehung glaub’ ich nicht,
+ Ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht,
+ Und Höllenstrafen fürcht’ ich nicht.
+
+ Hopla he, auf weiter See,
+ Hopla, hopla, he!
+
+
+
+
+ DRITTES BUCH
+
+
+ ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN
+ DA DRAUSSEN KREUZ UND QUER;
+ DOCH KEINS KANN SO VERRUFEN SEIN,
+ DASS NICHT MANCH ANDRES
+ SCHLIMMER WÄR’.
+
+
+ 45
+
+Mag sein, daß man seine Frau nicht zu sehr lieben darf, wenn man sie
+behalten will. Sie langweilt sich sonst und läuft zu einem andern, um
+geprügelt zu werden.
+
+Es war verdächtig, sehr verdächtig, daß ich die Yorikke plötzlich so
+innig zu lieben begann. Aber wenn man soeben die gräßliche Geschichte
+eines Kindsräubers vernommen hat, in der einen Tasche eine Büchse Milch,
+in der andern eine Büchse guter dänischer Butter trägt, kann man wohl
+Liebesgedanken bekommen und diejenige lieben, die in ihren Lumpen
+liebenswerter ist als Leichenräuber in seidenen Kleidern.
+
+Aber verdächtig war diese aufkeimende Liebe doch. Etwas war nicht in
+Ordnung. Da war die Aschenhuze gewesen. Und nun war auch noch Yorikke,
+die ich mit heißer Inbrunst liebte. Das wollte mir nicht gefallen. Da
+stimmte etwas nicht.
+
+Im Quartier war es nicht auszuhalten. Die Luft stand dick und schwer und
+drückte auf das Hirn.
+
+„Laß uns wieder rausgehen,“ sagte ich zu Stanislaw, „wir schlendern am
+Wasser herum bis es kühler wird. Nach neun wird sicher eine Brise
+aufkommen. Dann gehen wir heim und legen uns aufs Deck.“
+
+„Hast recht, Pippip“, gab Stanislaw zu. „Hier kann man weder schlafen
+noch sitzen. Wir können mal raufgehen zu dem Holländer, der da oben
+liegt. Vielleicht sehe ich einen Bekannten.“
+
+„Immer noch Hunger?“ fragte ich.
+
+„Nein, aber vielleicht kann ich ihnen ein Stück Seife abnehmen und ein
+Handtuch. Wäre ganz gut mitzunehmen.“
+
+Wir trotteten langsam los. Es war inzwischen ganz finster geworden. Die
+Hafenlampen waren nur spärlich erleuchtet. Es wurde nirgends geladen.
+Die Schiffe glimmerten schläfrig durch die abendliche Dunkelheit.
+
+„Berühmt ist der Tabak aber auch nicht, den uns die Norweger gegeben
+haben“, sagte ich.
+
+Kaum hatte ich das ausgesprochen und mich dabei Stanislaw zugewandt, um
+Feuer von ihm zu kriegen, als ich einen mächtigen Hieb über den Schädel
+erhielt. Ich fühlte den Schlag ganz deutlich, konnte mich aber nicht
+bewegen, meine Beine wurden merkwürdig plump und dick und ich fiel hin.
+Es sauste und brummte entsetzlich um mich herum und es tat drückend weh.
+
+Das dauerte aber nicht lange, schien mir. Ich stand wieder auf aus
+meiner Betäubung und wollte weitergehen. Aber ich lief gegen eine Wand,
+gegen eine Holzwand. Wie konnte das sein? Ich ging links, doch auch da
+war eine Wand. Und rechts war eine Wand und hinter mir war eine Wand.
+Und alles war finster. Mein Kopf summte und dröhnte. Ich konnte nicht
+denken, wurde müde und legte mich wieder auf den Boden.
+
+Als ich abermals aufwachte, waren die Wände noch immer da. Aber ich
+konnte nicht ruhig stehen. Ich schwankte. Nein, das war es nicht, der
+Boden schwankte.
+
+Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß jetzt, was los ist. Ich bin
+auf einem Boot, auf einem Eimer, und der ist auf hoher See. Schwimmt
+lustig voran. Die Maschinen stampfen und bollern.
+
+Mit beiden Fäusten und endlich auch mit den Füßen hämmere ich gegen die
+Wände. Es scheint niemand etwas zu hören. Aber nach längerer Zeit, als
+ich wieder und wieder die Wände bearbeitet und auch mit Schreien mein
+Trommeln unterstützt habe, wird eine Luke aufgemacht und es leuchtet
+jemand mit einer elektrischen Taschenlampe herein.
+
+„Haben Sie jetzt Ihren Soff ausgeschlafen?“ werde ich gefragt.
+
+„Scheint, ja“, sage ich.
+
+Es braucht mir niemand etwas erzählen, ich weiß bereits, was los ist.
+Kindsraub, shanghaied. Ich bin auf der Empreß of Madagascar.
+
+„Sie sollen zum Skipper kommen“, sagt der Mann.
+
+Es ist heller Tag draußen. Ich klettere die Leiter hoch, die der Mann
+durch die Luke schiebt und bin bald darauf auf dem Deck.
+
+Ich werde zum Skipper geführt.
+
+„Feine Leute seid ihr, muß ich sagen“, schreie ich gleich, als ich in
+die Kabine komme.
+
+„Bitte?“ sagt der Skipper ganz ruhig.
+
+„Kindsräuber. Shanghaier. Engelmacher. Leichenfledderer. Das ist es, was
+ihr seid“, schreie ich.
+
+Der Skipper bleibt ungerührt, steckt sich ruhig eine Zigarre an und
+sagt: „Es scheint, Sie sind noch nicht ganz nüchtern. Wir werden Sie mal
+in kaltes Wasser tauchen müssen, damit der Rauch abzieht.“
+
+Ich sehe ihn an und sage nichts.
+
+Der Skipper drückt auf einen Knopf, der Steward kommt und der Skipper
+nennt zwei Namen.
+
+„Setzen Sie sich“, sagt der Skipper nach einer Weile.
+
+Es kommen zwei widerliche Kerle rein. Verbrechergesichter.
+
+„Ist das der Mann?“ fragt der Skipper.
+
+„Ja, das ist er“, bestätigen die beiden.
+
+„Was tun Sie hier auf meinem Schiff?“ sagt der Skipper jetzt zu mir in
+einem Tone, als ob er Vorsitzender eines Schwurgerichts wäre. Vor sich
+hat er Papier liegen, auf dem er mit einem Bleistift kritzelt.
+
+„Das möcht ich gern von Ihnen wissen, was ich hier auf dem Schiff
+mache“, antworte ich.
+
+Nun redet der eine dieser beiden Verbrecher. Sie scheinen Italiener zu
+sein nach der Art, wie sie die Brocken Englisch herausbringen.
+
+„Wir wollten gerade die Ladekammer elf reinigen, und da fanden wir den
+Mann hier besoffen in einer Ecke liegen, wo er fest schlief.“
+
+„Also“, sagt darauf der Skipper, „dann ist das ganz klar. Sie wollten
+sich auf meinem Schiff blind wegpacken, um nach England zu kommen. Sie
+werden das nun wohl nicht mehr bestreiten wollen. Ich kann Sie leider
+nicht über Bord werfen, was ich ja eigentlich tun müßte. Verdienten
+eigentlich, daß ich Sie ein halbes Dutzend mal am Lademast schleifen
+lasse und Ihnen die Haut ein wenig abschinde, damit Sie dran denken, daß
+ein englisches Schiff nicht dazu dient, Verbrecher, die von der Polizei
+verfolgt werden, in Sicherheit zu bringen.“
+
+Was sollte ich da lange reden. Er hätte mir von diesen italienischen
+Sträflingen die Knochen zerschlagen lassen, wenn ich ihm gesagt hätte,
+was ich von ihm denke. Er würde es überhaupt tun schon für das, was ich
+ihm gleich am Anfang erzählt habe. Aber er hat ja nur Interesse an
+meinen gesunden Knochen und nicht an meinen zerschlagenen.
+
+„Was sind Sie?“ fragte er nun.
+
+„Schlichter Deckarbeiter.“
+
+„Sie sind Heizer.“
+
+„Nein.“
+
+„Sie haben sich doch hier gestern als Heizer angeboten?“
+
+Ja, das hatte ich, und das war mein Fehler. Seitdem haben die mich nicht
+mehr aus den Augen gelassen. Hätte ich damals gesagt, Deckarbeiter,
+hätten sie vielleicht kein Interesse an mir gehabt. Heizer waren es, die
+sie brauchten.
+
+„Da Sie also Heizer sind und Sie Glück haben dadurch, daß mir zwei
+Heizer krank geworden sind, so können Sie als Heizer arbeiten. Sie
+bekommen englische Heizerheuer, zehn Pfund zehn ist sie augenblicklich.
+Aber ich kann Sie nicht heuern. Wenn wir nach England kommen, habe ich
+Sie den Behörden zu übergeben; und Sie werden, je nachdem der Richter
+Ihnen geneigt sein wird, zwei bis sechs Monate abmachen müssen und dann
+natürlich Deportation. Aber hier werden Sie, solange wir auf Fahrt sind,
+als regelrechtes Mitglied der Mannschaft unsrer Empreß of Madagascar
+behandelt.
+
+Wir können uns gut vertragen, wenn Sie Ihre Arbeit tun. Wenn wir uns
+nicht vertragen können, gibt es kein Wasser, lieber Freund. Ich denke
+also, wir vertragen uns lieber. Um zwölf beginnt ihre Wache. Ihre Wachen
+sind sechs und sechs Stunden; die zwei Stunden je Wache mehr, werden
+Ihnen bezahlt mit einem Schilling sechs Pence die Stunde.“
+
+Da war ich nun Heizer auf der Empreß of Madagascar, auf der Fahrt zu dem
+Gedenkstein in der Dorfkirche. Ich hatte keine Dorfkirche, also blieb
+mir nicht einmal diese Ehre.
+
+Die Heuer war gut, da ließ sich Geld dabei machen. Aber in England
+Gefängnis wegen Schiffschleichens und dann vielleicht noch Jahre im
+Gefängnis warten auf Deportation. Doch das war ja eben die Sache. Die
+Heuer bekam ich nicht, weil die Fische sie nicht auszahlen werden. Komme
+ich heil raus, ich kriege keinen Nickel Heuer, ich bin nicht treu
+gemustert. Kein englischer Konsul erkennt diese Strafmusterung an.
+Gefängnis und Deportation rühren mich nicht. Wir kommen nicht nach
+England. Nur ja keine Sorge. Wollen uns doch mal die Boote ansehen. Die
+Boote sind fertig. Da wird es also in den nächsten Tagen losgehen. Erste
+Bedingung ist, alles klarmachen, um auf alle Fälle aus dem Kesselraum zu
+kommen. Beim leisesten Knirscher weg vom Kessel und hoch wie der Satan.
+
+
+ 46
+
+Die Quartiere sind wie Salons. Sauber und neu. Stinken nur unerträglich
+nach frischer Farbe. Matratzen im Bunk, aber kein Kissen, keine Decke,
+kein Laken. Kaiserin von Madagaskar, bist nicht so reich wie du von
+draußen aussiehst. Oder die haben schon alles gezockelt und vermünzt,
+was gerettet werden konnte.
+
+Geschirr gibt es auch nicht. Aber man kann es schon leichter
+zusammenklauben, weil da was übrig ist und dort was herumliegt. Das
+Essen wird von einem italienischen Jungen gebracht, damit hat man also
+nichts zu tun. Das Essen ist ausgezeichnet. Freilich, unter
+Henkersmahlzeit verstehe ich etwas andres.
+
+Rum gibt es hier überhaupt nicht, wie mir von einem erzählt wird. Der
+Skipper ist Anti, schon faul.
+
+Schiffe ohne Rum stinken wie Jauche.
+
+Ich sitze im Meßraum des Kesselpersonals.
+
+Der Meßboy ruft die Leute aus den Bunks zum Essen. Es kommen zwei
+schwere Neger herein, die Kohlschlepps. Und dann kommt ein Heizer
+herein, der auf Freiwache ist.
+
+Den Heizer kenne ich. Sein Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. Das
+Gesicht ist aufgeschwommen, und um den Kopf hat er eine Binde.
+
+„Stanislaw, du?“
+
+„Pippip, du auch?“
+
+„Wie du siehst. Mitgegangen, mitgefangen“, sagte ich.
+
+„Du bist ja noch ganz gut davon gekommen. Ich habe mich mit ihnen schwer
+gekloppt. Ich kam gleich wieder hoch, nachdem ich den ersten Schlag weg
+hatte. Du lagst fest, hattest gleich einen saftigen gekriegt. Aber als
+du so plötzlich umknicktest, bückte ich mich nach dir und so kriegte ich
+nur einen halben. Gleich war ich wieder auf. Und nun ging die Bürsterei
+los. Waren gleich vier herum. Und ich habe ganz verflucht was auf den
+Schädel gekriegt.“
+
+„Was haben sie dir denn für eine Geschichte erzählt?“ fragte ich.
+
+„Ich hätte mich gekloppt, hätte einen erstochen und dann hätte ich mich
+auf dem Eimer versteckt, weil die Polizei hinter mir her gewesen sei.“
+
+„Mir haben sie etwas Ähnliches erzählt, die Kindsräuber“, sagte ich.
+„Unsre Heuer von der Yorikke sind wir nun auch noch los, und hier
+kriegen wir nie einen Cent.“
+
+„Dauert ja nur ein paar Tage. Ich denke übermorgen wird es schon soweit
+sein. Es ist ein Platz, wie er ihn sich nicht besser wünschen kann. Kann
+sich schön sauber hinlegen wie gemalt. Kommt niemand her und deckt das
+Gesicht ab. Um fünf ist Exerzieren an den Booten. Merkst was, he? Wir
+sind nicht dabei, wir sind gerade dann auf Wache. Wir sind beide Boot
+vier, Heizer von Wache zwölf bis vier. Ich habe die Liste gesehen, hängt
+im Gangweg.“
+
+„Weißt du schon, wie es vor den Kesseln ist?“ fragte ich.
+
+„Zwölf Feuer. Vier Heizer. Die beiden andern sind Neger. Auch die
+Schlepps sind Neger. Da die beiden, die am Tisch sitzen.“ Stanislaw
+deutete rüber zu den starken Burschen, die gleichgültig an ihrem Essen
+würgten und uns kaum zu bemerken schienen.
+
+Um zwölf traten wir unsre Wache an. Die vorige Wache hatte der Donkeyman
+mit den Negern gemacht.
+
+Die Feuer sahen bös aus, und wir hatten beinahe zwei Stunden wild zu
+arbeiten, bis wir sie in Ordnung hatten. Alles war verschlackt;
+aufzuschmeißen verstanden die schwarzen Heizer auch nicht. Sie
+pfefferten die Kohle hinein, und damit gaben sie sich zufrieden. Daß
+Heizen eine Kunst ist, die mancher nie lernt, davon schienen sie nichts
+zu wissen, obgleich sie offenbar schon einige Jahre vor den Kesseln
+arbeiteten und sicher schon eine gute Anzahl von Schiffen abgedient
+hatten.
+
+Mit den Rosten hatten wir hier nur wenig Arbeit. Brannte einer durch, so
+ließ er sich rasch einsetzen ohne daß er nachfiel oder gar andre mitriß.
+Die Schlepps, riesenhafte Neger, mit Armen wie Oberschenkel und einem
+Körperbau, daß man glaubte, sie könnten einen ganzen Kessel auf ihren
+Schultern fortschleppen, brachten die Kohle verteufelt langsam heran,
+und wir mußten ihnen ganz gehörig den Marsch blasen, bis sie sich
+endlich herbeiließen, zu arbeiten. Sie stöhnten in einem fort, daß es zu
+heiß sei, daß sie keine Luft bekämen, daß sie vor Staub nicht schlucken
+könnten, und daß sie sicher verdursten würden.
+
+„Na, Pippip,“ sagte Stanislaw, „da mußten wir ganz anders ziehen auf der
+alten Yorikke. Was tun die Kerle nur mit ihren Knochen? Ehe die eine
+halbe Tonne heran haben, hole ich sechs und puste noch nicht einmal
+dabei. Und hier liegen ihnen die Kohlen direkt vor der Nase.“
+
+„Gerade jetzt fing auf der Yorikke wieder eine schöne Zeit für eine
+Woche an“, sagte ich. „Sie hatte gerade frisch gekohlt und die Schächte
+und Kesselbunker lagen gepfropft, daß es ein wahrer Spaß hätte sein
+müssen für die nächste Fahrt. Aus. Schiet Yorikke. Haben jetzt andres zu
+denken.“
+
+Ich sah mich um.
+
+„Habe auch schon herumgeblickt“, sagte Stanislaw. „Wir müssen Luftlöcher
+suchen. Zur Leiter kommt man nicht immer. Bricht meist weg, wenn sie
+richtig aufknallt. Und wenn gar noch die Kessel oder die Rohre anfangen
+zu summen und zu spucken, dann ist die Leiter eine verfluchte
+Rattenfalle. Kannst nicht mehr runter, nicht mehr rauf.“
+
+„Der Oberbunker hat eine Luke zum Deck“, sagte ich. Ich war eben oben
+gewesen und hatte untersucht. „Wir müssen die Luke immer klar haben,
+wenn wir auf Wache gehen. Dann baue ich eine Lattenleiter, und die
+halten wir immer hier an der Schachtluke. Wenn es knirscht, sofort raus,
+rauf, hoch und raus zur Deckluke.“
+
+Wir arbeiteten uns nicht blöd. Es schien den Ingenieuren auch ganz
+gleich zu sein. Solange die Maschine lief, war es recht. Ob sie große
+Fahrt machte oder kleine, kam nicht in Betracht.
+
+Es hätte alles ganz nach Vorschrift gehen können. Ein paar Löcher unten
+in den Mantel gedrillt, nicht größer als einen halben Zoll, und mit
+ihrer Sargeinlage Alteisen wäre die Empreß sanft und selig
+eingeschlafen, weggesackt wie ein Stein. Nur noch der Pumpe einen Klaps
+gegeben. Aber vor dem Seegericht kann das manchmal fehlgehen, und wenn
+die ganze Mannschaft heil abkommt, so ist das immer verdächtig. Zwei
+Tage waren es nur. Wir hatten gerade die Wache übernommen und waren mit
+dem Ausschlacken halb durch, da hörte ich einen furchtbaren Knall und
+ein Krachen. Ich flog zuerst gegen die Kessel und dann zurück in einen
+Kohlenhaufen.
+
+Gleich darauf standen die Kessel senkrecht über mir, ein paar
+Feuerungstüren brachen auf und die Glut fiel in den Kesselraum. Zur
+Lattenleiter brauchte ich nicht hinaufsteigen, ich konnte auf ebener
+Fläche zu der Schachtluke gehen.
+
+Stanislaw war schon raus.
+
+Als ich in den Bunker kam, kletterte er gerade durch die Luke.
+
+In diesem Augenblick hörten wir einen gräßlichen Schrei aus dem
+Kesselraum.
+
+Stanislaw hatte den Schrei auch gehört und drehte sich um.
+
+„Das war Daniel, der Schlepp“, rief ich Stanislaw zu. „Ich glaube, er
+sitzt fest.“
+
+„Verflucht, runter, aber rasch“, schrie Stanislaw.
+
+Ich war schon wieder drin im Kesselraum. Die Kessel standen noch immer
+Kopf, und jede Sekunde konnte einer losfahren in die Lüfte. Das
+elektrische Licht war verlöscht, weil offenbar das Kabel durchgerissen
+war. Aber die Glut gab Licht genug, wenn es auch recht gespensterhaft
+aussah.
+
+Daniel, der eine Neger, lag lang und war mit seinem linken Fuß von einer
+losgelösten Platte eingeklemmt. Er schrie und schrie, weil die Glut ihn
+schmorte.
+
+Wir versuchten, die Platte zu heben, aber es ging nicht, wir kriegten
+sie nicht hoch und konnten mit der Schürstange nicht heran, um sie
+hochzuheben.
+
+„Geht nicht, Daniel, Fuß sitzt fest.“ Ich schrie es in wahnsinniger Eile
+auf Daniel ein.
+
+Was tun? Sollen wir ihn hierlassen?
+
+„Wo ist der Hammer?“ schreit Stanislaw.
+
+Schon ist der Hammer zur Hand, und in derselben Sekunde haben wir eine
+Schaufel glattgeklopft, und ohne Besinnen schlägt Stanislaw dem Neger
+den Fuß ab. Drei Hiebe waren nötig. Wir schleiften Daniel zur
+Schachtluke, schleiften ihn durch den Bunker und zerrten ihn durch die
+Deckluke.
+
+Draußen packte der andre Neger unsrer Wache, der sich rechtzeitig in
+Sicherheit gebracht hatte, sofort zu. Wir überließen ihm Daniel und
+kümmerten uns nun um uns selbst.
+
+Das Quartier lag bereits im Wasser. Die Empreß ragte mit dem Stern hoch
+in die Luft. Das war beim Bootsexerzieren nicht ausprobiert worden. Es
+stand alles ganz anders, als man es gewöhnt war. Eine Weile hatte noch
+das Licht gebrannt. Der Ingenieur hatte es zu den Akkumulatoren
+durchgeschaltet. Jetzt verglimmte es langsam, weil die Akkumulatoren
+wahrscheinlich auszulaufen begannen oder die Kabel irgendwo Widerstände
+aufnahmen. Elektrische Taschenlampen und Notlaternen mußten helfen.
+
+Vom Quartier sah ich niemand. Die waren schon fertig. Die konnten nicht
+mehr raus. Gegen die Tür lehnten einige Tonnen Wasserdruck.
+
+Boot zwei riß sich los und war im Augenblick vom Seegang fortgeschwemmt,
+ohne daß auch nur ein Mann drin saß.
+
+Boot vier war nicht zu holen. Lag nicht klar.
+
+Boot eins war klar, und der Skipper kommandierte die Besatzung. Dann
+stand es bei und wartete auf ihn, weil er anstandshalber auf Deck blieb.
+Das Seegericht sieht so etwas gern und lobt es.
+
+Nun kam auch Boot drei klar. Hier flitzten Stanislaw und ich hinein,
+zwei Ingenieure, der gesunde Negerschlepp und Daniel mit dem abgehackten
+Fuß, der jetzt mit einem Hemd verbunden war; ferner kriegten wir den
+Ersten Offizier und den Steward.
+
+Die Kessel schienen brav zu halten und waren vielleicht durch die
+herausgefallenen Feuer beruhigt worden. Pflaumenmus gab es ja hier
+nicht.
+
+Wir stießen ab. Der Skipper war inzwischen in Boot eins gesprungen, und
+auch dieses Boot lief klar ab.
+
+Aber ehe es seine Riemen gestreckt hatte, wurde es von der See heftig
+gegen den Schiffsleib geschleudert. Immer wieder versuchten sie, klar zu
+kommen.
+
+Da plötzlich löste sich ein Etwas von dem Schiffe los und schlug mit
+brechendem und splitterndem Getöse auf das Boot. Man hörte ein Schreien
+von vielen Stimmen und dann war alles still, als wären Schrei, Boot und
+Besatzung mit einem Ruck von einem großen Maul verschluckt worden.
+
+Wir waren ganz schön abgekommen und pullten lustig drauf los. Kurs zur
+Küste.
+
+Große Fahrt machten wir nicht mit den paar Riemen. Die Wogen gingen
+verteufelt hoch, und wir standen manchmal zwei Bootslängen hoch an einer
+steilen Wasserwand. Dann spreizten die Riemen in der Luft, konnten nicht
+einlegen, und wir wurden kreuz und quer geschleudert. Der Ingenieur, der
+mit an den Riemen saß, sagte da plötzlich: „Wir sitzen ziemlich flach.
+Kaum drei Fuß. Auf Fels.“
+
+„Nicht möglich“, erwiderte der Erste Offizier. Er tastete nach dem
+Riemen, lotete und sagte dann: „Sie haben recht. Raus, raus.“
+
+Er hatte den Befehl noch halb im Munde, da gingen wir steil an einer
+Wand hoch. Die Welle nahm uns wie eine kleine Untertasse und haute das
+ganze Boot mit solcher Wucht auf den Fels, daß es in tausend Splitter
+ging.
+
+„Stanislaw!“ schrie ich hinaus in das Toben der Wellen. „Hast du was, wo
+du kleben kannst?“
+
+„Nicht einen dürren Strohhalm“, schrie er mir zu. „Ich schwimme zurück
+zum Eimer. Der steht ein paar Tage gut so, wie er da steht. Der fällt
+dir so leicht nicht auf die Zehen.“
+
+Die Idee war nicht schlecht. Ich versuchte, Kurs auf das schwarze
+Ungetüm zu halten, das sich gegen den Nachthimmel klar abhob.
+
+Und verflucht nochmal, wir kamen beide ran, obgleich wir einige
+dutzendmal immer wieder zurückgeschleudert worden waren.
+
+Wir kletterten rauf und suchten in Mittschiff zu kommen. Das war nicht
+so leicht. Die Achternwand bildete jetzt das Deck oder das Dach für das
+Mittschiff. Die beiden Korridore waren tiefe Schächte geworden, in die
+hinunterzukommen während der Nacht nicht gut vollführt werden konnte und
+selbst bei Tage seine Schwierigkeiten haben würde. Die Wogen gingen
+außerordentlich hoch und schienen an Wucht noch zuzunehmen. Offenbar
+waren wir bei Ebbe aufgebrummt, denn das Wasser begann zu steigen.
+
+Die Empreß stand fest wie ein Turm, eingeklemmt in einer Riffspalte. Wie
+sie in diese unschiffsmäßige Lage kommen konnte, wußte wohl nur sie
+allein. Sie zitterte kaum und bebte nicht, so fest stand sie. Nur
+manchmal, wenn ein besonders schwerer Brecher gegen ihren Panzer tobte,
+zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie ihn abschütteln. Sturm war
+gar nicht. Der Aufruhr lag nur in der schweren See. Es sah auch nicht
+danach aus, als ob Sturm aufkommen würde. Nicht in den nächsten sechs
+Stunden.
+
+Dann graute der Himmel. Die Sonne ging auf. Frisch gewaschen stieg sie
+aus ihrem Seebade empor zu den weiten Höhen.
+
+Zuerst lugten wir aus über die See. Es war nichts zu sehen. Kein Mann
+schien übrig zu sein. Daß irgendeiner aufgepickt worden war, glaubte ich
+nicht; auch Stanislaw bezweifelte es. Wir hatten kein Schiff passieren
+sehen. Außerdem lagen wir nicht in der Route. Der Skipper war
+herausgegangen, um nicht abermals von Patrouillen oder Passanten gesehen
+zu werden. Der Spaß war für ihn teuer geworden. Er hatte an eine ruhige
+friedliche Abwicklung des Geschäfts gedacht. Daß er vom Quartier keinen
+Mann mitbekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Wären die beiden
+Boote richtig bemannt gewesen, hätte das ein Vergnügen sein müssen, klar
+abzukommen.
+
+
+ 47
+
+Als es völlig hell geworden war, versuchten wir, den Korridorschacht
+hinabzuklettern. Mit einiger Sorgfalt ging es auch. Wir benutzten die
+Türen zu den einzelnen Kabinen und die Wandrippen als Sprossen, und so
+ging es viel rascher und schneller, als wir gedacht hatten.
+
+Auf dem Boden des Schachtes befanden sich die beiden Kabinen des
+Skippers. Ich fand einen Taschen-Schiffskompaß, den ich gleich mit
+Beschlag belegte, aber Stanislaw anvertraute, weil ich keine Tasche
+hatte, wo ich ihn aufbewahren konnte. Es waren auch zwei kleine
+Wassertanks in der Kabine, einer diente für Waschwasser und einer für
+Trinkwasser. Um Wasser waren wir nun für einige Tage nicht verlegen,
+denn ob die Pumpen in der Galley würden Wasser ziehen können, mußten wir
+erst noch ausprobieren. Vielleicht war der Frischwassertank überhaupt
+schon ausgelaufen.
+
+Auf der Yorikke hatten wir ja jedes Plätzchen gewußt, wo was zu holen
+war. Hier mußten wir erst damit beginnen, alles zu suchen. Aber
+Stanislaw hatte eine gute Nase und hatte die Vorratskammer, die Pantry,
+im Augenblick entdeckt, sobald nur die Frage nach dem Frühstück
+auftauchte. Verhungern konnten wir zwei Mann innerhalb der nächsten
+sechs Monate nicht. Und wenn wir genügend Wasser noch hatten, ließ es
+sich für eine Weile aushalten. In der Pantry waren mehrere Kasten mit
+Mineralwasser, Bier und Wein. Ganz schlimm konnte es nicht werden.
+
+Der Kochherd wurde auch wieder aufgerichtet, und so konnten wir auch
+kochen. Wir probierten die Pumpen für Frischwasser aus. Die eine zog
+nicht an, dagegen um so besser die andre. Das Wasser war noch etwas trüb
+von dem aufgerüttelten Schlamm, der sich am Boden festgesetzt hatte,
+aber das würde sich nach einem Tage schon geben.
+
+Mir wurde übel zumute, und auch Stanislaw zeigte Unbehagen.
+
+„Mensch,“ sagte er mit einemmal, „was sagst du dazu, ich werde
+seekotzig. Verflucht nochmal, das ist mir denn doch noch nicht
+passiert.“
+
+Ich konnte mir das nicht erklären, denn mir wurde immer kläglicher
+zumute, während der Eimer doch ziemlich still stand. Das Herantoben der
+Brecher und das gelegentliche Erzittern des Eisenkolosses konnte ein so
+erbärmliches Gefühl doch nicht auslösen.
+
+„Nun kann ich dir sagen, was los ist, Stanislaw“, gab ich nach einer
+Weile zur Antwort. „Die verrückte Lage der Kabinen ist es, was uns
+kotzig macht. Alles steht schräg und steil. Da muß man sich erst daran
+gewöhnen.“
+
+„Ich glaube, du hast recht“, meinte er, und sobald wir draußen waren im
+Freien, war das üble Empfinden sofort weg, obgleich einem auch die ganze
+Lage des Schiffes, die so blödsinnig toll zum Horizont stand, auf das
+Gleichgewichtsempfinden schlug.
+
+„Siehst,“ sagte ich jetzt zu ihm, als wir draußen saßen und des Skippers
+gute Zigarren rauchten, „es ist nur die Einbildung, nichts weiter. Ich
+bin sicher, wenn wir einmal heraus haben, was in unserm Leben alles
+Einbildung und was Tatsache ist, werden wir noch recht sonderbare Dinge
+lernen und die ganze Welt von einem andern Gesichtswinkel aus
+betrachten. Wer weiß, welche Folgen das haben kann.“
+
+So sehr wir auch Ausschau hielten, ein Schiff war nicht zu sehen. Nicht
+einmal eine Rauchfahne konnten wir erblicken. Wir lagen zu weit
+außerhalb der üblichen Fahrstraßen.
+
+„Wir können hier das schönste Leben führen, das wir je geträumt haben,“
+philosophierte Stanislaw, „haben alles, was wir uns nur wünschen, können
+essen und trinken, was wir wollen und soviel wir wollen, kein Mensch
+stört uns, und arbeiten brauchen wir auch nicht. Trotzdem möchten wir
+fort, je rascher, je lieber, und wenn kein Eimer uns abholen kommt,
+müssen wir doch bald sehen, runter zu kommen und versuchen, die Küste zu
+machen. Immer jeden Tag dasselbe, das ist es, was man nicht ertragen
+kann. Ich denke mir manchmal, auch wenn es wirklich ein Paradies geben
+würde, was ich ja nicht glaube, weil ich mir nicht vorstellen kann, wo
+die Reichen hingehen, ich würde nach drei Tagen im Paradiese eine
+gräßliche Gotteslästerung verüben, nur um wieder rauszukommen und nicht
+immerfort fromme Lieder singen zu müssen und zwischen alten
+Betschwestern und Pfaffen und Muckern zu sitzen.“
+
+Da mußte ich aber doch lachen: „Habe nur ja keine Bange, Stanislaw, wir
+beide kommen nicht da rein. Wir haben ja keine Papiere. Und kannst dich
+heilig drauf verlassen, die verlangen da oben auch Papiere, Pässe und
+Taufzeugnisse von dir, und wenn du die nicht beibringen kannst, machen
+sie dir die Türe vor der Nase zu. Frag’ nur den Pfaffen, er wird es dir
+sofort bestätigen. Mußt Heiratslizenz beibringen, kirchlichen
+Trauschein, Taufschein, Konfirmationsschein, Firmungsschein,
+Kommunionsstempel und Beichtzettel. Ginge das da oben so glatt ohne
+Papiere, wie du dir das zu denken scheinst, brauchten die hier unten ja
+keine ausstellen. Auf die Allwissenheit scheinen sie sich nicht zu
+verlassen, besser ist es schon, man hat es schwarz auf weiß und
+ordnungsmäßig abgestempelt. Wird dir jeder Pfaff erzählen, daß der
+Torwächter da oben ein großes Bund mit Schlüsseln hat. Wozu? Zum
+Abschließen der Türen, damit nicht doch vielleicht einer ohne Visa über
+die Grenze schleichen kann.“
+
+Stanislaw saß eine Weile still und sagte dann: „Merkwürdig, daß ich
+gerade so drauf komme, aber die ganze Geschichte hier will mir nicht
+recht gefallen. Es geht uns viel zu gut. Und wenn es einem so ganz
+ausnahmsweise gut geht, so ist etwas nicht in Ordnung. Ich kann das
+nicht vertragen. Es ist immer, als ob man auf Mastkur geschickt wird,
+weil eine besonders schwierige Sache auf einen wartet, die man ohne jene
+gute Vorbereitung und Erholung sonst nicht bewältigen kann. War bei der
+K. M. auch so. Immer wenn was Besonderes bevorstand, gab es vorher ein
+paar gute Tage. War auch so, ehe wir rauf nach Skagen glitschten.“
+
+„Da redest du aber nun einmal richtigen Kohlgulasch“, sagte ich zu ihm.
+„Wenn dir ein gebratenes Hühnchen ins Maul fliegt, dann spuckst du es
+wieder aus, nur damit es dir nicht gut gehen soll. Die schwierige Sache
+kommt ganz von selbst, verlaß dich drauf. Um so besser, wenn du vorher
+in der Sommerfrische warst. Wenn du eine Mastkur hinter dir hast, dann
+kannst du die schwierige Sache unterkriegen, andernfalls kriegt sie
+vielleicht dich unter.“
+
+„Verflucht, du hast recht“, rief Stanislaw nun wieder gutgelaunt. „Ich
+bin ein altes Schaf. Ich habe sonst auch noch nie solche blöden Gedanken
+gehabt. Gerade heute. Es kam mir so, als ich dachte, vorn im Quartier,
+oder ich muß ja eigentlich sagen: da unten zu unsern Füßen, da liegen
+die Burschen alle schwimmend hinter der Tür, auf demselben Kasten wie
+wir. Weißt, Pippip, man soll keine Leiche auf einem Kasten fahren, das
+bringt den Gast herbei. Ein Schiff ist lebendig, das mag keine Leichen
+in der Nähe haben. Als Fracht, meinetwegen. Das ist etwas andres. Aber
+nicht so herumliegende, so herumschwimmende Leichen.“
+
+„Können wir doch nicht ändern“, sagte ich.
+
+„Das ist es gerade, was ich meine“, antwortete Stanislaw. „Wir können es
+nicht ändern. Und das ist das Schlimme. Alle die andern sind
+abgerasselt. Wir beide sind allein noch übrig. Da stimmt etwas nicht.“
+
+„Nun will ich dir etwas sagen, Stanislaw, wenn du mit dieser blöden
+Pinselei nicht aufhörst, dann – nein, runterschmeißen will ich dich
+nicht, wirst es dir ja auch nicht gefallen lassen. Aber dann rede ich
+mit dir keine Silbe mehr, und wenn ich dadurch meine Sprache verlernen
+sollte. Dann wohnst du im Steuerbordschacht und ich im Backbordschacht
+und jeder geht seine eignen Wege. Solange ich am Leben bin, will ich mir
+nichts vom Gast vorjaulen lassen. Da habe ich später, wenn es mal so
+weit ist, noch Zeit genug dazu. Und wenn du nun meine Meinung wissen
+willst, warum wir beide gerade übriggeblieben sind, so ist das ganz klar
+und zeigt wieder einmal, wie gerecht alles zugeht in der Welt. Wir
+gehörten nicht zu der Mannschaft. Wir waren gestohlen. Wir haben der
+Empreß von Madagaskar nie etwas getan und wollten ihr auch nie etwas
+tun. Niemand weiß das so gut wie sie. Das ist der Grund, warum sie uns
+nicht mitgenommen hat.“
+
+„Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt, Pippip?“
+
+„Ja, was denkst du denn von mir, ich bin doch nicht dein königlicher
+Ratgeber. So etwas weiß man doch von selbst und hat es im Gefühl.“
+
+„Jetzt gehe ich mich besaufen“, sagte nun Stanislaw. „Ist mir ganz egal.
+Na, ich will ja nicht sagen besaufen, aber doch einen gesunden hieven.
+Wer weiß, vielleicht kommt doch bald ein Kasten vorbei und holt uns
+über. In meinem Leben könnte ich es mir dann nicht vergeben, daß ich
+hier das alles zurückgelassen habe, ohne es mal durchzukosten.“
+
+Warum sollte denn Stanislaw das Vergnügen allein genießen?
+
+Es begann jedenfalls jetzt eine Schlemmerei, die sich selbst der Skipper
+nie auf einen Sitz erlaubt haben würde.
+
+Es war ja alles so schön da in Büchsen. Salm von British Columbia, Wurst
+von Bologna, Hähnchen, Hühnerfrikassee, Pasteten, Zungen aller Art, ein
+Dutzend verschiedene eingemachte Früchte, zwei Dutzend verschiedene
+Sorten Jam, Biskuits, Gemüse der besten Auslesen, Liköre, Schnäpse,
+Weine, Ales, Stouts, Pilsener. Die Kapitäne, Offiziere und Ingenieure
+wissen sich das Leben angenehm zu machen. Aber wir waren jetzt die
+Besitzer und die Esser, während die früheren Esser jetzt schwammen und
+gegessen wurden, um die Fische fett zu machen.
+
+Den folgenden Tag war es sehr diesig und dunstig. Wir konnten kaum eine
+halbe Meile weit sehen.
+
+„Wir kriegen schweres Wetter“, sagte Stanislaw.
+
+Am Abend kam es auf. Schwerer und schwerer.
+
+Wir saßen in des Skippers Kabine bei einer Petroleum-Notlaterne.
+
+Stanislaw machte ein besorgtes Gesicht: „Wenn die Empreß abhaut oder
+runterbricht vom Riff, dann sind wir geliefert, Junge. Wir wollen uns
+mal schon beizeiten umsehen.“
+
+Er fand etwa drei Meter Tauende, das er sich um den Leib band, um es zur
+Hand zu haben. Alles, was ich finden konnte, war eine halb aufgebrauchte
+Rolle Bindfaden, kaum so stark wie ein Bleistift.
+
+„Wir klettern besser den Schacht hoch“, schlug Stanislaw vor. „Hier
+drinnen sitzen wir in der Falle, wenn der Rummel losgeht. Oben hat man
+immer noch eine Möglichkeit, abzukommen.“
+
+„Wenn du oben in die Wicken gehen sollst, dann gehst du oben, und wenn
+du unten vor die Fische gehen sollst, dann unten“, sagte ich. „Eins wie
+das andre. Wenn du vom Auto überfahren werden sollst, dann springt es
+rüber zum Schaufenster, vor dem du stehst, brauchst dem Auto gar nicht
+nachzulaufen oder in den Weg zu rennen.“
+
+„Du bist mir einer. Wenn du im Wasser ersaufen sollst, dann kannst du
+ruhig deinen Hals auf die Eisenbahnschienen legen und der Expreß springt
+über dich weg wie ein Luftschiff. Daran glaube ich nicht. Ich lege
+meinen Hals nicht auf die Schienen. Ich gehe rauf und sehe zu, was
+geschieht.“
+
+Er kletterte den Korridorschacht hinauf, und da mir einleuchtete, daß er
+recht habe, kletterte ich hinterher.
+
+Dann saßen wir wieder oben auf der Achternwand von Mittschiff, dicht
+nebeneinander. Wir mußten uns an den Beschlägen festhalten, sonst hätte
+uns der Sturm hinuntergeschleudert.
+
+Immer mehr kam das Wetter in Aufruhr. Schwere Brecher wüteten gegen die
+unter uns liegende Vorfront von Mittschiff und brandeten gegen die
+Skipperkabinen.
+
+„Wenn das die ganze Nacht so fortgeht“, sagte Stanislaw, „dann ist
+morgen früh von der Kabine nichts mehr übrig. Ich glaube sogar stark,
+die Brecher holen das ganze Mittschiff ab. Dann bleiben uns nur noch die
+Kammern im Stern und der Maschinenraum, wo die Rudermaschine steht. Dann
+gute Nacht Essen und Trinken. Da findet keine Maus was.“
+
+„Vielleicht besser, wir klettern jetzt schon rauf“, riet ich, „denn wenn
+das Mittschiff abrasselt, haben wir keine Zeit mehr. Dann schwimmen wir
+auch schon.“
+
+„So mit einem Hieb haut das Mittschiff nicht ab,“ erklärte nun
+Stanislaw, „das geht in Stücken zum Teufel. Und wenn unten eine Wand
+losbricht, haben wir Zeit genug, raufzuklettern.“
+
+Stanislaw hatte recht.
+
+Aber das Recht ändert sich durch wechselnde Verhältnisse. Es gibt
+nichts, das nicht einmal Recht gewesen ist. Man darf das Recht nur nicht
+einpökeln wollen und erwarten, daß es in hundert Jahren noch immer
+Recht, vielleicht gar dasselbe Recht sein werde.
+
+Stanislaw hatte ganz gewiß recht. Aber einige Minuten später hatte er
+schon nicht mehr recht.
+
+Drei gigantische Brecher, von denen jeder folgende immer zehnfach
+schwerer und stärker zu sein schien als der vorangegangene, wüteten mit
+donnerndem Gebrüll, als wollten sie die ganze Erde verschlingen, gegen
+die Empreß.
+
+Das tobende Gebrüll der Brecher und der nachziehenden Brandungswogen war
+ein drohendes Wutgeheul gegen die Empreß, die es wagte, ihnen auf diesem
+Riff so lange Trotz zu bieten.
+
+Der dritte Brecher brachte die steil hochgeworfene Empreß zum Schwanken.
+Aber sie stand noch. Doch wir beide hatten es im Gefühl, sie ist los,
+sie steht nicht mehr fest wie ein Turm.
+
+Die Brecher ebbten ab, um auszuholen für die nächsten drei.
+
+Der tosende Sturm jagte die schweren Wolken gleich Fetzen am Nachthimmel
+dahin. Zuweilen öffnete sich ein Loch in diesem schweren Wolkentoben,
+und man erblickte für einige Sekunden ein paar klare glänzende Sterne,
+die in diesen schwarzen, heulenden, brüllenden, tobenden und brandenden
+Aufruhr empörter Elemente herunterriefen:
+
+„Wir sind Friede und Ruhe für dich, für uns aber sind wir umlodert von
+den Flammen des Schöpfens, des Gebärens und der Rastlosigkeit. Fliehe
+nicht zu den Sternen, wenn du Ruhe suchst und Frieden. Was du nicht in
+dir trägst, wir können es dir nicht geben!“
+
+„Stanislaw!“ schrie ich laut, obgleich er doch an meiner Seite saß, „die
+Brecher kommen zurück. Jetzt gilt’s. Die Empreß fegt ab.“
+
+Ich sah den ersten Brecher in dem schwachen Sternenlicht herankommen wie
+ein unmeßbar riesenhaftes schwarzes Ungetüm.
+
+Er peitschte hoch und peitschte mit seinen nassen Tatzen über uns
+hinweg.
+
+Wir hatten gut festgehalten, aber die Empreß hob sich und wand sich in
+den Krallen des Riffs, als ob sie schwere Schmerzen erdulde.
+
+Der zweite Brecher kam auf, nahm uns den Atem weg für eine lange Zeit,
+und ich hatte das Empfinden, ich sei ins Meer geschleudert. Aber ich saß
+noch fest.
+
+Die Empreß jedoch kreischte, als ob sie zu Tode verwundet würde. Sie
+drehte sich noch weiter herum in ihrem Schmerz und schwankte im Stern
+zurück, krachend, polternd und dröhnend, bis sie nicht mehr steil stand,
+sondern schräg. Außerdem legte sie sich auch noch nach Steuerbord über.
+
+Mittschiff war durch die Brecher jetzt so voll Wasser gelaufen, daß
+alles verdorben sein mußte, was nicht in Büchsen eingelötet war. Aber,
+was in Mittschiff vor sich ging, war in mir nur wie ein ganz ferner
+dünner Gedanke.
+
+„Stanislaw, Junge!“ brüllte ich.
+
+Ob er ebenfalls gebrüllt hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte auch er es
+getan. Aber zu hören war ja nichts.
+
+Der dritte Brecher, der schwerste dieses Zuges, war herangestürmt.
+
+Die Empreß war bereits verschieden, als wäre sie vor Schreck gestorben.
+Der dritte Brecher, obgleich er mit donnerndem Branden herangejagt kam,
+nahm den Leichnam der Kaiserin von Madagaskar leicht auf wie eine leere
+Seidenhülle. Er tat es trotz seines rauhen Tobens kosend und
+streichelnd. Er hob den Leichnam hoch, drehte ihn der ganzen Länge nach
+in einem Halbkreise herum und ohne ihn noch einmal auf den Fels krachen
+zu lassen und sich an dem Brechen der Knochen zu erfreuen, legte er ihn
+sanft und zärtlich auf die Seite.
+
+„Spring weg und schwimm, Pippip, sonst kommen wir in den Schlucker,“
+schrie Stanislaw.
+
+Schwimm mal, wenn du eben eins über die Arme gekriegt hast von einem
+herumpfeifenden Lademast oder was es sein mochte.
+
+Aber ob ich schwimmen konnte oder nicht wollte, kam gar nicht in Frage.
+Der Nachzieher des letzten Brechers hatte mich abgeschwemmt und weit
+genug, um nicht vom Schlucker gefaßt zu werden. Ein paar Minuten würde
+die Empreß ja noch machen, ehe sie endgültig wegschluckt und strudelt.
+Das Achterschiff hat ja noch kaum Wasser gekriegt.
+
+„Hoiho!“ hörte ich jetzt Stanislaw schreien. „Wo steckst du?“
+
+„Komm, hier. Ich klebe gut. Platz genug“, brüllte ich hinaus in die
+Finsternis. „Hallo. Hier. Hoiho!“ Immer wieder rief ich es, um Stanislaw
+die Richtung zu geben.
+
+Er kam auch immer näher. Endlich hatte er gepackt und kletterte hoch.
+
+
+ 48
+
+„Was ist denn das, wo wir drauf sind?“ fragte Stanislaw.
+
+„Weiß ich selbst nicht. Mit einemmal war ich drauf, weiß gar nicht, wie
+es zuging. Ich denke, daß es eine Wand vom Ruderhaus ist. Hier sind die
+Haltegriffe überall.“
+
+„Sicher. Ist vom Ruderhaus“, bestätigte Stanislaw.
+
+„Gut, daß die Esel noch nicht alles aus Eisen machen und manchmal noch
+ein paar Stückchen Holz übriglassen. In den alten Schwarten siehst du
+immer den Schiffsjungen an einen Mast angeklammert, auf dem er sich
+rettet und mit dem er losschwimmt. Das ist heute aus. Die Masten sind
+auch schon aus Eisen, und wenn du dich dran festklammerst, kannst du dir
+auch ebenso gut einen Stein an den Bauch hängen. Wenn du wieder mal so
+ein Bild siehst, dann sag ruhig, der Maler ist ein Schwindler.“
+
+„Du hast aber einen Redefluß unter diesen verdammten Umständen hier“,
+kritisierte Stanislaw.
+
+„Ja, du Esel, soll ich denn hier jammern und Trauer flöten? Wer weiß, ob
+ich dir in einer Viertelstunde noch erzählen kann, daß man sich heute
+nicht mehr auf Maste verlassen darf. Und das muß gesagt werden, denn das
+ist wichtig.“
+
+„Bürsten und Bimsstein, da sind wir ja nochmal glatt davongekommen“,
+rief er nun.
+
+„Kreuzverhagelt nochmal“, schrie ich ihn an. „Halt dein
+gotteslästerliches Maul, verflucht nochmal. Schreist ja das ganze
+Gesindel heran. Wenn du im Trocknen sitzt, dann freu’ dich im stillen,
+aber schrei es nicht raus so unverschämt. Ich gebe mir die größte Mühe,
+das in unauffälliger und höchst eleganter Form zu sagen und vornehm zu
+umschreiben, was ich meine, und du Prolet brüllst das glatt hinaus.“
+
+„Rede nicht so große Töne. Jetzt ist doch alles egal, ist doch alles im
+–.“
+
+Mit diesem Stanislaw ist nichts zu erreichen, die Redewendungen, die er
+zuweilen braucht, werden mich noch veranlassen, seine Gesellschaft zu
+meiden.
+
+„Alles egal?“ wiederholte ich. „Ich denke ja gar nicht dran. Alles egal
+ist blöd. Es ist nie etwas egal. Jetzt geht das Vergnügen ja erst
+richtig los. Bisher haben wir uns nur um Papiere herumgeschlagen, dann
+mit dem Rattenfraß, dann wieder mit den verfluchten Rosten. Jetzt geht
+es endlich um den letzten Atemzug, mit dem wir uns herumzuschlagen
+haben. Alles übrige, was ein Mensch haben kann, ist weg. Alles, was wir
+noch haben, ist der Atem. Und so schnell und willig laß ich mir den
+nicht auch noch wegnehmen.“
+
+„Ein Vergnügen denke ich mir aber anders“, sagte Stanislaw.
+
+„Sei nicht undankbar, Lawski. Ich sage dir, es ist ein höllisches
+Vergnügen, sich mit den Fischen um den Bissen zu prügeln, wenn man der
+Bissen sein soll.“
+
+Stanislaw hatte natürlich durchaus recht. Es war kein Vergnügen. Man
+mußte sich ankrallen an den Handgriffen wie toll, um nicht
+runtergeschwemmt zu werden. Die Brecher fühlte man nicht so hart auf der
+schwimmenden Wand hier wie auf dem Schiff, weil die Brecher die Wand mit
+hoch nahmen und nicht in voller Wucht darüber hinwegbrandeten. Aber
+getaucht wurden wir doch oft genug, damit wir auch nicht vergessen
+sollten, wo wir waren.
+
+„Ich denke, wir müssen nun etwas tun“, sagte ich. „Meine Arme sind so
+zerknüppelt, ich kann nicht mehr lange halten.“
+
+„Wollen wir festlegen“, sagte Stanislaw. „Ich gebe dir hier mein
+Tauende, und ich nehme deinen Bindfaden. Ich kann schon besser halten.
+Der Bindfaden ist ja lang genug, daß man ihn dreifach nehmen kann.“
+
+Stanislaw half nun, mich mit dem Tau festzuholen; ich konnte es mit
+meinen lahmen Armen nicht gut allein tun. Dann band er sich ebenfalls
+fest, und wir warteten nun auf die Geschehnisse.
+
+Keine Nacht ist so lang, daß sie nicht endlich doch vorübergeht und dem
+Tage weichen muß.
+
+Mit dem neuen Tage ließ das schwere Wetter nach, aber der hohe Seegang
+blieb.
+
+„Siehst du was von Land?“ fragte Stanislaw.
+
+„Nein. Ich wußte es ja, so leicht werde ich kein Entdecker neuer
+Erdteile. Wenn nichts vor der Nase liegt, sehe ich keins.“
+
+Plötzlich sagte Stanislaw: „Mensch, ich habe ja den Kompaß. War gut, daß
+du ihn fandest.“
+
+„Ja, ein Kompaß ist eine feine Sache, Lawski. Können wir immer sehen, in
+welcher Richtung die afrikanische Küste liegt. Aber ein Segel wäre mir
+lieber als zehn Kompasse.“
+
+„Kannst nichts mit einem Segel machen auf dem Brett.“
+
+„Warum nicht? Wenn Seebrise auf Land geht, gehen wir mit.“
+
+„Wir werden wohl woandershin mitgehen, Pippip.“
+
+Am Nachmittag wurde es wieder diesig und ein leichter Nebel legte sich
+über die See. Er wirkte beruhigend auf das Toben des Meeres.
+
+Die unermeßliche Weite der See wurde immer kleiner. Bald hatten wir die
+Täuschung, daß wir nur auf einem Binnensee seien. Dann wurde auch der
+See kleiner und kleiner und endlich glaubten wir, auf einem Flusse
+dahinzugleiten. Es schien, als ob wir die Ufer mit den Händen ergreifen
+könnten, und ehe wir einschliefen, sagte bald Stanislaw, bald ich: „Da
+ist das Ufer, laß uns runtergehen und das kleine Stückchen
+rüberschwimmen. Kannst es ganz deutlich sehen, es sind noch keine
+hundert Schritt.“
+
+Aber wir waren zu müde, um uns loszubinden und diese hundert Schritte zu
+schwimmen.
+
+Wir sprachen dann kaum noch und schliefen ein.
+
+Als ich erwachte, war es Nacht.
+
+Der dunstige Nebel lag noch immer auf dem Meer. Aber hoch in den Lüften
+sah ich Sterne funkeln. Zu beiden Seiten sah ich die Ufer des Flusses,
+auf dem wir hinglitten. Zuweilen wurde an einem der Ufer der Nebel
+dünner, und ich sah die tausende funkelnden Lichter des nahen Hafens. Es
+war ein großer Hafen. Er hatte hohe Wolkenkratzer und Miethäuser, deren
+Fenster alle erleuchtet waren. Und hinter den Fenstern saßen die Leute
+traulich beisammen und wußten nichts davon, daß hier auf dem Flusse zwei
+Tote dahinglitten.
+
+Und die Wolkenkratzer und die hohen Wohnhäuser wuchsen und wuchsen.
+Welch ein gewaltiger Hafen war es, an dem wir vorüberglitten. Immer
+höher und höher wuchsen die Wolkenkratzer bis sie endlich den Himmel
+erreichten. Und die tausende funkelnden Lichter des Hafens, der
+Wolkenkratzer und der traulichen Wohnhäuser, wo man nichts wußte von den
+vorübergleitenden Toten, waren wie Sterne des Himmels. Und oben steil
+über meinem Haupte trafen die Wolkenkratzer zusammen, und ich sah ihre
+Fenster leuchten, und ich hoffte, die Gebäude möchten zusammenbrechen
+und mich unter sich begraben. Es war die große Sehnsucht des Toten,
+begraben zu werden und nicht mehr wandern zu müssen.
+
+Ich bekam Angst und rief: „Stanislaw. Da ist ein großer Hafen. Sieht aus
+wie New York.“
+
+Stanislaw wurde munter, guckte sich um, sah durch den dünnen Nebel zu
+den Ufern des Flusses, rieb sich die Augen, guckte hoch über sich und
+sagte dann: „Du träumst, Pippip, die Lichter des großen Hafens sind
+Sterne. Da ist auch kein Ufer. Wir sind auf hoher See. Spürst du doch an
+den langen Wellen.“
+
+Er konnte mich nicht überzeugen. Ich wollte nun doch zum Ufer schwimmen
+und den großen Hafen erreichen. Aber als ich das Tau lösen wollte,
+fielen mir die Hände schlaff herunter, und ich schlief ein.
+
+Durst und Hunger machten mich wach. Es war Tag.
+
+Stanislaw sah mich an mit verquollenen Augen. Mein Gesicht war
+verkrustet von dem Salzwasser. Ich bemerkte, wie Stanislaw würgte, als
+wollte er seine eigne Zunge kauen oder als sei sie ihm im Wege und lege
+sich vor die Luftröhre.
+
+In seinen Augen glomm Wut auf, und er rief mit rauher Stimme: „Du hast
+immer gesagt, das Wasser auf der Yorikke stinkt. Das ist nicht wahr. Das
+ist Quellwasser, ganz frisches, klares Quellwasser aus dem Tannenwalde.“
+
+„Das Wasser stank nie,“ bestätigte ich, „das Wasser war Eiswasser. Und
+der Kaffee war guter Kaffee. Ich habe nie etwas gegen den Kaffee auf der
+Yorikke gesagt.“
+
+Stanislaw schloß die Augen. Doch nicht lange darauf schreckte er
+zusammen und schrie: „Zwanzig vor fünf, Pippip, raus. Hol’ das
+Frühstück. Hiev die Asche. Das Frühstück zuerst. Pellkartoffeln und
+Rauchhering. Den Kaffee. Viel Kaffee. Bring Wasser mit.“
+
+„Ich kann nicht aufstehen“, gab ich ihm zur Antwort. „Bin gebrochen. Zu
+müde. Mußt heute allein hieven. Wo ist denn der Kaffee?“
+
+Wie war das? Ich hörte Stanislaw schreien, aber er war zwei Meilen fort.
+Und meine Stimme war auch zwei Meilen weit fort von mir.
+
+Nun brachen auch noch drei Feuertüren auf und die Hitze war nicht zu
+ertragen. Ich lief zur Windhuze, um Atem zu schöpfen. Aber der spanische
+Heizer schrie: „Pippip, die Feuertüren zu, der Dampf fällt.“
+
+Aller Dampf fiel in den Kesselraum, und es wurde immer heißer. Ich lief
+zum Trog, wo das Schlackenlöschwasser drin war, um meinen Durst zu
+löschen, aber es schmeckte salzig und widerlich. Ich schnappte und
+schnappte und trank es wieder, und der Feuerungskanal stand ganz weit
+offen über meinem Kopfe am Himmel und war die Sonne, und ich trank
+Seewasser.
+
+Dann schlief ich wieder ein und die Türen der Feuerkanäle waren
+geschlossen und der Heizer goß den Trog mit dem Schlackenwasser über den
+Kesselraum, und ich war auf dem offnen Meer und ein Wellenkamm war über
+die Wand hinweggebrochen.
+
+„Da ist die Yorikke!“ schrie Stanislaw viele Meilen weit fort von mir.
+„Das ist das Totenschiff. Der Hafen. Der Norweger liegt da. Er hat
+Eiswasser. Siehst du nicht, Pippip?“
+
+Mit beiden Armen, die Fäuste geballt, deutete Stanislaw über das weite
+Meer.
+
+„Wo ist die Yorikke?“ rief ich.
+
+„Siehst du sie denn nicht, Mensch? Da liegt sie ja. Sechs Roste sind
+rausgefallen. Verflucht. Jetzt acht. Himmelkreuzdonnerwetter! Wo ist der
+Kaffee, Pippip? Habt ihr wieder alles weggesoffen. Das ist keine
+Schmierseife, du Hund, das ist Butter. Gib den Tee jetzt her, verflucht
+nochmal.“
+
+Stanislaw fuhr herum, bald zeigte er in diese Richtung, bald in jene.
+Immer fragte er, ob ich denn die Yorikke und den Hafen nicht sähe.
+
+Aber mir war das gleichgültig. Es tat mir weh, den Kopf nach dem Hafen
+zu drehen.
+
+„Wir kommen ab! Wir kommen ab!“ brüllte nun Stanislaw. „Ich muß rüber
+zur Yorikke. Die Roste sind alle raus. Der Heizer liegt im Kessel. Wo
+ist das Wasser? Habt ihr denn keinen Kaffee mehr für mich gelassen? Ich
+muß rüber, rüber, rüber.“
+
+Er zerrte nun an dem Bindfaden, um ihn zu lösen. Er konnte aber die
+Knoten nicht öffnen. Er drehte wie unsinnig an den Knoten und verknotete
+sie immer mehr.
+
+„Wo ist die Schaufel?“ rief er. „Ich muß das Tau kappen.“
+
+Aber der Bindfaden hielt nicht lange. Stanislaw zerrte, riß und
+scheuerte mit solcher Kraft an den dreifach gedrehten Verschnürungen,
+daß er sich immer weiter daraus hervorwinden konnte. Die letzten Stringe
+riß er durch.
+
+„Die Yorikke fährt weg. Schnell, Pippip. Der Norweger hat Eiswasser. Er
+winkt mit der Kanne. Ich bleibe nicht auf dem Totenschiff.“
+
+Immer wilder brüllte Stanislaw.
+
+Er hing nur noch am Fuß fest, und jetzt zerrte er auch dort die Stringe
+los.
+
+Ich sah das alles in meilenweiter Ferne, wie auf einem Bilde oder durch
+ein Fernrohr.
+
+„Da ist die Yorikke. Der Skipper tippt an die Mütze.“ Stanislaw rief es
+und sah mich an mit starren Augen. „Komm rüber, Pippip. Tee und
+Rosinenstollen mit Kakao und Wasser.“
+
+Ja, da lag die Yorikke. Ich sah sie deutlich liegen. Erkannte sie an
+ihrem bunten närrischen Kleide und an ihrer Brücke, die immer in der
+Luft hängen blieb und von irgendeinem Schiff zurückgelassen worden war,
+das sie nichts anging.
+
+Da war die Yorikke, und jetzt hatten sie Frühstück oder Abendessen oder
+Pflaumen in blauem Stärkeschleim. Der Tee war nicht schlecht. Das war
+Lüge und Verleumdung. Der Tee war gut auch ohne Zucker und Milch. Und
+das Trinkwasser stank nicht.
+
+Ich begann, an meinem Tau zu knoten. Aber ich bekam den Knoten nicht
+auf. Dann rief ich Stanislaw, er möge mir helfen, den Knoten
+aufzuziehen. Aber er hatte keine Zeit. Er wurde mit seinem Fuße nicht
+fertig und arbeitete wie toll, um den Fuß loszukriegen. Nun gehen auch
+noch die Wunden auf, die man ihm auf dem Kopfe geschlagen hatte. Das
+Blut sickert über sein Gesicht, aber er läßt sich nicht stören.
+
+Und ich zerrte und zerrte an meinen Banden. Aber das Tau war zu dick.
+Ich konnte es nicht durchscheuern und konnte meine Glieder nicht
+herauswinden. Ich verstrickte mich immer mehr. Dann suchte ich nach der
+Axt, nach dem Messer und endlich nach der Schaufel, die wir glatt
+geklopft hatten, um einen hölzernen Mast daraus zu machen, aber der
+Kompaß fiel immer wieder ins Wasser, und ich mußte ihn mit dem
+durchgebrannten Rost fischen. Das Tau gab nicht nach. Der Knoten zog
+sich immer fester. Das versetzte mich in namenlose Wut.
+
+Stanislaw hatte seinen Fuß jetzt los.
+
+Er drehte sich halb um nach mir und rief: „Komm rüber, Pipplaw. Sind nur
+zwanzig Schritte zu laufen. Die Roste sind alle raus, und es ist
+Wasserminute vor fünf. Aufstehen. Rasch auf. Raus. Asche hieven.“
+
+Aber die Aschenhieve kreischte: „Da ist keine Yorikke!“ Und ich schrie,
+so laut ich konnte: „Da ist keine Yorikke! Da ist keine Yorikke! Da ist
+keine Yorikke!“
+
+Ich klammerte mich an das Tau in furchtbarer Angst; denn die Yorikke war
+fort, und ich sah nur Meer, Meer, sah nichts als die gleichmäßigen Wogen
+der See.
+
+„Stasinkowslow, spring nicht!“ Ich schrie es in namenloser Angst; denn
+ich konnte seinen Namen nicht finden, der mir aus der Hand gerutscht
+war. „Stanislaw, nicht springen! Nicht springen! Nicht. Bleib hier!“
+
+„Die holt den Anker ein. Ich gehe nicht auf ein Totenschiff. Ich renne
+rüber zur Yorikke. Renne, ich renne, renne. Rüber. Komm!“
+
+Und er sprang. Er sprang. Da war kein Hafen. Da war kein Schiff. Da war
+kein Ufer. Alles See. Alles Wogen.
+
+Er tat nur ein paar patschende Schläge. Dann sank er für immer weg. Ich
+starrte rüber zu dem Loch, in das er gefallen war. Ich sah es in
+unendlich weiter Ferne. Und ich rief: „Stanislaw! Lawski! Bruder!
+Lieber, lieber Kamerad, komm hierher! Hoiho! Hoiho! Hierher! Hierher!“
+
+Er hörte nicht. Er kam nicht. Er kam nicht mehr hoch. Er tauchte nicht
+mehr auf. Da war kein Totenschiff. Da war kein Hafen. Da war keine
+Yorikke. Er tauchte nicht mehr auf, no, Sir.
+
+Und das war merkwürdig. Er tauchte nicht mehr auf, und ich konnte es
+nicht fassen, wie das zuging.
+
+Er hatte angemustert für große Fahrt, für ganz große Fahrt. Aber wie
+konnte er nur mustern? Er hatte doch kein Seefahrtsbuch. Sie würden ihn
+gleich wieder runterfeuern.
+
+Aber er kam nicht hoch. Der große Kapitän hatte ihn gemustert. Und treu
+hatte er ihn gemustert, auch ohne Papiere.
+
+„Komm, Stanislaw Koslowski“, sagte der große Kapitän, „komm, ich mustere
+dich treu und ehrlich für große Fahrt. Laß nur die Papiere. Brauchst
+keine bei mir. Fährst auf treuem und ehrlichem Schiff. Geh zum Quartier,
+Stanislaw. Kannst du lesen, was über der Tür steht?“
+
+Und Stanislaw sagte: „Ja, Käp’n. Wer hier eingeht, ist ledig aller
+Qualen!“
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 48]:
+ ... können einen manchmal besser voranhelfen als die ...
+ ... können einem manchmal besser voranhelfen als die ...
+
+ [S. 81]:
+ ... einem Fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was
+ ich bis jetzt ...
+ ... einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was
+ ich bis jetzt ...
+
+ [S. 155]:
+ ... Straße gehen kannst, könntet du ja vielleicht wieder
+ lebendig werden. ...
+ ... Straße gehen kannst, könntest du ja vielleicht wieder
+ lebendig werden. ...
+
+ [S. 171]:
+ ... Ein weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
+ festgemacht. ...
+ ... Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte
+ festgemacht. ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 ***
diff --git a/75907-h/75907-h.htm b/75907-h/75907-h.htm
new file mode 100644
index 0000000..35a26a8
--- /dev/null
+++ b/75907-h/75907-h.htm
@@ -0,0 +1,16007 @@
+<!DOCTYPE html>
+<html lang="de">
+<head>
+<meta charset="UTF-8">
+<title>Das Totenschiff | Project Gutenberg</title>
+ <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover">
+ <!-- TITLE="Das Totenschiff" -->
+ <!-- AUTHOR="B. Traven" -->
+ <!-- LANGUAGE="de" -->
+ <!-- PUBLISHER="Buchmeister, Berlin, Leipzig" -->
+ <!-- DATE="1926" -->
+ <!-- COVER="images/cover.jpg" -->
+
+<style>
+
+body { margin-left:15%; margin-right:15%; }
+
+div.frontmatter { page-break-before:always; }
+.pub { text-indent:0; text-align:center; padding-top:3em; margin-bottom:3em; }
+h1.title { text-indent:0; text-align:center; padding-top:2em; margin:0; }
+.subt { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:0; }
+.aut { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; }
+.cop { text-indent:0; text-align:center; padding-top:4em; margin-bottom:1em; }
+.cop2 { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; }
+
+div.chapter{ page-break-before:always; }
+h2 { text-indent:0; text-align:center; padding-top:4em;
+ margin-top:0; margin-bottom:2em; }
+div.chapter h2 { padding-top:4em; } /* undo pgepub.css */
+h3 { text-indent:0; text-align:center; padding-top:2em;
+ margin-top:0; margin-bottom:1em; }
+h3.chapter { text-align:right; }
+h4 { text-indent:0; text-align:center; margin-top:2em; margin-bottom:1em; }
+
+p { margin:0; text-align:justify; text-indent:1em; }
+p.noindent { text-indent:0; }
+p.dropart { text-indent:0; }
+span.firstchar { float:left; margin-top:-1em; }
+span.firstchar img { max-width:7em; max-height:8em; margin:0; padding:0; }
+span.prefirstchar { display:none; }
+p.center { text-indent:0; text-align:center; margin:1em; }
+p.ibr { /* guessed para-break */ }
+
+.keep-nu-html-checker-happy { }
+
+/* "emphasis"--used for spaced out text */
+em { font-style:italic; }
+
+.underline { text-decoration: underline; }
+.hidden { display:none; }
+
+
+/* poetry */
+div.poem-container { text-align:center; }
+div.poem-container div.poem { display:inline-block; }
+div.stanza { text-align:left; text-indent:0; margin-top:1em; margin-bottom:1em; }
+.stanza .verse { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:2em; }
+.stanza .verse1 { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:4em; }
+.stanza .verse2 { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:6em; }
+div.center .stanza .verse { text-align:center; text-indent:0; margin-left:0; }
+
+a:link { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); }
+a:visited { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); }
+a:hover { text-decoration: underline; }
+a:active { text-decoration: underline; }
+
+/* Transcriber's note */
+.trnote { font-size:0.8em; line-height:1.2em; background-color: #ccc;
+ color: #000; border: black 1px dotted; margin: 2em; padding: 1em;
+ page-break-before:always; margin-top:3em; }
+span.trnote { font-size:inherit; line-height:inherit; background-color: #ccc;
+ color: #000; border:0; margin:0; padding:0;
+ page-break-before:avoid; margin-top:0em; }
+.trnote p { text-indent:0; margin-bottom:1em; }
+.trnote ul { margin-left: 0; padding-left: 0; }
+.trnote li { text-align: left; margin-bottom: 0.5em; margin-left: 1em; }
+.trnote ul li { list-style-type: square; }
+.trnote .transnote { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; }
+
+/* page numbers */
+a[title].pagenum { position: absolute; right: 1%; }
+a[title].pagenum:after { content: attr(title); color: gray; background-color: inherit;
+ letter-spacing: 0; text-indent: 0; text-align: right; font-style: normal;
+ font-variant: normal; font-weight: normal; font-size: x-small;
+ border: 1px solid silver; padding: 1px 4px 1px 4px;
+ display: inline; }
+
+div.centerpic { text-align:center; text-indent:0; display:block; }
+img { max-width:100%; }
+
+body.x-ebookmaker { margin-left:0; margin-right:0; }
+.x-ebookmaker div.poem-container div.poem { display:block; margin-left:2em; }
+.x-ebookmaker div.center div.poem-container div.poem { display:block; margin-left:0; }
+.x-ebookmaker em { letter-spacing:0; margin-right:0; font-style:italic; }
+.x-ebookmaker span.firstchar { float:left; }
+.x-ebookmaker a.pagenum { display:none; }
+.x-ebookmaker a.pagenum:after { display:none; }
+.x-ebookmaker .trnote { margin:0; }
+
+</style>
+</head>
+
+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 ***</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="pub">
+BUCH<br>
+MEISTER<br>
+VERLAG<br>
+G. M. B. H.<br>
+BERLIN LEIPZIG<br>
+1926
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<h1 class="title" title="DAS TOTENSCHIFF">
+DAS<br>
+TOTEN<br>
+SCHIFF
+</h1>
+
+<p class="subt">
+DIE GESCHICHTE<br>
+EINES<br>
+AMERIKANISCHEN<br>
+SEEMANNS
+</p>
+
+<p class="aut">
+VON<br>
+B. TRAVEN
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="cop">
+ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H.
+BERLIN / BUCHBINDEARBEITEN DER LEIPZIGER BUCHBINDEREI A.-G.
+VORM. GUSTAV FRITZSCHE / NACHDRUCK VERBOTEN / ALLE RECHTE,
+INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN
+</p>
+
+<p class="cop2">
+COPYRIGHT 1926 BY B. TRAVEN
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-1">
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+ERSTES BUCH
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="epi" id="chapter-1-1">
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+SONG OF AN AMERICAN SAILOR
+</h3>
+
+</div>
+
+<div class="center">
+ <div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">NOW STOP THAT CRYING, HONEY DEAR,</p>
+ <p class="verse">THE JACKSON SQUARE REMAINS STILL HERE</p>
+ <p class="verse">IN SUNNY NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">IN LOVELY LOUISIANA</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">SHE THINKS ME BURIED IN THE SEA,</p>
+ <p class="verse">NO LONGER DOES SHE WAIT FOR ME</p>
+ <p class="verse">IN SUNNY NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">IN LOVELY LOUISIANA</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">THE DEATH-SHIP IS IT I AM IN,</p>
+ <p class="verse">ALL HAVE I LOST, NOTHING TO WIN</p>
+ <p class="verse">SO FAR OFF SUNNY NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">SO FAR OFF LOVELY LOUISIANA</p>
+ </div>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="epi" id="chapter-1-2">
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+LIED EINES AMERIKANISCHEN SEEMANNS
+</h3>
+
+</div>
+
+<div class="center">
+ <div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">MÄDEL, HEUL DOCH NICHT SO SEHR,</p>
+ <p class="verse">WART’ AUF MICH AM JACKSON SQUARE</p>
+ <p class="verse">IM SONN’GEN NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">IM LIEBEN LOUISIANA</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">MEIN MÄDEL GLAUBT, ICH LIEG IM MEER,</p>
+ <p class="verse">SIE STEHT NICHT MEHR AM JACKSON SQUARE</p>
+ <p class="verse">IM SONN’GEN NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">IM LIEBEN LOUISIANA</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">DOCH ICH LIEG NICHT AN EINEM RIFF,</p>
+ <p class="verse">ICH FAHRE AUF DEM TOTENSCHIFF</p>
+ <p class="verse">SO FERN VOM SONN’GEN NEW ORLEANS</p>
+ <p class="verse">SO FERN VOM LIEBEN LOUISIANA</p>
+ </div>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-3">
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+1
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> hatten eine volle Schiffsladung Baumwolle von
+New Orleans ’rübergebracht nach Antwerpen mit
+der S. S. Tuscaloosa.
+</p>
+
+<p>
+Sie war ein feines Schiff. Verflucht nochmal, das ist
+wahr. First rate steamer, made in U. S. A. Heimatshafen
+New Orleans. Oh, du sonniges, lachendes New
+Orleans, so ungleich den nüchternen Städten der vereisten
+Puritaner und verkalkten Kattunhändler des
+Nordens! Und was für herrliche Quartiere für die Mannschaft. Endlich
+einmal ein Schiffbauer, der den revolutionären Gedanken gehabt hatte,
+daß die Mannschaft auch Menschen seien und nicht nur Hände. Alles
+sauber und nett. Bad und viel saubere Wäsche und alles moskitodicht.
+Die Kost war gut und reichlich. Und es gab immer saubere Teller und
+geputzte Messer, Gabeln und Löffel. Da waren Niggerboys, die nichts
+andres zu tun hatten, als die Quartiere sauberzuhalten, damit die
+Mannschaft gesund bliebe und bei guter Laune. Die Kompanie hatte
+endlich entdeckt, daß sich eine gutgelaunte Mannschaft besser bezahlt
+macht als eine verlotterte.
+</p>
+
+<p>
+Zweiter Offizier? No, Sir. Ich war nicht Zweiter Offizier auf diesem
+Eimer. Ich war einfacher Deckarbeiter, ganz schlichter Arbeiter. Sehen
+Sie, Herr, Matrosen gibt es ja kaum noch, werden auch gar nicht mehr
+verlangt. So ein modernes Frachtschiff ist gar kein eigentliches Schiff
+mehr. Es ist eine schwimmende Maschine. Und daß eine Maschine
+Matrosen zur Bedienung braucht, glauben Sie ja gewiß selbst nicht,
+auch wenn Sie sonst nichts von Schiffen verstehen sollten. Arbeiter
+braucht diese Maschine und Ingenieure. Sogar der Skipper, der Kapitän,
+ist heute nur noch ein Ingenieur. Und selbst der A. B., der am Ruder
+steht und noch am längsten als Matrose angesehen werden konnte, ist
+heute nur noch ein Maschinist, nichts weiter. Er hat nur die Hebel auszulösen,
+die der Rudermaschine die Drehungsrichtung angeben. Die
+Romantik der Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der
+Meinung, daß solche Romantik nie bestanden hat. Nicht auf den Segelschiffen
+und nicht auf der See. Diese Romantik hat immer nur in der
+Phantasie der Schreiber jener Seegeschichten bestanden. Jene verlogenen
+Seegeschichten haben manchen braven Jungen hinweggelockt
+zu einem Leben und zu einer Umgebung, wo er körperlich und seelisch
+zugrunde gehen mußte, weil er nichts sonst dafür mitbrachte als seinen
+Kinderglauben an die Ehrlichkeit und an die Wahrheitsliebe jener
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Geschichtenschreiber. Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine
+Romantik einmal bestanden hat, für die Mannschaft nie. Die Romantik
+der Mannschaft ist immer nur gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und
+eine tierische Behandlung. Kapitäne und Steuerleute erscheinen in
+Opern, Romanen und Balladen. Das Hohelied des Helden, der die
+Arbeit tat, ist nie gesungen worden. Dieses Hohelied wäre auch zu
+brutal gewesen, um das Entzücken derer wachzurufen, die das Lied gesungen
+haben wollten. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Ich war nur eben gerade schlichter Deckarbeiter, das war alles. Hatte
+alle Arbeit zu machen, die vorkam. Richtig gesagt, war ich nur ein Anstreicher.
+Die Maschine läuft von selbst. Und da die Arbeiter beschäftigt
+werden müssen und andre Arbeit nur in Ausnahmefällen ist, wenn nicht
+Laderäume gereinigt werden sollen oder etwas repariert werden muß,
+so wird immer angestrichen. Von morgens bis abends, und das hört nie
+auf. Da ist immer etwas, das angestrichen werden muß. Eines Tages
+wundert man sich dann ganz ernsthaft über dieses ewigwährende Anstreichen,
+und man kommt ganz nüchtern zu der Auffassung, daß alle
+übrigen Menschen, die nicht zur See fahren, nichts andres tun, als Farbe
+anfertigen. Dann empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegen diese
+Menschen, weil, wenn sie sich eines Tages weigerten, noch weiter Farbe
+zu machen, der Deckarbeiter nicht wüßte, was er tun soll, und der Erste
+Offizier, unter dessen Kommando die Deckarbeiter stehen, in Verzweiflung
+geriete, weil er nicht wüßte, was er nun den Deckhands
+kommandieren soll. Sie können doch ihr Geld nicht umsonst bekommen.
+No, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten.
+Aber wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede
+Monatsheuer sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre
+während der ganzen Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig
+Jahre unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht
+zur Ruhe setzen, könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren
+Arbeitens und Sparens mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der
+Mittelklasse zählen. Zu jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt,
+ich habe einen kleinen Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage.
+Und da diese Volksschicht jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in
+seinen Fundamenten erhält, so würde ich dann ein wertvolles Mitglied
+der menschlichen Gesellschaft genannt werden können. Dieses Ziel erreichen
+zu können, ist fünfzig Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das
+Jenseits hat man sich dann gesichert und das Diesseits für andre.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+Ich machte mir nichts daraus, mir die Stadt anzusehen. Ich mag Antwerpen
+nicht leiden. Da treiben sich so viele schlechte Seeleute und ähnliche
+Elemente herum. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen
+nur selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind
+nicht die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen,
+sondern die kleinen Steinchen und Körnchen.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten keine Ladung bekommen, und wir sollten in Ballast heimgehen.
+Die ganze Mannschaft war in die Stadt gegangen am letzten
+Abend vor der Heimfahrt. Ich war ganz allein im Forecastle. Des Lesens
+war ich müde, des Schlafens war ich müde, und ich wußte nicht, was ich
+mit mir anfangen sollte. Wir hatten um zwölf heute schon Feierabend
+gemacht, weil dann bereits die Wachen für die Fahrt verteilt wurden.
+Das war auch der Grund, warum alle in die Stadt gegangen waren, um
+noch einen Kleinen mitzunehmen, den wir zu Hause nicht haben konnten
+wegen der gesegneten Prohibition.
+</p>
+
+<p>
+Bald lief ich zur Reeling, um ins Wasser zu spucken, bald wieder lief
+ich in die Quartiere. Von dem ewigen Anstarren der leeren Quartiere
+und dem ewigen Herunterglotzen auf die langweiligen Hafenanlagen,
+Speicher, Stapelhäuser, auf die öden Kontorlöcher mit ihren trüben
+Fenstern, hinter denen man nichts sah als Briefordner und Haufen von
+beschriebenen Geschäftspapieren und Frachtbriefen, wurde mir ganz
+erbärmlich zumute. Es war so unsagbar trostlos. Es ging auf den Abend
+zu, und es war kaum eine Menschenseele in diesem Teil des Hafens
+zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Es überkam mich eine ganz dumme Sehnsucht nach dem Gefühl, festen
+Boden, Erde unter meinen Füßen zu haben, eine Sehnsucht nach einer
+Straße und nach Menschen, die schwatzend durch die Straße schlendern.
+Das war es: Ich wollte eine Straße sehen, just eine Straße, nichts
+weiter. Eine Straße, die nicht von Wasser umgeben ist, eine Straße, die
+nicht schwankt, die ganz fest steht. Ich wollte meinen Augen ein kleines
+Geschenk machen, ihnen den Anblick einer Straße gönnen.
+</p>
+
+<p>
+„Da hätten Sie früher kommen sollen,“ sagte der Offizier, „ich gebe
+jetzt kein Geld.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich brauche aber unbedingt zwanzig Dollar Vorschuß.“
+</p>
+
+<p>
+„Fünf können Sie haben, nicht einen Cent mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit einem Fünfer kann ich gar nichts anfangen. Ich muß zwanzig
+haben, sonst bin ich morgen krank. Wer soll denn dann vielleicht die
+Galley anstreichen? Vielleicht wissen Sie das? Ich muß zwanzig haben.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+„Zehn. Aber das ist nun mein letztes Wort. Zehn oder überhaupt nichts.
+Ich bin gar nicht verpflichtet, Ihnen auch nur einen Nickel zu geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, geben Sie zehn. Das ist zwar ein ganz gemeiner Geiz, der hier an
+mir verübt wird, aber wir müssen uns ja alles gefallen lassen, das ist
+man nun schon gewöhnt.“
+</p>
+
+<p>
+„Unterschreiben Sie die Quittung. Wir werden es morgen in die Listen
+übertragen. Dazu habe ich jetzt keine Lust.“
+</p>
+
+<p>
+Da hatte ich meinen Zehner. Ich wollte ja überhaupt nur zehn haben.
+Hätte ich aber gesagt zehn, so würde er auf keinen Fall mehr als fünf
+gegeben haben, und mehr als zehn konnte ich nicht gebrauchen, weil ich
+nicht mehr ausgeben wollte; denn was man einmal in der Tasche hat,
+kehrt nicht mehr heim, wenn man erst in die Stadt geht.
+</p>
+
+<p>
+„Betrinken Sie sich nicht. Das ist hier ein ganz böser Platz“, sagte der
+Offizier, als er die Quittung an sich nahm.
+</p>
+
+<p>
+Das war eine unerhörte Beleidigung. Der Skipper, die Offiziere und die
+Ingenieure betranken sich zweimal des Tages, solange wir nun schon
+hier lagen, aber mir wird gepredigt, mich nicht zu betrinken. Ich dachte
+gar nicht daran. Warum auch? Es ist so dumm und so unvernünftig.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Nein,“ gab ich zur Antwort, „ich nehme niemals einen Tropfen von
+diesem Gift. Ich weiß, was ich meinem Lande selbst in der Fremde
+schuldig bin. Yes, Sir. Ich bin Abstinenzler, knochentrocken. Können
+sich drauf verlassen, das bin ich. Ich glaube an die heilige Prohibition.“
+Raus war ich und runter vom Eimer.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-4">
+2
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> war eine lange schöne Sommerdämmerung. Ich
+schlurkste zufrieden mit der Welt durch die Straßen
+und konnte mir nicht denken, daß irgendjemand auf
+der Welt sei, dem diese Welt nicht gefallen möchte.
+Ich sah mir die Schaufenster an, und ich sah mir die
+Leute an, denen ich begegnete. Hübsche Mädels, verflucht
+nochmal, alles, was recht ist. Manche freilich
+beachteten mich gar nicht; die aber, die mich anlachten,
+waren gerade die hübschesten. Und wie nett sie lachen konnten!
+Dann kam ich zu einem Hause, dessen Front schön vergoldet war. Es
+sah so lustig aus, das ganze Haus und die Vergoldung. Die Türen waren
+weit offen und sagten: „Komm nur rein, Freund, just für eine kleine
+Weile, setz’ dich, mach dir’s bequem und vergiß deine Sorgen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+Ich hatte überhaupt keine Sorgen, aber es war doch drollig, daß jemand
+zu einem sagte, man möge die Sorgen vergessen. Das war so lieb. Und
+drinnen, in dem Hause, da waren schon eine ganze Menge Leute, und
+die waren alle so lustig, hatten ihre Sorgen vergessen, sangen und lachten,
+und da war so eine vergnügte Musik. Nur um zu sehen, ob das Haus
+drinnen ebenso vergoldet sei wie draußen, ging ich hinein und setzte
+mich auf einen Stuhl. Sofort kam ein Bursche, lachte mich an und setzte
+mir eine Flasche und ein Glas gerade vor die Nase. Man mußte es mir
+wohl an der Nasenspitze ansehen, denn er sagte sofort in Englisch:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Bedienen Sie sich, mon ami, und seien Sie vergnügt wie alle die
+übrigen hier.“
+</p>
+
+<p>
+Nur fröhliche Gesichter rundherum, und wochenlang hat man nichts
+weiter vor Augen gehabt als Wasser und stinkende Farbe. Und so war
+ich halt vergnügt, und von jenem Augenblick an konnte ich mich auf
+nichts Bestimmtes mehr besinnen. Ich tadele nicht jenen freundlichen
+Burschen, wohl aber die Prohibition, die uns so schwach gegenüber Versuchungen
+macht. Gesetze machen immer schwach, weil es einem in der
+Natur liegt, Gesetze zu übertreten, die andre gemacht haben.
+</p>
+
+<p>
+Die ganze Zeit hindurch war ein ganz drolliger Nebel immer um mich
+herum, und spät in der Nacht fand ich mich in dem Zimmer eines hübschen
+lachenden Mädchens. Endlich sagte ich zu ihr: „Well, Mademoiselly,
+wie spät haben wir es denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh,“ sagte sie mit ihrem hübschen Lachen, „du hübscher Junge –“
+Yes, Gentlemen, ganz gewiß, das sagte die Mademoiselly zu mir,
+„hübscher Junge, o du hübscher Junge,“ sagte sie, „nun sei kein
+Spaßverderber, sei ein Kavalier, laß eine zarte junge Dame nicht allein
+um Mitternacht. Da können vielleicht Einbrecher in der Nähe sein, und
+ich bin so schrecklich furchtsam, die Einbrecher könnten mich vielleicht
+gar ermorden.“
+</p>
+
+<p>
+Na, ich kenne doch die Pflicht eines rotblütigen amerikanischen Jungen
+unter solchen Umständen, wenn er ersucht wird, einer hilflosen
+schwachen Dame beizustehen. Von meinem ersten Atemzuge an ist mir
+gepredigt worden: Benimm dich anständig in Gegenwart von Damen,
+und wenn dich eine Dame um etwas bittet, dann hast du zu flitzen und
+es zu tun, und wenn es dich das Leben kosten sollte.
+</p>
+
+<p>
+Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war
+keine Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer.
+Sie war heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen,
+ohne mich mitzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten, und denen die
+Mutter abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr
+Häuschen abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und
+ich habe Tiere gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen
+war. Das alles war sehr traurig. Aber das traurigste aller
+Dinge ist ein Seemann in fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren
+ist, ohne ihn mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben
+ist. Der Seemann, der übriggeblieben ist.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt, und das ihn
+weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er
+ist oft freiwillig zurückgeblieben und hat oft abgezeichnet, abgemustert
+aus Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder
+bedrückt. Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt, ohne
+ihn mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das
+tötende Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet,
+es kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter
+Nagel, der irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum
+Verhängnis werden, der Seemann, der sich gestern noch so wichtig
+dünkte für das Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute
+weniger wert als jener alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt
+werden, der Seemann, der übriggebliebene, wird nicht vermißt, die
+Kompanie spart seinen Lohn. Ein Seemann ohne Schiff, ein Seemann,
+der nicht zu einem Schiff gehört, ist weniger als der Dreck auf der Gasse.
+Er gehört nirgends hin, niemand will etwas mit ihm zu tun haben.
+Wenn er jetzt da ins Meer springt und ersäuft wie eine Katze, niemand
+vermißt ihn, niemand wird nach ihm suchen. „Ein Unbekannter, offenbar
+ein Seemann“, das ist alles, was von ihm gesagt wird.
+</p>
+
+<p>
+Das ist ja recht lieblich, dachte ich, und jener Welle des Verzagtseins
+gab ich rasch ordentlich eins auf den Kamm, so daß sie sich davonmachte.
+Mache das Beste aus dem Schlechten, und das Schlechte verschwindet
+im Augenblick.
+</p>
+
+<p>
+Gosh, schiet den ollen Eimer, da sind andre Schiffe in der Welt, die
+Ozeane sind ja so groß und so weit. Kommt ein andres, ein besseres.
+Wieviel Schiffe gibt es auf der Welt? Sicher eine halbe Million. Davon
+wird doch eines einmal einen Deckarbeiter gebrauchen können. Und
+Antwerpen ist ein großer Hafen, da kommen sicher alle diese halbe
+Million Schiffe einmal her, irgendwann und irgendeinmal sicher. Muß
+man nur Geduld haben. Ich kann doch nicht erwarten, daß gleich da
+drüben schon so ein Kasten liegt und der Kapitän in Todesangst schreit:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+„Herr Deckarbeiter, kommen Sie schnell rauf zu mir, ich brauche einen
+Deckarbeiter, gehen Sie nicht zum Nachbar, ich flehe Sie an.“
+</p>
+
+<p>
+So sehr kümmerte ich mich auch wahrhaftig nicht um die treulose
+Tuscaloosa. Wer hätte das von diesem schönen Weibsbild gedacht? Aber
+so sind sie, alle, alle. Und sie hatte so saubere Quartiere und ein so gutes
+Essen. Jetzt haben sie gerade Breakfast, diese verfluchten Halunken,
+und essen meine Portion Ham and Eggs mit. Wenn sie wenigstens nicht
+der Slim kriegen wollte, denn diesem Hund von einem Bob gönne ich
+sie nicht. Aber der wird ja gleich der erste sein, der meine Sachen durchstöbert
+und sich das Beste heraussucht, ehe sie abgeschlossen werden.
+Diese Banditen werden die Sachen überhaupt nicht abschließen lassen,
+sie werden sie glatt unter sich verteilen und sagen, ich hätte nichts gehabt,
+diese Banditen, diese niederträchtigen. Dem Slim ist ja auch nicht
+zu trauen, er hat mir so schon immer die Toilettenseife gestohlen, weil er
+sich mit der Kernseife nicht waschen wollte, dieser geschniegelte Broadwayhengst.
+Yes, Sir, das machte der Slim, Sie hätten das nicht von ihm
+geglaubt, wenn Sie ihn gesehen hätten.
+</p>
+
+<p>
+Wahrhaftig nicht, so sehr kümmerte ich mich nicht um den davongelaufenen
+Kasten. Aber was mich ernsthaft bekümmerte, war, ich hatte
+nicht einen roten Cent in meiner Tasche. Jenes hübsche Mädchen hatte
+mir in der Nacht erzählt, daß ihre so herzinnig geliebte Mutter schwerkrank
+sei, und sie hätte kein Geld, um Arznei und kräftiges Essen zu
+kaufen. Ich wollte für den Tod der Mutter nicht verantwortlich sein,
+deshalb gab ich dem hübschen Mädchen alles Geld, das ich bei mir
+hatte. Ich wurde reichlich belohnt durch die tausend beglückten Danksagungen
+des Mädchens. Gibt es irgendetwas in der Welt, das beglückender
+wäre als die tausend Danksagungen eines hübschen Mädchens,
+dessen geliebte Mutter man soeben vom Tode errettet hat? No, Sir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-5">
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+3
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der
+Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und
+wünschte, daß sie auf einen Felsen aufbrennen möchte und
+so gezwungen wäre, zurückzukommen oder wenigstens die
+Mannschaft auszubooten und zurückzuschicken. Aber sie ging
+den Felsenriffen schön aus dem Wege, denn ich sah sie nicht
+zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von Herzen alle
+Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur begegnen
+können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, daß sie
+Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis unten
+ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen
+würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und
+daß sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, daß ihm
+sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge.
+</p>
+
+<p>
+Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem
+hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter
+und weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden,
+daß mir ganz schwindlig wurde.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: „Oh rats, lassen Sie mich in Ruh;
+ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges
+Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind Engländer, nicht wahr?“ fragte er nun in Englisch.
+</p>
+
+<p>
+„No, Yank.“
+</p>
+
+<p>
+„Aha, also Amerikaner.“
+</p>
+
+<p>
+„Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, daß Sie
+fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten“, sagte ich
+darauf. „Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig oder was haben Sie
+sonst für Sorgen?“
+</p>
+
+<p>
+„Seemann?“ fragte er weiter.
+</p>
+
+<p>
+„Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?“
+</p>
+
+<p>
+„Von welchem Schiff?“
+</p>
+
+<p>
+„Tuscaloosa von New Orleans.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Haben Sie keinen
+besseren Witz auf Lager? Der ist schon sehr alt und stinkt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo haben Sie Ihre Papiere?“ – „Was für Papiere?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+„Ihre Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+Ei, Schokoladencreme mit Appelsauce! Meine Seemannskarte? Die
+steckte in meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack und
+mein Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und
+die Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüßte,
+was sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der
+Nigger sicher wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas
+erzählen, wenn ich die Galley streichen komme.
+</p>
+
+<p>
+„Na, Ihre Seemannskarte. Verstehen doch, was ich meine.“
+</p>
+
+<p>
+„Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine
+Seemannskarte. Da muß ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe
+keine Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+„Keine Seemannskarte?“ Das hätte man hören müssen, in welch einem
+entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte:
+„Was, Sie glauben nicht, daß es Meerwasser gibt?“
+</p>
+
+<p>
+Ihm war das unfaßbar, daß ich keine Seemannskarte hatte, und er
+fragte es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar
+rein mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte
+hinzu: „Keine andern Papiere? Paß oder Identitätskarte oder etwas
+Ähnliches?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“ Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wußte,
+daß ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen
+bei mir hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie mit mir!“ sagte darauf der Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin kommen?“ fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der
+Mann vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein
+Rumboot gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen.
+Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rauf.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin? Das werden Sie gleich sehen.“ Daß der Mann besonders
+freundlich gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die
+Heuerbase sind nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten
+durchaus niemand kriegen können. Das also schien hier ein ganz
+wackeres Bötchen zu sein, auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht
+gedacht, daß ich so schnell wieder auf einen Eimer kommen würde.
+Glück muß man haben und nur nicht immer gleich verzagen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation.
+Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und
+durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war,
+fragte mich der Mann ganz trocken: „Keine Waffe? Keine Werkzeuge?“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können.
+Als ob ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches
+und eine Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können!
+Aber so sind die Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe
+es versteckt; denn daß man das nicht besitze, wonach sie suchen, das
+können sie nicht begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals
+wußte ich das noch nicht.
+</p>
+
+<p>
+Dann hatte ich mich vor einem Schreibpulte aufzustellen, an dem ein
+Mann saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher
+gestohlen. Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Photographien
+waren. Der Mann, der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer,
+weil wir uns sonst nicht hätten verständigen können. Als sie
+unsre Jungens brauchten, im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt
+ist das längst vorbei, und da brauchen sie nichts mehr zu wissen.
+</p>
+
+<p>
+Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah
+immer auf die Photographien und dann auf mich, oder genauer, auf
+mein Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln
+wurden nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit,
+und die nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre hatten es ja zu
+bezahlen, warum sollte er sich da beeilen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte
+er meine Photographie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht erinnern,
+daß ich mich jemals in Antwerpen hätte photographieren lassen.
+Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft,
+und ich sagte: „Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein
+Frühstück gehabt.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist recht“, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen
+Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren
+nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden.
+</p>
+
+<p>
+Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier
+scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz aufzubewahren.
+Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz bestimmt
+niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher
+nicht, no, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Ich möchte wissen, ob die Leute hier das wirklich Frühstück nennen.
+Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch
+nicht erholt. Oder wurde der Krieg nur darum gemacht, um sich größere
+Frühstücke zu verschaffen? Dann haben sie ihn sicherlich nicht gewonnen,
+was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, denn ein
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+solches Krümchen müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt
+haben, weil es das Minimum an Qualität und Quantität ist, das man
+gerade noch Frühstück nennen kann, weil man das Stück früh bekommt.
+</p>
+
+<p>
+Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht.
+</p>
+
+<p>
+„Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?“ Das wurde ich gefragt.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen
+und können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in
+Afrika immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie
+können vielleicht sehr schnell Soldaten brauchen und mich, da ich ja
+keine Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für
+einen ihrer Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen
+Fall.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie denken Sie über Deutschland?“
+</p>
+
+<p>
+Was die Leute alles von mir wissen wollen!
+</p>
+
+<p>
+„Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum? Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie
+auch wieder leicht ein Schiff bekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt
+werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen
+nicht bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil
+ich doch keine Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht
+auch verwechseln, und ich müßte mit bezahlen. Soviel kann ich ja als
+Deckarbeiter nie verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der
+Mittelklasse erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen
+Gesellschaft werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Was reden Sie soviel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen
+oder nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint,
+daß sie viel Zeit haben und froh sind, daß eine Unterhaltung im
+Gange ist.
+</p>
+
+<p>
+„Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland“,
+sagt der Hohepriester und der Dolmetscher erzählt es mir wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Ich mag aber die Holländer nicht“, erwiderte ich, und ich will nun auch
+gleich erzählen warum, als mir gesagt wird: „Ob Sie die Holländer
+mögen oder nicht, das geht uns gar nichts an. Machen Sie das mit den
+Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen.
+Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie
+auch nicht, das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+nach Holland. Fertig und Schluß. Eine andre Grenze haben wir
+nicht. Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbar aussuchen,
+der vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins
+Wasser wollen wir Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige
+Grenze, die uns noch bleibt als letzte. Also es geht nach Holland und
+nun Schluß. Seien Sie froh, daß Sie so billig davonkommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber meine Herren, Sie sind im Irrtum, ich will gar nicht nach Holland.
+Die Holländer sitzen –“
+</p>
+
+<p>
+„Ruhig nun. Die Frage ist entschieden. Wieviel Geld haben Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben doch meine Taschen und Nähte alle durchsucht. Wieviel
+Geld haben Sie denn gefunden?“ Da soll man nun nicht wütend werden.
+Sie durchsuchen einen stundenlang mit Vergrößerungsgläsern, und
+dann fragen sie noch ganz scheinheilig, wieviel Geld man habe.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie nichts gefunden haben, dann habe ich kein Geld“, sage ich.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut. Das ist jetzt alles. Nehmen Sie ihn wieder in die Zelle.“
+Der Hohepriester hatte seine Zeremonien beendet.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-6">
+4
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> späten Nachmittag wurde ich zum Bahnhof gebracht.
+Zwei Mann, darunter der Dolmetscher, begleiteten
+mich. Offenbar dachten sie, ich sei noch nie
+in meinem Leben mit der Bahn gefahren, denn ich
+durfte nichts allein tun. Einer löste die Fahrkarten,
+während der andre dicht bei mir stehen blieb und
+aufpaßte, damit nicht etwa ein Taschendieb sich die
+vergebliche Arbeit machen sollte, noch einmal meine
+Taschen durchzusuchen, denn wo einmal die Polizei Taschen durchsucht
+hat, findet auch der geschickteste Taschendieb keinen Cooper mehr.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann, der die Karten gelöst hatte, gab mir aber meine Karte nicht.
+Wahrscheinlich dachte er, ich würde sie sofort wieder verkaufen. Sie
+begleiteten mich dann sehr höflich auf den Bahnsteig und brachten mich
+zu meinem Abteil. Ich glaubte, sie würden sich hier von mir verabschieden.
+Aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir in das Abteil,
+und um mich vor dem Hinausfallen zu bewahren, nahmen sie mich in
+ihre Mitte. Ob belgische Polizeibeamte immer so höflich mit Leuten
+sind, weiß ich nicht. Ich jedenfalls konnte mich über sie nicht beklagen.
+Sie gaben mir dann Zigaretten. Wir rauchten, und der Zug dampfte los.
+Nach einer kurzen Fahrt verließen wir den Zug und kamen in ein
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+kleines Städtchen. Wieder wurde ich zu einer Polizeistation gebracht.
+Ich hatte mich auf eine Bank zu setzen in jenem Raum, wo sich alle die
+Polizeibeamten aufhielten, die in Reserve waren. Die beiden Leute, mit
+denen ich gekommen war, erzählten eine große Geschichte über mich.
+Die übrigen Cops, ich meine die übrigen Polizeibeamten, glotzten mich
+alle der Reihe nach an, manche interessiert, als ob sie noch nie einen
+solchen Mann gesehen hätten, und andre wieder, als hätte ich irgendwo
+einen Doppelraubselbstmord verübt.
+</p>
+
+<p>
+Gerade diejenigen, die mich in so verhängnisvoller Weise anstarrten,
+die mich der Verübung der gräßlichsten Verbrechen, deren Täter man
+noch nicht erwischt hatte, fähig hielten, und die mir noch viel schwerere
+Verbrechen in Zukunft zutrauten als ich, ihrer untrüglichen Meinung
+zufolge, schon verübt habe, flößten mir plötzlich den Gedanken ein, daß
+ich hier auf den Henker zu warten habe, der augenscheinlich nicht zu
+Hause war und erst gesucht werden mußte.
+</p>
+
+<p>
+Da war nichts zu lachen, no, Sir. Es war eine sehr ernste Sache. Man
+braucht nur ein wenig darüber nachzudenken. Ich hatte keine Seemannskarte,
+ich hatte keinen Paß, ich hatte keinen Identitätsausweis,
+ich hatte kein sonstiges Papier, und meine Photographie hatte der Hohepriester
+in seinem dicken Buche auch nicht gefunden. Wenn da wenigstens
+noch meine Photographie gewesen wäre, dann hätte er doch gleich
+gewußt, wer ich bin. Von der Tuscaloosa achtern abgeblieben zu sein,
+das konnte jeder erzählen, der sich da herumtrieb. Eine Wohnung hatte
+ich nirgendwo auf der Welt. Entweder ein Eimer oder eine Seemannsherberge.
+Mitglied irgendeiner Handelskammer war ich auch nicht. Ich
+war eben ein Niemand. Na, nun frage ich, warum sollten die armen Belgier
+einen Niemand durchfüttern, wo sie doch schon so viele Niemandskinder
+durchzufüttern haben, die wenigstens immer noch zur Hälfte
+hierher gehören. Ich aber gehörte mit keiner Hälfte hierhin. Ich war
+nur eine weitere Ursache, daß sie in Amerika wieder Geld pumpen
+mußten. Mich zu hängen, war der kürzeste und einfachste Weg, um mich
+los zu werden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Kein Mensch
+kümmerte sich um mich, kein Mensch würde nach mir fragen, meinen
+Namen brauchten sie gar nicht einmal in ihre dicken Bücher zu schreiben.
+Und hängen würden sie mich, ganz sicher. Sie warteten nur noch auf
+den Henker, der das Geschäft versteht, sonst wäre es ja ungesetzlich
+und ein Mord.
+</p>
+
+<p>
+Wie recht ich hatte. Da war der Beweis. Einer der Cops kam auf mich
+zu und gab mir zwei dicke Pakete mit Zigaretten, die letzte Gabe an
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+den armen Sünder. Dann gab er mir auch noch Zündhölzer, setzte sich zu
+mir und radebrechte mit mir, lachte und war freundlich, klopfte mir
+auf die Schulter und sagte: „Ist nicht so schlimm, Junge, nehmen Sie es
+nicht zu tragisch. Rauchen Sie, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Wir
+müssen warten, bis es finster ist, sonst können wir es nicht gut machen.“
+Nicht tragisch nehmen, wenn man gehängt werden soll. Ist nicht so
+schlimm. Ich möchte wissen, ob es mit ihm schon mal versucht worden
+ist, daß er so bestimmt sagen kann: Ist nicht so schlimm. Warten, bis
+es finster ist. Freilich, bei Tage trauen sie sich nicht so recht, es könnte
+uns ja vielleicht jemand begegnen, der mich kennt, und dann wäre der
+Spaß verdorben. Aber es hat ja keinen Zweck, den Kopf hängen zu
+lassen, er wird bald genug von selber hängen. Und ich rauche erst einmal
+wie ein Fabrikschlot, damit sie nicht am Ende gar noch die Zigaretten
+sparen.
+</p>
+
+<p>
+Die Zigaretten schmecken nach gar nichts. Das reine Stroh. Verflucht
+nochmal, ich will nicht hängen. Wenn ich nur wüßte, wie ich hier heraus
+komme. Aber die sind ja immerfort um mich herum. Und jeder
+neue, der abgelöst ist und hereinkommt, glubscht mich an und will von
+den andern wissen, wer ich bin, warum ich hier sei, und wann ich gehängt
+werde. Und dann grient er übers ganze Gesicht. Ein widerliches
+Volk. Ich möchte wissen, warum wir denen geholfen haben.
+</p>
+
+<p>
+Später bekam ich mein letztes Essen. Aber solche Geizhälse gibt es auf
+der ganzen Erde nicht mehr. Das nennen sie nun eine Henkersmahlzeit:
+Kartoffelsalat mit einer Scheibe Leberwurst und ein paar Schnitten
+Brot mit Margarine. Zum Heulen ist es. Nein, die Belgier sind keine
+Guten, und es fehlte nicht viel, und ich wäre beinahe verwundet worden,
+als wir sie aus der Suppe ziehen mußten und unser Geld los wurden.
+Einer, der mir die Zigaretten gegeben hatte und mir einzureden versuchte,
+es sei nicht so schlimm, gehenkt zu werden, sagte nun: „Sie sind
+doch ein guter Americain, sie trinken doch keinen Wein, nicht wahr?“
+Und dabei lachte er mich an. Teufel nochmal, wenn er nicht ein solcher
+Heuchler wäre mit seinem Nicht-so-schlimm, man könnte beinahe
+glauben, daß es auch feine und nette Belgier gibt.
+</p>
+
+<p>
+„Guter Amerikaner? Schiet auf Amerika. Ich trinke Wein, aber feste.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Das habe ich mir doch gleich gedacht,“ sagte der Cop schmunzelnd.
+„Sie sind echt. Das ist ja alles Alterweiberhumbug mit eurer sogenannten
+Prohibition. Laßt euch von Tanten und Betschwestern kommandieren.
+Mich geht es ja nichts an. Aber hier bei uns, da haben wir
+Männer noch die Hosen an.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+Gosh, da ist endlich einer, der den Pfahl im Fleische sieht. Der Mann
+kann nicht verlorengehen, er kann durch dickes Wasser bis auf den
+Grund sehen. Schade um den Mann, daß er Cop ist. Aber wenn er nicht
+Cop wäre, würde ich wahrscheinlich dieses Riesenglas voll guten
+Weines, das er jetzt vor mich hinstellte, nie gesehen haben. Prohibition
+ist eine Schande und eine Sünde, Gott sei’s geklagt. Ich bin sicher, daß
+wir irgendwann und irgendwo etwas Furchtbares verbrochen haben
+müssen, weil uns diese köstliche Gottesgabe genommen wurde.
+</p>
+
+<p>
+Gegen zehn Uhr abends sagte der Weinspender zu mir: „So, nun ist es
+Zeit für uns, Seemann, kommen Sie mit mir.“
+</p>
+
+<p>
+Was hätte es für Sinn, zu schreien: „Ich will nicht gehenkt werden!“
+wenn da vierzehn Mann um einen herum sind, und alle vierzehn vertreten
+das Gesetz. Das ist eben Schicksal. Zwei Stunden hätte die Tuscaloosa
+nur zu warten brauchen. Aber zwei Stunden bin ich nicht wert,
+hier bin ich noch viel weniger wert.
+</p>
+
+<p>
+Der Gedanke an diese Wertlosigkeit empörte mich aber doch, und ich
+sagte: „Ich geh nicht mit. Ich bin Amerikaner, ich werde mich beschweren.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ha!“ schrie einer höhnisch herüber, „Sie sind kein Amerikaner. Beweisen
+Sie es doch. Haben Sie eine Seemannskarte? Haben Sie einen
+Paß? Nichts haben Sie. Und wer keinen Paß hat, ist niemand. Mit Ihnen
+können wir machen, was uns beliebt. Und das werden wir jetzt, und
+Sie werden nicht gefragt. Raus mit dem Burschen.“
+</p>
+
+<p>
+Es war nicht nötig, daß ich mir vielleicht erst noch einen Hieb über
+den Schädel holte, am Ende war ich ja nur der Dumme. So mußte ich
+halt lostrotten.
+</p>
+
+<p>
+An meiner linken Seite ging der lustige Mann, der radebrechen konnte,
+und an meiner rechten Seite ging ein andrer. Wir verließen das kleine
+Städtchen und befanden uns bald auf offnen Feldern.
+</p>
+
+<p>
+Es war entsetzlich finster. Der Weg, auf dem wir gingen, war nur ein
+holpriger, zerfahrener Landweg, wo man schlecht laufen konnte. Ich
+hätte nur gern gewußt, wie lange wir so wandern wollten, bis das
+traurige Ziel erreicht war.
+</p>
+
+<p>
+Nun verließen wir auch noch diese elende Straße und bogen in einen
+Wiesenpfad ein. Eine gute Weile ging es über Wiesen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt war es Zeit, abzuhäuten. Aber diese Burschen waren augenscheinlich
+Gedankenleser. Gerade als ich einen ausschwingen will, um zuerst
+einmal dem einen Nachbar einen sanften Bläser an die Kinnbacken zu
+haken, packt mich der Mann am Arm und sagt: „Nun sind wir da. Jetzt
+haben wir einander Lebewohl zu sagen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+Ein entsetzliches Gefühl, wenn man die letzte Minute so klar und
+trocken heranschleichen sieht. Nicht einmal schleichen. Sie stand gleich
+ganz nüchtern vor mir. Es war mir sehr trocken in der Kehle. Ich hätte
+gern einen Schluck Wasser gehabt. Aber nun war ja wohl an Wasser
+nicht mehr zu denken. Die paar Augenblicke würde es auch noch ohne
+Wasser gehen, das hätten sie mir sicher geantwortet. Ich hätte den
+Weinspender nicht für einen solchen Heuchler gehalten. Einen Henker
+hatte ich mir anders vorgestellt. Es ist doch ein dreckiges, ein schäbiges
+Geschäft; als ob es nicht andre Berufe gäbe. Nein, gerade Henker,
+Bestie sein, und das sogar noch als Beruf.
+</p>
+
+<p>
+Nie vorher im Leben hatte ich so stark gefühlt, wie wunderschön das
+Leben ist. Wunderschön und über alle Maßen köstlich ist sogar das
+Leben, wenn man müde und hungrig zum Hafen kommt und erkennt,
+daß einem das Schiff weggefahren ist und man zurückgelassen ist ohne
+Seemannskarte. Leben ist immer schön, wenn es auch noch so trübe aussieht.
+Und in einer so finstern Nacht auf freiem Felde einfach so fortgewischt
+zu werden, als wäre man nur gerade ein Wurm –! Hätte ich
+von den Belgiern nicht gedacht. Aber schuld daran ist die Prohibition,
+die einen so schwach macht gegen Versuchungen. Wenn ich jetzt, gerade
+jetzt, diesen Mr. Volstead hier zwischen meinen Fingern hätte! Was
+muß der Mann für eine böse Frau gehabt haben, daß er so etwas ausdenken
+und ausstinken konnte! Froh bin ich aber doch, daß auf mich
+diese Millionen Flüche nicht herabgedonnert werden, die das Leben
+dieses Mannes belasten.
+</p>
+
+<p>
+„Oui, Mister, wir haben Lebewohl zu sagen. Sie mögen ja ein ganz
+netter Mensch sein. Augenblicklich haben wir aber gar keine Verwendung
+für Sie.“
+</p>
+
+<p>
+Deshalb brauchen Sie einen doch aber nicht gleich zu henken.
+</p>
+
+<p>
+Er hob seinen Arm. Offenbar, um mir die Schlinge über den Kopf zu
+werfen und mich zu erdrosseln; denn die Mühe, einen Galgen aufzubauen,
+hatten sie sich nicht gemacht. Das hätte zuviel Ausgaben
+verursacht.
+</p>
+
+<p>
+„Da drüben,“ sagte er nun und zeigte mit ausgestrecktem Arme in die
+Richtung, „da drüben, geradenwegs, wo ich hinweise, da ist Holland.
+Netherland. Haben Sie doch sicher schon davon gehört?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt gehen Sie geradenwegs in jene Richtung, die ich Ihnen hier mit
+meinem Arme andeute. Ich glaube nicht, daß Sie da jetzt einen Kontrollbeamten
+treffen werden. Wir haben uns erkundigt. Sollten Sie aber
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+jemand sehen, dann gehen Sie ihm sorgfältig aus dem Wege. Nach einer
+Stunde Gehens immer in dieser Richtung kommen Sie an die Eisenbahnlinie.
+Folgen Sie der Linie noch eine kurze Strecke in derselben
+Richtung, dann kommen Sie zur Station. Halten Sie sich da in der Nähe
+auf, aber lassen Sie sich nicht sehen. Gegen vier Uhr morgens kommen
+dann eine Menge Arbeiter, und dann gehen Sie zum Schalter und sagen
+nur ‚Rotterdam derde klasse‘, aber sagen Sie kein einziges Wort mehr.
+Hier haben Sie fünf Gulden.“
+</p>
+
+<p>
+Er gab mir fünf Geldscheine.
+</p>
+
+<p>
+„Und da ist noch ein Happen zu essen für die Nacht. Kaufen Sie nichts
+auf der Station. Sie sind bald in Rotterdam. So lange halten Sie es dann
+schon aus.“
+</p>
+
+<p>
+Nun gab er mir ein kleines Paketchen, in dem allem Anschein nach
+Butterbrote waren. Dann bekam ich noch ein Paket Zigaretten und eine
+Schachtel Zündhölzer.
+</p>
+
+<p>
+Was soll man von diesen Leuten sagen? Sie sind hinausgeschickt, um
+mich zu henken, und geben mir noch Geld und Butterbrote, damit ich
+mich aus dem Staube machen kann. Sie haben ein zu gutes Herz, mich
+so kalt umzubringen. Da soll man nun die Menschen nicht lieben, wenn
+man so gute Kerle selbst unter den Polizisten findet, deren Herz durch
+das ewige Menschenjagen durch und durch verhärtet ist. Ich schüttelte
+den beiden so sehr die Hände, daß sie Angst bekamen, ich wollte die
+Hände mitnehmen.
+</p>
+
+<p>
+„Machen Sie nicht solchen Spektakel, einer von drüben kann Sie vielleicht
+gar hören, und dann ist alles im Dreck. Und das wäre nicht gut,
+dann könnten wir wieder von vorn anfangen.“ Der Mann hatte recht.
+„Und nun hören Sie gut zu, was ich Ihnen jetzt sage.“ Er sprach halblaut,
+bemühte sich aber, mir alles deutlich zu machen dadurch, daß er
+das Gesagte mehrfach wiederholte. „Kommen Sie ja nicht nochmal nach
+Belgien zurück, das kann ich Ihnen nur sagen. Wenn wir Sie nochmal
+innerhalb unsrer Grenzen finden, Sie können sich darauf verlassen, wir
+sperren Sie ein auf Lebenszeit. Auf Lebenszeit im Gefängnis. Lieber
+Freund, das ist allerlei. Also ich warne Sie ausdrücklich. Wir wissen ja
+nicht, wohin mit Ihnen. Sie haben ja keine Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber vielleicht hätte ich zum Konsul –“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen Sie mir mit Ihrem Konsul. Haben Sie eine Seemannskarte?
+Nein. Na also. Da pfeffert Sie Ihr Konsul raus, vierkant, und wir haben
+Sie auf dem Halse. Sie wissen jetzt Bescheid. Auf Lebenszeit Gefängnis.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ganz bestimmt, meine Herren, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+mehr Ihr Land betreten.“ Warum sollte ich auch? Ich hatte ja in Belgien
+nichts verloren. Ich war eigentlich froh, daß ich raus kam. Holland ist
+viel besser. Die versteht man schon zur Hälfte, während man hier kein
+Wort versteht, was die Leute reden, und was sie wollen.
+</p>
+
+<p>
+„Gut also. Sie sind nun verwarnt. Nun hüpfen Sie los und seien Sie vorsichtig.
+Wenn Sie Tritte hören, legen Sie sich hin bis die Schritte vorübergegangen
+sind. Lassen Sie sich nur nicht kriegen, sonst kriegen wir
+Sie, und dann geht es Ihnen schlecht. Viel Glück auf die Reise.“
+</p>
+
+<p>
+Die schoben ab und ließen mich allein.
+</p>
+
+<p>
+Dann, kreuzvergnügt, wanderte ich los. Immer in jener Richtung, die
+mir gezeigt worden war.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-7">
+5
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_r.jpg" alt="R"><span class="hidden">R</span></span><span class="postfirstchar">otterdam</span> ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat.
+Ich hatte keins, nicht einmal eine Börse, wo ich es hätte
+hineinstecken können, wenn ich welches gehabt hätte.
+</p>
+
+<p>
+Da war auch nicht ein einziges Schiff im Hafen, das einen
+Deckarbeiter oder einen Ersten Ingenieur gebraucht
+hätte. Zu jener Zeit war mir das ganz gleich. Wenn auf
+einem Schiff ein Erster Ingenieur verlangt worden wäre,
+ich hätte den Posten angenommen. Glatt. Ohne mit der
+Wimper zu zucken. Der Krach kommt ja erst, wenn das Schiff draußen
+ist, auf hoher Fahrt. Und dann können sie einen doch nicht so einfach
+über Bord feuern. Anzustreichen gibt es immer etwas, da findet sich dann
+also schon die rechte Arbeit. Man ist ja schließlich auch nicht so, daß
+man nun mit Mord und Tod auf das Gehalt des Ersten Ingenieurs pocht.
+Man kann ja etwas nachlassen. Gosh, in welchem Laden wird nicht auch
+einmal vom Preise heruntergehandelt, wenn das Plakat „Feste Preise“
+auch noch so groß gemalt ist?
+</p>
+
+<p>
+Krach hätte es sicher gegeben; denn damals konnte ich eine Kurbel nicht
+von einem Ventil und eine Bleuelstange nicht von einer Welle unterscheiden.
+Das wäre ja beim ersten Signal herausgekommen, wenn der
+Skipper hinuntergeklingelt hätte „Totlangsam“, und gleich darauf wäre
+der Eimer losgeschossen, als ob er auf Tod und Leben verpflichtet sei,
+das „Blue Ribbon“, das Blaue Band, zu gewinnen. Ein Spaß wäre es
+ja doch. Aber es lag nicht an mir, daß ich den Spaß nicht ausprobieren
+konnte, denn niemand suchte einen Ersten Ingenieur. Es wurde überhaupt
+niemand gesucht, auf keinem Schiff. Ich hätte alles angenommen,
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+was zwischen Kapitän und Küchenjunge ist. Aber nicht einmal ein
+Kapitän wurde vermißt.
+</p>
+
+<p>
+Nun trieben sich auch schon so viele Seeleute dort herum, die alle auf
+ein Schiff warteten. Und nun gar noch eins erwischen, das ’rüber geht
+nach den States, das ist schon ganz hoffnungslos. Alle wollen sie auf
+einen Kasten, der rüber geht, weil sie dort alle absacken wollen, achtern
+raussegeln. Denn alle denken, drüben werden die Leute mit Rosinen
+gefüttert, sie brauchen den Schnabel nur hinzuhalten. Schiet. Und dann
+liegen sie dort zu Zehntausenden in den Häfen rum und warten auf ein
+Schiff, das sie wieder heimbringt, weil eben alles ganz anders ist, als sie
+sich gedacht haben. Die goldnen Zeiten sind vorüber, sonst würde mich
+niemand als Deckarbeiter auf der Tuscaloosa gefunden haben.
+</p>
+
+<p>
+Aber die beiden netten belgischen Cops haben mir einen Tip gegeben:
+Mein Konsul. Mein! Die beiden Cops schienen meinen Konsul besser zu
+kennen als ich. Merkwürdig. Es ist doch meine Pflicht, ihn besser zu
+kennen, denn er ist doch meiner. Er ist ja meinetwegen in der Welt. Er
+wird ja meinetwegen bezahlt.
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul klariert Dutzende von Schiffen aus, da wird er ja auch
+etwas wissen über verlangte Deckarbeiter, besonders wenn ich kein
+Geld habe.
+</p>
+
+<p>
+„Wo haben Sie Ihre Seemannskarte?“
+</p>
+
+<p>
+„Die habe ich verloren.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie einen Paß?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Bürgerpapier?“
+</p>
+
+<p>
+„Nie gehabt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was wollen Sie denn dann hier?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe gedacht, daß Sie mein Konsul seien, daß Sie mir helfen
+würden.“
+</p>
+
+<p>
+Er griente. Sonderbar, daß die Menschen immer grienen, wenn sie einen
+den Hieb versetzen wollen.
+</p>
+
+<p>
+Und mit diesem Grienen auf den Lippen sagte er: „Ihr Konsul? Das
+müssen Sie mir beweisen, lieber Mann, daß ich Ihr Konsul bin.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin doch aber Amerikaner, und Sie sind amerikanischer Konsul.“
+Das war doch ganz richtig.
+</p>
+
+<p>
+Aber es schien nicht richtig zu sein, denn er sagte: „Amerikanischer
+Konsul, wenn auch augenblicklich noch nicht Erster, bin ich allerdings.
+Aber ob Sie Amerikaner sind, das müssen Sie mir erst beweisen. Wo
+haben Sie denn Ihre Papiere?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, die habe ich verloren.“
+</p>
+
+<p>
+„Verloren. Wie kann man seine Papiere verlieren? Die trägt man doch
+stets bei sich, besonders wenn man in einem fremden Lande ist. Sie
+können ja nicht einmal beweisen, ob Sie überhaupt auf der Tuscaloosa
+waren. Können Sie das beweisen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Also. Was wollen Sie da hier? Wenn Sie auch auf der Tuscaloosa waren,
+selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß Sie wirklich drauf waren,
+so wäre das noch nicht der geringste Beweis, daß Sie Bürger sind. Auf
+einem amerikanischen Schiffe können auch Hottentotten arbeiten. Also,
+was wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt von Antwerpen ohne
+Papiere hierher nach Rotterdam? Das ist doch merkwürdig.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Polizei hat mich doch –“
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie mir gefälligst nicht noch mal mit einer solchen Erzählung.
+Wo ist denn das erhört, daß Staatsbeamte jemand auf diesem ungesetzlichen
+Wege über die Grenze in ein fremdes Land schicken? Ohne
+Papiere. Sie können mich nicht damit aufziehen, lieber Mann.“
+</p>
+
+<p>
+Und das alles sagte er grienend und ewig lächelnd; denn der amerikanische
+Beamte hat immer zu lächeln, selbst wenn er ein Todesurteil
+verkündet. Das ist seine republikanische Pflicht. Was mich aber am
+meisten ärgerte, war, daß er während seiner Rede immer mit dem Bleistift
+spielte. Bald kritzelte er damit auf der Tischplatte herum, bald
+kratzte er sich damit im Haar, bald trommelte er damit „My Old
+Kentucky Home“, und bald tippte er mit dem Bleistift so auf den Tisch,
+als ob er mit jedem Tippen ein Wort festnageln wollte.
+</p>
+
+<p>
+Ich hätte ihm am liebsten das Tintenfaß ins Gesicht geworfen. Aber ich
+mußte Geduld üben, und so sagte ich: „Vielleicht können Sie mir wieder
+ein Schiff verschaffen, damit ich heimkomme. Es kann ja sein, daß ein
+Skipper um einen Mann zu kurz ist, oder daß einer erkrankt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Schiff? Ohne Papiere ein Schiff? Von mir nicht, da brauchen Sie
+gar nicht erst wiederzukommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wo soll ich denn Papiere herbekommen, wenn Sie mir keine
+geben?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht mich denn das an, wo Sie Ihre Papiere herkriegen. Ich habe
+sie Ihnen doch nicht abgenommen. Oder? Da könnte ja jeder Herumtreiber,
+der auf seine Papiere nicht besser acht gibt, kommen und von
+mir Papiere verlangen.“
+</p>
+
+<p>
+„Well, Sir,“ sagte ich darauf, „ich glaube, es haben auch schon andre
+Leute, die nicht Arbeiter sind, ihre Papiere verloren.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+„Richtig. Aber diese Leute haben Geld.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach so!“ schrie ich laut, „jetzt verstehe ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Nichts verstehen Sie,“ griente er, „ich meine, dann sind das Leute, die
+noch andre Ausweise haben, Leute, bei denen kein Zweifel zulässig ist,
+Leute, die ein Zuhause haben, die eine Adresse haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Was kann ich denn dafür, daß ich keine Villa habe, kein Zuhause und
+keine andre Adresse als meinen Arbeitsplatz.“
+</p>
+
+<p>
+„Das geht mich nichts an. Sie haben die Papiere verloren. Sehen Sie zu,
+wo Sie andre herbekommen. Ich habe mich an meine Bestimmungen
+zu halten. Nicht meine Schuld. Haben Sie schon gegessen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe doch kein Geld, und gebettelt habe ich noch nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Warten Sie einen Augenblick.“
+</p>
+
+<p>
+Er stand auf und ging in ein andres Zimmer. Nach einigen Minuten kam
+er zurück und brachte mir eine Karte.
+</p>
+
+<p>
+„Hier haben Sie eine Verpflegungskarte für drei volle Tage im Seemannshause.
+Wenn sie abgelaufen ist, können Sie ruhig nochmal
+wiederkommen. Versuchen Sie nochmal, vielleicht bekommen Sie ein
+andres Schiff, von einer andern Nationalität. Manche nehmen es nicht so
+genau. Ich darf Ihnen keine Andeutungen machen. Sie müssen das selbst
+herausfinden. Ich bin hier ganz machtlos. Ich bin lediglich ein Diener
+des Staates. ’m sorry, old fellow, can’t help it. Good-bye and g’d luck!“
+Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein Biest.
+Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der
+Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie
+den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie
+der Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war
+auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine
+Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf
+jede meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort
+das Maul stopfte. Aber als er fragte: „Haben Sie Hunger? Haben Sie
+schon gegessen?“ da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener
+zu sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist
+etwas Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied.
+Und das ist die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen
+zu sein, und anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das
+Biest kann keine Menschen brauchen; die machen zu viel Arbeit.
+Figuren aus Papiermaché lassen sich besser in Reih’ und Glied stellen
+und uniformieren, damit die Diener des Biestes ein bequemeres Leben
+führen können. Yesser, yes, Sir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-8">
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+6
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">rei</span> Tage sind nicht immer drei Tage. Es gibt sehr
+lange drei Tage und es gibt sehr kurze. Daß drei
+Tage so kurz sein könnten, wie die drei Tage,
+wo ich gut zu essen hatte und ein Bett, würde
+ich nicht geglaubt haben. Ich wollte mich gerade
+das erstemal zum Frühstück hinsetzen, da waren
+die drei Tage schon um. Aber selbst wenn sie
+zehnmal länger gedauert hätten, zum Konsul
+gehe ich nicht mehr. Sollte ich mir vielleicht wieder seine auswendig
+gelernten Prüfungsantworten anhören? Etwas Besseres würde er jetzt
+auch nicht wissen. Ein Schiff konnte er mir nicht besorgen. Also was
+hätte es für Zweck gehabt, seine Reden über mich ergehen zu lassen?
+Möglich, daß er mir wieder eine Karte gegeben hätte. Diesmal aber
+sicher schon mit einer Geste und einer Miene, die mir das Essen in der
+Kehle hätte festwürgen lassen, ehe ich überhaupt den Löffel in die
+Suppe steckte. Die drei Tage wären noch viel kürzer geworden als
+die vorigen.
+</p>
+
+<p>
+Der wichtigste Grund war, ich wollte die Kleinigkeit Mensch, die er bei
+meinem ersten Besuche gewesen war in dem Augenblick, als er sich um
+mein Wohlergehen kümmerte, nicht aus meiner Erinnerung verlieren.
+Bestimmt hätte er mir nun die Karte in seiner vollen Überlegenheit als
+Biestdiener verabreicht und mit moralverbrämten Reden, daß es diesmal
+das letzte Mal sein müsse, daß zu viele kämen, und daß man sich
+nicht darauf ausruhen könne, sondern daß man auch selbst etwas dazu
+tun müsse, um weiterzukommen. Lieber verrecken, als nochmal dahin
+gehen.
+</p>
+
+<p>
+Oh, du geliebte Schneiderseele, was war ich hungrig! So gottserbärmlich
+hungrig. Und so müde durch das Schlafen in Torwegen und
+Winkeln, immer gejagt im Halbschlaf von der Nachtpolizei, die in die
+Torwege und Winkel hineinleuchtete mit den Taschenlampen. Immer
+auf der Hut sein, im Schlafe die Patrouille auf fünfzig Schritte hören
+müssen, um sich noch rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Denn wenn
+sie einen erwischen, das heißt Arbeitshaus.
+</p>
+
+<p>
+Und kein Schiff im Hafen, das jemand brauchen könnte. Da sind soviele
+hundert Seeleute des eignen Landes auf den Beinen, die ein Schiff
+suchen, und die gute Papiere haben. Und keine Arbeit in den Fabriken,
+keine Arbeit in irgendeinem Geschäft. Selbst wenn da Arbeit wäre,
+der Mann dürfte sie einem gar nicht geben. Haben Sie Papiere? Nein?
+Schade, dürfen wir Sie nicht einstellen. Sie sind Ausländer.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Gegen wen sind die Pässe und die Einreisevisen gerichtet? Gegen die
+Arbeiter. Gegen wen ist die Beschränkung der Einwanderung in
+Amerika und in andern Ländern gerichtet? Gegen die Arbeiter. Und
+auf wessen Veranlassung und mit wessen machtvoller Unterstützung
+sind oft diese Gesetze, die die Freiheit des Menschen vernichten, ihn
+zwingen, dort zu leben, wo er nicht leben will, ihn verhindern, nach
+jenem Teil der Erde zu gehen, wo er gern leben möchte, geschaffen
+worden? Auf Veranlassung und mit Unterstützung der Arbeiterverbände.
+Ein Biest im Bieste: Ich schütze meine Sippe; wer nicht zu
+meiner Sippe gehört, der mag zugrunde gehen; geht er zugrunde, um so
+besser, dann bin ich einen Konkurrenten los. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+So hungrig und so müde! Dann kommt die Zeit, wo man nicht mehr
+darüber nachdenkt, ob es einen Unterschied macht, die Börse eines
+andern, der nicht hungert, mit der eignen Börse, die man nicht hat, zu
+verwechseln. Man braucht sie nicht verwechseln, man fängt damit an,
+ohne es zu wollen, an die Börse eines Nichthungernden zu denken.
+</p>
+
+<p>
+Ein Herr und eine Dame standen vor einem Schaufenster, als ich vorüberging.
+</p>
+
+<p>
+Die Dame sagte: „Sag’ doch bloß mal, Fibby, sind denn diese hübschen
+Handtäschchen nicht wirklich ganz reizend?“
+</p>
+
+<p>
+Fibby nuschelte etwas, das ebensogut eine Zustimmung wie eine gegenteilige
+Meinung sein konnte, es konnte aber auch ganz gut bedeuten:
+Laß mich doch in Ruh’ mit deinem Quark!
+</p>
+
+<p>
+Die Dame: „Nein, wirklich, die sind zu entzückend, echte altholländische
+Kleinkunst.“
+</p>
+
+<p>
+„Stimmt,“ sagte Fibby nun trocken, „echt altholländisch, copyright
+neunzehnhundertsechsundzwanzig.“
+</p>
+
+<p>
+Das war Sphärenmusik für mich. Jetzt war ich überzeugt.
+</p>
+
+<p>
+Ich war nun sehr rasch und verlor keine Sekunde weiter. Da lag ja das
+blanke Gold vor mir mitten auf der Straße.
+</p>
+
+<p>
+Es schien mir, daß Fibby sich über das, was ich ihm erzählte, viel mehr
+amüsierte, als was ihm seine Frau oder seine Freundin oder seine –
+well, Sir, das geht mich nichts an, in welchem Verwandtschaftsverhältnis
+die beiden zueinander standen – ja, jedenfalls amüsierte er sich
+köstlich über meine Geschichte. Er lächelte, dann lachte er, und endlich
+brüllte er, daß die Leute stehenblieben. Wenn ich es nicht an seinem
+„Zat so!“ gleich beim ersten Tonfall gehört hätte, wo er herkam, dann
+hätte es mir sein unbändiges Lachen verraten. So kann eben nur ein
+Amerikaner lachen, jawoll, die können lachen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+„Also, Boy, Sie haben Ihre Geschichte großartig erzählt.“ Da lachte er
+auch schon wieder. Ich hatte gedacht, er würde zu weinen anfangen
+über meine traurige Geschichte. Na ja, er steckte ja nicht in meiner
+Haut. Er sah das alles von der komischen Seite.
+</p>
+
+<p>
+„Nun sag’ doch, Flory,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „hat denn
+das Vöglein, das da aus dem Nest gefallen ist, seine Geschichte nicht
+ganz großartig erzählt?“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich sehr nett. Wo sind Sie her? Von New Orleans? Das ist ja
+ganz entzückend. Da habe ich sogar noch eine Tante wohnen, Fibby.
+Habe ich dir nicht von Tante Kitty aus New Orleans schon erzählt,
+Fibby? Ich glaube doch. Du weißt doch, die immer jeden Satz anfängt:
+Als Gra’pa noch in South Carolina wohnte ...“
+</p>
+
+<p>
+Fibby hörte gar nicht hin, was seine Flory sagte; er ließ sie reden, als ob
+sie ein Wasserfall sei, an den er sich gewöhnt hatte. Er kramte in seinen
+Taschen herum und brachte einen Dollarschein hervor: „Es ist nicht für
+Ihre Geschichte selbst, Freundchen, sondern es ist dafür, daß Sie die
+Geschichte so meisterhaft erzählt haben. Eine Geschichte, die nicht wahr
+ist, gut erzählen zu können, ist eine Gabe, mein Junge. Sie sind ein
+Künstler, wissen Sie das? Es ist eigentlich schade um Sie, daß Sie sich
+so in der Welt herumtreiben. Sie könnten viel Geld machen, lieber
+Freund. Wissen Sie das? Ist er nicht in der Tat ein Künstler, Flory?“
+wandte er sich nun wieder an seine – na, meinetwegen Frau, was geht’s
+mich an, die werden ihren Paß schon so haben, wie sie ihn brauchen.
+„Aber ja, freilich, Fibby,“ antwortete Flory in Ekstase, „freilich ist er
+ein großer Künstler. Weißt du, Fibby, frage ihn doch gleich mal, ob wir
+ihn nicht für unsern Gesellschaftsabend haben könnten. Sicher, da
+könnten wir die Penningtons übertrumpfen, diese schäbige Bande.“
+</p>
+
+<p>
+Also es ist doch seine Frau.
+</p>
+
+<p>
+Fibby zeigte dem Wasserfall nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er
+lächelte und lachte weiter. Kramte wieder in seinen Taschen herum und
+brachte abermals einen Dollarschein ans Tageslicht.
+</p>
+
+<p>
+Nun gab er mir beide Scheine und sagte: „Y’see, der eine ist dafür, weil
+Sie Ihre Geschichte so meisterhaft erzählt haben, der andre ist dafür,
+weil Sie mir eine glänzende Idee für mein Blatt gegeben haben. Ist
+fünftausend wert, in meinen Händen; in Ihren nicht einen Nickel. Aber
+ich bezahle Ihnen hier einen Nickel mit Gewinnanteil. Vielen Dank für
+Ihre Mühe, good-bye und viel Glück.“
+</p>
+
+<p>
+Das war das erste Geld, das ich je für das Erzählen einer Geschichte
+bekommen hatte. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+Ich klatterte los zu einer Wechselbank. Für den Dollar ungefähr zweiundeinenhalben
+Gulden, für die beiden Dollarnoten also rund fünf
+Gulden. Ganz hübsches Sümmchen. Als ich die Noten dort hingegeben
+hatte, häufte der Wechsler so ungefähr fünfzig Gulden vor mich hin.
+Das war eine Überraschung. Fibby hatte mir zwei Zehner gegeben, und
+ich hatte – weil ich ja in seiner Gegenwart die zusammengeknitterten
+Scheine nicht neugierig aufmachen wollte – die Scheine für Eindollarnoten
+gehalten. Fibby ist eine noble Seele. Wall-Street möge ihn segnen.
+Es ist ganz natürlich, daß zwanzig Dollar sehr viel Geld sind. Wenn
+man sie besitzt. Wenn man genötigt ist, sie auszugeben, dann lernt man
+plötzlich, daß zwanzig Dollar gar nichts sind. Besonders noch, wenn
+man eine Reihe von hungrigen Tagen und bettlosen Nächten hinter sich
+hat. Ehe ich dazu kam, den Wert des Geldes zu schätzen, war es schon
+alle. Nur die Leute, die recht viel Geld haben, kennen den Wert des
+Geldes, weil sie Zeit haben, den Wert abzuschätzen. Wie kann man den
+Wert eines Dinges erkennen lernen, wenn es einem immer gleich wieder
+abgenommen wird? Gepredigt aber wird, daß nur der, der nichts hat,
+weiß, was ein Cent wert ist. Daher die Klassengegensätze.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-9">
+7
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_f.jpg" alt="F"><span class="hidden">F</span></span><span class="postfirstchar">rüher</span> als ich geglaubt hatte, kam ein Morgen, der allem
+Anschein nach zu urteilen vorläufig der letzte Morgen sein
+würde, der mich in einem Bett sah. Ich suchte meine
+Taschen durch und fand, daß ich gerade noch genügend
+Cents hatte, um ein kurzgehaltenes Frühstück möglich zu
+machen. Kurzgehaltene Frühstücke finden nicht meinen
+Beifall. Sie sind immer das Vorspiel von Mittagessen und
+Abendmahlzeiten, die nicht erscheinen werden. Einen
+Fibby findet man auch nicht jeden Tag. Sollte ich aber wieder einen
+antreffen, dann erzähle ich diesmal meine Geschichte so komisch wie
+nur möglich, vielleicht weint er dann herzzerbrechend und bekommt
+die Gegenidee zu Fibbys Fünftausend-Dollar-Idee. Aus einer Idee läßt
+sich immer Geld herausquetschen, ob sie nun zum Weinen ist oder zum
+Lachen. Es gibt ebenso viele Menschen, die gern weinen und für die
+Möglichkeit, weinen zu können, ein paar Dollar bezahlen, wie es Menschen
+gibt, die lieber ihren Lachmuskeln ein Vergnügen gönnen.
+</p>
+
+<p>
+– – ein Vergnügen gönn–. Na, was ist denn das nun wieder? Kann
+man denn für seinen letzten Gulden Schlafgeld, den man bezahlt hat,
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+nicht einmal in Ruhe im Bett noch ein wenig dösen, ehe man es für
+längere Zeit aufzugeben hat?
+</p>
+
+<p>
+„Lassen Sie mich schlafen, verflucht nochmal. Ich habe bezahlt, gestern
+abend, ehe ich ’raufging.“ Da soll man nicht wütend werden. In einem
+fort wird an die Tür gebumst.
+</p>
+
+<p>
+Und gleich klopft es wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Kreuzdonnerwetter nochmal, haben Sie nicht gehört, wegscheren
+sollen Sie sich! Ich will schlafen.“ Wenn die nur die Tür aufmachen
+möchten, ich würde ihnen den Stiefel mitten in die Fratze feuern. So
+ein nichtswürdiges und impertinentes Gesindel.
+</p>
+
+<p>
+„Machen Sie auf. Polizei ist hier. Wir möchten Sie für einen Augenblick
+sprechen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich zweifle ganz ernsthaft daran, daß es überhaupt auf der Welt noch
+Menschen gibt, die nicht Polizei sind. Die Polizei ist dafür da, um für
+Ruhe zu sorgen, und niemand macht mehr Ruhestörung, niemand belästigt
+die Menschen mehr, niemand bringt mehr Leute zum Wahnsinn
+als die Polizei. Ganz sicher, niemand hat mehr Unheil auf der Welt angestiftet
+als die Polizei, denn die Soldaten sind ja auch nur Polizisten.
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie denn von mir?“
+</p>
+
+<p>
+„Wir möchten Sie nur einmal sprechen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das könnten Sie auch durch die Tür tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir möchten Sie persönlich sehen. Machen Sie auf, oder wir brechen
+die Tür auf.“
+</p>
+
+<p>
+Brechen die Tür auf! Und die sollen gegen Einbrecher schützen.
+</p>
+
+<p>
+Gut, ich mache auf. Aber kaum habe ich die Tür auch nur einen Ritz
+auf, da preßt der eine Bursche schon seinen Fuß dazwischen. Der alte
+Trick, auf den sie sich immer wieder etwas einbilden. Das scheint der
+erste Trick zu sein, den sie zu lernen haben.
+</p>
+
+<p>
+Sie kommen rein. Zwei Mann in Zivilkleidung. Ich sitze auf dem Bettrand
+und fange an, mich anzuziehen.
+</p>
+
+<p>
+Mit Holländisch werde ich ganz gut fertig. Ich bin auf holländischen
+Schiffen gefahren und habe hier nun wieder etwas dazu gelernt. Die
+beiden Vögel können aber auch etwas Englisch.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind Amerikaner?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich denke.“
+</p>
+
+<p>
+„Zeigen Sie Ihre Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein.
+Ich bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem
+Lande nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+kann. Vor dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte
+oder nach dem Paß, und die Menschen waren recht glücklich. Aber
+Kriege, die für die Freiheit, für die Unabhängigkeit und für die Demokratie
+geführt werden, sind immer verdächtig. Verdächtig seit jenem
+Tage, wo die Preußen ihre Freiheitskriege gegen Napoleon führten.
+Wenn Freiheitskriege gewonnen werden, dann sind die Menschen nach
+dem Kriege alle Freiheit los, weil der Krieg die Freiheit gewonnen hat.
+Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe keine Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie ha–a–a–a–ben keine Seemannskarte?“
+</p>
+
+<p>
+Diesen entgeisterten Ton habe ich schon einmal gehört, und auch gerade
+zu einer Zeit, als ich so hübsch an einem frühen Morgen einduseln
+wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich ha–a–a–a–a–be keine, keine, keine Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann zeigen Sie Ihren Paß.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe keinen Paß.“
+</p>
+
+<p>
+„Keinen Paß?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, keinen Paß.“
+</p>
+
+<p>
+„Auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wissen doch, daß Sie sich hier in Holland ohne Papiere, die von
+unsern Behörden visiert sein müssen, nicht aufhalten dürfen?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„So? Das wissen Sie nicht? Sie haben wohl die letzten Monate und Jahre
+auf dem Monde gelebt?“
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Vögel halten das für einen so guten Witz, daß sie laut auflachen.
+</p>
+
+<p>
+„Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit!“
+</p>
+
+<p>
+Wissen möchte ich, ob man hier auch gehenkt wird, wenn man keine
+Seemannskarte vorzeigen kann.
+</p>
+
+<p>
+„Hat jemand von den Herren nicht vielleicht eine Zigarette?“ frage ich.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Eine Zigarre können Sie haben, eine Zigarette habe ich nicht. Wir
+können unterwegs welche kaufen. Wollen Sie die Zigarre haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Zigarre nehme ich lieber als die Zigarette.“
+</p>
+
+<p>
+Während ich mich ankleide und wasche, rauche ich an der Zigarre. Die
+beiden setzen sich hin, aber dicht an die Tür. Ich beeile mich nicht sehr.
+Aber wenn man auch noch so langsam macht, einmal ist man dann
+schließlich doch angekleidet.
+</p>
+
+<p>
+Wir zogen ab und landeten wo? Richtig geraten. In einer Polizeistation.
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+Nun wurde ich erst wieder einmal gründlich durchsucht. Diesmal hatten
+sie mehr Glück als ihre Brüder in Antwerpen gehabt hatten. Sie fanden
+fünfundvierzig holländische Cents in meinen Taschen. Das Frühstücksgeld.
+Das konnte ich ja nun sparen.
+</p>
+
+<p>
+„Was? Mehr Geld haben Sie nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mehr Geld habe ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Wovon haben Sie denn die ganzen Tage hier gelebt?“
+</p>
+
+<p>
+„Von dem, was ich jetzt nicht mehr habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Da hatten Sie also Geld, als Sie hier nach Antwerpen kamen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieviel?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich so genau nicht mehr. Hundert Dollar oder so, es können
+auch zweihundert gewesen sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo hatten Sie denn das Geld her?“
+</p>
+
+<p>
+„Das Geld hatte ich einfach gespart.“
+</p>
+
+<p>
+Das war offenbar wieder ein guter Witz; denn die ganze Bande, die
+da im Vernehmungszimmer um mich herum versammelt war, platzte
+heraus vor Lachen. Aber alle paßten auf, ob der Hohepriester auch
+lachte. Und als der anfing, da fingen sie auch an zu lachen, und als der
+aufhörte, da hörten sie so plötzlich auf, als wären sie vom Schlage getroffen
+worden.
+</p>
+
+<p>
+„Wie sind Sie denn überhaupt nach Holland gekommen? So ganz ohne
+Paß. Wo sind Sie denn da durchgekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin halt so ’reingekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, ’reingekommen?“
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul hat es mir nicht geglaubt, wie ich hereingekommen bin. Die
+würden es mir erst recht nicht glauben. Ich kann auch diesen netten
+Burschen da aus Belgien nicht den Spaß verderben.
+</p>
+
+<p>
+Also da sage ich: „Mit einem Schiff bin ich gekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit welchem Schiff?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit – mit – mit der George Washington.“
+</p>
+
+<p>
+„Wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich so genau nicht mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„So? Also mit der George Washington sind Sie gekommen. Das ist eine
+recht mysteriöse George Washington. Die ist unsers Wissens nie in
+Rotterdam gewesen.“
+</p>
+
+<p>
+„Dafür kann ich nichts. Ich bin für das Schiff nicht verantwortlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben also gar kein Papier, gar keinen Ausweis. Nichts. Rein gar
+nichts, womit Sie beweisen können, daß Sie Amerikaner sind?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+„Nein. Aber mein Konsul ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich schien gute Witze zu machen. Wieder setzte ein Höllengelächter ein.
+</p>
+
+<p>
+„I–h–r Konsul.“
+</p>
+
+<p>
+Das Ihr zog er so lang, als ob es für ein halbes Jahr reichen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben doch keine Papiere. Was soll denn da I–h–r Konsul mit
+Ihnen anfangen?“
+</p>
+
+<p>
+„Er wird mir doch Papiere geben!“
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Konsul? Der amerikanische Konsul? Ein amerikanischer Konsul?
+In unserm Jahrhundert nicht. Nicht ohne Papiere. Nicht ohne, daß Sie,
+sagen wir mal, in guten Verhältnissen leben. Nicht so einem ’rumtreiber.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bin doch Amerikaner.“
+</p>
+
+<p>
+„Möglich. Aber das müssen Sie I–h–rem Konsul beweisen. Und ohne
+Papiere glaubt er es Ihnen nicht. Ohne Papiere glaubt er Ihnen nicht,
+daß Sie überhaupt geboren sind. Ich will Ihnen etwas sagen, zu Ihrer
+Belehrung, Beamte sind immer Bureaukraten. Auch wir sind Bureaukraten.
+Die schlimmsten Bureaukraten aber sind die Bureaukraten, die
+es erst seit gestern sind. Und die allerschlimmsten Bureaukraten sind
+die, die den Bureaukratismus von den Preußen geerbt haben. Haben
+Sie verstanden, was ich meine?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube ja, mein Herr.“
+</p>
+
+<p>
+„Und wenn wir Sie nun dahin bringen, nämlich zu Ihrem Konsul, und
+Sie haben keine Papiere, dann übergibt er Sie uns offiziell, und wir werden
+Sie nie wieder los. Haben Sie das auch verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich denke ja, mein Herr.“
+</p>
+
+<p>
+„Was sollen wir denn mit Ihnen machen? Wer ohne Paß aufgegriffen
+wird, bekommt sechs Monate Gefängnis und Deportation nach seinem
+Heimatlande. Ihr Heimatland wird bestritten, und wir müssen Sie in
+das Internierungslager schicken. Wir können Sie doch nicht totschlagen
+wie einen Hund. Aber vielleicht kommen solche Gesetze noch heraus.
+Warum sollen wir Sie durchfüttern? Wollen Sie nach Deutschland?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich mag nicht nach Deutschland. Wenn den Deutschen die Rechnung
+vorgelegt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Also nicht nach Deutschland. Das kann ich begreifen. Gut für jetzt.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Das war ein Beamter, der offenbar viel gedacht oder viel gute Sachen
+gelesen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Er rief jetzt einen Cop herbei und sagte: „Bringen Sie ihn in die Zelle,
+geben Sie ihm Frühstück, und gehen Sie eine englische Zeitung und
+eine Zeitschrift für ihn kaufen, damit er sich nicht langweilt. Auch ein
+paar Zigarren.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-10">
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+8
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> Spätnachmittag wurde ich wieder vorgeführt, und
+mir wurde gesagt, ich möge den beiden Beamten in
+Zivil folgen. Wir gingen auf den Bahnhof und
+fuhren ab. Auf der Station einer kleinen Stadt
+stiegen wir aus und gingen in die Polizeiwache der
+Stadt. Dort saß ich auf der Bank und wurde von
+allen Cops, die von Ablösung kamen, betrachtet wie
+ein Tier im Zoologischen Garten. Ab und zu sprach
+man auch mit mir. Als es gegen zehn Uhr war, sagten zwei Männer zu
+mir: „Es ist jetzt Zeit. Wir wollen gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen über Felder und gingen auf Wiesenpfaden. Endlich blieben
+die beiden stehen und einer sprach mit verhaltener Stimme: „Gehen
+Sie dort in jener Richtung, die ich Ihnen zeige, immer gerade aus. Sie
+werden niemand treffen. Wenn Sie aber jemand sehen sollten, so gehen
+Sie ihm aus dem Wege oder legen Sie sich hin, bis er vorüber ist. Wenn
+Sie eine Zeit gegangen sind, dann kommen Sie zu einer Bahnlinie.
+Folgen Sie der Bahnlinie, bis Sie zu der Station kommen. Halten Sie
+sich dort in der Nähe auf bis gegen Morgen. Sobald Sie sehen, daß ein
+Zug zur Abfahrt fertiggemacht wird, gehen Sie zum Schalter und
+sagen: ‚Un troisième à Anvers.‘ Können Sie das behalten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das kann ich. Es ist sehr leicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber reden Sie sonst kein Wort weiter. Sie bekommen dann Ihre Fahrkarte
+und fahren nach Antwerpen. Dort kriegen Sie leicht wieder ein
+Schiff, wo man immer Seeleute braucht. Hier haben Sie etwas zum
+Beißen und auch noch etwas zum Rauchen. Kaufen Sie nichts, bevor Sie
+in Antwerpen sind. Hier sind dreißig belgische Franken.“
+</p>
+
+<p>
+Er händigte mir ein Paket Butterbrote ein, einen Papierbeutel mit
+Zigarren und eine Schachtel Zündhölzer, damit ich niemand um Feuer
+anbetteln brauchte.
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie nie wieder zurück nach Holland. Sie bekommen sechs
+Monate Gefängnis und Internierungskamp. Sie sind also hiermit ausdrücklich
+verwarnt, vor einem Zeugen. Good-bye und viel Glück.“
+</p>
+
+<p>
+Da stand ich in der Nacht auf offnem Felde. Viel Glück!
+</p>
+
+<p>
+Eine Strecke ging ich nun in jener Richtung, bis ich überzeugt war, daß
+die beiden mich nicht mehr sehen konnten, oder daß sie nun fort waren.
+Dann blieb ich stehen und begann zu überlegen.
+</p>
+
+<p>
+Nach Belgien? Da gab es lebenslänglich Gefängnis. Zurück nach Holland?
+Da gab es nur sechs Monate Gefängnis. Das war schon billiger.
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Dann kam noch das Internierungskamp für Paßlose. Hätte ich doch nur
+gefragt, wie lange das Internierungskamp dauert. Wahrscheinlich war
+das lebenslänglich. Denn aus welchem Grunde sollte es Holland billiger
+machen als Belgien?
+</p>
+
+<p>
+Ich kam zu dem Entschluß, daß Holland auf alle Fälle billiger war. Es
+war auch darum besser, weil ich dort mit der Sprache zurechtkommen
+konnte, während ich in Belgien gar nichts reden konnte und noch viel
+weniger verstehen.
+</p>
+
+<p>
+Nun ging ich erst einmal eine Strecke seitlich fort, ungefähr eine halbe
+Stunde lang. Und dann querfeldein zurück nach Holland. Das Lebenslänglich
+war doch zu bitter.
+</p>
+
+<p>
+Es ging ganz gut. Nur immer tapfer drauf los.
+</p>
+
+<p>
+„Halt! Stehen bleiben! Oder es wird geschossen!“ Recht angenehm,
+wenn plötzlich aus der Finsternis heraus gerufen wird: „Es wird geschossen.“
+</p>
+
+<p>
+Zielen kann der Mann ja nicht und sehen kann er mich auch nicht. Aber
+eine nichtgezielte Kugel kann auch treffen. Und das ist schließlich doch
+noch schlimmer als lebenslänglich.
+</p>
+
+<p>
+„Was machen Sie denn hier?“ Zwei Männer kamen aus der Dunkelheit
+heraus und auf mich zu. Einer fragte mich das.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe ein wenig spazieren. Ich kann nicht schlafen.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum gehen Sie denn gerade hier auf der Grenze spazieren?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Grenze habe ich nicht gesehen, es ist ja kein Zaun da.“
+</p>
+
+<p>
+Zwei grelle Taschenlampen waren auf mich gerichtet, und ich wurde
+durchsucht. Was die Menschen nur immer zu durchsuchen haben. Ich
+glaube, die suchen überall nach den verlorengegangenen vierzehn
+Punkten Wilsons. Ich habe sie jedenfalls nicht in der Tasche.
+</p>
+
+<p>
+Als sie nun nichts weiter fanden als die Butterbrote, die dreißig Franken
+und die Zigarren, blieb einer bei mir stehen, während der andre ein
+Stück des Weges, auf dem ich gekommen war, ableuchten ging. Wahrscheinlich
+hoffte er, dort den Weltfrieden zu finden, der in der ganzen
+Welt gesucht wird, seitdem unsre Jungens dafür gekämpft und geblutet
+haben, daß dieser Krieg der letzte Krieg sei.
+</p>
+
+<p>
+„Wo wollen Sie denn hin?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will zurück nach Rotterdam.“
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt? Warum denn gerade um Mitternacht und gerade hier über die
+Wiese? Warum gehen Sie denn nicht auf der Straße?“
+</p>
+
+<p>
+Als ob man nicht nachts über eine Wiese gehen könnte! Die Leute haben
+merkwürdige Ansichten. Und immer haben sie gleich einen Verdacht,
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+daß man irgendein Verbrechen begangen haben könnte. Ich erzählte
+nun, daß ich von Rotterdam käme, und wie ich hierher gekommen sei.
+Da wurden sie aber wütend und sagten, ich solle sie nicht zum Narren
+halten, es sei ganz klar, daß ich von Belgien käme und mich nach Holland
+reinschleichen wolle. Als ich ihnen nun sagte, aber die dreißig
+Franken bewiesen doch, daß ich die Wahrheit gesagt hätte, wurden sie
+noch wütender und sagten, das sei eben gerade ein Beweis, daß ich sie
+anlügen wollte. Die Franken seien ein Beweis, daß ich von Belgien
+komme, denn in Holland habe man keine Franken. Nun gar noch zu
+sagen, daß mir holländische Beamte dieses Geld gegeben hätten und
+mich mitten in der Nacht auf ungesetzlichem Wege abgeschoben hätten,
+das zwänge sie, mich zu arretieren und mich unter Anklage der Beamtenbeschimpfung
+zu stellen. Sie wollten aber noch einmal Gnade mit
+mir haben, weil ich offenbar ein armer Schlucker sei, der nicht die Absicht
+gehabt habe, zu schmuggeln, und würden mich auf den richtigen
+Weg führen, auf den ich wieder zurück nach Antwerpen kommen
+könne.
+</p>
+
+<p>
+So gut waren diese Leute zu mir.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt mußte ich doch nach Belgien gehen, da half nichts. Wenn nur das
+Lebenslänglich nicht wäre.
+</p>
+
+<p>
+Eine Stunde wanderte ich nun in der Richtung nach Belgien.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde müde und stolperte vor mich hin. Am liebsten hätte ich mich
+hier hingelegt und geschlafen. Ich hielt es aber doch für besser, weiterzugehen,
+um aus dem gefährlichen Bereich, wo geschossen werden darf
+auf den, der nicht schießen darf, herauszukommen.
+</p>
+
+<p>
+Da plötzlich packt mich etwas am Bein. Ich denke, es ist ein Hund. Als
+ich aber zufasse, ist es eine Hand. Und da flammt auch schon eine
+Taschenlaterne auf. Dieses Ding ist auch eine Erfindung des Satans,
+man sieht sie immer erst, wenn sie einem dicht vor Augen ist.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Mann stehen jetzt auf. Sie haben da in der Wiese gelegen, und ich
+bin ihnen so schön richtig mitten in die Arme gelaufen.
+</p>
+
+<p>
+„Wo wollen Sie denn hin?“
+</p>
+
+<p>
+„Nach Antwerpen.“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprechen Holländisch oder mehr Flämisch.
+</p>
+
+<p>
+„Nach Antwerpen wollen Sie? Jetzt zur Nachtzeit? Warum gehen Sie
+denn nicht auf der ordentlichen Straße, wie es anständigen Menschen
+gebührt?“
+</p>
+
+<p>
+Ich erzähle ihnen nun, daß ich nicht aus freiem Willen käme, und sage
+ihnen, wie es zugegangen sei, daß ich mich hier herumzudrücken habe.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+„Solchen Schwindel können Sie andern erzählen. Nicht uns. So etwas
+tun Beamte nicht. Sie haben da in Holland etwas ausgefressen und
+wollen nun hier ’rüber. Aber das gibt es nicht. Wollen wir erst einmal
+die Taschen durchsuchen, um zu erfahren, warum Sie hier mitten in der
+Nacht über die Wiesen gehen und immer auf der Grenze.“
+</p>
+
+<p>
+Sie fanden in meinen Taschen und zwischen den Nähten meiner Sachen
+nicht, was sie suchten. Ich wollte gern wissen, was die Leute eigentlich
+immer suchen und warum sie einem immer die Taschen durchwühlen
+müssen. Eine üble Angewohnheit dieser Leute.
+</p>
+
+<p>
+„Wir wissen schon, was wir suchen. Da brauchen Sie sich gar keine
+Sorge machen.“
+</p>
+
+<p>
+Nun bin ich auch nicht klüger. Aber finden tun sie nichts. Ich bin überzeugt,
+daß es bis an das Weltende eine Hälfte Menschen geben wird, die
+immer die Taschen durchsuchen muß und eine andre Hälfte, die sich
+das Durchsuchen der Taschen gefallen lassen muß. Vielleicht geht der
+ganze Streit der Menschheit nur darum, wer das Recht hat, die Taschen
+zu durchsuchen, und wer die Pflicht hat, sich das gefallen zu lassen und
+noch dafür zu bezahlen.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem das Amtsgeschäft vorüber ist, sagt der eine zu mir: „So, da
+drüben ist die Richtung nach Rotterdam, da gehen Sie jetzt immer drauf
+los und lassen Sie sich hier ja nicht wieder sehen. Und wenn Sie wieder
+einmal Grenzpolizei treffen, dann halten Sie sie nicht für so dumm, wie
+Sie uns gehalten haben. Habt ihr denn da drüben in eurem blödsinnigen
+Amerika nichts mehr zu essen, daß ihr alle hier herüber kommen müßt,
+um uns das bißchen Essen, das wir für unsre Leute brauchen, auch noch
+wegzufressen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin doch aber gar nicht freiwillig hier“, widerspreche ich, und ich
+weiß am besten, wie recht ich habe.
+</p>
+
+<p>
+„Merkwürdig, das sagt jeder von euch, den wir hier aufgreifen.“
+</p>
+
+<p>
+Das ist ja ganz etwas Neues. Da bin ich vielleicht noch nicht einmal der
+einzige, der sich hier auf einem fremden Erdteil herumtreiben muß.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ziehen Sie ab. Und machen Sie keine überflüssigen Umwege mehr.
+Es wird bald hell, und dann werden wir Sie gut beobachten. Rotterdam
+ist ein guter Platz. Da sind viele Schiffe, die immer jemand brauchen.“
+Wie oft mir das nun schon erzählt worden ist. Es müßte eigentlich durch
+das häufige Erzählen nun schon eine wissenschaftliche Wahrheit geworden
+sein.
+</p>
+
+<p>
+Mit den dreißig Franken konnte ich hier in dem kleinen Städtchen nichts
+anfangen, das wäre sicher gleich aufgefallen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+Aber da kam ein Milchwagen, und der nahm mich eine Strecke mit. Und
+dann kam ein Lastauto, und das nahm mich eine Strecke mit. Dann kam
+wieder ein Bauer, der Schweine zu einer Stadt brachte. So kam ich Meile
+um Meile näher nach Rotterdam. Sobald die Menschen nicht zur Polizei
+gehören, und sobald sie nicht zur Polizei gerechnet werden wollen,
+fangen sie an, sehr liebe Geschöpfe zu werden, die ganz vernünftig
+denken und ganz normal fühlen können. Ich erzählte den Leuten ganz
+treu, wie es mir ergangen sei, und daß ich keine Papiere hätte. Und sie
+waren alle so nett, gaben mir zu essen, gaben mir einen warmen,
+trockenen Winkel, um zu schlafen, und gaben mir gute Ratschläge, wie
+ich der Polizei am besten aus dem Wege gehen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Es ist recht sonderbar. Keiner liebt die Polizei. Und man ruft bei einem
+Einbruch die Polizei auch nur darum, weil einem nicht erlaubt ist,
+dem Einbrecher das Leder selbst zu versohlen und ihm den Raub wieder
+abzunehmen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-11">
+9
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> dreißig Franken umgewechselt in holländische
+Gulden gaben nicht viel her. Aber auf Geld
+kann man sich ja überhaupt nicht verlassen,
+wenn man sonst nichts nebenbei hat.
+</p>
+
+<p>
+Das Nebenbei kam an einem Nachmittag, gleich
+darauf.
+</p>
+
+<p>
+Ich strollte am Hafen entlang, und da sah ich
+zwei Mann daherkommen. Als sie nahe bei mir
+waren, schnappte ich etwas von ihrem Geschwätz auf. Es ist ja so
+urkomisch, wenn man einen Engländer reden hört. Die Engländer
+behaupten immer, wir könnten nicht richtig Englisch sprechen; aber
+was die Leute reden, das ist sicher kein Englisch. Das ist überhaupt
+keine Sprache. Na, ganz egal. Ich kann sie ja nicht riechen, die Rotköppe.
+Aber uns können sie ja auch nicht verdauen. Da gleicht sich das
+wieder aus. Das geht nun schon so seit hundertfünfzig und ich weiß
+nicht wieviel Jahren.
+</p>
+
+<p>
+Nun ist natürlich die ganze Suppe erst recht wieder übergekocht, seit
+die große Schweinerei im Gange war.
+</p>
+
+<p>
+Da kommt man nun in einen Hafen, wo sie dicke sitzen wie die Brombeeren.
+In Australien, oder vielleicht in China oder Japan. Wie es gerade
+trifft. Man will einen heben gehen und rutscht in eine Hafenschenke.
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+Da sitzen sie und stehen sie nun, und kaum hat man ein Wort
+’raus, gleich geht das Vergnügen los: „Eh, Yank.“
+</p>
+
+<p>
+Man kümmert sich gar nicht um die Bullköppe, man trinkt seinen
+Kleinen und will gehen.
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Male rasselt es aus einer Ecke: „Who won the war? Wer hat
+den Krieg gewonnen, Yank?“
+</p>
+
+<p>
+Möchte wissen, was mich das angeht. Ich habe ihn nicht gewonnen, das
+weiß ich einmal ganz genau. Und die ihn wirklich gewonnen zu haben
+meinen, die haben auch nichts zu lachen und wären froh, wenn niemand
+davon überhaupt sprechen möchte.
+</p>
+
+<p>
+„He, Yank, who won the war?“
+</p>
+
+<p>
+Was soll man nun sagen, wenn man ganz allein ist, und da sind zwei
+Dutzend Rotköppe drin? Sagt man: „Wir!“, dann gibt es Senge. Sagt
+man: „Die Franzosen!“, dann gibt es Senge. Sagt man: „Ich!“, dann
+lachen sie, aber Senge gibt es trotzdem. Sagt man: „The Dominians,
+Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika!“ dann gibt es Senge. Sagt
+man gar nichts, so heißt das: „Wir Amerikaner!“, und es gibt Senge. Zu
+sagen: „Ihr habt ihn gewonnen!“, das wäre eine unverschämte Lüge,
+und lügen möchte man nicht. Also gibt es Senge, und da kann man nicht
+dran vorbei. So sind die Bullen, und dann heißt es immer noch: die
+„Vettern von drüben“. Meine nicht. Da wundern sie sich noch, wenn man
+sie nicht riechen kann.
+</p>
+
+<p>
+Aber was wollte ich denn machen?
+</p>
+
+<p>
+„Auf welchem Eimer seid ihr denn?“ frage ich.
+</p>
+
+<p>
+„Na, Yankchen, was machst du denn hier? Wir haben doch gar keinen
+Yank hier gesehen.“ Sie fühlen sich, weil sie schon Zimt riechen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin achtern abgekantet und kann jetzt nicht Anker hieven.“
+</p>
+
+<p>
+„Keine Versicherungspolice, hä?“
+</p>
+
+<p>
+„Erraten.“
+</p>
+
+<p>
+„Willst du jetzt wegstauen?“
+</p>
+
+<p>
+„Muß. Kiel sitzt auf. Brennt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir sind auf einem Schotten.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo geht ihr denn ’raus jetzt?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Boulogne. Bis dahin können wir dich stauen. Weiter geht’s aber nicht.
+Der Bos’n, der Bootsmann, ist ein Hund.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, dann mache ich nach Boulogne. Wann ebbt ihr ab?“
+</p>
+
+<p>
+„Am besten, du kommst ’rauf um acht. Da ist der Bos’n saufen. Wir
+stehen an der Schanze. Wenn ich die Mütze in den Nacken schiebe, ist
+alles klar; wenn ich nichts mache, wartest du noch eine Weile. Lauf
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+nicht soviel gerade vor der Nase herum. Wenn du aber gewischt wirst,
+läßt du dir eher das Maul breitschlagen, ehe du sagst, wer dich gelotst
+hat. Ehrensache, verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+Um acht war ich da. Die Mütze wurde in den Nacken geschoben. Der
+Bos’n war besoffen und wurde vor Boulogne nicht nüchtern, und da
+stieg ich aus und war in Frankreich.
+</p>
+
+<p>
+Ich wechselte mein Geld in französische Franken um. Dann ging ich
+zum Bahnhof, und da stand der Expreß für Paris. Ich nahm eine Karte
+für die erste Station und setzte mich in den Zug.
+</p>
+
+<p>
+Die Franzosen sind zu höflich, als daß sie einen während der Fahrt belästigen
+würden.
+</p>
+
+<p>
+Und da war ich mit einem Male in Paris. Aber da wurden die Karten
+kontrolliert, und ich hatte keine für Paris.
+</p>
+
+<p>
+Wieder Polizei. Natürlich, wie könnte es auch ohne Polizei gehen? Es
+wurde ein grausames Radebrechen. Ich ein paar Brocken Französisch,
+die Leute jeder einen Brocken Englisch. Das meiste hatte ich zu erraten.
+Wo ich herkäme? Von Boulogne. Wie ich nach Boulogne gekommen sei?
+Mit einem Schiff. Wo meine Seemannskarte sei? Habe keine.
+</p>
+
+<p>
+„Was, Sie haben keine Seemannskarte?“
+</p>
+
+<p>
+Diese Frage würde ich jetzt sogar verstehen, wenn man sie zu mir
+Hindostanisch sagte. Denn die Geste und der Tonfall sind so genau
+die gleichen, daß man sich nie irren könnte.
+</p>
+
+<p>
+„Paß habe ich auch nicht. Ich habe auch keine Identitätskarte. Ich habe
+überhaupt keine Papiere. Nie Papiere gehabt.“
+</p>
+
+<p>
+Das sage ich gleich in einem Atemzuge. Nun können sie wenigstens
+diese Fragen nicht stellen und sich damit die Zeit vertreiben. In der Tat
+werden Sie ein wenig verblüfft, weil sie nun ganz aus der Reihe gekommen
+sind. Für eine Weile weiß keiner, was er fragen oder sagen soll.
+Glücklicherweise bleibt ihnen ja die Fahrkarte, die ich nicht hatte. Und
+am nächsten Tage ist wieder ein Verhör. Ich lasse sie ruhig verhören und
+reden und fragen. Ich verstehe nichts. Am Schluß wird mir aber klar,
+daß ich zehn Tage Gefängnis weghabe wegen Eisenbahnbetrugs oder so
+etwas Ähnlichen. Was weiß ich. Es ist mir auch gleichgültig. Aber das
+war meine Ankunft in Paris.
+</p>
+
+<p>
+Diese Gefängnislaufbahn war recht drollig.
+</p>
+
+<p>
+Erster Tag: Einlieferung, Baden, Untersuchung, Wäscheausteilung,
+Zellenverteilung. Der erste Tag war vorbei.
+</p>
+
+<p>
+Zweiter Tag: Quittieren kommen beim Kassenverwalter über die
+Summe, die ich bei meiner Verhaftung im Besitz hatte. Abermalige
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+Personenfeststellung und Eintragung in dicke Bücher. Nachmittag:
+Empfang beim Gefängnisgeistlichen. Er sprach gut Englisch. Behauptete
+er. Das muß aber das Englisch gewesen sein, als William der Eroberer
+noch nicht in England gelandet war, denn ich verstand von diesem guten
+Englisch nicht ein einziges Wort, ließ es mir aber nicht anmerken. Wenn
+er von Gott sprach, sagte er immer „Goat“, und ich war der Meinung, er
+rede von einer Ziege. Damit ging auch der zweite Tag herum.
+</p>
+
+<p>
+Dritter Tag: Vormittags werde ich gefragt, ob ich schon mal Schürzenbänder
+angenäht hätte. Ich sagte nein. Nachmittags wurde mir mitgeteilt,
+daß ich in die Schürzenabteilung eingereiht würde. Damit ging
+der dritte Tag zu Ende.
+</p>
+
+<p>
+Vierter Tag: Vormittags wurde mir Schere, Nadel, eine ganze Nähnadel,
+Zwirn und ein Fingerhut gegeben. Der Fingerhut paßte nicht. Aber mir
+wurde gesagt, einen andern hätten sie nicht. Nachmittags wurde mir gezeigt,
+wie ich die Schere, die Nähnadel und den Fingerhut immer sichtbar
+auf den Schemel zu legen und den Schemel in die Mitte der
+Zelle zu stellen habe, wenn ich die Zelle für den Rundgang verlasse.
+Außen neben der Tür wurde ein Plakat angeschlagen mit der Aufschrift:
+„Besitzt eine Schere, eine Nähnadel und einen Fingerhut.“ Damit
+war der vierte Tag herum.
+</p>
+
+<p>
+Fünfter Tag: Sonntag.
+</p>
+
+<p>
+Sechster Tag: Vormittags werde ich in die Arbeitshalle geführt. Nachmittags
+wird mir ein Platz in der Arbeitshalle angewiesen. Der sechste
+Tag ist ’rum.
+</p>
+
+<p>
+Siebenter Tag: Vormittags wird mir der Gefangene gezeigt, der mich
+lehren soll, wie Schürzenbänder angenäht werden sollen. Nachmittags
+sagt mir der Gefangene, ich solle meine Nähnadel schon mal einfädeln.
+Der siebente Tag ist ’rum.
+</p>
+
+<p>
+Achter Tag: Der Lehrmeister zeigt mir, wie er die Schürzenbänder annäht.
+Nachmittags ist Baden und Wiegen. Der achte Tag ist rum.
+</p>
+
+<p>
+Neunter Tag: Vormittags muß ich zum Direktor kommen. Mir wird mitgeteilt,
+daß morgen meine Zeit um sei, und ich werde gefragt, ob ich Beschwerden
+vorzubringen hätte. Dann muß ich meinen Namen ins Fremdenbuch
+schreiben. Nachmittags wird mir gezeigt, wie ich ein Schürzenband
+anzunähen habe. Der neunte Tag ist ’rum.
+</p>
+
+<p>
+Zehnter Tag: Vormittags nähe ich ein Schürzenband an. Mein Lehrmeister
+betrachtet sich das angenähte Band einundeinehalbe Stunde
+und sagt dann, es sei nicht gut angenäht, er müsse es wieder abtrennen.
+Nachmittags nähe ich wieder ein Schürzenband an. Als ich das eine Ende
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+gerade angenäht habe, werde ich zur Abfertigung gerufen. Ich werde
+gewogen, untersucht, bekomme meine Zivilsachen, die ich anziehen darf,
+und kann dann im Hof spazierengehen. Der zehnte Tag ist ’rum.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen um sechs werde ich gefragt, ob ich noch Frühstück
+haben wolle. Ich sage nein, werde zum Kassenverwalter geführt, wo
+ich eine Weile warten muß, weil er noch nicht da ist. Dann kriege ich
+doch Frühstück, und endlich kommt der Kassenverwalter, der mir mein
+Geld zurückgibt, was ich wieder zu quittieren habe. Dann erhalte ich
+fünfzehn Centimes für Arbeitsleistung, war entlassen und konnte gehen.
+Verdient hat der französische Staat nicht viel an mir, und ob die Eisenbahn
+sich nun einbilden darf, bezahlt zu sein, ist auch noch die Frage.
+Draußen wurde ich aber gleich wieder von der Polizei in Empfang
+genommen.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde verwarnt. Innerhalb fünfzehn Tagen hätte ich das Land
+zu verlassen, auf demselben Wege, auf dem ich hereingekommen sei.
+Würde ich nach Ablauf von fünfzehn Tagen noch innerhalb der Landesgrenzen
+gefunden, so würde nach Maßgabe der Gesetze mit mir verfahren
+werden. Also mit mir verfahren werden. Was das bedeutete, war
+mir nicht klar. Vielleicht hängen oder auf dem Scheiterhaufen schmoren.
+Warum nicht. In dieser Zeit der vollendeten Demokratien ist ein Paßloser
+und damit also auch ein Nichtwahlberechtigter ein Ketzer. Jede
+Zeit hat ihre Ketzer, und jede Zeit hat ihre Inquisition. Heute sind der
+Paß, das Visum, der Einwanderungsbann die Dogmen, auf die sich die
+Unfehlbarkeit des Papstes stützt, an die man zu glauben hat, oder man
+muß die verschiedenen Grade der Folterungen über sich ergehen lassen.
+Früher waren die Fürsten die Tyrannen, heute ist der Staat der Tyrann.
+Das Ende der Tyrannen ist immer Entthronung und Revolution, ganz
+gleich, wer der Tyrann ist. Die Freiheit des Menschen ist zu urwüchsig
+mit seinem ganzen Dasein und Wollen verknüpft, als daß der Mensch
+irgendeine Tyrannei lange ertragen könnte, selbst wenn die Tyrannei
+in dem sammetweichen Lügenmantel des Mitbestimmungsrechtes erscheinen
+sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Sie müssen doch aber irgendein Papier haben, lieber Freund“, sagte
+der Offizier, der mich verwarnte. „Ohne Papier können Sie gewiß nicht
+immer herumlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich könnte vielleicht einmal zu meinem Konsul gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Zu Ihrem Konsul?“
+</p>
+
+<p>
+Der Ton war mir bekannt. Es scheint, daß mein Konsul in der ganzen
+Welt bekannt ist.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+„Was wollen Sie denn bei Ihrem Konsul? Sie haben doch keine Papiere.
+Der glaubt Ihnen keine Silbe, wenn Sie keine Papiere haben. Er gibt
+nur auf Papiere etwas. Besser, Sie gehen gar nicht hin, sonst werden wir
+Sie nie wieder los und haben Sie für das ganze Leben auf dem Halse.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Wie sagten die Römer? Die Konsuln sollen darauf bedacht sein, daß der
+Republik nichts Übles widerfahre. Und es könnte der Republik sicher
+sehr viel Übles widerfahren, wenn die Konsuln nicht verhindern würden,
+daß jemand, der keine Papiere hat, sein Heimatland wiedersieht.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Aber irgendein Papier müßten Sie doch haben. Sie können doch nicht
+gut den Rest Ihres Lebens ohne Papiere herumlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das glaube ich auch, daß ich ein Papier haben müßte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann Ihnen kein Papier geben. Worauf denn? Alles, was ich Ihnen
+geben kann, ist ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis. Mit dem
+Schein ist nicht viel los. Dann schon besser gar nichts. Und bei jedem
+andern Papier kann ich nur einsetzen, der Vorzeiger behauptet, der
+und der zu sein und von da und da herzukommen. Ein solches Papier
+ist aber wertlos, denn es ist kein Beweis; es sagt nur das aus, was Sie
+aussagen. Und Sie können natürlich erzählen, was Sie wollen, ob es
+wahr ist oder nicht. Selbst wenn es wahr ist, es muß bewiesen werden
+können. Es tut mir sehr leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Sie
+amtlich verwarnt, und Sie müssen das Land verlassen. Gehen Sie doch
+nach Deutschland. Das ist auch ein sehr schönes Land.“
+</p>
+
+<p>
+Warum sie mich alle nach Deutschland schicken, das möchte ich wissen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-12">
+10
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> blieb ich erst einmal einige Tage in Paris, um
+abzuwarten, was geschehen würde. Geschehnisse
+können <a id="corr-4"></a>einem manchmal besser voranhelfen als die
+schönsten Pläne. Ich hatte ja jetzt ein gutes Recht,
+mir Paris anzusehen. Meine Fahrkarte war bezahlt,
+meine Verpflegung im Gefängnis hatte ich abverdient,
+so war ich dem französischen Staat nichts mehr
+schuldig, und ich durfte sein Pflaster ablaufen.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man nun so gar nichts zu tun hat, kommt man auf allerlei überflüssige
+Gedanken. Einen so überflüssigen Gedanken bekam ich eines
+guten Tages, und er führte mich zu meinem Konsul. Daß es ganz hoffnungslos
+war, wußte ich im voraus. Aber ich dachte, es schadet doch nie
+etwas, wenn man Erfahrungen über Menschen sammelt. Alle Konsuln
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+sind in dieselbe Form gegossen wie fast alle Beamten. Sie gebrauchen
+wörtlich denselben Redeschatz, den sie bei ihren Prüfungen vorweisen
+mußten, sie werden würdevoll, ernst, befehlshaberisch, devot, gleichgültig,
+gelangweilt, interessiert und tieftraurig bei denselben Gelegenheiten,
+und sie werden heiter, lustig, freundlich und geschwätzig bei denselben
+Gelegenheiten, ob sie im Dienste Amerikas, Frankreichs, Englands
+oder Argentiniens stehen. Zu wissen, genau zu wissen, wann sie
+eine dieser Gefühlsäußerungen zu zeigen haben, ist die ganze Weisheit,
+die ein solcher Beamter benötigt. Ab und zu vergißt aber jeder Beamte
+einmal seine Weisheit und wird für eine halbe Minute Mensch. Dann
+kennt man ihn gar nicht wieder, dann fängt er an, die innere Haut nach
+außen zu kehren. Der interessanteste Moment aber ist, wenn er plötzlich
+empfindet, daß die innere Haut bloßliegt und er sie rasch wieder
+verkrustet. Um diesen Moment zu erleben, und um eine Erfahrung reicher
+zu werden, ging ich zum Konsul. Die Gefahr bestand, daß er mich verleugnete,
+mich der französischen Polizei offiziell übergab und mir dann
+die Möglichkeit genommen wurde, frei meiner Wege zu gehen, weil ich
+dann unter Polizeiaufsicht geriet und ich über jeden meiner Schritte,
+den ich tat oder zu tun gedachte, Rechenschaft abzulegen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst konnte ich einmal den ganzen Vormittag warten. Dann wurde
+geschlossen. Am Nachmittag kam ich auch nicht an die Reihe. Unsereiner
+muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld
+besitzt, von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel
+Zeit hat. Wer Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld
+zum Hinlegen hat, muß mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld.
+Denn wird man gar aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer
+Weise, die unbeliebt ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen,
+daß man viermal mehr an Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der
+Zeitstrafe, die einem auferlegt wird.
+</p>
+
+<p>
+Es saßen da eine ganze Reihe solcher, die ihre Zeit zu opfern hatten.
+Einige saßen schon Tage. Andre waren bereits sechsmal hin und her
+geschickt worden, weil dies fehlte und jenes nicht die vorschriftsmäßige
+Form oder richtiger Uniform trug.
+</p>
+
+<p>
+Da kam eine kleine, unglaublich dicke Dame hereingeschossen. So unglaublich
+fett. Es war nicht auszudenken, wie fett sie war. In diesem
+Raume, wo die dürren Gestalten wartend auf den Bänken saßen, mit
+ihren Hinterköpfen beinahe das an die Wand geheftete Sternenbanner
+berührend, dessen Dimension so riesenhaft war, daß es die ganze Wand
+ausfüllte, in diesem Raume, wo unschuldige, willige und arbeitsgewohnte
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+Menschen wartend saßen mit einem Ausdruck auf den Gesichtern,
+als würden hinter jenen zahlreichen Türen in diesem Augenblick
+ihre Todesurteile unterschrieben, wirkte die fette Dame wie eine
+niederträchtige Beleidigung. Sie hatte pechschwarze, ölige, lockige
+Haare, eine auffallend krumme Nase und sehr krumme Beine. Ihre
+braunen Augen standen so glotzend in dem fetten Teiggesicht, als ob sie
+im selben Augenblick aus den Höhlen quellen wollten. Sie war gekleidet
+in dem Besten, was Reichtum nur kaufen kann. Sie keuchte und
+schwitzte, und unter der Last ihrer Perlenketten, Goldbehänge und
+Brillantvorstecknadeln schien sie beinahe zusammenzubrechen. Wenn
+sie nicht so viele schwere Platinringe an den Fingern gehabt hätte,
+wären die Finger sicher auseinandergeplatzt.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, da schrie sie schon: „Ich habe
+meinen Paß verloren. Wo ist der Mister Konsul? Ich muß gleich einen
+neuen Paß haben.“
+</p>
+
+<p>
+Ei, sieh da, auch andre Leute können ihren Paß verlieren. Wer hätte das
+gedacht? Ich hatte geglaubt, das kann nur einem Seemann zustoßen.
+Well, Fanny, du kannst dich freuen, der Mister Konsul wird dir gleich
+was erzählen, von wegen neuen Paß. Vielleicht nähst du das andre Ende
+des Schürzenbandes an. So unangenehm mir die Dame war, ihres aufdringlichen
+Wesens wegen, ich empfand für sie Sympathie, die Sympathie
+derer, die in derselben Galeere angeschmiedet sind.
+</p>
+
+<p>
+Der Empfangssekretär sprang gleich auf: „Aber gewiß, M’me, nur
+einen Augenblick. Bitte!“
+</p>
+
+<p>
+Er nahm einen Stuhl und bat unter Verbeugung die Dame, sie möge
+Platz nehmen. Er brachte drei Formulare, sprach leise mit der Dame
+und schrieb in den Formularen. Die dürren Gestalten hatten die Formulare
+alle selbst ausfüllen müssen, manche vier- oder fünfmal, weil sie
+nicht gut ausgefüllt waren. Aber die Dame konnte offenbar nicht schreiben,
+und so war es nur ein Zeichen von Hilfsbereitschaft, daß der Sekretär
+ihr diese kleine Mühe abnahm.
+</p>
+
+<p>
+Als die Formulare ausgefüllt waren, sprang er auf und trug sie durch
+eine der Türen, hinter denen die Todesurteile unterzeichnet werden.
+</p>
+
+<p>
+Er kam sehr rasch zurück und sagte halblaut und sehr höflich zu der
+Fetten: „Mr. Grgrgrgs wünscht Sie zu sehen, M’me. Haben Sie drei
+Photographien zur Hand?“
+</p>
+
+<p>
+Die fette Schwarzhaarige hatte die Photographien zur Hand und gab
+sie dem hilfsbereiten Sekretär. Dann verschwand sie hinter der Tür, wo
+die Schicksale der Welt entschieden werden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+Nur ganz altmodische Leute glauben heute noch daran, daß die Schicksale
+der Menschen im Himmel entschieden werden. Das ist ein beklagenswerter
+Irrtum. Die Schicksale der Menschen, die Schicksale von
+Millionen von Menschen werden von den amerikanischen Konsuln entschieden,
+die Sorge dafür zu tragen haben, daß der Republik kein
+Schaden widerfahre. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Die Dame war nicht lange in jenem Zimmer der Geheimnisse. Als sie
+herauskam, schloß sie ihr Handtäschchen. Sie schloß es mit einem starken
+energischen Knipsen. Und das Knipsen schrie gellend: „Gott, wir haben’s
+ja dazu, leben und leben lassen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Sekretär stand sofort auf, kam halb hinter seinem Tisch hervor und
+rückte an jenem Stuhl, auf dem die Dame gesessen hatte. Die Dame
+setzte sich nur mit einer Kante auf den Stuhl, öffnete ihre Handtasche,
+kramte eine Weile herum, nahm ein Puderdöschen hervor und ließ die
+geöffnete Tasche auf dem Tisch liegen, während sie sich puderte. Warum
+sie sich schon wieder pudern mußte, obgleich sie sich eine Minute vorher
+gepudert haben mußte, war nicht ganz klar.
+</p>
+
+<p>
+Der Sekretär tastete nun mit seinen Händen auf dem ganzen Tisch
+herum, um irgendein Blatt Papier zu suchen, das er weit verlegt haben
+mußte. Endlich hatte er das Blatt gefunden, und da die Dame inzwischen
+auch wieder aufgepudert war, nahm sie die Tasche an sich, steckte das
+Puderdöschen hinein und knipste die Tasche abermals so zu, daß die
+Tasche denselben gellenden Schrei ausstieß wie kurz vorher.
+</p>
+
+<p>
+Die Dürren auf den Bänken hatten den gellenden Schrei nicht gehört.
+Sie alle schienen Auswanderungslustige zu sein, die die Weltsprache
+des Knipsens noch nicht verstanden, weil sie nichts zum Knipsen hatten.
+Deshalb mußten sie ja auch auf den Bänken sitzen. Deshalb wurde
+ihnen ja auch kein Stuhl angeboten unter Verbeugungen. Deshalb mußten
+sie ja auch warten, bis sie an die Reihe kamen, genau nach der
+Nummerfolge.
+</p>
+
+<p>
+„Können Sie in einer halben Stunde noch mal hier vorsprechen, M’me
+oder sollen wir den Paß zu Ihrem Hotel schicken?“
+</p>
+
+<p>
+Höflich ist man auf einem amerikanischen Konsulat.
+</p>
+
+<p>
+„Ich komme vorgefahren in einer Stunde. Unterschrieben habe ich den
+Paß ja schon drin.“
+</p>
+
+<p>
+Die Dame stand auf. Als sie nach einer Stunde wiederkam, saß ich
+immer noch da. Aber die fette Dame hatte ihren Paß.
+</p>
+
+<p>
+Hier endlich bekam ich meinen Paß. Das wußte ich. Der Sekretär
+brauchte ihn mir nicht in mein Hotel schicken, ich würde ihn gleich
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+selber mitnehmen. Und hatte ich erst wieder einen Paß, so bekam ich
+auch wieder ein Schiff, wenn kein heimatliches Schiff, dann sicher ein
+englisches oder holländisches oder dänisches. Wenigstens bekam ich wieder
+Arbeit und hatte die Aussicht, doch mal ein heimatliches Schiff in
+irgendeinem Hafen anzutreffen, wo ein Deckarbeiter gebraucht wurde.
+Ich konnte ja nicht nur anstreichen, ich verstand auch Messing zu
+putzen; denn wenn man nichts anstreichen kann, dann wird immer
+Messing geputzt.
+</p>
+
+<p>
+Ich war wirklich zu voreilig in meinem Urteil. Die amerikanischen
+Konsuln sind besser als ihr Ruf, und was mir die belgische, die holländische
+und die französische Polizei über die Konsuln gesagt hatte, war
+nichts als nationale Eifersucht.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kam dann doch der Tag und die Minute, wo meine Nummer
+fällig war und ich gerufen wurde. Meine dürren Bankgenossen hatten
+alle durch eine andre Tür zu gehen, um den Todesstreich zu empfangen.
+Ich machte eine Ausnahme. Ich wurde zu Mr. Grgrgrgs oder wie der
+Mann heißen mochte, gerufen. Das war der Mann, den ich in meinem
+Herzen zu sehen gewünscht hatte; denn er war der, der die Nöte eines
+Menschen, dessen Paß verlorenging, zu würdigen weiß. Wenn mir niemand
+auf der ganzen weiten Welt helfen würde, er wird es tun. Er hat
+der Goldbehangenen geholfen, um wieviel mehr und rascher wird er mir
+helfen. Es war ein guter Gedanke, der mich verleitet hatte, mein Glück
+doch noch einmal zu versuchen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-13">
+11
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">er</span> Konsul ist ein kleiner, hagerer Mann, ausgetrocknet
+im Dienst.
+</p>
+
+<p>
+„Setzen Sie sich“, sagt er und deutet auf einen
+Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Womit kann ich
+dienen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich möchte einen Paß haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie Ihren Paß verloren?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht meinen Paß, aber meine Seemannskarte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah so, Sie sind ein Seemann?“
+</p>
+
+<p>
+Mit diesem Satz hat er seinen Ton geändert. Und dieser neue Ton, der
+mit einem so merkwürdigen Mißtrauen gemischt ist, hält nun eine Weile
+an und bestimmt den Charakter unsrer Unterhaltung.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe mein Schiff verloren.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+„Wohl betrunken gewesen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich trinke nie einen Tropfen von diesem Gift. Ich bin knochentrocken.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sagten doch, Sie seien Seemann?“
+</p>
+
+<p>
+„Das bin ich auch. Mein Schiff ist drei Stunden früher abgefahren als
+angesagt war. Sie sollte mit der Flut rausgehen, aber weil sie keine
+Ladung hatte, so brauchte sie auf die Flut keine Rücksicht nehmen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun sind Ihre Papiere also an Bord geblieben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Das konnte ich mir denken. Welche Nummer hatte Ihre Karte?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo war sie denn ausgestellt?“
+</p>
+
+<p>
+„Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe Küstenschiffe gefahren,
+Bostoner, N’Yorker, Balter, Philier, Golfer und sogar Wester. Ich kann
+mich nicht mehr erinnern, wo die Karte ausgestellt war.“
+</p>
+
+<p>
+„Das konnte ich mir denken.“
+</p>
+
+<p>
+„Man guckt sich doch seine Karte nicht jeden Tag an. Ich habe sie nie
+angeguckt, solange ich sie hatte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat immer in meiner Tasche gesteckt.“
+</p>
+
+<p>
+„Naturalisiert?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Im Lande geboren.“
+</p>
+
+<p>
+„Registriert worden, die Geburt?“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich nicht, da war ich noch zu klein, als ich geboren wurde.“
+</p>
+
+<p>
+„Also nicht registriert.“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht, habe ich gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich weiß es.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann brauchen Sie mich doch nicht fragen, wenn Sie alles wissen.“
+</p>
+
+<p>
+„Will ich vielleicht einen Paß haben?“ fragt er darauf.
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht, Sir, ob Sie einen Paß haben wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wollen doch einen haben, nicht ich. Und wenn ich Ihnen einen geben
+soll, so werden Sie mir doch wohl erlauben müssen, daß ich Fragen an
+Sie stelle. Nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+Der Mann hat recht. Die Leute haben immer recht. Das ist auch ganz
+leicht für sie. Zuerst machen sie die Gesetze, und dann werden sie hingestellt,
+um den Gesetzen das Leben einzuflößen.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie eine feste Adresse drüben?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich wohne auf meinen Schiffen oder, wenn ich keine habe, wohne
+ich in den Seemannsheimen und Herbergen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+„Also keine feste Wohnung. Mitglied eines eingetragenen Klubs?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer, ich? Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Eltern?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Gestorben.“
+</p>
+
+<p>
+„Verwandte?“
+</p>
+
+<p>
+„Dank dem Himmel, nein. Wenn ich welche hätte, würde ich sie abschwören.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie gewählt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Nie.“
+</p>
+
+<p>
+„Stehen Sie also auch nicht in den Wähler-Registern.“
+</p>
+
+<p>
+„Sicher nicht. Ich würde auch nicht wählen, wenn ich an Land wäre.“
+</p>
+
+<p>
+Er sieht mich nun eine ganze Weile an, ziemlich dumm und sehr ausdruckslos.
+Die ganze Zeit hat er gelächelt und, wie sein Kollege in Rotterdam,
+mit einem Bleistift gespielt. Was würden die Leute nur machen,
+wenn es keine Bleistifte mehr gäbe? Aber dann gibt es sicher ein Lineal,
+oder einen Löscher, oder die Telephonstrippe, oder die Brille, oder ein
+paar Blätter Papier oder Formulare, die man auf- und zufaltet. Eine
+Amtsstube hat ja so gut vorgesorgt, daß der Insasse sich nie langweilt.
+Gedanken, mit denen er sich beschäftigen kann, hat er nicht;
+und wenn er welche bekommt, hört er für gewöhnlich auf, Beamter
+zu sein und wird ein umgänglicher Mensch. Könnten die Finger eines
+Tages nicht mehr mit den Utensilien spielen, die auf der Inventarliste
+stehen, würden sie vielleicht an den Fundamenten spielen und
+bohren und das möchte den Fundamenten nicht bekommen.
+</p>
+
+<p>
+„Also ich kann Ihnen keinen Paß geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Auf was denn? Auf Ihre bloßen Aussagen hin? Das kann ich nicht. Das
+darf ich nicht einmal. Ich muß doch Unterlagen vorweisen können. Ich
+muß doch Rechenschaft ablegen, auf Grund welcher Beweise ich den
+Paß ausgestellt habe. Wie können Sie denn beweisen, daß Sie Amerikaner
+sind, daß ich überhaupt verpflichtet bin, mich mit Ihnen hier
+zu befassen?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das können Sie doch hören?“
+</p>
+
+<p>
+„Woran? An der Sprache?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist kein Beweis. Nehmen Sie hier den Fall Frankreich. Hier leben
+Tausende, die Französisch sprechen und keine Franzosen sind. Hier gibt
+es Russen, Rumänen, Deutsche, die ein besseres und reineres Französisch
+sprechen als der Franzose selbst. Hier sind Tausende, die hier geboren
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+sind und keine Staatsbürger sind. Anderseits sind drüben Hunderttausende,
+die kaum Englisch sprechen können und über deren amerikanische
+Staatsbürgerschaft auch nicht der geringste Zweifel besteht.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bin doch im Lande geboren.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann freilich können Sie Bürger sein. Aber auch dann müßten Sie erst
+noch beweisen, ob nicht Ihr Vater für Sie eine andre Staatsbürgerschaft
+vorbehalten hat, die Sie nicht abgeändert haben, als Sie volljährig
+wurden.“
+</p>
+
+<p>
+„Meine Urgroßeltern waren schon Amerikaner und deren Eltern auch
+schon.“
+</p>
+
+<p>
+„Beweisen Sie mir das, und ich bin verpflichtet, Ihnen einen Paß auszustellen,
+ob ich will oder nicht. Bringen Sie die Urgroßeltern oder nur die
+Eltern her. Ich will aber viel näher kommen, beweisen Sie mir, daß Sie
+drüben geboren sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie soll ich denn das beweisen, wenn die Geburt nicht registriert
+worden ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist sicher nicht meine Schuld.“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht bestreiten Sie mir gar, daß ich überhaupt geboren bin?“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig. Das bestreite ich. Die Tatsache, daß Sie hier vor mir stehen, ist
+kein Beweis für mich, daß Sie geboren sind. Ich habe es zu glauben. Wie
+ich zu glauben habe, daß Sie Amerikaner sind, daß Sie Bürger sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Also Sie glauben nicht einmal, daß ich geboren bin? Das ist aber doch
+die Grenze alles Möglichen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul lächelte sein schönstes Amtslächeln: „Daß Sie geboren sind,
+muß ich ja wohl glauben; denn ich sehe Sie hier mit meinen Augen.
+Wenn ich Ihnen nun einen Paß ausstelle und ihn der Regierung daheim
+damit rechtfertige, daß ich in meinen Bericht schreibe: Ich habe den
+Mann gesehen und glaube, daß er Bürger ist! so kann es leicht geschehen,
+daß ich gesackt werde. Denn was ich glaube, will die Regierung
+daheim nicht wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und
+was ich bestimmt weiß, muß ich immer beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft
+und Ihre Geburt kann ich nicht beweisen.“
+</p>
+
+<p>
+Man möchte manchmal bedauern, daß wir noch nicht aus Papiermaché
+gemacht sind; denn dann könnte man an dem Stempel sehen, ob man
+in der Fabrik U. S. A. oder in der Fabrik Frankreich oder in der Fabrik
+Spanien angefertigt worden ist, und den Konsuln wäre die Mühe erspart,
+ihre wertvolle Zeit mit so törichten Dingen zu vertrödeln.
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul hat den Bleistift hingeworfen, ist aufgestanden, geht zur
+Tür und ruft einen Namen hinaus. Ein Sekretär kommt herein, und der
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+Konsul sagt zu ihm: „Sehen Sie mal nach. Wie ist der Name?“ Er wendet
+sich mir zu. „Ach ja, es fällt mir schon wieder ein, Gale, richtig. Ja, sehen
+Sie also nach, sofort.“
+</p>
+
+<p>
+Der Mann läßt die Tür halb offen, und ich sehe, daß er an einem
+Schranke, wo Tausende von gelben Karten aufgestapelt sind, das G
+heraussucht und nach meinem Namen forscht. Die Karten der Deportierten,
+der Unerwünschten, der Pazifisten und der bekannten
+Anarchisten.
+</p>
+
+<p>
+Der Sekretär kommt wieder zurück. Der Konsul, der während der Zeit
+am Fenster gestanden hat und hinuntergesehen hat, dreht sich um:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Na?“
+</p>
+
+<p>
+„Ist nicht drin.“
+</p>
+
+<p>
+Das wußte ich vorher. Jetzt kriege ich meinen Paß. So schnell nicht.
+Der Sekretär ist wieder gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht.
+Der Konsul sagt nichts, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch,
+sieht mich eine Weile an und weiß nicht mehr, was er fragen soll.
+Seine Prüfungsaufgaben scheinen nur bis hierher gereicht zu haben.
+Nun steht er auf und verläßt das Zimmer. Jedenfalls holt er sich Rat
+aus einem der andern heiligen Räume.
+</p>
+
+<p>
+Ich habe nichts weiter zu tun und sehe mir die Bilder an der Wand an.
+Alles bekannte Gesichter, mein eigner Vater ist mir nicht so vertraut in
+seinem Gesicht als diese Gesichter. Washington, Franklin, Grant, Lincoln.
+Männer, denen Bureaukratismus so verhaßt war wie einem Hunde
+die Katzen. „Das Land soll für immer sein das Land der Freiheit, wo
+der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet, sofern er guten Willens
+ist.“ „Dieses Land soll gehören denen, die es bewohnen.“
+</p>
+
+<p>
+Aber freilich, das kann ja nicht so fort gehen bis in alle Ewigkeit. „Das
+Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ Das puritanische Gewissen
+ließ nicht zu, daß kurz und bündig gesagt wurde: „Das Land gehört uns,
+den Amerikanern.“ Denn da waren die Indianer, denen das Land von
+Gott gegeben war, und Gottes Gesetz hat der Puritaner zu beachten.
+„Wo der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet.“ Ganz gut, wenn
+alle, die da wohnen, Verfolgte und Gehetzte sind aus allen möglichen
+Ländern. Und die Nachfahren jener Verfolgten und Gehetzten sperren
+das Land ab, das allen Menschen gegeben wurde. Und um die Absperrung
+ganz vollkommen zu machen, damit auch nicht eine Maus
+durchschlüpfen kann, sperren sie die eignen Söhne ab. Denn es könnte
+ja unter der Verkleidung des eignen Sohnes sich der Sohn eines Nachbars
+einschleichen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+Der Konsul kommt zurück und setzt sich wieder. Er hat eine neue Frage
+gefunden.
+</p>
+
+<p>
+„Sie können ja vielleicht ein entwichener Sträfling sein oder jemand,
+der eines schweren Verbrechens wegen gesucht wird. Und ich würde
+Ihnen einen Paß ausstellen auf den von Ihnen genannten Namen und
+würde Sie durch den Paß vor der gerechten Verfolgung schützen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das würden Sie. Ich sehe nun ein, daß mein Kommen ganz und gar
+zwecklos war.“
+</p>
+
+<p>
+„Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht helfen zu können. Meine Machtbefugnisse
+sind nicht weitreichend genug, um Ihnen den Paß oder irgendein
+Papier, das Ihnen zur Legitimation dienen könnte, auszustellen.
+Sie hätten mit Ihrer Seemannskarte vorsichtiger sein müssen. Solche
+Dinge verliert man nicht in dieser Zeit, wo der Paß notwendiger ist als
+sonst irgend etwas.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun möchte ich aber doch gern eins wissen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja?“
+</p>
+
+<p>
+„Da war hier eine sehr dicke Dame mit vielen Brillantringen, die sie
+kaum noch schleppen konnte, die hatte ihren Paß doch auch verloren
+und Sie haben ihr sofort einen gegeben. Das hat nur eine halbe Stunde
+gedauert.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das war doch die Frau Sally Marcus aus New York, werden Sie
+doch schon gehört haben den Namen. Das große Bankgeschäft,“ sagte
+er mit einer Geste und einer Betonung, als ob er gesagt hätte: Das war
+doch der Prince of Wales und nicht ein Seemann, dem das Schiff fortgefahren
+ist.
+</p>
+
+<p>
+Er mußte wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennen, daß ich das nicht
+so schnell fassen konnte, denn er fügte hinzu: „Sie werden den Namen
+doch schon gehört haben? Das große Bankgeschäft in New York?“
+</p>
+
+<p>
+Ich zweifelte noch immer und sagte: „Ich glaube aber kaum, daß die
+Dame Amerikanerin ist, ich würde viel eher glauben, daß sie in Bukarest
+geboren ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Woher wissen Sie das? Die Frau Marcus ist allerdings in Bukarest
+geboren worden. Aber sie ist amerikanischer Bürger.“
+</p>
+
+<p>
+„Hatte sie denn ihren Bürgerbrief bei sich?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich nicht. Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Woher haben Sie denn dann gewußt, daß sie Bürger ist? Richtig
+sprechen hat sie noch nicht gelernt.“
+</p>
+
+<p>
+„Da brauche ich keinen Beweis. Der Bankier Marcus ist doch bekannt.
+Sie ist doch Luxuskabine auf der Majestic herübergekommen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+„Jetzt endlich verstehe ich. Ich bin nur in einer Forecastle-Bunk, auf
+einem Frachteimer herübergekommen als Deckarbeiter. Und das beweist
+gar nichts. Großes Bankgeschäft und Luxuskabine beweist alles.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Fall liegt eben ganz anders, Mr. Gale. Ich habe Ihnen gesagt, ich
+kann nichts für Sie tun. Ich darf nicht einmal etwas für Sie tun. Papiere
+darf ich Ihnen nicht geben. Ich persönlich glaube Ihnen, was Sie mir
+gesagt haben. Aber wenn die Polizei Sie hierher bringen sollte, damit
+wir Sie anerkennen und aufnehmen sollen, leugne ich Sie glatt ab und
+bestreite Ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nichts andres tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann kann ich hier einfach untergehen in fremdem Lande.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe nicht die Machtvollkommenheit, Ihnen beizustehen, selbst
+wenn ich persönlich gern möchte. Ich werde Ihnen eine Karte für ein
+Hotel geben für drei Tage mit voller Verpflegung. Sie dürfen sich nach
+Ablauf eine zweite und auch eine dritte holen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich danke sehr. Bemühen Sie sich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht ist Ihnen besser gedient mit einer Fahrkarte nach der nächsten
+größeren Hafenstadt, wo Sie vielleicht ein Schiff bekommen können,
+das unter andrer Flagge fährt.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, danke. Ich hoffe, meinen Weg allein zu finden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja dann –. Good-bye und viel Glück!“
+</p>
+
+<p>
+Aber da sind wieder die großen Gegensätze zwischen den amerikanischen
+Beamten und den Beamten andrer Länder. Als ich auf der Straße
+war und nach einer Uhr blickte, sah ich, daß es fünf Uhr vorbei war. Die
+Geschäftsstunden des Konsuls waren um vier Uhr zu Ende; jedoch er
+hatte nicht ein einziges Mal irgendein Zeichen von Ungeduld geäußert
+oder fühlen lassen, daß seine Zeit längst vorüber war.
+</p>
+
+<p>
+Nun erst hatte ich mein Schiff wirklich verloren.
+</p>
+
+<p>
+Ade, mein sonniges New Orleans. Good-bye and good luck to ye!
+</p>
+
+<p>
+Mädel, mein liebes Mädel in New Orleans, jetzt kannst du warten auf
+deinen Jungen; auf dem Jackson Square kannst du sitzen und heulen.
+Dein Junge kommt nicht mehr heim. Das Meer hat ihn verschluckt.
+Gegen Sturm und Wellen konnte ich kämpfen, mit Farbe und mit harten
+Fäusten; gegen Paragraphen, Bleistifte und Papier nicht. Nimm dir
+beizeiten einen andern, Liebchen. Verplempere deine rosige Jugend
+nicht mit Warten auf den Vaterlandslosen und Nichtgeborenen. Leb’
+wohl! Süß waren deine Küsse und glühend, weil wir keine Heiratslizenz
+geholt hatten.
+</p>
+
+<p>
+Schiet das Mädel. Hoiho! Wind kommt auf. Boys, get all the canvas
+set. Alles, was Leinwandfetzen heißt, raus damit und hoch.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-14">
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+12
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">xpress</span> Paris-Limoges. Ich sitze drin und habe
+keine Karte. Diesmal wurde kontrolliert. Aber ich
+verschwand spurlos. Limoges-Toulouse. Ich sitze
+drin und habe auch keine Karte.
+</p>
+
+<p>
+Was die nur immerfort zu kontrollieren haben. Es
+muß doch in der Tat zu viele Eisenbahnschwindler
+geben, daß so oft kontrolliert wird. Aber die haben
+ganz recht, wenn jeder ohne Karte fahren wollte,
+wer sollte denn dann die Dividenden bezahlen. Das geht doch nicht.
+Ich verschwinde spurlos. Als die Kontrolle vorbei ist, setze ich mich wieder
+auf meinen Platz. Plötzlich kommt der Kontrolleur zurück, geht entlang
+und sieht mich an. Ich sehe ihn auch an. Ganz dreist. Er geht weiter.
+Man muß nur wissen, wie man Kontrolleure anzusehen hat, dann hat
+man auch schon gewonnen. Er dreht sich um und kommt auf mich zu.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Bitte, wo wollten Sie umsteigen?“
+</p>
+
+<p>
+Ein ganz gerissener Bursche, dieser Kontrolleur.
+</p>
+
+<p>
+Ich verstehe nur das Umsteigen in diesem Augenblick, weil ich die
+übrigen Worte erst in Gedanken übersetzen muß. Aber dazu komme ich
+gar nicht, denn er sagt gleich darauf: „Bitte, lassen Sie doch mal Ihre
+Karte sehen, wenn ich sehr bitten darf.“
+</p>
+
+<p>
+Na, Freund, wenn du noch so höflich bist und noch so höflich bittest, es
+tut mir sehr leid, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es gewußt“, sagt er ganz ruhig und unauffällig. Ich bin überzeugt,
+die übrigen Fahrgäste haben gar nicht beachtet, was für eine
+Tragödie sich hier abspielt.
+</p>
+
+<p>
+Der Mann nimmt sein Notizbuch, schreibt etwas und geht dann weiter.
+Vielleicht hat er ein gutes Herz und vergißt mich. Aber in Toulouse auf
+dem Bahnhof werde ich schon erwartet. Ohne Blechmusik, aber mit
+einem Auto.
+</p>
+
+<p>
+Es ist ein sehr gutes Automobil, feuer- und einbruchsicher, und ich kann
+während der Fahrt nicht hinausfallen und sehe von meinem Fenster
+nur einen Teil der obersten Stockwerke der Häuser, an denen wir vorübersausen.
+Es ist ein Spezialauto für Gäste, die man hier bewillkommnen
+möchte, denn aller Verkehr hat meinem Auto Platz zu machen,
+so daß es unbehindert durchfahren kann. Auf jeden Fall sind die Autos
+in Toulouse eine Marke, die ich noch nicht kenne. Weder Ford noch
+Dodge Brothers werden hier auf Absatz rechnen können, oder sie müßten
+sich den hiesigen Ansprüchen besser anpassen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+Aber ich weiß schon, wo ich landen werde. Wenn mir irgendetwas merkwürdig
+vorkommt an den Sitten und Gebräuchen in europäischen Ländern,
+dann bin ich immer auf dem Wege zu einer Polizeistation oder
+unter den Fittichen von Cops. Ich habe daheim nie in meinem Leben je
+etwas mit der Polizei oder mit dem Gericht zu tun gehabt. Hier kann
+ich ruhig auf einer Kiste sitzen oder unschuldig im Bett liegen oder über
+eine Wiese spazierengehen oder in einem Eisenbahnzuge fahren, immer
+lande ich auf einer Polizeistation. Kein Wunder, daß Europa vor die
+Hunde geht. Die Leute haben ja gar keine Zeit zu arbeiten, sieben Achtel
+ihres Lebens haben sie auf Polizeistationen oder mit Polizisten zu vergeuden.
+Darum sind die Leute auch immer so gereizt und machen so
+gern Krieg, weil sie sich ewig mit der Polizei herumzanken müssen und
+die Polizei sich mit ihnen herumzankt. Wir sollten den europäischen
+Ländern keinen Nickel mehr pumpen, sie geben es ja doch bloß aus, um
+ihre Polizei noch weiter zu vermehren. Keinen Nickel mehr, no, Sir.
+</p>
+
+<p>
+„Von wo kommen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+Der Hohepriester sitzt wieder vor mir. Sie sind alle gleich. In Belgien,
+in Holland, in Paris, in Toulouse. Immer müssen sie fragen, und immer
+wollen sie alles wissen. Und selber begeht man immer wieder den großen
+Fehler, daß man überhaupt antwortet. Man sollte ganz still sein, gar
+nichts sagen und die raten lassen. Dann kämen sie alle bald ins Irrenhaus,
+oder sie würden die Folter wieder einführen. Aber würde man
+nie antworten, dann würden die Cops ja noch dümmer werden, als sie
+schon sind.
+</p>
+
+<p>
+Das soll man aber auch erst aushalten, da zu sitzen oder zu stehen und
+immerfort gefragt werden und nichts antworten. Das verfluchte Maul
+redet ganz von selbst, sobald einem eine Frage entgegengeschleudert
+wird. Das macht die lange Gewohnheit. Es ist unerträglich, einen Fragesatz
+schwebend in der Luft hängen zu lassen, ohne ihn durch eine Antwort
+wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine unbeantwortete Frage
+läßt einem keine Ruhe, läuft immer hinter einem her, drängt sich in die
+Träume und raubt einem die Ruhe zum Arbeiten und zum Denken. Das
+eine Wort „Warum?“ mit einem Fragezeichen dahinter ist der Zentralpunkt
+aller Kultur, Zivilisation und Entwicklung. Ohne dieses eine
+Wort sind die Menschen nichts weiter als Affen, und wenn man den
+Affen dieses Zauberwort gibt, werden sie sofort Menschen. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+„Von wo Sie kommen, will ich wissen!“
+</p>
+
+<p>
+Da habe ich nun mal den Versuch gemacht, nicht zu antworten, aber
+jetzt halte ich es schon nicht mehr aus. Ich muß ihm etwas erzählen. Soll
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+ich nun sagen, daß ich von Paris käme? Oder soll ich lieber sagen, ich
+käme von Limoges. Wenn ich Limoges sage, machen sie es vielleicht acht
+Tage billiger, weil Limoges ja nicht so weit ist wie Paris.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin in Limoges eingestiegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist nicht richtig, Mann, Sie sind in Paris eingestiegen.“
+</p>
+
+<p>
+Sieh mal an, wie gut die raten können.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin nicht in Paris eingestiegen, sondern nur in Limoges.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Sie haben doch hier eine Bahnsteigkarte von Paris in der Tasche.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Da haben sie also schon wieder meine Taschen durchsucht. Ich habe das
+gar nicht gemerkt, weil ich schon so daran gewöhnt bin, daß es mir gar
+nicht mehr auffällt.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, die Bahnsteigkarte habe ich schon lange.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie lange?“
+</p>
+
+<p>
+„Sechs Wochen wenigstens.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist aber merkwürdig. Die Karte hat das Datum von gestern vormittag.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann ist sie irrtümlicherweise vordatiert worden“, sage ich.
+</p>
+
+<p>
+„Offenbar. Also Sie sind in Paris eingestiegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber von Paris bis Limoges habe ich bezahlt.“
+</p>
+
+<p>
+„Jedenfalls. Und Sie sind ein so guter Bezahler, daß Sie außer Ihrer
+Fahrkarte auch noch die Bahnsteigkarte gekauft haben, die Sie gar nicht
+brauchten, wenn Sie eine Fahrkarte hatten. Wenn Sie aber eine Karte
+bis Limoges hatten, wo ist dann diese Karte.“
+</p>
+
+<p>
+„Die habe ich in Limoges abgegeben,“ antworte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Dann hätten Sie aber doch eine Bahnsteigkarte von Limoges haben
+müssen. Aber lassen wir das. Wollen wir erst einmal die Personalien
+festhalten.“
+</p>
+
+<p>
+Gut, wenn sie nur die Personalien festhalten, das ist mir lieber, als
+wenn sie mich mit festhalten.
+</p>
+
+<p>
+„Nationalität?“
+</p>
+
+<p>
+Eine heikle Frage jetzt. Ich habe so ein Ding nicht mehr, seitdem ich
+nicht beweisen kann, daß ich geboren bin. Ich könnte es eigentlich mit
+Franzose versuchen. Der Konsul hat mir ja erzählt, daß es Tausende von
+Franzosen gäbe, die nicht französisch sprechen können und doch Franzosen
+sind, soweit ihre Staatsangehörigkeit in Frage kommt. Glauben
+wird er es mir ja sicher nicht. Er wird ja auch Beweise sehen wollen.
+Wissen möchte ich nur, für wen es billiger ist, ohne Fahrkarte auf der
+Eisenbahn zu fahren, für Franzosen oder für Ausländer? Aber der Ausländer
+kann ja denken, in Frankreich brauche man keine Fahrkarten
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+und er habe in gutem Glauben gehandelt. Geld haben sie in meinen
+Taschen aber nicht gefunden, und das ist dann schon verdächtig.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ein Deutscher“, platze ich nun raus; denn mir kam ganz plötzlich
+die Idee, daß ich doch mal sehen möchte, was sie mit einem Boche
+machen, wenn sie ihn ohne Paß und ohne Fahrkarte in ihrem Lande
+finden.
+</p>
+
+<p>
+„Also ein Deutscher. Sieh an. Wohl auch noch von Potsdam?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nur von Wien.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Österreich. Aber das ist ja alles dasselbe. Also Deutscher.
+Warum haben Sie denn keinen Paß?“
+</p>
+
+<p>
+„Den habe ich verloren.“
+</p>
+
+<p>
+Nun ging die ganze Reihe wieder herunter. In jedem Lande haben sie
+genau dieselben Fragen. Hat einer vom andern abgeschrieben. Erfunden
+wurden sie wahrscheinlich in Preußen oder in Rußland, denn alles, was
+sich um Einmischung in die Privatverhältnisse eines Menschen handelt,
+kommt aus einem der beiden Länder. Da sind die Leute am geduldigsten
+und lassen sich alles gefallen, und vor einem blanken Knopf nehmen
+sie die Mütze ab. Denn in jenen Ländern ist der blanke Knopf der böse
+Gott, den man verehren und anbeten muß, damit er sich nicht rächt.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Tage später bekam ich vierzehn Tage Gefängnis wegen Eisenbahnbetrugs.
+Hätte ich gesagt Amerikaner, so würden sie vielleicht herausgekriegt
+haben, daß ich bereits vorbestraft war wegen Eisenbahnbetrugs,
+und dann wäre es teurer geworden. Aber meinen Namen erzählte
+ich ihnen ja auch nicht. Es hat seine Vorteile, wenn man keinen Paß und
+keine Seemannskarte hat, die jemand in den Taschen finden könnte.
+</p>
+
+<p>
+Als die Tage der Vorbereitungen abgelaufen waren, wurde ich der
+Arbeitskolonne zugewiesen. Da waren kleine merkwürdige Dinger, die
+aus Weißblech gestanzt waren. Wozu die gebraucht wurden, wußte kein
+Mensch, nicht einmal die Aufsichtsbeamten wußten es. Manche behaupteten,
+es sei ein Teil eines Kinderspielzeugs, andre sagten, es sei ein Teil
+eines Panzerschiffes, wieder andre waren überzeugt, daß es zu einem
+Auto gehöre, und einige schworen und verwetteten hereingeschmuggelten
+Tabak, daß dieser Blechschnipsel ein wichtiges Stück von einem
+lenkbaren Luftschiff sei. Ich war der festen Meinung, daß es zu einer
+Taucherausrüstung gehören müsse. Wie ich zu dieser Auffassung kam,
+weiß ich nicht. Aber die Idee hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte
+auch irgendwo einmal gelesen, daß an Taucherausrüstungen eine ganze
+Anzahl von Dingen gebraucht würde, die man sonst nirgends gebrauchen
+könne.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+Von diesen merkwürdigen Blechschnipseln hatte ich immer hundertvierundvierzig
+abzuzählen und auf einen Haufen zu legen. Wenn ich
+einen Haufen fertig abgezählt und neben mir liegen hatte und einen
+andern Haufen anfangen wollte, kam der Aufsichtsbeamte und fragte
+mich, ob ich auch ganz genau wüßte, daß dies hundertvierundvierzig
+Schnipselchen seien, und ob ich mich auch ja nicht etwa verzählt hätte.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ich habe ganz genau gezählt, es sind genau hundertvierundvierzig.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ist das auch ganz bestimmt, kann ich mich ganz bestimmt darauf
+verlassen?“
+</p>
+
+<p>
+Er sah mich so sorgenvoll an, als er diese Frage an mich stellte, daß ich
+aufrichtig zu zweifeln begann, ob das auch wirklich und wahrhaftig
+hundertvierundvierzig Schnipselchen seien, und ich sagte, es sei vielleicht
+doch besser, ich zähle sie nochmal nach. Darauf sagte der Beamte,
+das sollte ich nur tun, es sei auf jeden Fall besser, damit auch ja kein
+Irrtum vorkomme; denn wenn sie nicht ganz genau gezählt seien, so
+gäbe das eine Mordsschweinerei, und er könnte vielleicht gar seinen
+Posten hier verlieren, was ihm sehr unangenehm wäre, weil er drei
+Kinder und eine alte Mutter zu versorgen hätte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich nun das Häufchen das zweite Mal durchgezählt hatte und gefunden
+hatte, daß die Summe stimmte, kam gerade wieder der Beamte
+heran. Ich sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und
+um ihm den Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an
+seinen Sorgen teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun:
+„Ich glaube, ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht
+doch um einen oder gar zwei verzählt haben.“
+</p>
+
+<p>
+Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als
+ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft
+von fünfzigtausend Franken ausgezahlt.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber nochmal genau
+nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und
+der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß
+nicht, was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren,
+und da sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz
+wohlauf, und da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz
+genau hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen
+Sie die Schnipselchen überhaupt Dutzendweise, da können Sie sich
+nicht so leicht verzählen.“
+</p>
+
+<p>
+An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte,
+hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt
+haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und
+brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei
+Wochen lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung
+zu tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport
+kommandiert wird.
+</p>
+
+<p>
+Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausbezahlt. Eins ist sicher,
+wenn ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen
+Bahn fahre und erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich
+bankrott machen. Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger
+dastände als Frankreich.
+</p>
+
+<p>
+Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch
+nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der französische
+Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann.
+</p>
+
+<p>
+Darum mußte ich raus aus diesem Lande.
+</p>
+
+<p>
+Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um
+das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen
+Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu
+denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden.
+Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen
+nicht raus aus dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation
+nach Deutschland. Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet,
+und ich bekam aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-15">
+13
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte
+der europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner
+neuen Nationalität. Und wenn mich jemand fragte, sagte ich
+ganz trocken: „Boche.“ Es nahm mir niemand übel, ich bekam
+überall zu essen und überall ein gutes Nachtquartier,
+bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das Richtige
+getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden.
+Jeder schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber,
+die aus dem Blute französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten,
+und sie seien die Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den
+Sorgen und Tränen der übriggebliebenen Väter und Mütter abermals
+Dollar herausmünzen wollen, weil sie nie den Rachen vollkriegen
+könnten, obgleich sie im Golde schon erstickten. Wenn wir nur einen
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+hier hätten, einen von diesen amerikanischen Wucherern, wir schlügen
+ihn mit dem Dreschflegel tot wie einen alten Hund, weil er wahrhaftig
+nichts Besseres verdient.
+</p>
+
+<p>
+Verflucht nochmal, da habe ich aber Glück gehabt.
+</p>
+
+<p>
+„Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen
+ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen.
+Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen.
+Nun aber geht es den armen Teufeln genau so dreckig wie uns.
+Auch die hat der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch
+den letzten abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die
+armen Boches. Wir würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben
+ja selber nur noch das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner
+uns schon das Hemd vom Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt
+rübergekommen nach Europa? Uns zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns
+den letzten Faden noch vom Leibe zu ziehen. Denn wir müssen ja alles
+bezahlen. Wir und die armen Boches.“
+</p>
+
+<p>
+„Sieht man ja an Ihnen, wie dreckig es den armen Boches geht. Ganz
+verhungert sehen Sie aus. Essen Sie nur tüchtig, langen Sie zu. Nehmen
+Sie sich das beste Stück. Wenn es Ihnen nur schmeckt. Wenn sie drüben
+alle so verhungert sind wie Sie, dann gute Nacht. Aber wir haben ja
+selber nicht viel. Wo wollen Sie denn nun hin? Nach Spanien? Das ist
+recht. Das ist vernünftig. Die haben noch etwas mehr als wir. Die haben
+keinen Krieg gehabt. Aber die hat ja der Amerikaner auch so reingelegt
+mit Kuba und mit den Philippinen. Da sehen Sie es ja schon wieder.
+Immer stiehlt er uns arme Europäer aus. Als ob er drüben nicht genug
+hätte. Nein, er muß hier stehlen und wuchern kommen. Langen Sie nur
+tüchtig zu. Lassen Sie sich durch uns nicht stören, daß wir schon aufhören.
+Wir haben ja noch ein bißchen was und können uns wenigstens
+hin und wieder mal satt essen. Aber, ihr armen Boches da drüben,
+euch verhungern ja die kleinen Würmchen in der Wiege.“
+</p>
+
+<p>
+„Und wenn nun gar hier ein armer Teufel sich das Geld zusammengespart
+hat und will rüber zu den Amerikanern, um sich ein paar Dollar
+zu verdienen, die er seinen Eltern schicken will, da machen sie die
+Türe zu, diese Banditen. Erst stehlen sie das Land von den armen
+Indianern, und wenn sie es haben, dann lassen sie keinen mehr rein, nur
+damit sie ja ganz im Fett ersticken können, die verfluchten Hunde. Als
+ob sie dem, der überfährt, was schenken würden. Arbeiten muß er, aber
+feste. Die schlechteste Arbeit, die kein Amerikaner anfassen will, die
+können dann unsre Jungens machen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+„Wissen Sie was, Sie könnten eigentlich hier ein paar Wochen ganz gut
+arbeiten. Da können Sie sich ordentlich herausfüttern, daß Sie wieder
+zu Kräften kommen, denn Spanien ist noch weit. Mon dieu, viel bezahlen
+können wir ja nicht, dreißig Franken den Monat, acht Franken
+die Woche und die Kost und das Schlafen. Vor dem Kriege war der
+Lohn nur drei Franken die Woche, aber es ist ja jetzt alles so sündhaft
+teuer. Wir haben auch während des Krieges einen Boche hier gehabt.
+Einen Kriegsgefangenen. Er war ein so fleißiger Mann, wir waren alle
+recht traurig, als er wieder heim mußte. Sag, Antoine, der Wil’em, der
+Boche, der war doch ein sehr fleißiger Mann. Der hat tüchtig gearbeitet.
+Wir haben ihn auch alle sehr gern gehabt, und die andern Leute haben
+auch immer geredet, daß wir ihn zu gut behandeln, aber wir haben ihm
+doch alles gegeben, was wir konnten. Er hat dasselbe Essen gehabt wie
+wir, da haben wir keinen Unterschied gemacht ...“
+</p>
+
+<p>
+Da arbeitete ich also nun, und ich lernte bald erfahren, daß der Wil’em
+wirklich ein tüchtiger Arbeiter gewesen sein muß. Denn ich hörte jeden
+Tag ein halbes dutzendmal: „Ich weiß nicht, der Wil’em muß aus einer
+ganz andern Gegend gewesen sein als Sie. So können Sie nicht arbeiten
+wie der Wil’em. Habe ich nicht recht, Antoine?“
+</p>
+
+<p>
+Und Antoine bestätigte: „Ja, er ist sicher aus einer ganz andern Gegend,
+denn so kann er nicht arbeiten, wie der Wil’em es konnte. Aber es gibt
+wohl auch unter den Boches Unterschiede, genau so wie bei uns.“
+</p>
+
+<p>
+Der ewige Vergleich mit dem tüchtigen Wil’em, der sicher mehr von der
+Landwirtschaft verstand als ich, und der gewiß auch darum so „tüchtig“
+arbeitete, weil er lieber hier bei den Bauersleuten blieb als in das Internierungslager
+zurückgeschickt werden oder in Algier Straßen pflastern
+wollte, fiel mir bald auf die Nerven. Selbst wenn ich nur halb soviel
+gearbeitet hätte, wäre es noch um das Dreifache zuviel gewesen. So
+billig bekam der Bauer nie wieder einen Arbeiter. Acht Franken in der
+Woche. Andre Bauern hatten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Franken
+die Woche zu zahlen. Ich bekam acht. Ich war ja auch der verhungerte
+Boche, der herausgefüttert werden sollte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich dann abzog, weil ich erklärte, ich müßte nun unbedingt nach
+Spanien, ich könne auf keinen Fall mehr länger warten, und vielleicht
+käme gar noch die Polizei, die es mir verbieten würde, hier zu arbeiten,
+da bekam ich für meine Arbeit von sechs Wochen im ganzen zehn
+Franken. Der Bauer sagte mir, daß er nicht mehr Geld habe. Wenn ich
+vielleicht nach Neujahr zurückkommen wolle, dann könne er mir den
+Rest zahlen, weil er dann das Geld bekäme für die Ernte, aber jetzt
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+habe er weiter kein Geld. Ich sähe jetzt auch wieder ganz gesund aus,
+es habe mir doch gut getan, dieses kräftige Essen, das ich hier bekommen
+habe, und totgearbeitet hätte ich mich ja auch nicht, der Wil’em –.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte ich darauf, „der Wil’em war auch aus Westfalen, ich bin
+aber aus Südfalen und da braucht man nicht so hart arbeiten, weil alles
+von selbst wächst, da ist man so schwere Arbeit nicht gewöhnt.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ja dann ganz verständlich“, sagte der Bauer. „Von Südfalen
+habe ich auch schon viel gehört. Das ist doch das Großherzogtum, wo die
+vielen Bernsteinbergwerke sind?“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig,“ sagte ich, „das ist der Landesteil, wo die vielen Hochöfen sind,
+in denen der Königsberger Klops geschmolzen wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Der Königsberger Klops wird aus Eisen gemacht? Ich habe immer
+geglaubt, der wird aus gemahlener Steinkohle hergestellt.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist der gefälschte. Der wird allerdings aus gemahlener Steinkohle
+gemacht“, erwiderte ich. „Da haben Sie durchaus recht, aus gemahlener
+Steinkohle mit eingedicktem Schwefelteer. Aber der richtige, der echte
+Königsberger Klops, der wird in Hochöfen geschmolzen, der ist viel
+härter als der härteste Stahl. Damit haben ja unsre Generale die
+Torpedos gefüllt, mit denen sie die Panzerschiffe versenkten. Ich habe
+selbst an einem solchen Hochofen gearbeitet.“
+</p>
+
+<p>
+„Ihr seid doch schlaue Leute, das muß ich schon sagen“, erwiderte der
+Bauer. „Wir haben ja nun den Krieg gewonnen, und das nehmen wir
+euch nicht übel. Und der Krieg ist ja jetzt auch vorbei. Warum sollen
+wir da noch böse miteinander sein. Dann lassen Sie es sich nur recht gut
+gehen in Spanien.“
+</p>
+
+<p>
+Gelegentlich will ich doch einen Deutschen fragen, was eigentlich
+Königsberger Klops ist. Jeder, den ich gefragt habe, hat mir immer
+etwas andres erzählt, aber freilich keiner war ein Deutscher.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-16">
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+14
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Gegend wurde ziemlich einsam, alles Gebirgsland.
+Klettern und Klettern. Die Bauern wurden
+immer geringer und die Hütten immer ärmlicher.
+Wasser reichlich und das Essen knapp
+und dürftig. Nachts recht hübsch kalt und selten
+eine Decke und oft nicht einmal einen Sack. Der
+Einmarsch in Sonnenländer ist immer mühselig,
+das haben nicht nur einzelne Menschen, sondern
+ganze Völker erfahren. „Die Grenze ist jetzt nicht mehr weit“,
+war mir am Morgen gesagt worden, als ich den Hirten verließ, in dessen
+elender Hütte ich geschlafen hatte, und der sein bißchen Käse, Zwiebeln,
+Brot und dünnen Wein mit mir geteilt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Dann war ich auf einer Straße, die an den Bergen hochklomm und
+wieder hinunterging in die Täler, nur um abermals hochzuklimmen und
+wieder hinunterzuführen.
+</p>
+
+<p>
+Und auf dieser Straße kam ich endlich an ein großes hochgewölbtes
+Tor, das sehr altertümlich aussah. Zu beiden Seiten des Tores zog sich
+eine Mauer hin, die ebenso graugelb und alt aussah wie das Tor. Es
+schien, daß diese Mauer ein großes Gut einschlösse. Die Straße führte
+direkt unter dem Torbogen her.
+</p>
+
+<p>
+Um auf der Straße weiterzukommen, gab es gar keinen andern Weg,
+als durch das Tor zu gehen. Ich hoffte, daß die Straße über den Gutshof
+führe, an der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Tor sein werde,
+durch das man dann wieder auf die Straße komme.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging drauf los, ging durch das Tor und wanderte geradeaus weiter,
+ohne jemand zu sehen.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich aber kommen zwei französische Soldaten mit Gewehr und
+aufgepflanztem Bajonett aus irgendeinem Winkel hervor, kommen auf
+mich zu und fragen mich nach einem Paß. Hier scheinen also sogar die
+Soldaten nach der Seemannskarte zu fragen.
+</p>
+
+<p>
+Ich erkläre ihnen, daß ich keinen Paß hätte. Dann sagen sie aber, daß
+sie nicht meinen Reisepaß sehen wollten, der kümmere sie nicht, sie
+möchten lediglich meinen Paß sehen, der vom französischen Kriegsministerium
+in Paris ausgefertigt sei und mir das Recht gebe, hier in den
+Festungswerken ohne Begleitung herumzulaufen.
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich nicht gewußt, daß dies hier Festungswerke sind“, sage
+ich, „ich bin immer auf der Straße geblieben und habe geglaubt, das sei
+der Weg zur Grenze.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+„Die Straße zur Grenze biegt eine Stunde vorher rechts ab. Da war ein
+Schild. Haben Sie das nicht gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Das Schild habe ich nicht gesehen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Straße rechts abbiegen sah. Ich
+erinnere mich aber auch, daß ich eine ganze Anzahl von Straßen in den
+letzten Tagen rechts und links abbiegen sah. Aber ich hielt es für besser,
+immer in der geraden Richtung fortzugehen, die nach Süden führt. Das
+war für mich die Zielrichtung. Ich habe so viele Schilder gesehen. Aber
+was gingen mich denn die Schilder alle an? Wenn sie die Namen eines
+Ortes nannten, so wußte ich ja nicht, ob der Ort näher zur Grenze lag
+oder weiter. Am Ende wäre ich immer im Kreise herumgelaufen und
+nie nach Spanien gekommen, wenn ich allen Schildern nachgelaufen
+wäre. Eine Karte, auf der ich die Ortsnamen hätte ablesen können, besaß
+ich ja nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Wir müssen Sie zum wachthabenden Offizier bringen.“ Die beiden
+Soldaten nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ab.
+</p>
+
+<p>
+Der wachthabende Offizier war ein noch junger Mann. Er wurde sehr
+ernst, als er hörte, was los sei.
+</p>
+
+<p>
+Dann sagte er: „Sie müssen erschossen werden. Innerhalb vierundzwanzig
+Stunden. Laut Kriegsgrenzgesetz. Artikel –“, hier nannte er
+eine Nummer, die mich nicht interessierte.
+</p>
+
+<p>
+Als der junge Offizier das sagte, wurde er ganz bleich und konnte kaum
+die Worte hervorbringen. Er mußte sie hervorwürgen.
+</p>
+
+<p>
+Ich durfte mich setzen, aber die beiden Soldaten mit aufgepflanztem
+Bajonett blieben neben mir stehen. Der junge Offizier nahm einen
+Bogen Papier her und versuchte zu schreiben. Aber er war zu aufgeregt
+und mußte es sein lassen. Endlich nahm er sich aus seinem silbernen
+Etui eine Zigarette. Er wollte sie in den Mund stecken, aber sie fiel ihm
+herunter, und ich sah, wie seine Hände zitterten. Um es zu verbergen,
+nahm er abermals eine Zigarette heraus und brachte sie nun mit einer
+ganz steifen langsamen Armbewegung in den Mund. Das Zündholz ging
+ihm dreimal aus. Ehe er das vierte anstrich, fragte er mich: „Rauchen
+Sie?“ Dann drückte er auf einen Knopf, und es kam eine Ordonnanz, der
+er den Befehl gab, zwei Pakete Zigaretten aus der Kantine zu holen, auf
+seinen Namen. Ich bekam dann die Zigaretten und durfte rauchen,
+während die beiden Soldaten neben mir standen wie Götzenbilder und
+sich nicht rührten.
+</p>
+
+<p>
+Als sich der Offizier beruhigt hatte, nahm er ein Buch, suchte darin
+herum und las einzelne Stellen. Dann nahm er wieder ein andres Buch
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+und las auch in diesem, verschiedene Stellen aufsuchend und sie mit
+andern vergleichend.
+</p>
+
+<p>
+Es war merkwürdig. Ich, der ich doch das Opfer war, empfand nicht
+eine Spur von Aufregung. Als der Offizier mir sagte, daß ich innerhalb
+vierundzwanzig Stunden erschossen werden müsse, machte das auf mich
+keinen tieferen Eindruck, als ob er gesagt hätte: „Machen Sie, daß Sie
+hier herauskommen, aber schleunigst.“
+</p>
+
+<p>
+Es ließ mich kalt wie Pflasterstein.
+</p>
+
+<p>
+Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange
+tot. Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im
+Leben einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er
+wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf
+der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich
+jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte
+nirgends. Ein Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht
+ermordet.
+</p>
+
+<p>
+Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja
+sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bureaukratismus,
+keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind
+noch ganz andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus
+dem Universum ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten,
+die ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und
+abgeleugnet werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und
+vertiefen will auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament
+des Universums ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen,
+nicht aus Herden. Es besteht durch das Gegeneinanderwirken von Individuen.
+Und es bricht zusammen, wenn die freie Beweglichkeit der
+einzelnen Individuen beschränkt wird. Die Individuen sind die Atome
+des Menschengeschlechts.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht auch blieb die angekündigte Erschießung darum ohne jeden
+Eindruck auf mich, weil ich das schon einmal durchgekostet hatte und
+damals mit allen Grauen, die damit verknüpft sind. Aber Wiederholungen
+schwächen ab, selbst wenn es sich um wiederholte Todesurteile
+handelt. Einmal davongekommen, kommst du immer davon.
+</p>
+
+<p>
+Was auch das Motiv meiner schwachen Empfindung gegenüber der angedrohten
+Todesstrafe sein mochte, jedenfalls war es mir ganz ausgelaugter
+Kaffeesatz.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie Hunger?“ fragte jetzt der Offizier.
+</p>
+
+<p>
+„Aber tüchtig, das können Sie mir glauben“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Der Offizier wurde über und über rot und fing laut an zu lachen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben Nerven!“ sagte er unter Lachen. „Haben Sie geglaubt, ich
+scherze?“
+</p>
+
+<p>
+„Womit?“ fragte ich. „Doch nicht etwa mit dem angebotenen Essen? Das
+wäre mir gar nicht lieb.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ antwortete der Leutnant, und er wurde ein wenig ernster, „mit
+dem Erschießen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich so ernst genommen, wie Sie es meinten. Wortwörtlich.
+Wenn das in Ihrem Gesetz steht, dann müssen Sie das auch tun. Aber
+Sie haben doch auch gesagt, laut Gesetz innerhalb vierundzwanzig
+Stunden. Jetzt ist doch erst eine Viertelstunde um, und Sie denken doch
+nicht etwa, daß ich die übrigen dreiundzwanzig und dreiviertel Stunden
+hungere, nur des Erschießens wegen. Wenn Sie mich erschießen wollen,
+können Sie mir auch etwas Gutes zu essen geben. Das will ich Ihrem
+Staat denn doch nicht schenken.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sollen was Gutes zu essen haben. Werde ich anordnen. Sonntagsessen
+für Offiziere, Doppelportion.“
+</p>
+
+<p>
+Da will ich doch sehen, was französische Offiziere Sonntags essen. Mich
+zu vernehmen oder mich nach meiner Seemannskarte zu fragen, hielt
+der Offizier für nicht nötig. Endlich hatte ich einmal einen Menschen
+getroffen, der nichts über meine Privatverhältnisse wissen wollte. Nicht
+einmal meine Taschen wurden durchsucht. Aber der Leutnant hatte
+recht, wenn das Erschießen feststand, so lohnte es nicht die Mühe, Vernehmungen
+zu machen und Taschen durchzuwühlen. Das Resultat war
+ja immer dasselbe.
+</p>
+
+<p>
+Es dauerte eine gute Weile, ehe ich mein Essen bekam. Dann wurde ich
+in einen andern Raum geführt, wo ein Tisch stand, der mit einer Tischdecke
+bedeckt war, auf der die Gerätschaften in verlockender Weise aufgestellt
+waren, die mir das Essen erleichtern und verschönern sollten.
+Es war nur für eine Person gedeckt, aber Teller, Gläser, Messer, Gabeln
+und Löffel waren in einer solchen Menge vorhanden, daß sie gut für
+sechs Personen reichen konnten.
+</p>
+
+<p>
+Meine Wachtposten waren inzwischen abgelöst worden; ich hatte zwei
+neue bekommen. Einer stand jetzt an der Tür und einer hinter meinem
+Stuhl. Beide mit aufgepflanztem Bajonett, Gewehr bei Fuß. Draußen
+vor den Fenstern sah ich aber auch noch zwei auf und ab patrouillieren
+mit geschultertem Gewehr. Ehrenwachen.
+</p>
+
+<p>
+Sie brauchten keine Angst zu haben, sie hätten ruhig Karten spielen
+gehen können in die Kantine; denn solange ich nicht das Sonntagsessen
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+für Offiziere, Doppelportion, innerhalb meines Leders hatte,
+wäre ich nicht einen Schritt fortgegangen.
+</p>
+
+<p>
+Nach den vielen verschiedenen Messern, Gabeln, Löffelchen, großen
+Tellern, kleinen Tellern, Glastellerchen und großen und kleinen Wein-
+und Likörgläsern zu urteilen, die vor mir standen, mußte ich ja etwas
+erwarten, wovon mich auch eine dreifache Todesstrafe nicht hätte verscheuchen
+können. Verglichen mit jenem Napf, in dem ich meine belgische
+Henkersmahlzeit vorgesetzt bekommen hatte, stand mir hier kein
+Kartoffelsalat mit Leberwurst bevor. Ich hatte nur eine einzige Sorge,
+und das war die, ob ich auch alles werde essen können, ob ich nicht etwa
+werde irgend etwas liegen lassen müssen, das mir die letzte Stunde
+meines Daseins mit den Folterqualen bitterer Reue anfüllen könnte,
+weil ich unausgesetzt daran denken müßte, wie es nur möglich war, daß
+ich gerade das liegen ließ.
+</p>
+
+<p>
+Endlich wurde es ein Uhr und endlich auch einundeinhalb Uhr. Und
+da tat sich die Tür auf und das Fest begann.
+</p>
+
+<p>
+Zum ersten Male in meinem Leben lernte ich erfahren, was für Barbaren
+wir sind, und was für kultivierte Leute die Franzosen sind, und ich
+lernte ferner erfahren, daß die Nahrungsmittel des Menschen nicht gekocht,
+gebraten, geschmort, geröstet oder gebacken werden dürfen, sondern
+daß sie zubereitet werden müssen, und daß dieses Zubereiten eine
+Kunst ist, ach nein, keine Kunst, es ist eine Gabe, die einem Begnadeten
+und Auserlesenen in die Wiege gelegt wird, wodurch er Genie wird.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Tuscaloosa war das Essen gut, vorzüglich. Aber nach dem Essen
+konnte ich immer sagen, was es gegeben hatte. Das konnte ich hier nicht.
+Was es hier gab, und wie es schmeckte, das war wie ein Gedicht, bei dem
+man träumt, und bei dem man in Seligkeiten versinkt, und wenn man
+später gefragt wird: „Wovon handelte es denn?“ man zu seinem größten
+Erstaunen bekennen muß, daß man darauf nicht geachtet habe.
+</p>
+
+<p>
+Der Künstler, der dieses Gedicht geschaffen hatte, war fürwahr ein
+großer Künstler. Er ließ kein Gefühl der Reue übriggebliebener Verszeilen
+wegen in mir zurück. Jedes Gericht war so sorgfältig abgewogen
+und abgeschätzt in allen seinen Nähr- und Genußwerten, daß man kein
+Gabelspitzchen voll übrigließ, den nächsten Gang mit erhöhtem Genuß
+erwartete, und wenn er kam, mit Fanfaren zu begrüßen gedachte. Dieses
+Fest dauerte etwa einundeineviertel Stunde oder mehr, es hätte dauern
+können vier Stunden lang, und ich hätte nichts übriggelassen. Immer
+wieder kam noch ein solcher Bissen, dann noch ein solcher Happen, dann
+wieder eine solche kandierte Frucht, dann wieder eine Creme, und nach
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+jedem Gang wollte man einen weiteren sehen. Als aber dann endlich
+alles vorüber war – Schönes geht ja viel schneller zu Ende als Trübes –
+als auch alle die Liköre, Weine, Weinchen und Tröpfchen den Weg aller
+guten Tropfen gegangen waren, als endlich der Kaffee, süß wie ein
+Mädel am ersten Abend, heiß wie sie am siebenten und schwarz wie
+die Flüche der Mutter, wenn sie es erfährt, vorüber war, fühlte ich mich
+aufgefüllt wie ein Sack, aber ich fühlte mich wohlig und paradiesisch
+satt mit einer leisen, zart angedeuteten Sehnsucht auf das Abendessen.
+Meine Herren! Das war ein Essen, das nenne ich Kunstwerk. Dafür lasse
+ich mich jeden Tag zweimal mit Freuden erschießen.
+</p>
+
+<p>
+Ich rauchte eine Importe, aus der ich alle Düfte und Sonnentänze Westindiens
+sog. Dann legte ich mich auf das Feldbett, das in dem Raume
+stand, und sah den blauen Wolken nach.
+</p>
+
+<p>
+Oh, was ist das Leben schön! Wunderschön! So schön, daß man sich mit
+einem dankbaren Lächeln auf den Lippen erschießen läßt, ohne durch
+Murren oder Wimmern die Harmonie des Lebens zu stören.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-17">
+15
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">inige</span> Stunden waren vergangen, als der Leutnant
+hereinkam. Ich stand auf, aber er sagte mir, daß
+ich nur ruhig liegen bleiben möge, er wolle mir nur
+mitteilen, daß der Kommandant nicht erst morgen
+abend zurückkommen werde, wie er angesagt hätte,
+sondern schon morgen früh, also vor Ablauf meiner
+vierundzwanzig Stunden. Er habe dadurch die Möglichkeit,
+die Angelegenheit dem Kommandeur selbst
+zu übertragen. – „Freilich“, fügte er hinzu, „an Ihrem Schicksal ändert
+das nichts. Das Kriegsgesetz ist hier sehr eindeutig und läßt keine
+Lücke offen.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Krieg ist doch aber vorbei, Mr. Leutnant“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß. Aber wir befinden uns noch im Kriegszustande, und wahrscheinlich
+solange, bis alle Verträge endgültig geregelt sind. Unsre
+Grenzforts haben ihre Reglements noch nicht um einen Punkt geändert,
+sie sind zur Stunde genau noch so, wie sie während der Dauer
+des Krieges waren. Die spanische Grenze wird wegen der bedrohlichen
+Verhältnisse in unsrer nordafrikanischen Kolonie augenblicklich vom
+Kriegsministerium als größere Gefahrzone bezeichnet als unsre östliche
+Grenze.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+Mich interessierte das sehr wenig, was er mir über Gefahrzonen und
+Reglements erzählte. Was kümmerte mich denn die französische Politik.
+Mich interessierte nach meinem gesunden Mittagsschlaf ganz etwas
+andres, und das wollte ich ihn auch gleich wissen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Er wollte gehen, sah mich aber noch an und fragte dann lächelnd: „Ich
+hoffe, Sie fühlen sich den Umständen angemessen entsprechend wohl.
+Ist Ihnen das Essen bekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, danke.“
+</p>
+
+<p>
+Nein, ich konnte es nicht ungesagt lassen:
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich auch wieder Abendessen?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich. Glauben Sie denn, wir lassen Sie verhungern. Selbst wenn
+Sie auch ein Boche sind, verhungern lassen wir Sie doch nicht. In
+wenigen Minuten bekommen Sie Ihren Kaffee.“
+</p>
+
+<p>
+Ich druckste ein wenig, man möchte doch gegen seinen Gastgeber nicht
+unhöflich sein. Aber schiet, was braucht ein zum Tode Verurteilter noch
+länger höflich sein.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich wieder Offiziersessen.
+Doppelportion?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich. Was dachten Sie denn? Das ist in der Verordnung.
+Es ist Ihr letzter Tag. Wir werden Sie doch nicht mit einem schlechten
+Andenken an unser Fort zu – zum – also hinwegschicken.“
+</p>
+
+<p>
+„Seien Sie unbesorgt, Herr Leutnant, ich behalte das Fort in gutem Andenken.
+Sie können mich ruhig erschießen. Nur nicht gerade in dem
+Augenblick, wo das Offiziersessen, Doppelportion, auf dem Tisch steht.
+Das wäre eine barbarische Handlung, die ich Ihnen nie vergessen würde,
+und die ich oben auch gleich bei meiner Ankunft melden müßte.“
+</p>
+
+<p>
+Eine Weile sah mich der Offizier an, als hätte er mich nicht richtig verstanden.
+Es war ja auch nicht so leicht, sich aus meinen Brocken klarzumachen,
+was ich meinte. Aber plötzlich begriff er und verstand er. Und
+da lachte er so, daß er zum Tisch kommen mußte, um sich festzuhalten.
+Die beiden Soldaten hatten wohl etwas verstanden, jedoch den wahren
+Sinn nicht begriffen. Sie standen ganz starr da wie Puppen. Aber von
+dem Lachen ihres Leutnants wurden sie schließlich doch angesteckt und
+lachten mit, ohne zu wissen, worum es ging, und wer die Kosten dieses
+Lachens trug. –
+</p>
+
+<p>
+Der Kommandeur war sehr früh zurückgekommen, und um sieben Uhr
+morgens wurde ich ihm vorgeführt.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Was für Schilder?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+„Nun, jene Schilder, auf denen geschrieben steht, daß dies hier militärisches
+Gebiet ist, und daß, wer innerhalb dieses Gebietes angetroffen
+wird, nach Kriegsrecht behandelt wird. Das bedeutet, daß Sie ohne
+Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt sind und erschossen werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Das weißt ich bereits.“
+</p>
+
+<p>
+„Also die Schilder haben Sie nicht gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Und wenn ich sie gesehen habe, so habe ich nicht darauf geachtet.
+Ich kann auch gar nicht lesen, was darauf steht. Lesen kann ich es zwar,
+aber nicht verstehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind Holländer, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin ein Boche.“
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich gesagt hätte, ich bin der Teufel und komme soeben auf direktem
+Wege aus der Hölle, um den Kommandanten persönlich abzuholen,
+er hätte kein erstaunteres Gesicht machen können.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe geglaubt, Sie seien Holländer. Sie sind Offizier in der deutschen
+Armee oder sind es wenigstens gewesen, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich war nie Soldat in der deutschen Armee.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ein C. O., ein Mann, der die ganze Zeit, während der Krieg
+dauerte, im Gefängnis saß.“
+</p>
+
+<p>
+„Wegen Spionage?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, weil die Deutschen glaubten, ich würde den Krieg nicht erlauben.
+Und da hatten sie solche Angst, daß sie mich und noch ein halbes
+Dutzend Leute, die den Krieg auch nicht erlauben wollten, ins Gefängnis
+steckten.“
+</p>
+
+<p>
+„Da hätten Sie und das halbe Dutzend Ihrer Mitgefangenen den Krieg
+also verhindern können?“
+</p>
+
+<p>
+„Wenigstens die Boches glaubten das von mir. Vorher hatte ich nicht
+gewußt, daß ich ein so starker Mann bin. Aber dann erfuhr ich es, weil
+sie mich ja sonst nicht hätten einsperren brauchen.“
+</p>
+
+<p>
+„In welchem Festungsgefängnis haben Sie denn da gesessen?“
+</p>
+
+<p>
+„In – in – in Südfalen.“
+</p>
+
+<p>
+„In welcher Stadt?“
+</p>
+
+<p>
+„In Deutschenburg.“
+</p>
+
+<p>
+„Den Ort habe ich nie gehört.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, da wird nur wenig davon gesprochen. Das ist eine ganz geheime
+Festung, die sogar die Boches selber nicht kennen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Kommandant wandte sich nun an den Leutnant: „Wußten Sie, daß
+der Mann ein Deutscher ist?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+„Jawohl, er hat es mir sofort gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+„Sofort gesagt, ohne erst Ausflüchte zu machen?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl.“
+</p>
+
+<p>
+„Hat er einen photographischen Apparat gehabt, Karten, Bilder, Zeichnungen,
+Pläne oder etwas derart?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, offen nicht. Ich habe ihn nicht durchsuchen lassen, er war immer
+unter Aufsicht und konnte nichts verbergen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das war richtig. Wir werden sehen, was er hat.“
+</p>
+
+<p>
+Nun kamen zwei Korporale, und die durchsuchten mich. Aber sie hatten
+kein Glück. Alles, was sie fanden, waren ein paar Franken, ein zerrissenes
+Taschentuch, ein kleines Kämmchen und ein Stück Seife. Die
+Seife trug ich bei mir als Legitimation, daß ich einer zivilisierten Rasse
+angehöre, denn an meinem Äußern hätte man das nicht immer erkennen
+können. Und eine Legitimation mußte ich ja schließlich doch wohl
+haben.
+</p>
+
+<p>
+„Schneiden Sie die Seife auf,“ wurde dem Korporal angeordnet. Aber
+auch inwendig war nichts andres als Seife. Der Kommandant hatte
+offenbar geglaubt, daß innen Schokolade wäre.
+</p>
+
+<p>
+Dann mußte ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, und die Sohlen meiner
+Stiefel wurden durchsucht.
+</p>
+
+<p>
+Aber wenn schon alle die vielen Polizisten das nicht gefunden hatten,
+was die Leute alle gern von mir haben wollten, und die hatten doch
+auch gut verstanden, wie durchsucht werden muß, so fanden es die
+Korporale noch viel weniger. Wenn die Leute doch nur sagen wollten,
+was sie immer suchen, dann würde ich ihnen ja gern sagen, ob ich es
+habe oder nicht. Dann könnten sie sich die Mühe sparen. Freilich dann
+hätten sie wieder keine Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Es muß ein sehr wertvolles Ding sein, was die in allen Ländern in
+meinen Taschen suchen. Vielleicht die Pläne einer verschütteten Goldmine
+oder eines versandeten Diamantenfeldes. Der Kommandant hätte
+sich beinahe verraten, denn er sprach schon von Plänen; aber rasch fiel
+ihm ein, daß er das große tiefe Geheimnis, das nur Cops und Soldaten
+wissen dürfen, nicht verraten darf.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe nur eins nicht,“ wandte sich der Kommandant wieder an
+den Leutnant, „wie es möglich war, daß er die Posten an den Außenwerken
+passieren konnte, ohne gesehen zu werden und ohne aufgehalten
+zu werden?“
+</p>
+
+<p>
+„Um diese Stunde ist nur wenig Verkehr auf den zuführenden Straßen.
+Ich hatte, dem Befehl des Herrn Kommandanten Folge leistend, für die
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+Zeit Exerzieren in einem gegenüberliegenden Werk angeordnet, und es
+blieben hier nur Patrouillen zurück, die an den Straßen die Zugänge zu
+beobachten haben. Er ist dann sicher zwischen zwei Patrouillen durchgeschlüpft.
+Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich aus dieser Erfahrung
+heraus dem Herrn Kommandanten den Vorschlag unterbreiten,
+die Übungen nur in drittel Formationsstärke abzuhalten, um die
+Wachen nicht zu schwächen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir hatten geglaubt, es sei keine Annäherung möglich. Ich hatte mich
+an die gegebenen Vorschriften zu halten, deren Lücken ich, wie Sie sich
+wohl erinnern, rapportiert habe. Ich habe nun eine starke Stellung,
+unsern Entwurf durchzudrücken. Das ist etwas wert. Meinen Sie nicht?“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Was mich das eigentlich anging, welchen Entwurf sie für besser hielten.
+Warum sie nur das alles in meiner Gegenwart ausmachten? Aber warum
+sollten sie auch ein Blatt vor den Mund nehmen, vor einem Toten?
+</p>
+
+<p>
+„Wo kommen Sie denn her?“ fragte mich nun der Kommandant.
+</p>
+
+<p>
+„Von Limoges.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo sind Sie denn über die Grenze gegangen?“
+</p>
+
+<p>
+„In Straßburg.“
+</p>
+
+<p>
+„In Straßburg? Das liegt doch gar nicht an der Grenze.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich meine da, wo die amerikanischen Truppen liegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie meinen im Moselgebiet? Dann sind Sie also im Saargebiet herübergekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das wollte ich sagen. Ich habe Straßburg mit Saarsburg verwechselt.“
+</p>
+
+<p>
+„Was haben Sie denn hier die ganze Zeit in Frankreich gemacht? Herumgebettelt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich habe gearbeitet. Bei Bauern. Und wenn ich wieder ein wenig
+Geld hatte, habe ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin wieder ein
+Stück weitergefahren, bis ich wieder bei einem Bauern gearbeitet habe
+und wieder eine Fahrkarte kaufen konnte.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo wollten Sie denn jetzt hin?“
+</p>
+
+<p>
+„Nach Spanien.“
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie denn in Spanien?“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, Herr Kommandeur, nun kommt bald der Winter, und ich
+habe kein Feuerungsmaterial angespart. Da habe ich denn gedacht, ich
+gehe besser beizeiten nach Spanien, da ist es auch im Winter schön warm,
+und da braucht man kein Feuerungsmaterial, da kann man sich ruhig
+in die Sonne setzen und den ganzen Tag Apfelsinen und Weintrauben
+essen. Die wachsen da ja wild im Chausseegraben, man braucht sie nur
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+abzupflücken, und die Leute sind froh, wenn man sie abpflückt, weil
+das für die Spanier nur Unkraut ist, das sie nicht haben wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Also nach Spanien wollen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Wollte ich. Jetzt geht es ja nicht mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Weil ich doch erschossen werde.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ich Sie jetzt nicht erschießen lasse und Ihnen sage, Sie gehen auf
+dem schnellsten Wege zurück nach Deutschland, und Sie können frei
+gehen unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Deutschland zurückkehren,
+würden Sie mir das versprechen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein?“ Er sah den Leutnant merkwürdig an.
+</p>
+
+<p>
+„Lieber erschießen. Nach Deutschland gehe ich nicht. Ich bezahle keine
+Schulden mit. Aber davon abgesehen. Ich habe mir vorgenommen, daß
+ich nach Spanien gehen will, und ich gehe nach Spanien und nirgendwo
+anders hin. Wenn ich wohin gehen will, gehe ich da hin. Wenn ich erschossen
+werde, kann ich nicht hingehen. Spanien oder den Tod. Nun
+können Sie mit mir machen, was Sie wollen.“
+</p>
+
+<p>
+Nun lachte der Kommandant, und auch der Leutnant lachte. Und der
+Kommandant sagte lachend: „Lieber Junge, das hat Sie gerettet. Ich
+will Ihnen nicht sagen, warum, damit es nicht mißbraucht wird. Aber
+Sie haben mich davon überzeugt, daß ich Sie frei gehen lassen darf,
+ohne daß ich meine Pflicht verletze. Was sagen Sie, Leutnant?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich halte die Auffassung des Herrn Kommandanten für die allein richtige,
+und ich finde nichts, was mein Gewissen oder meine Ehre belasten
+könnte.“
+</p>
+
+<p>
+Der Kommandant sagte nun: „Sie werden jetzt sofort unter Bedeckung
+zur Grenze gebracht und der spanischen Grenzwache übergeben. Ich
+brauche Sie wohl nicht noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu
+machen, daß, wenn Sie je wieder hier in der Nähe, auch wenn es nicht
+auf rein militärischem Gebiete ist, gesehen werden sollten, daß dann
+keine Frage mehr besteht, in welcher Form sich Ihr Schicksal innerhalb
+der nächsten zwei Stunden nach dem Ergreifen gestaltet. Haben Sie
+genau verstanden, was ich damit meine?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, Herr Kommandant.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, das ist alles. Sie gehen sofort.“
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb aber stehen und trat von einem Fuß auf den andern.
+</p>
+
+<p>
+„Noch was?“ fragte der Kommandant.
+</p>
+
+<p>
+„Darf ich eine Frage an den Herrn Leutnant richten?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+Nicht nur der Kommandant schien zu erstarren, sondern erst recht der
+Leutnant. Der Kommandant warf einen Blick auf den Leutnant, als ob
+er ihn schon vor dem Kriegsgericht sähe. Er vermutete richtig: der
+Leutnant war in der Tat im Bunde mit mir.
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, richten Sie Ihre Frage an den Herrn Leutnant.“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen der Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt.“
+</p>
+
+<p>
+Der Kommandant und der Leutnant platzten in ein schallendes Gelächter
+aus, und der Kommandant brüllte rüber zum Leutnant: „Nun
+ist wohl kein Zweifel mehr, daß der Mann unverdächtig ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Zweifel war mir gestern schon geschwunden,“ sagte der Leutnant,
+„als ich ihn fragte, ob er Hunger habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, Sie sollen auch ein Frühstück haben“, sagte der Kommandant noch
+immer lachend.
+</p>
+
+<p>
+Aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen.
+</p>
+
+<p>
+„Herr Leutnant, da es doch schon mein letztes Essen, mein Abschiedsessen
+ist, darf ich um Offiziersfrühstück, Doppelportion, bitten? Ich
+möchte doch das Fort so gern in einem recht guten Andenken behalten.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Der Kommandant und der Leutnant brüllten vor Lachen, daß das ganze
+Fort zu erzittern schien.
+</p>
+
+<p>
+Und unter seinem bärenhaften Lachen schrie der Kommandant die
+Worte hervor, die er nur mühselig in Reihe halten konnte, weil sie
+immer wieder von seinem schreienden, brüllenden Lachen abgehackt
+wurde: „Das ist der echte verhungerte Boche, wenn er schon am Ersaufen
+ist, wenn ihm schon der Strick um den Hals gelegt ist, will er
+erst noch essen und essen und nochmal essen. Diese verfressene Teufelsbrut
+kriegen wir nie unter.“
+</p>
+
+<p>
+Ich hoffe, daß die Boches für diese gute Meinung, die ich zwei französischen
+Offizieren über sie eingeflößt habe, mir ein anständiges Denkmal
+errichten werden. Nur nicht in der Siegesallee, dann lieber nicht.
+Da würde ich den schlechten Geschmack im Munde nie los, und unzulängliche
+Revolutionen würden mir als Gespenster erscheinen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-18">
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+16
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_z.jpg" alt="Z"><span class="hidden">Z</span></span><span class="postfirstchar">wei</span> Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr begleiteten
+mich. So wanderte ich in das sonnige Spanien
+ein. Mit allen militärischen Ehren. Die Soldaten brachten
+mich zur Grenzwache, und dort wurde ich den
+spanischen Grenzbeamten übergeben.
+</p>
+
+<p>
+„Papiere hat er keine“, sagte der mich begleitende
+Korporal. – „Es aleman?“ fragte der Spanier.
+</p>
+
+<p>
+„Si, Senjor,“ sagte ich. „Seien Sie willkommen!“ antwortete
+darauf der Spanier, und zu dem Korporal sagte er, es sei gut,
+er würde mich hierbehalten. Der Korporal sah nach seiner Uhr und
+schrieb dann etwas auf einen Rapportzettel. Dann machten die beiden
+Soldaten kehrt und zogen ab. – „Good-bye, France!“
+</p>
+
+<p>
+Die Grenze Frankreichs entschwand meinen Blicken.
+</p>
+
+<p>
+Der spanische Beamte schleifte mich nun gleich in die Wachtstube, wo
+ich von allen Beamten sofort umringt wurde, die mir alle die Hand
+schüttelten und mich umarmten. Einer wollte mich sogar auf die Backen
+küssen. „Mach Krieg mit dem Amerikaner, und du findest keinen
+bessern Freund auf der ganzen Erde als den Spanier!“ Hätten sie gewußt,
+wer ich bin, daß ich ihnen Kuba und die Philippinen abgenommen
+und manches andre zugefügt habe, würden sie mich zwar nicht erschlagen,
+und sie würden mich auch nicht zurückgeschickt haben in jenes
+Fleckchen, wo ich mich nie wieder sehen lassen durfte, aber sie wären
+kühl gewesen wie nasse Jacken und gleichgültig wie altes Bettstroh.
+</p>
+
+<p>
+Erst kriegte ich einmal Wein eingeschenkt, dann gab es Eier und feinen
+Käse. Dann gab es zu rauchen und wieder Wein zu trinken und wieder
+Eier und feinen Käse, und dann wurde mir gesagt, nun gäbe es bald
+Mittagessen. Die Beamten, die draußen im Dienst waren, kamen nach
+und nach herein. Und nun ging keiner mehr hinaus. Ganze Schmugglerzüge
+hätten jetzt kommen können, das wäre ihnen ganz gleichgültig
+gewesen. Hier war ein Deutscher, und dem hatte man zu zeigen, was
+man von Deutschland und den Deutschen dachte. Und um das auch ganz
+genau zu zeigen, wurde ihm zu Ehren aller Dienst eingestellt.
+</p>
+
+<p>
+Äußerlich betrachtet, war ich kein glorreiches Beispiel des so sauberen
+und adretten deutschen Landes und seiner so frischgewaschenen und
+adretten Bewohner. Seit meine Tuscaloosa abgesegelt war, hatte ich
+weder meinen Anzug, noch meine Stiefel, noch meinen Hut gewechselt,
+und meine Wäsche sah so aus, wie sie eben aussehen kann, wenn man
+sie an Bächen und Flüssen, an denen man vorüberkommt, mit mehr oder
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+weniger Seife mehr oder weniger sorgfältig wäscht, dann auf einen
+Strauch hängt, selbst ein Bad nimmt und endlich so lange wartet, bis
+die Wäsche wieder trocken ist, oder bis man sie noch naß anziehen muß,
+weil es zu regnen anfängt.
+</p>
+
+<p>
+Mein Aussehen schien aber der beste Beweis für sie zu sein, daß ich
+direkt ohne Aufenthalt von Deutschland kam. So hatten sie sich vorgestellt,
+wie ein Deutscher, der den Krieg verloren hat, den die Amerikaner
+bis aufs Hemd ausgeplündert und die Engländer ausgehungert
+haben, aussehen müsse. Und meine Erscheinung deckte sich mit ihren
+Vorstellungen so vollkommen, daß, wenn ich gesagt hätte, ich bin Amerikaner,
+sie mich für einen unverschämten Lügner angesehen hätten, der
+sie zum Narren halten wolle.
+</p>
+
+<p>
+Daß jemand, der direkt ohne Aufenthalt aus Deutschland kommt, einen
+entsetzlichen Hunger haben muß, der sich nicht innerhalb fünf Jahre
+stillen läßt, war ihnen klar. Beim Mittagessen bekam ich so viel aufgehäuft,
+daß ich die fünf Jahre Hungerns ohne Mühe einholen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Dann brachte einer ein Hemd, einer Stiefel, einer einen Hut, einer ein
+halbes Dutzend Strümpfe, einer Taschentücher, einer Kragen, einer
+seidene Schlipse, einer eine Hose, einer eine Jacke, und so ging das in
+einem <a id="corr-9"></a>fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt
+besessen hatte, fortwerfen.
+</p>
+
+<p>
+Nachmittags wurden Karten gespielt. Diese Karten kannte ich nicht,
+aber sie lehrten es mich, und ich spielte bald so gut, daß ich ihnen ein
+hübsches Sümmchen abgewann, was sie sehr erfreute und sie veranlaßte,
+immer weiterzuspielen.
+</p>
+
+<p>
+Durch diese Station war noch nie ein Deutscher gekommen, und deshalb
+wurde ich als der Vertreter, als der erste echte Vertreter jenes hier so
+sehr beliebten Volkes entsprechend gefeiert.
+</p>
+
+<p>
+O sonniges Spanien! Das erste Land, das ich traf, wo man nicht nach
+meiner Seemannskarte fragte, wo man nicht meinen Namen, mein Alter,
+meine Körperlänge, meine Fingerabdrücke wissen wollte. Wo man
+nicht meine Taschen durchsuchte, wo man mich nicht bei Nacht zu einer
+Grenze schleppte und mich hinausjagte wie einen ausgedienten Hund,
+wo man nicht wissen wollte, wieviel Geld ich habe, und wovon ich die
+letzten Monate gelebt hätte.
+</p>
+
+<p>
+Nein, sie steckten mir die Taschen noch voll, damit endlich einmal jemand
+in meinen Taschen etwas finden möge. Den ersten Tag war ich
+in der Wache, die erste Nacht mußte ich im Hause des einen Beamten
+schlafen, den darauffolgenden Tag wurde ich in seinem Hause verpflegt.
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+Am Abend wurde ich von einem andern abgeholt. Und nie wollte mich
+einer herausgeben, bei jedem sollte ich eine Woche bleiben. Das gab
+aber der, der jetzt an der Reihe war, nicht zu. Und als die Reihe herum
+war und wieder von vorn anfangen sollte, kamen die Bewohner des
+ganzen Grenzörtchens der Reihe nach an und erhoben Anspruch auf
+mich, und ich hatte jeden Tag bei einem andern Bürger zuzubringen.
+Die Konkurrenz, daß ich von jedem fortgehen sollte mit dem Gefühl,
+er habe mich bei weitem besser bewirtet als der Nachbar, zwang mich,
+eines Nachts die Flucht zu ergreifen. Ich bin fest davon überzeugt,
+die Leute alle behaupten heute, eine solche Undankbarkeit hätten sie
+nicht von mir erwartet. Aber der Tod durch Erschießen oder Erhängen
+war ja ein Lustspiel gegenüber dem qualvollen Tode, der mich hier erwartete,
+und dem ich durch nichts andres als durch eine nächtliche Flucht
+entgehen konnte. Durch solche Mißverständnisse werden Menschen verdorben.
+Ich lebe in ihrer Erinnerung als jemand, der sicher ein entlaufener
+Zuchthaussträfling gewesen sein müsse, weil er sich so heimlich
+zur Nachtzeit aus dem Staube machte. Es ist durchaus möglich, wenn
+wieder ein fremder Mann dorthin kommt, diesmal vielleicht ein echter
+Deutscher, daß ihm kaum eine warme Suppe vorgesetzt wird, oder wenn
+sie ihm gegeben wird, dann mit hochgezogenen Augenbrauen und mit
+einer Miene, die deutlich sagt: Verhungern lassen wir keinen, und wenn
+es der Satan selber wäre. Aus Liebe kann nicht nur Haß werden, sondern,
+was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden. Hier
+war sie Sklaverei mit Totschlag. Nicht einmal auf den Hof konnte ich
+gehen, ohne daß mir sofort ein Familienmitglied nachgelaufen kam mit
+der besorgten Frage, ob ich auch weiches Papier hätte. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Das kann kein Mensch ertragen oder nur ein Paralytiker. Hätte ich eine
+Andeutung gemacht, daß ich abreisen wolle, die Leute hätten mich in
+Ketten gelegt. Ich denke, daß ein Vernünftiger unter jenen Leuten lebt,
+der meine Untat in einem milderen Lichte sehen wird.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-19">
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+17
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">obald</span> es mir in Sevilla zu langweilig wurde, zog
+ich ab nach Cadiz, und sobald mir in Cadiz die Luft
+nicht mehr bekam, wanderte ich wieder nach Sevilla,
+und wenn mir in Sevilla die Nächte wieder nicht gefielen,
+machte ich mich auf nach Cadiz. Dabei verging
+der Winter, und meine Sehnsucht nach New Orleans
+konnte ich glatt für einen Quarter verkaufen, ohne
+daß ich Gewissensbisse empfunden hätte. Warum
+muß es denn gerade New Orleans sein?
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte auch nicht ein winziges Papier mehr in der Tasche als an jenem
+weit zurückliegenden Tage, an dem ich in dieses Land eingezogen kam.
+Und nie interessierte sich jemals ein Cop um meine Papiere oder um
+mein Woher, Wohin oder Wozu. Die hatten andre Sorgen. Paßlose arme
+Teufel waren ihre geringste Sorge. Wenn ich kein Schlafgeld für die Herberge
+hatte und mich in irgendeine Ecke legte, so lag ich am andern
+Morgen genau noch so ruhig und unschuldig da, wie ich mich am Abend
+hingelegt hatte. Und hundertmal war der Cop vorbeigewandert, und
+hundertmal hatte er gut aufgepaßt, daß mich auch niemand etwa aus
+Versehen stehlen möchte. Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus
+andern Ländern wohl werden würde, wenn ein armer Bursche oder gar
+eine ganze Familie in einem Torweg schliefe oder auf einer Bank die
+Nacht verbrächte, ohne verhaftet zu werden und wegen Herumtreibens
+und Obdachlosigkeit im Gefängnis oder im Arbeitshaus zu verschwinden.
+Deutschland würde sicher sofort von einem Erdbeben und England
+von einer Sintflut vernichtet werden, wenn der Mann, der es wagt, obdachlos
+zu sein, nicht verhaftet und ordentlich verknackst wird. Denn
+es gibt eine ganze Anzahl von Ländern, wo obdachlos und mittellos zu
+sein ein Verbrechen ist; und es sind zufällig dieselben Länder, wo ein
+tüchtiger Raubzug, bei dem man nicht erwischt wird, kein Verbrechen
+ist, sondern die erste Stufe, um ein geachteter Bürger zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Es kam vor, daß ich auf einer Bank lag und ein Cop mich aufweckte,
+um mir zu sagen, daß es gleich regnen würde, und daß ich besser täte,
+unter jenen Torweg da drüben zu gehen oder in den Schuppen am
+andern Ende der Straße, wo Stroh sei, wo ich besser schlafen könnte,
+und wo es nicht hineinregne.
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich hungrig war, ging ich in einen Bäckerladen und sagte dem
+Manne oder der Frau, daß ich kein Geld hätte, dafür aber um so mehr
+Hunger, und ich bekam Brot. Niemand verekelte mir das Dasein mit
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+der langweiligen Frage: „Warum arbeiten Sie nicht, Sie sind doch ein
+starker gesunder Bursche!“
+</p>
+
+<p>
+Das hätten sie als grobe Unhöflichkeit angesehen. Denn wenn ich nicht
+arbeitete, so mußte ich wohl meine guten Gründe dafür haben; und
+diese Gründe aus mir herauszuforschen, hielten sie für unanständig.
+</p>
+
+<p>
+Was gingen da für Schiffe raus! Manchen Tag gleich ein halbes Dutzend.
+Sicher war da Arbeit auf dem einen oder dem andern. Aber ich sorgte
+mich nicht darum. Ich lief der Arbeit nicht nach. Warum auch? Der
+spanische Frühling war da.
+</p>
+
+<p>
+Um Arbeit sollte ich mich sorgen? Ich war auf der Welt, ich lebte, ich war
+lebendig, ich atmete die Luft. Das Leben war so wundervoll schön, die
+Sonne war so golden und so warm, das Land so märchenhaft lieblich,
+alle Menschen so freundlich, auch wenn sie in Lumpen gingen, alle Leute
+so höflich, und über alles das war so viel echte Freiheit. Kein Wunder,
+das Land hatte ja an dem Kriege für die Freiheit und die Demokratie
+der Welt nicht teilgenommen. Deshalb hatte der Krieg hier die Freiheit
+nicht gewonnen und die Menschen hatten sie nicht verloren.
+</p>
+
+<p>
+Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich behaupten,
+sie seien die freisten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern die
+geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter
+Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit
+geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden
+sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes
+eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen,
+was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind
+ein Volk von freien Menschen! da will man nur die Tatsache verdecken,
+daß die Freiheit vor die Hunde gegangen ist, oder daß sie von Hunderttausenden
+von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen,
+Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch
+das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben
+sind. In Spanien spricht kein Mensch von Freiheit, und in
+einem andern Lande, wo man auch nicht von Freiheit spricht, habe ich
+einmal das Wort Unfreiheit erwähnen hören. Dieses Wort fiel bei einer
+Riesendemonstration. Die Demonstration, an der die ganze Bevölkerung
+teilnahm, wo ehrsame Bürger sich nicht fürchteten, hinter den
+Flaggen der Kommunisten und Anarchisten zu gehen, und die Kommunisten
+sich nicht für zu vornehm hielten, hinter den Flaggen des
+Heimatlandes zu marschieren, war ein Protest gegen die Polizei, die versuchte,
+nach preußischem Muster eine Art Meldepflicht der Bewohner
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+einzuführen. Das heißt, sie hatte nur vorgeschlagen, daß jeder Bürger
+einmal im Jahre seine Adresse auf der Polizei angeben sollte, seinen
+Namen, sein Alter und seinen Beruf. Aber die Bevölkerung witterte sofort
+den Pferdefuß und wußte beim ersten Wort, daß dies nur der
+Anfang der Meldepflicht sei.
+</p>
+
+<p>
+Es gibt heute keinen Menschen auf der Erde, der nicht wüßte, was
+Deutschland bedeutet. Der Krieg mit England und Amerika war die
+beste Reklame für Deutschland und für deutsche Arbeit. Daß Preußen
+ein Land ist, wissen nur wenige Menschen auf Erden. Wenn man in
+Amerika und in vielen andern Ländern das Wort „Preußen“ hört, ist es
+nie mit dem Lande Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft,
+sondern es ist ein Synonym für eine Abwürgung der Freiheit und für
+polizeiliche Bevormundung.
+</p>
+
+<p>
+Als ich in Barcelona war, kam ich eines Tages an einem großen Gebäude
+vorbei, und ich hörte Schreien, Heulen und Wimmern von Menschen aus
+jenem Gebäude dringen.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn da los?“ fragte ich einen Mann, der gerade vorüberging.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist das Militärgefängnis“, sagte er mir.
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum schreien denn die Leute da so herzzerreißend?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Leute? Aber das sind doch die Kommunisten.“
+</p>
+
+<p>
+„Die brauchen doch nicht zu schreien, wenn sie Kommunisten sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, verstehen Sie denn nicht? Die werden jetzt geprügelt und gefoltert.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn aber?“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind doch Kommunisten.“
+</p>
+
+<p>
+„Das haben Sie mir nun schon dreimal erzählt.“
+</p>
+
+<p>
+„Darum werden sie doch totgeschlagen. Abends werden sie dann rausgeschafft
+und vergraben.“
+</p>
+
+<p>
+„Sind denn das Verbrecher?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, aber Kommunisten.“
+</p>
+
+<p>
+„Darum werden sie gefoltert und totgeschlagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, die wollen alles anders machen. Denen ist das alles nicht gut genug.
+Die wollen uns zu Sklaven machen, daß wir nicht mehr tun dürfen, was
+wir wollen. Der Staat soll alles allein machen, und wir sollen nur noch
+alle Arbeiter des Staates sein. Das wollen wir aber nicht. Wir wollen
+arbeiten, wann wir wollen, wie wir wollen, wo wir wollen, und was wir
+wollen. Und wenn wir nicht arbeiten, sondern verhungern wollen, so
+wollen wir auch nicht, daß sich da jemand hereinmischt. Aber die
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+Kommunisten wollen sich in unser ganzes Leben hineinmischen, und
+der Staat soll alles kommandieren. Ganz recht, daß man sie totschlägt.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Soll ich darum Spanien verdammen? Ich denke nicht daran. Jedes Zeitalter
+und jedes Land, mag es noch so zivilisiert sein, hat seine Christenverfolgungen,
+seine Ketzerverbrennungen und Hexenfolterungen. In
+Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das
+Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen,
+die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten
+Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern sind
+heute auch schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger
+werden immer verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika
+eingewandert ist und gestern sein zweites Bürgerpapier erhalten hat,
+ist heute der Mann, der am wildesten schreit: „Macht die Grenzen fest
+zu, laßt niemand mehr herein.“ Und doch sind sie alle nur Einwanderer
+und Söhne von Einwanderern, der Präsident nicht ausgeschlossen ...
+</p>
+
+<p>
+Warum soll ich der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die
+Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher Bettler.
+„Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.“ Wenn der
+Arbeiter aber einmal sagt: „Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust,
+für Sie zu arbeiten“, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den
+Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt und ganze Regimenter
+von Miliz rücken an und stellen die Maschinengewehre auf.
+Fürwahr, es ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln als
+um Arbeit zu fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren,
+ohne den Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen,
+ohne den Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand
+um Arbeit zu betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden
+soll, muß auf den blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht,
+lachen, obgleich ihm gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den
+Skipper oder den Ingenieur, oder den Meister, oder den Vorarbeiter
+oder wer immer das Machtwort „Sie werden eingestellt!“ zu sagen die
+Befugnis hat, bei guter Laune zu halten.
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann
+ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln.
+Der Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon
+Leute behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte.
+</p>
+
+<p>
+Also wozu der Arbeit nachrennen, wenn die Sonne so golden scheint,
+überall ein Platz zum Schlafen ist und alle Menschen freundlich und
+höflich sind, kein Polizist etwas von mir erfahren will, und kein Cop
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+meine Taschen durchsucht nach dem verlorengegangenen Rezept, wie
+man biegsames Glas machen könne.
+</p>
+
+<p>
+Ich bekam Appetit auf Fisch, und ich dachte, die einfachste Art, Fisch
+zu essen, ist, ihn zu haben; und um ihn zu haben, mußte ich ihn fangen.
+Brot, Suppe und ein Hemd konnte man sich schon leicht verschaffen;
+aber um Angelgerätschaften betteln zu gehen, das schien mir doch zu
+modern zu sein. Ich paßte deshalb auf, als ein Passagierschiff ankam
+und die Reisenden das Zollhaus verließen. Da bekam ich einen Koffer
+in die Hand gedrückt, und als ich diesen Koffer seinem Besitzer im Hotel
+wieder ablieferte, bekam ich drei Peseta in die Hand ausbezahlt.
+</p>
+
+<p>
+Mit diesem Geld ging ich in einen Laden und kaufte eine Angelschnur
+und Haken. Das machte so ziemlich einen Peseta aus. So nebenbei erzählte
+ich dem Verkäufer, daß ich ein Seemann sei, der sein Schiff verloren
+habe. Da lachte der Verkäufer, wickelte meine Sachen recht sorgfältig
+in Papier und überreichte sie mir mit einem „Favor!“ Ich wollte
+nach meinem Zahlzettel greifen, aber der Verkäufer lächelte, zerriß mit
+einer eleganten Geste den Zettel, warf ihn mit einer andern eleganten
+Geste über seine Schulter hinweg, verbeugte sich höflich und sagte: „Ist
+bezahlt, danke sehr! Viel Vergnügen beim Fischen, mein Herr.“
+</p>
+
+<p>
+Und in diesem Lande sollte ich hinter der Arbeit herlaufen? Dieses
+Land sollte ich verlassen? Ich wäre ja nicht wert, daß mich die spanische
+Sonne bescheint.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-20">
+18
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> saß auf der Kaimauer und hielt meine Schnur ins Wasser.
+Kein Fisch biß an, obgleich ich sie so gut mit Blutwurst
+fütterte, die ich von einem holländischen Schiff mitgebracht
+hatte, wo ich zum Abkochen, zum Essen mit der Mannschaft,
+gewesen war. Dieses „Abkochen gehen“ auf die Schiffe, das
+Mitessen mit der Mannschaft eines Schiffes, das im Hafen
+liegt, ist auch nicht immer eine sehr würdige Sache. Der Arbeiter,
+der gute Arbeit hat oder wenigstens glaubt, in guter
+Stellung zu sein, fühlt sich gegenüber dem Arbeiter, der keine Arbeit
+hat, zuweilen sehr überlegen. Und diese Überlegenheit läßt er den
+Arbeitslosen auch fühlen. Der Arbeiter ist des Arbeiters größter Teufel.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Na, ihr Beachcombers, ihr Herumtreiber, habt ihr wieder nischt zu
+fressen? Da wollt ihr wohl wieder hier raufkommen auf unsern Kasten,
+und da sollen wir euch wohl wieder was zu fressen geben, hä? Aber
+bloß zwei dürfen rauf. Ihr macht uns zu viel Schweinerei.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+Da durften wir dann nicht in das Quartier kommen, oft genug. Nein,
+wir mußten vor der Tür stehenbleiben. Dann schütteten die Mitproletarier
+alles, was sie auf den Tellern übrighatten, und was sie manchmal
+schon im Munde gehabt hatten, in die große Blechschüssel, in der die
+Suppe geholt worden war, dann schoben sie uns die Schüssel raus, und
+wir mußten auf dem Verdeck essen, wo wir auf dem Boden zu hocken
+hatten. Wenn wir dann um einen Löffel bitten mußten – ich hatte,
+durch lange Erfahrung gewitzigt, immer meinen eignen in der Tasche –,
+dann sagten sie, Löffel bekämen wir nicht. Wir fischten dann mit den
+Fingern in dem Brei herum. Oder aber sie warfen uns ein paar Löffel
+zu und warfen sie so geschickt, daß sie in den Brei fielen, so daß wir
+sie mit unsern dreckigen Fingern herausfischen mußten, was den
+Leuten ein höllisches Vergnügen zu bereiten schien.
+</p>
+
+<p>
+Und diese Mannschaften waren noch nicht die schlimmsten. Da waren
+welche, die uns hinunterjagten vom Schiff, weil wir Spitzbubengesindel
+seien. Oder andre, die vor unsern Augen die schönsten Schüsseln voll
+Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ins Meer schütteten und ganze Brote
+hinterher warfen, nur um uns zu ärgern. Es war dann zuweilen ganz
+lieblich zu erleben, wenn einer oder der andre durch irgendeinen Umstand
+entweder entlassen wurde oder achtern abgekantet war, dann
+mit uns an der Beach, am Ufer lag, mit uns dann zum Abkochen gehen
+mußte und dabei lernte, wie gut es tut, in der Weise von seinen eignen
+Klassengenossen behandelt zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Nicht alle waren so. Ich habe manchen Peseta freiwillig von Schiffsproleten
+bekommen, habe ganze Büchsen voll Corned Beef oder Leberwurst
+oder Blutwurst bekommen, Büchsen voll Gemüse, ganze Kilo
+Kaffee von den Köchen, ganze Brote, Kuchen und Puddings. Einmal
+zwölf, sage und wiederhole zwölf gebratene Hühnchen, von denen ich
+zehn selber wegwerfen mußte, weil ich sie nicht essen und nicht verwahren
+konnte, denn ich hatte ja keinen Eisschrank in meiner Hosentasche.
+Alles, was man besitzt auf der Welt, hat man bei sich und hat
+man an sich.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man in spanischen, afrikanischen, ägyptischen, indischen, chinesischen,
+australischen und südamerikanischen Häfen an der Beach liegt,
+lernt man allerlei Menschen kennen und allerlei Methoden, mit deren
+Hilfe man sich am Leben erhält. Aber niemand läßt einen mit solcher
+Kaltblütigkeit verhungern wie in vielen Fällen der Arbeiter. Und der
+Arbeiter der eignen Nationalität ist der schlimmste aller Teufel. Während
+ich als Amerikaner von den amerikanischen Schiffen heruntergejagt
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+wurde von der Mannschaft, habe ich als Deutscher auf französischen
+Schiffen wie ein Fürst gelebt. Die Mannschaft lud mich ausdrücklich
+ein, zu jedem Frühstück, zu jedem Mittagessen und zu jedem
+Abendessen auf dem Schiff zu erscheinen, solange es im Hafen, es war
+in Barcelona, läge. Und ich bekam das Beste, was nur ins Quartier kam,
+während mir auf deutschen Schiffen Mannschaften gleich auf der Falltreppe
+mit einem großen Schild entgegensprangen „Zutritt verboten!“
+Die deutschen Schiffe sind die einzigen Schiffe, die ich kenne, die zuweilen
+ein großes Schild im Hafen aushängen mit der Inschrift „Zutritt
+verboten!“ in deutscher Sprache und in der Sprache des Landes, in
+dessen Hafen sie liegen. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Als ich in Barcelona lag, wurde mir erzählt, in Marseille lägen viele
+amerikanische Schiffe, die keine Mannschaft bekommen könnten, weil
+zu viele ausgerückt seien. Die Mannschaft eines Kohlendampfers nahm
+mich mit nach Marseille. Aber es war falscher Alarm. Es lag auch nicht
+ein einziges amerikanisches Schiff im Hafen, und auf den paar andern,
+die dort lagen, war auch nichts zu machen.
+</p>
+
+<p>
+Ganz verzweifelt schlich ich durch die Gassen im Hafenviertel. Ich ging
+in eine Hafenkneipe, wo viele Seeleute verkehren, um zu sehen, ob ich
+nicht vielleicht einen Bekannten treffen möchte, der mir aushelfen
+könnte; denn ich hatte keinen Copper in meiner Tasche.
+</p>
+
+<p>
+Als ich hineinkam und mich umsah nach einem Stuhl, näherte sich mir
+die Kellnerin, ein nettes junges Mädchen, und fragte, was ich trinken
+wolle. Ich sagte ihr, ich hätte kein Geld und wolle nur sehen, ob nicht
+ein Bekannter drin sei, von dem ich vielleicht etwas bekommen könne.
+Sie fragte mich, was ich sei. Ich sagte: „Deutscher Seemann.“
+</p>
+
+<p>
+Da sagte sie: „Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen zu essen!“
+</p>
+
+<p>
+Ich erwiderte: „Ich habe aber doch kein Geld.“
+</p>
+
+<p>
+„Das macht nichts“, sagte sie. „Sie werden gleich genug Geld haben.“
+</p>
+
+<p>
+Ich verstand das nicht und wollte mich aus dem Staube machen, weil ich
+glaubte, es sei irgendeine Falle.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem ich gegessen und eine Flasche Wein vor mir stehen hatte, rief
+das Mädchen plötzlich ganz laut durch die Schenke: „Meine Herren,
+hier ist ein armer deutscher Seemann, der kein Schiff hat. Möchten Sie
+ihm denn nicht etwas geben?“
+</p>
+
+<p>
+Ich fühlte, daß ich totenbleich wurde, denn ich dachte jetzt, das sei die
+Falle, und man wolle einen Spaß haben dadurch, daß man mir hier eine
+Abreibung geben würde, die nicht von schlechten Eltern sei. Aber nichts
+dieser Art geschah. Die Leute hörten nur alle auf zu reden und drehten
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+sich nach mir um. Einer stand auf, kam mit seinem Glas und stieß mit
+mir an: „Auf Ihr Wohl, Deutscher!“ Er sagte nicht einmal „Boche“ dabei.
+Dann nahm das Mädchen einen Teller und ging rund, und als sie den
+Teller dann vor mir ausschüttete, zählte ich siebzehn Franken und
+einige sechzig Centimes. Nun konnte ich mein Essen und meinen Wein
+gut bezahlen, und als ich mit dem Kohler zwei Tage später wieder nach
+Barcelona fuhr, hatte ich sogar noch etwas übrig von den Franken.
+</p>
+
+<p>
+Ich glaube nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern
+gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde.
+Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als
+Hunde. Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal
+aber auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander
+hetzen und das „Ksch-ksch“ braucht gar nicht einmal geschickt gemacht
+zu werden. Es braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie
+auch schon aufeinander los wie blödsinnig geworden ...
+</p>
+
+<p>
+Verflucht nochmal, es beißt auch nicht ein einziges Luder an und die
+Büchse Blutwurst ist gleich alle. Das kommt davon, wenn man döst
+und seine Gedanken woanders hat, statt auf das Geschäft zu achten.
+Sobald ich eine Portion beieinander habe, gehe ich raus, mache mir ein
+Feuer an und brate die Fische an einem Stock. Es ist einmal etwas
+andres als die immer in Öl gebackenen Fische.
+</p>
+
+<p>
+Wieder nichts dran und die Wurst abgebissen. Wie lange sitze ich hier?
+Sicher schon drei Stunden. Aber Fischen beruhigt die Nerven. Man hat
+nicht das Gefühl, daß man seine Zeit verplempert. Es ist nützliche
+Arbeit, die man verrichtet: man trägt seinen Teil zur Volksernährung
+bei, denn wenn ich die Fische esse, die ich hier jetzt fange, brauche ich
+nicht woanders die Nudelsuppe aufessen. Die kann dann gespart werden,
+und am Ende des Jahres findet man die gesparte Nudelsuppe in
+irgendeiner Statistik wieder, wo die Zeile, in der die gesparte Nudelsuppe
+erwähnt ist, mehr kostet als alle weggeschütteten Suppen des
+ganzen Landes zusammengenommen.
+</p>
+
+<p>
+Ich könnte die Fische aber auch verkaufen gehen. Vielleicht kriege ich
+soviel zusammen, daß ich zwei Peseta machen kann. Dann könnte ich
+wieder einmal zwei Nächte in einem Bett schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Siehst du, mein Freundchen, da habe ich dich doch endlich erwischt. Du
+bist es, der mir die ganze Blutwurst abgefressen hat. Schwer ist er ja
+nicht. Ein halbes Kilo. Ich glaube, nicht ganz. Dreihundertfünfzig
+Gramm. Da zappelst du aber schön. Ich kann das nachfühlen. Ich habe
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+auch schon verschiedene Male so gezappelt, wenn mich ein Cop am
+Kragen hatte. Aber es hilft nichts, ich habe Appetit auf Fische.
+</p>
+
+<p>
+Ja, das Wasser ist so schön kühl und die Sonne so schön warm. Hier hat
+mich auch noch kein Cop am Kragen gehabt. Und ich weiß, wie es tut.
+Die dreihundertfünfzig Gramm tun es auch nicht. Wenn du wenigstens
+ein Kilo hättest. Und weil du doch angebissen hast und mir die Freude
+machtest, mich hier nicht so vergeblich sitzen zu lassen, und weil ich
+liebe, frei zu sein, viel mehr liebe, als satt zu essen zu haben, und weil
+die Sonne lacht und das Wasser blaut, und weil du ein spanisches Fischlein
+bist: Hoppla, wirst nicht erschossen, schwimm wieder lustig los und
+freue dich deines munteren Lebens. Lauf nicht gleich einem andern ins
+Netz. Zieh ab und grüß dein Mädel.
+</p>
+
+<p>
+Da plätschert er und schwimmt er und lacht, daß ich es bis auf die
+Mauer höre. Grüß’ dein Mädel! ... Ach schiet ...
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind mir aber auch ein Fischersmann“, sagt da jemand hinter mir.
+Ich drehe mich um und sehe einen Zollbeamten stehen, der mir die ganze
+Zeit zugesehen hat und jetzt laut lacht.
+</p>
+
+<p>
+„Aber da sind doch mehr Fische drin, das Wasser ist ja nicht so klein“,
+sage ich, während ich wieder Blutwurst an den Haken spieße.
+</p>
+
+<p>
+„Sicher sind da mehr drin. Das war doch aber ein ganz guter dicker
+Fisch.“
+</p>
+
+<p>
+„Sicher war er das, er hatte ja meine ganze Büchse Blutwurst im Magen,
+da soll er nicht dick sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum fischen Sie denn da überhaupt, wenn Sie so gute Fische wieder
+hineinwerfen?“
+</p>
+
+<p>
+„Damit, wenn mich heute abend jemand fragen sollte, was ich den
+ganzen Tag getan habe, ich sagen kann, ich hätte gefischt.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann fischen Sie nur weiter“, sagt der Zollbeamte und geht.
+</p>
+
+<p>
+Daß Fischen betätigte Philosophie ist, verstehen die wenigsten Menschen.
+Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des
+Wünschens, des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt.
+</p>
+
+<p>
+Da schon wieder einer. Hätte ich nur den vorigen nicht gehen lassen,
+dann wäre nun schon bald eine Portion zusammen. Aber ich werde doch
+keine Klassenunterschiede einführen. Den andern habe ich frei gelassen,
+nun kann ich doch diesen nicht seiner Dummheit wegen zum Tode
+verurteilen. Das heißt, Dummheit verdient eigentlich immer und überall
+die Todesstrafe, vorläufig wird sie nur mit Sklaverei bestraft. Wenn ich
+wüßte, ich bekäme noch drei solche wie du einer bist, dann müßtest du
+hier dran glauben. Ich habe Appetit auf Fische. Aber du bist ein
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+köstliches kleines lebendiges Wunder, na, gehe schon wieder rein in das
+weite Meer. Hoppla, Freiheit ist doch das Größte und Beste am Leben.
+Ja, Teufel nochmal, soll ich euch denn allen hier die Hand geben? Schon
+habe ich abermals einen in der Hand. Ich weiß genau, wenn ich dich
+jetzt hier behalte, beißt kein einziger mehr an, weil sie dann alle wissen,
+sie können sich auf mich nicht verlassen. Und mit dir allein kann ich
+nichts anfangen. Es würde sich gar nicht lohnen, rauszugehen und ein
+Feuer deinetwegen anzuzünden. Wie lange hat das liebe Leben an dir
+gebaut, um dich zu dieser unwichtigen Größe zu bringen? Sechs Jahre,
+vielleicht sieben. Nun soll ich dich in einer Sekunde mit einem Hieb
+töten und dein Leben beenden? Zieh ab, freue dich des blauen Meeres
+und deiner Gefährten. Da schwänzelt er lustig vondannen. Gelt,
+Bürschchen, du weißt, was Freiheit wert ist, freue dich ihrer, schätze sie
+und sei glücklich.
+</p>
+
+<p>
+Das ist aber ein recht merkwürdiger Eimer, der da angeschwommen
+kommt ... Sie macht gerade los und kommt nicht gut ab. Sie schleppt
+und schlittert und kratzt am Kai entlang. Offenbar will sie nicht raus,
+sie ist wasserscheu. Aber ganz gewiß, man kann sich drauf verlassen, es
+gibt auch wasserscheue Schiffe, yes, Sir. Das ist überhaupt der Fehler,
+der so oft gemacht wird, daß man den Schiffen die Persönlichkeit abstreitet.
+Die haben ihre Persönlichkeit, ihre Launen genau so gut wie
+ein Mensch. Diese alte Tante hier hatte eine Persönlichkeit. Das sah ich
+auf den ersten Hieb. Mit der war nicht gut Salz lecken.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-21">
+19
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">anches</span> Schiff habe ich gefahren, das wissen
+die Götter. Und tausend Schiffe habe ich gesehen,
+das glaubt mir Thomas. Aber nie vorher habe ich
+ein Schiff gesehen, das diesem gleich gewesen
+wäre. Der ganze Rahmen, um damit gleich zu
+beginnen, war nicht nur ein guter Spaß, nein,
+der war eine Unmöglichkeit. Wenn man diesen
+Eimer ansah, zweifelte man, daß sie je auf dem
+Wasser schwimmen könnte. Viel eher schon glaubte man, daß sie ein
+gutes Transportmittel durch die Wüste Sahara sein müsse und mit
+Leichtigkeit die besten Kamele schlagen könnte. Ihre Form war weder
+modern noch mittelalterlich. Es wäre ein ganz vergebliches Bemühen
+gewesen, sie in irgendeine Periode der Schiffsbaukunst einzureihen.
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+Am Bug trug sie den Namen „Yorikke“. Aber der Name war so dünn
+und so verwaschen, als ob sie sich schämte, so zu heißen. Achtern sollte
+der Seevorschrift gemäß ihr Heimatsort zu lesen sein. Aber wo sie her
+war, das wollte sie niemand verraten, wahrscheinlich schämte sie sich
+auch ihres Wohnortes. Auch ihre Nationalität hielt sie streng geheim,
+offenbar war ihr Paß nicht ganz in Ordnung. Jedenfalls war die
+Nationalitätsflagge, die auf dem Flaggenstock am Stern auswehte, so
+bleich, daß sie für jede Farbe aufnahmefähig war. Außerdem war die
+Flagge ganz ausgefranst, als ob sie in allen Seeschlachten der letzten
+viertausend Jahre den kämpfenden Flotten vorangeweht hätte.
+</p>
+
+<p>
+Welche Farbe ihr Kleid hatte, konnte ich nicht ergründen, obgleich das
+ja in mein Spezialfach schlug. Allem Anschein nach zu urteilen, war das
+Röckchen einmal, in einer fern zurückliegenden Zeit, schneeweiß gewesen,
+weiß wie die Unschuld eines neugeborenen Kindleins. Aber das
+muß sehr lange her sein, das muß gewesen sein in dem Jahr, als sich
+Abraham mit der Sarah verlobte in Ur in Chaldäa. Die Kanten der
+Reeling waren einmal grün gewesen. Auch das war lange, lange her.
+Seit jenen fernen Tagen hatte die Yorikke einige hundert neue Anstriche
+erlebt, wie es ja dem Laufe der Zeiten entsprach. Aber die Deckarbeiter
+hatten sich nie die Mühe gemacht, die alte Farbe abzuklopfen.
+Wahrscheinlich war ihnen das untersagt worden. Jedenfalls war der
+neue Anstrich immer wieder auf den alten gekommen, dadurch hatte
+die Yorikke nun einen Umfang erhalten, der sie doppelt so groß erscheinen
+ließ, als sie in Wirklichkeit war. Hätte man sich die Arbeit gemacht,
+die einzelnen Anstriche sorgfältig abzupellen, dann hätte man
+genau feststellen können, welche Art von Farbe jedes einzelne Jahrhundert
+verwandte.
+</p>
+
+<p>
+Selbstverständlich, um nicht der Übertreibung angeschuldigt zu werden,
+hätte man die Farbe nicht nur an dem Außenkleid abpellen dürfen,
+wo die Yorikke verhältnismäßig noch am jüngsten war, weil man sie
+ab und zu in ein Verschönerungsinstitut geschickt hatte. Nein, man
+hätte die Farbe an allen Teilen des Schiffes, insbesondere also an den
+Inneneinrichtungen abziehen müssen, um zu erfahren, in welchen Farben
+die große Festhalle Nebukadnezars gehalten war, worüber wir ja
+heute noch im unklaren sind, was uns sehr viele Sorgen bereitet.
+</p>
+
+<p>
+Das Kleid sah zum Höllenerbarmen niederträchtig aus. Da waren große
+Flächen, wo die Deckarbeiter es mit einem schönen saftigen Bolschewistenrot
+versucht hatten. Dann aber schien der Eigentümer oder der
+Kapitän diese Farbe nicht zu lieben, und man malte weiter mit Adelsblau.
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+Das Rot hatte Geld gekostet, und man ließ es ruhig stehen, Anstrich
+war Anstrich, und dem fressenden Salzwasser ist es gleichgültig,
+ob es Bolschewistenrot oder Freiheitsgrün zu fressen hat, die Hauptsache
+ist, daß Wind und Wogen etwas zu fressen kriegen, sonst fressen
+sie das Schiff. Der nächste Besitzer wieder dachte, daß ein schwarzes
+Schiff schöner sei und ein fettes Schwarz die mißtrauischen Augen der
+Versicherungsgesellschaften besser verkleistern möchte als irgendeine
+andre Farbe. Aber nie wagte jemand sich so hoch in die Kosten zu versteigen,
+daß er das, was einmal gestrichen war, mit der neuen Farbe
+überstrichen hätte, um dem ganzen Kleid eine einheitliche Nuance zu
+geben. Nur keine überflüssigen Ausgaben, es war ja ein – halt, das
+will ich noch nicht sagen, denn ich weiß es noch nicht. Aber ein alter
+Salzwasserfisch riecht frühzeitig, und ich bin ein alter Salzwasserfisch,
+wenn es aufs Riechen ankommt.
+</p>
+
+<p>
+Wenn nun Yorikke auf Fahrt war oder in einem Hafen lag, reichte die
+Farbe nicht mehr, und es wurde mit den Farben weitergemalt, die gerade
+noch da waren. Der Skipper schrieb nur immer an: „Farbe gekauft.
+Farbe gekauft. Farbe gekauft.“ Niemand kann von seinem Lohn
+allein leben. Aber die Farbe wurde nicht gekauft, sondern alles, was da
+war, wurde aufgebraucht, ob es braun, grün, violett, zinnober, gelb oder
+orange war.
+</p>
+
+<p>
+Also so sah die Yorikke von draußen aus. Mir wäre vor Schreck bald die
+Angelschnur aus der Hand geflitscht, als ich dieses Meerungeheuer zum
+ersten Male sah.
+</p>
+
+<p>
+Das kommt aber davon, wenn man den Deckarbeitern im Hafen keinen
+Tagesurlaub gibt, aus lauter Geiz. Der Erste Offizier weiß nicht, was er
+mit ihnen machen soll, und dann müssen sie anstreichen von morgens
+um sieben bis nachmittags um fünf, streichen, streichen, streichen, solange
+noch ein Pinselstiel auf der Welt ist und noch eine alte Blechbüchse
+an den Rändern eine Schicht verdickter und verkrusteter
+Farbe hat.
+</p>
+
+<p>
+Nun müssen die Deckarbeiter beim Streichen draußen an der Bordwand
+hängen an Tauen, oder sie sitzen auf schmalen Brettern, die an Tauen
+heruntergelassen werden. Kommt es nun vor, daß der ganze Kasten
+plötzlich einen gehörigen Schubs kriegt, sei es durch eine unerwartete
+große Welle oder durch das Aufrühren eines großen vorbeifahrenden
+Rieseneimers, oder weil beim Gezeitwechsel den Fangtauen
+nicht richtig nachgegeben wurde, dann fliegt der Anstreicher mit seiner
+Todesschaukel los von der Bordwand. Weil er nun lieber sein Leben
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+retten will als den Farbeimer, so geht natürlich der Farbeimer über
+Stag und die bunte Tunke läuft an der Bordwand herunter. Der
+Eimer ist zwar gerettet und der Mann auch, der Eimer hing an
+einem Tau und der Mann angelte noch rechtzeitig ein Tau. Aber
+die Farbe! Aber die Farbe! An der Yorikke konnte man außer
+den verschiedenen Farbversuchen noch ganz genau alle Püffe nachzählen,
+die das gute Schifflein während des Anstreichens in den letzten
+zehn Jahren erlebt hatte. Diese Farbenergüsse zu überstreichen,
+wäre Verschwendung gewesen. Es war Farbe, und der Zweck, mit Farbe
+die mancherlei Schönheitsfehler der Yorikke zartfühlend zu verdecken,
+war ja durch den Puff erfüllt worden. An und für sich war es schon
+teuer genug, weil ja nicht alle Farbe bei dieser Gelegenheit auf der
+Yorikke blieb, sondern ein Teil im Meer verschwand und der andre
+Teil auf den Hosen des Deckarbeiters hängen blieb, wo er ganz überflüssig
+war. Mit diesen angestrichenen Hosen, die man jetzt hinstellen
+kann, ohne daß sie umfallen, ist das Ereignis keineswegs beendet. Nun
+kommt erst noch die Auseinandersetzung mit dem Ersten Offizier, der
+die Meinung vertritt, daß die Farbe wertvoller sei als der Mann, und
+statt an sein unwichtiges Leben zu denken, hätte er zuerst an die wertvolle
+Farbe denken sollen. Deckarbeiter kann er auf dem Straßenpflaster
+auflesen oder unter dem Galgen wegholen, aber Farbe kostet
+Geld, und der Skipper wird ihm einen Mordsspektakel machen, weil er
+nun wieder nicht mit dem Farbenbuch und mit der Rubrik „Farbe gekauft“
+zurechtkommt. Häufig endet dieses Gespräch, nachdem die
+üblichen Fluchkanonaden alle Munition verschossen haben, damit, daß
+der gerettete Deckarbeiter sich seinen Lohn geben läßt, den Sack vollpfropft,
+über die Planke geht und dem Schiff Großfeuer in den Kohlenbunkern
+wünscht, wenn es fünfzehnhundert Meilen „off the coast“ ist.
+Einen verrückten Menschen erkennt man oft schon am Äußern, am
+Aussehen seines Gesichts, an der Zusammenstellung seiner Kleidung.
+Je verrückter er ist, um so auffallender wird sein Aussehen sein. Man
+konnte nicht gut sagen, daß die Yorikke einem vernünftigen Schiffe,
+einem geistig normalen Schiffe gleich oder auch nur ähnlich gesehen
+hätte. Das wäre eine Beleidigung für alle andern Schiffe der sieben
+Meere gewesen. Ihr Aussehen stimmte so vortrefflich mit ihrem Geist,
+mit ihrer Seele, mit ihrem Wesen und mit ihrem Betragen überein, daß
+man an der geistigen Gesundheit der Yorikke mit Recht zweifeln mußte.
+Es war ja nicht nur das äußere Kleid, nicht nur die Farbe. Alles, was
+man von dem Boote sehen konnte, stand in vollem, ungetrübtem Gleichklang
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+mit der Haut und dem Gesicht. Die Lademasten standen wie
+dürre Äste fuchtelnd in der Luft. Wenn durch den Schornstein der
+Länge nach eine Kugel geschossen worden wäre, auch wenn es nur eine
+Revolverkugel gewesen wäre, sie wäre nie am andern Ende herausgekommen.
+Aber Rauch geht je auch um Ecken, andernfalls hätte die
+Yorikke nie rauchen können. Aus dem Schornstein jedenfalls nicht. Wie
+die Brücke mit dem übrigen Schiff in Verbindung stand, konnte ich nicht
+herausfinden. Es sah so aus, daß, wenn das Schiff abfuhr, es nach einer
+Stunde wieder umkehren mußte, um die Kommandobrücke abzuholen,
+die im Hafen zurückgeblieben war; denn der Skipper hätte es von seinem
+Standort aus nicht bemerken können, daß das Schiff schon eine Stunde
+unterwegs war, und nur wenn der Steward auf die Brücke gegangen
+wäre, um dem Skipper zu sagen, daß sein Essen in der Messe sei, hätte
+man herausgefunden, daß die Brücke mit dem Skipper drauf nicht mitgekommen
+war, sondern irgendwo im letzten Hafen schwebte oder festgeklemmt
+war.
+</p>
+
+<p>
+Als ich nun da auf der Mauer saß, so emsig mit Fischefangen beschäftigt,
+und ich sah die Yorikke, da lachte ich, da lachte ich so laut und so ungeheuerlich,
+daß die gute Yorikke einen Schreck bekam und um eine halbe
+Schiffslänge zurückglitt. Sie wollte nicht raus ins Wasser und wollte
+nicht. Sie kratzte und schrammte am Kai, daß es einen Hund jammern
+konnte und man Mitleid bekam mit dem beklagenswerten Tantchen,
+das da wieder hinausgetrieben werden sollte in die grausame Welt
+wilder Mächte und Elemente.
+</p>
+
+<p>
+Aber niemand empfand Mitleid mit ihr.
+</p>
+
+<p>
+Ich hörte das Knarren und Quietschen der Wintschen und das Hin- und
+Herlaufen und wußte, die werden jetzt das Tantchen gründlich vermöbeln
+und bös einheizen, und dann muß sie eben doch hopsen. Was
+kann schließlich ein alleinstehendes Mädchen gegen so viele rauhe
+Fäuste auf die Dauer machen? Sie kann kratzen und beißen, aber sie
+muß hervor hinter dem Zaun und muß mit zum Tanz gehen, ob ihr
+danach zumute ist oder nicht. Wenn so ein sprödes Dämchen erst einmal
+die Musik hört, dann ist sie die Tollste von allen. So war es sicher auch
+mit der Yorikke. Erst mal glücklich drin im Wasser, dann würde sie
+rennen wie ein junger Teufel, um nur schnell wieder in einem andern
+Hafen zu sein, wo sie sich ausruhen kann und von vergangenen Zeiten
+träumen, als man sie nicht so herumjagte wie in diesen hastigen Tagen.
+Sie ist doch schließlich keine Junge mehr und schon ein wenig schwer
+auf den Beinen. Wäre sie nicht so dick angezogen, würde sie sicher auch
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+noch frieren in dem kalten Wasser, denn das Blut rennt nicht mehr so
+frisch durch die Adern wie damals als sie den Begrüßungsfestlichkeiten
+zusah, die von Cleopatra zu Ehren Antonius’ veranstaltet wurden.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-22">
+20
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">ach</span> dem Aussehen eines Schiffes kann man genau
+die Beköstigung und die Behandlung der Mannschaft
+beurteilen, sobald man erst einmal eine Weile
+Salzwasser gerochen hat. Da bildet sich manch einer
+ernsthaft ein, daß er vom Meere, von Schiffen und
+Seeleuten etwas verstünde, wenn er ein dutzendmal
+auf einem Passagierschiff, vielleicht sogar Staatskabine,
+über Ozeane gefahren ist. Aber ein Fahrgast
+lernt weder etwas vom Meer, noch etwas von einem Schiff und noch
+viel weniger etwas vom Leben der Mannschaft. Die Stewards sind keine
+Mannschaft, und die Offiziere sind auch keine Mannschaft. Die einen
+sind nur Kellner und Hausdiener, und die andern sind nur Beamte mit
+Pensionsberechtigung.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper kommandiert das Schiff, aber er kennt es nicht. Wer auf
+dem Kamel reitet und den Ort angibt, wo er hinreiten will, weiß nichts
+von dem Kamel. Der Kameltreiber allein kennt das Kamel, zu ihm
+spricht das Kamel, und er spricht zu dem Kamel. Er allein kennt seine
+Sorgen und seine Schwächen und seine Wünsche.
+</p>
+
+<p>
+So ist es auch mit einem Schiff. Der Skipper ist der Kommandant, der
+Vorgesetzte, der immer anders will, als das Schiff will. Ihn haßt das
+Schiff, wie alle Vorgesetzte und Kommandanten gehaßt werden. Wenn
+Kommandanten wirklich einmal geliebt werden, oder es wird gesagt,
+daß sie geliebt seien, so werden sie nur darum geliebt, weil man so am
+besten mit ihnen und mit ihren Schrullen zurechtkommt.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Mannschaft ist es, die das Schiff liebt. Die Mannschaft sind die
+echten und wahren Kameraden des Schiffes. Sie putzen an dem Schiff
+herum, sie streicheln es, sie kosen es, sie küssen es. Die Mannschaft hat
+häufig kein andres Heim als das Schiff; der Kommandant hat ein
+schönes Haus irgendwo auf dem Lande, er hat seine Frau, er hat seine
+Kinder. Es haben auch manche Seeleute eine Frau oder Kinder, aber
+ihre Arbeit mit dem Schiff und auf dem Schiff ist so hart und ermüdend,
+daß sie nur an das Schiff denken können und die Familie daheim ganz
+vergessen, weil sie keine Zeit haben, an Hause zu denken. Denn wenn
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+sie anfangen wollen, an das Zuhause zu denken, dann beginnen sie
+gleich zu schlafen, weil sie zu müde sind.
+</p>
+
+<p>
+Das Schiff weiß ganz genau, daß es keinen Schritt gehen könnte, wenn
+die Mannschaft nicht wäre. Ohne Skipper kann ein Schiff laufen, ohne
+Mannschaft nicht. Der Skipper könnte nicht mal dem Schiff etwas zu
+essen geben, weil er nicht versteht, wie er aufschmeißen muß, damit die
+Feuer nicht ausgehen und doch die meiste Hitze geben, ohne Verdauungsstörungen
+zu erzeugen.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Mannschaft spricht das Schiff, mit dem Skipper und den Offizieren
+nie. Der Mannschaft erzählt das Schiff Märchen und wunderschöne
+Geschichten. Alle meine Seegeschichten haben mir die Schiffe erzählt
+und keine Menschen. Das Schiff läßt sich auch gern etwas erzählen
+von der Mannschaft. Ich habe gehört, daß Schiffe lachten und kicherten,
+wenn die Mannschaft Sonntag nachmittags auf Deck saß und sich Witze
+erzählte. Ich habe Schiffe weinen sehen, wenn traurige Geschichten erzählt
+wurden. Und ich habe ein Schiff bitterlich schluchzen hören, weil
+es wußte, daß es auf der nächsten Fahrt untergehen würde. Es kam auch
+nie wieder und stand später bei Lloyds auf der Liste „Verschollen“.
+</p>
+
+<p>
+Das Schiff ist immer auf seiten der Mannschaft, nie auf seiten des Skippers.
+Der Skipper arbeitet nicht für das Schiff, er arbeitet für die Kompanie.
+Die Mannschaft weiß häufig gar nicht, zu welcher Kompanie das
+Schiff gehört; sie macht sich keine Gedanken darüber. Sie kümmert sich
+nur darum, was das Schiff selbst angeht. Wenn die Mannschaft unzufrieden
+ist oder rebelliert, rebelliert das Schiff sofort mit. Streikbrecher
+haßt das Schiff mehr als den Boden des Meeres; und ich habe ein Schiff
+gekannt, das mit einer ganzen Horde von Streikbrechern auf der ersten
+Ausfahrt, beinahe noch in Sicht der Küste, glatt auf den Boden ging.
+Keiner kam mehr zurück. Es ging lieber selber unter, als von Streikbrechern
+begrapscht zu werden. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Wird die Mannschaft schlecht beköstigt oder schlecht behandelt, das
+Schiff nimmt sofort Partei für die Mannschaft und schreit in jedem Hafen
+die Wahrheit so laut hinaus, daß sich der Skipper die Ohren zuhalten
+muß und oft genug eine Hafenkommission aus dem Schlafe gescheucht
+wird und nicht eher Ruhe findet, bis sie eine Untersuchung angestellt hat.
+Ich glaube sicher, daß man mich für ein ganz verfressenes Subjekt hält.
+Aber für den Seemann ist ja das einzige, womit er sich außer seiner Beschäftigung
+mit dem Schiff befassen kann, das Essen. Andre Freuden hat
+er nicht, und hart arbeiten verursacht einen gesunden Hunger. Das
+Essen ist ein wichtiger Bestandteil seines Lohnes.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+Auf der Yorikke aber, wie sie auch laut genug hinausschrie, wurde
+der elendeste Fraß für die Mannschaft gegeben, den eine geizige
+Kompanie und ein Skipper, der auf Nebenverdienste sehen mußte, nur
+herstellen konnte, um die Mannschaft eben gerade noch am Leben zu
+erhalten. Wie der Skipper selbst beschaffen war, verriet Yorikke jedem,
+der die Sprache eines Schiffes verstand. Er trank gern, aber nur gute
+Tropfen; er aß gern, aber nur gute Dinge; er stahl, wo er nur stehlen
+konnte; er machte Nebengeschäfte, mit wem er nur konnte und auf
+wessen Kosten er nur konnte. Im übrigen war ihm alles sehr gleichgültig,
+und er belästigte die Mannschaft persönlich nur wenig. Er belästigte sie
+auf dem Umwege über die Offiziere und die Ingenieure. Die Ingenieure
+hätten auf Schiffen, die nicht verrückt waren, sondern normal, nicht
+einmal als Öler arbeiten können.
+</p>
+
+<p>
+Wie war es nur möglich, daß Yorikke eine Mannschaft bekam und eine
+Mannschaft halten konnte? Wie war es möglich, daß sie aus einem
+spanischen Hafen, aus diesem gesegneten Lande des Sonnenscheins und
+der Freiheit, ausfahren konnte mit voller Mannschaft? Da war ein Geheimnis
+verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein –?
+</p>
+
+<p>
+Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da ist
+es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht nochmal, o Sperlingsschwänze
+und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff.
+</p>
+
+<p>
+Aber daß ich das nicht gleich auf den ersten Hieb gemerkt habe. Ich
+habe eben gedöst.
+</p>
+
+<p>
+Richtig, da ist kein Zweifel mehr.
+</p>
+
+<p>
+Aber da war wieder etwas andres herum, daß sie es auch nicht sein
+mochte. Da ist ein Geheimnis dahinter. Mich soll doch gleich ein Eisbär
+am Hintern kratzen, wenn ich das nicht rauskriege, was mit dem Eimer
+los ist.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatte sich nun doch endlich entschlossen zu gehen, freiwillig und
+gutwillig zu gehen. Ich hatte sie unterschätzt. Sie war wasserscheu aus
+guten Gründen. Der Skipper war ein Esel, yes, Sir. Yorikke war viel
+klüger als ihr Kapitän. Sie brauchte überhaupt keinen Kapitän, das
+sah ich jetzt. Sie war wie ein gutes altes Rassepferd, das man allein
+gehen lassen muß, wenn es den richtigen Weg gehen soll. Ein Kapitän
+braucht nur ein unterstempeltes und unterschriebenes Zeugnis vorzulegen,
+daß er ein Examen bestanden hat, und gleich wird ihm ein Eimer
+anvertraut und noch dazu ein so delikater wie die Yorikke einer ist. Gebt
+einem erfahrenen Deckarbeiter den Lohn, den der Skipper bekommt,
+und er wird einen Eimer wie die Yorikke besser über den Froschteich
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+bringen als ein konzessionierter Kapitän, der nichts weiter tut, als den
+ganzen Tag herumzulaufen und darüber nachzudenken, wie und wo
+er die Kost für die Mannschaft noch etwas mehr beschneiden könnte,
+um für die Kompanie und für seine Tasche noch einen Nickel mehr herauszuschinden.
+</p>
+
+<p>
+Strömung und Wind waren gegen Yorikke auf dem Wege, den zu gehen
+der Skipper sie zu zwingen suchte. Ein so delikates Weibchen darf man
+nicht zwingen, wie und wohin sie gehen soll, dabei kann sie nur auf Abwege
+geraten. Der Lotse war nicht zu tadeln. Der Lotse kennt seinen
+Hafen gut, aber er kennt nicht das Schiff. Dieser Skipper aber kannte
+das Schiff noch viel weniger.
+</p>
+
+<p>
+Sie kroch quietschend an dem Kai entlang, und ich mußte jetzt die Beine
+hochziehen, sonst hätte sie die mitgenommen. Und so sehr versessen
+darauf, meine Beine nach Marokko zu schicken, während ich in Cadiz
+blieb, war ich denn doch nicht.
+</p>
+
+<p>
+Achtern strampelte sie mit der Quirlflosse, und hier an den Seiten
+spuckte und pißte sie wie besessen, als ob sie wer weiß wieviel gesoffen
+hätte, und als ob sie es wer weiß wie schwer hätte, auf den Weg
+zu kommen, ohne die Laternenpfähle mitzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich glückte es dem Skipper, vom Kai klarzukommen. Aber ich war
+überzeugt, daß es Yorikke war, die einsah, daß sie sich nun um sich
+selber zu bekümmern habe, wenn sie mit heiler Haut davonkommen
+wollte. Vielleicht auch wollte sie ihrem Eigentümer ein paar Eimer
+Farbe sparen.
+</p>
+
+<p>
+Je näher sie kam, desto unerträglicher wurde ihr Aussehen. Und es
+kam mir der Gedanke, wenn jetzt der Henker hinter mir her wäre mit
+der offnen Schlinge, und ich könnte ihm entwischen allein nur dadurch,
+daß ich auf der Yorikke anmustere, ich würde die Schlinge vorziehen
+und zu dem Henker sagen: „Lieber Freund, nehmen Sie mich und
+machen Sie ja recht rasch, damit ich vor dieser Nagelkiste bewahrt
+bleibe.“ Denn jetzt sah ich etwas, das schlimmer war als alles, was ich je
+in dieser Hinsicht erblickt habe.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-23">
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+21
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">uf</span> dem Vordeck standen die Mannschaften, die auf
+Freiwache waren, und guckten über die Reeling hinunter
+auf den Kai, um ja noch mit ihren Augen alles
+an fester Erde auf die lange Fahrt mitzunehmen,
+was sie in diesen letzten Momenten erhaschen konnten.
+Ich habe verlumpte, abgerissene, verkommene, verdreckte,
+verlauste und verschwärte Seeleute genug
+in meinem Leben und in asiatischen und südamerikanischen
+Häfen in überreicher Vollkommenheit gesehen, aber solche
+Mannschaft und noch dazu eine, die nicht von einem Schiffbruch
+nach tagelangem Herumirren auf eine Küste geworfen wird, sondern
+die sich auf einem hinausfahrenden Dampfer befindet, je gesehen
+zu haben, konnte ich mich nicht erinnern. Daß so etwas denkbar
+wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah gewiß nicht elegant
+aus, und wenn ich ehrlich sein soll, ich war dem Abgerissensein viel
+näher als dem Nichtzerlumptsein. Doch dieser Mannschaft gegenüber
+sah ich aus wie der Scheik eines Chormädchens der Ziegfeld-Follies in
+New York. Das war kein Totenschiff. Gott mag mir die Sünde vergeben.
+Das waren ja Seeräuber vor ihrer ersten Beute; Piraten, die seit
+sechs Monaten von den Kriegsschiffen aller Nationen verfolgt werden;
+Buccaneers, die so tief gesunken sind, daß sie keinen andern Ausweg
+mehr sehen, als chinesische Gemüse-Dschunken auf dem Meer zu überfallen
+und auszurauben.
+</p>
+
+<p>
+Heilige Seeschlange, waren die zerlumpt, waren die dreckig! Einer hatte
+keine Mütze auf, weil er weder Hut noch Mütze besaß, sondern hatte
+ein Stück von einem grünen Unterrock wie einen Turban um den Kopf
+gewickelt. Ein andrer hatte, meine Herren! nein, Sie werden es nicht
+glauben, aber ich will doch gleich auf einem Auslegerboot als Kesselheizer
+angemustert werden, wenn es nicht wahr ist, einer hatte sogar
+einen Zylinderhut auf. Stellen Sie sich das vor, ein Seemann mit einem
+Zylinderhut. Hat die Welt so etwas je erlebt? Vielleicht war er die letzte
+halbe Stunde vor der Ausfahrt noch Schornsteinfeger gewesen. Oder er
+hatte hier auf dem Eimer den Schornstein gefegt. Vielleicht war das eine
+besondere Anordnung auf der Yorikke, daß der Schornstein nur im
+Zylinderhut gefegt werden darf. Ähnliche merkwürdige Anordnungen
+habe ich auf Schiffen erlebt. Aber die Yorikke gehörte nicht zu jenen
+Schiffen, wo man merkwürdige Anordnungen einführte; die Yorikke
+war ein Schiff, wo man mit den Anordnungen, die tausend Jahre alt
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+sind, genug zu tun hat, um den Eimer in Gang zu halten. Nein, dieser
+Zylinder war nur darum im Gebrauch, weil der Mann keine andre
+Kopfbedeckung hatte, und wenn er sie gehabt hätte, offenbar Geschmack
+genug besaß, daß er zu der Frackweste, die er auf dem Leibe trug, nicht
+gut eine Tellermütze aufsetzen konnte. Es schien gar nicht so unmöglich
+zu sein, daß er von seiner eignen Hochzeit entsprungen war in jenem
+verhängnisvollen Augenblick, als es anfing, ernst zu werden. Und weil er
+keinen andern Zufluchtsort vor den Megären fand, er in seiner letzten
+Not die Yorikke erwischte, wo man ihn mit offnen Armen willkommen
+hieß. Hier suchte ihn keine der Megären, sicher nicht einen, der in Frack
+und Zylinder der Braut die Hacken zeigte.
+</p>
+
+<p>
+Hätte ich gewußt, daß sie wirklich Seeräuber wären, ich hätte sie angefleht,
+mich mitzunehmen zu Ruhm und Gold. Aber wenn man kein
+Unterseeboot hat, ist Seeräuberei heute nicht mehr lohnend genug.
+</p>
+
+<p>
+Nein, da es keine Seeräuber sind, dann schon lieber den Henker, als hier
+gezwungen sein, die Yorikke zu fahren. Das Schiff, das mich von dem
+sonnigen Spanien fortlocken kann, das muß schon eins sein, doppelt so
+gut wie die Tuscaloosa. Ach, wie lang ist das her. Ob sie noch in New
+Orleans zu Hause ist? New Orleans, Jackson Square, Levee und ach –
+na, wollen wir mal wieder Blutwurst aufspießen; sobald der bunte Eimer
+vorüber ist, werden wir ja vielleicht noch einen Zweipfünder machen.
+Wenn nicht, ist es auch gut; dann wollen wir mal sehen, was die Nudelsuppe
+macht, oder was es drüben auf dem Holländer zum Abendessen
+gibt.
+</p>
+
+<p>
+Wie eine Schnecke, die sich überfressen hat, sich aber gleichzeitig trainieren
+muß für das nächste Schneckenwettlaufen, so zog Yorikke vorüber.
+</p>
+
+<p>
+Als die Köpfe der Buschräuber gerade über mir waren, rief einer von
+ihnen herunter zu mir: „Hey, ain’t ye sailor?“
+</p>
+
+<p>
+„Yesser.“
+</p>
+
+<p>
+„Want a dschop?“ Auf sein Englisch braucht er sich nichts einzubilden,
+aber für enge Familienverhältnisse reicht es aus.
+</p>
+
+<p>
+Ob ich Arbeit haben will.
+</p>
+
+<p>
+Ei, orgelspielender Grizzlybär, der wird das doch nicht etwa ernst
+meinen?
+</p>
+
+<p>
+Ob ich Arbeit haben will?
+</p>
+
+<p>
+Nun bin ich verloren. Da ist diese Frage, die ich mehr gefürchtet hatte
+als die Posaune des Erzengels Michael am Auferstehungstage. Es ist
+doch üblich, daß man selbst um Arbeit nachfragen gehen muß. Das ist
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+doch ewiges unveränderliches Gesetz, solange es nun schon Arbeiter
+gibt. Und ich bin nie fragen gegangen, immer aus Angst, es hätte einmal
+jemand ja sagen können.
+</p>
+
+<p>
+Wie alle Seeleute bin ich abergläubisch. Auf dem Schiff und auf dem
+Meer ist man auf Zufälle und also auch auf Aberglauben angewiesen,
+sonst hielte man es nicht aus und würde verrückt. Und dieser Aberglaube
+ist es, der mich zwingt, ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob
+ich Arbeit haben will. Denn würde ich nein sagen, so würde ich mein
+Glück verschwören, würde nie wieder im Leben ein Schiff bekommen
+und am allerwenigsten bekommen, wenn ich es so bitter notwendig
+brauchte. Manchmal glückt das Erzählen einer Geschichte, aber manchmal
+glückt es nicht, und der Mann brüllt „Polizei! Betrüger!“ Wenn man
+dann nicht schnell ein Schiff zur Hand hat, glaubt die Polizei jenem
+Manne, der keinen Spaß versteht und keine Ideen hat.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Aberglaube hat mir schon manchen bösen Streich gespielt und
+mir Beschäftigungen auf den Hals gebracht, von denen ich nie geglaubt
+hätte, daß solche überhaupt in der Welt vorhanden seien. Er war die
+Ursache, daß ich Totengräbergehilfe in Guayaquil in Ecuador wurde,
+und daß ich auf einem Jahrmarkte in Irland mit meinen eignen Händen
+helfen mußte, das Kreuz, an dem unser Herr und Heiland Jesus
+Christus seinen letzten irdischen Seufzer aushauchte, splitterweise zu
+verkaufen. Jeder Splitter kostete eine halbe Krone, und das Vergrößerungsglas,
+das die Leute dazu kaufen mußten, um den Splitter auch zu
+sehen, kostete eine andre halbe Krone. Zu solcher Beschäftigung, die mir
+zweifellos nicht gut angeschrieben werden wird, kommt man aber, wenn
+man abergläubisch ist. Seitdem mir das in Irland zugestoßen ist, habe
+ich auch nichts mehr drum gegeben, ein braver und guter Mensch zu
+bleiben, denn ich wußte, daß ich nun alles Zukünftige verspielt hatte.
+Es war ja nicht, daß ich die Splitter hatte verkaufen helfen. Nein, das
+war nicht so schlimm, das wäre mir vielleicht gar als ein Verdienst angerechnet
+worden. Viel schlimmer war, daß ich auch geholfen hatte, mit
+dem Geschäftsinhaber in einem Hotelzimmer die Splitter aus einem
+alten Kistendeckel anzufertigen. Aber auch das wäre noch nicht so unverzeihlich
+gewesen, wenn ich nur nicht vor den Leuten meine Seele
+verschworen hätte, daß ich die Splitter selbst aus Palästina mitgebracht
+hätte, wo sie mir ein alter, zum Christentum bekehrter Araber, in
+dessen Familienbesitz die Splitter seit achtzehnhundert Jahren gewesen
+waren, anvertraut hätte mit der feierlichen Versicherung, daß
+ihm Gott im Traume erschienen sei und ihm anbefohlen habe, diese
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+Splitter nur nach Irland und sonst nirgend woanders hin gelangen zu
+lassen. Die in arabischen Zeichen geschriebenen Dokumente konnten wir
+vorweisen und auch eine Übersetzung in Englisch, aus der hervorging,
+daß in dem Dokumente wirklich das drin stünde, was wir auf dem
+Jahrmarkte erzählten. Solche Streiche kann einem der Aberglaube
+spielen, yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Hätten wir das eingenommene Geld wenigstens an ein Kloster oder an
+den Papst abgeschickt, dann wäre es ja auch nicht so schlimm gewesen
+und ich hätte Hoffnung, daß mir vergeben würde. Aber wir verbrauchten
+das Geld für uns, und ich war sehr bedacht darauf, daß ich auch
+meine richtigen Prozente und Tantiemen bekam. Aber ich war keineswegs
+ein Betrüger, ich war nur ein Opfer des Aberglaubens, meines
+Aberglaubens. Denn die guten Leute glaubten mir, die waren nicht
+abergläubisch.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-24">
+22
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> war es ganz natürlich, daß, als ich gefragt wurde,
+ob ich Arbeit haben wollte, ich ja sagte. Ich war innerlich
+gezwungen, ja zu sagen, und ich konnte diesem
+Zwange nicht entweichen. Ich bin sicher, daß ich bleich
+wurde vor Todesangst, auf diesen Eimer zu müssen.
+</p>
+
+<p>
+„A. B.?“ fragte der Mann.
+</p>
+
+<p>
+Glück zu, da war die Rettung. Die brauchten einen
+A. B., und ich war kein A. B. Ich hütete mich weislich,
+nun zu sagen: „Plain“, denn im Notfalle kann ein Deckarbeiter auch
+am Rade stehen, besonders wenn das Wetter ruhig ist und keine großen
+Kursveränderungen sind.
+</p>
+
+<p>
+Deshalb antwortete ich: „Nosser, no A. B. Black gang. Schwarze Bande.“
+</p>
+
+<p>
+„Fein!“ schrie der Mann herunter. „Das ist ja, was wir brauchen. Mach
+hurtig voran. Hopp auf.“
+</p>
+
+<p>
+Nun wurde mir alles klar. Sie nahmen, was sie kriegten, und woher sie
+es kriegten, weil sie um soundsoviele Mann zu kurz waren. Ich hätte
+sagen können: Koch, oder ich hätte rufen können: Zimmermann oder
+Boss’n, sie würden immer gerufen haben: „Hopp auf!“ Da war etwas
+nicht in Ordnung. Verflucht, sollte sie doch ein –, nein, trotz aller verdächtigen
+Begleitumstände, die Yorikke schien doch kein Totenschiff
+zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Ich mußte die letzten Karten spielen.
+</p>
+
+<p>
+„Where ’re ye bound? Wohin geht ihr raus?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+„Wo wollen Sie hin?“
+</p>
+
+<p>
+Die sind geeicht. Da ist kein Entrinnen. Ich kann rufen Südpol, ja, ich
+kann rufen Genf, sie werden mir, ohne zu zucken, entgegenrufen: „Da
+gehen wir hin.“
+</p>
+
+<p>
+Aber ich wußte ein Land, wo der Eimer nicht wagen dürfte, hinzugehen,
+das war England. Deshalb sagte ich: „England.“
+</p>
+
+<p>
+„Mann, was für ein Glück haben Sie!“ schrie die Stimme. „Wir haben
+Ladung, Stückgut für Liverpool. Sie können da abmustern.“
+</p>
+
+<p>
+Da hatten sie sich verraten. Das einzige Land, wo ich nicht abmustern
+konnte und auch kein andrer Seemann, der nicht auf einem englischen
+Boot fuhr, das war England. Aber dieser Antwort Liverpool konnte ich
+nicht ausweichen. Ich konnte ihnen doch nicht beweisen, daß sie
+schwindeln.
+</p>
+
+<p>
+Es scheint so lächerlich zu sein. Es konnte mich natürlich niemand
+zwingen, anzuzeichnen für irgendein Boot, auf keinen Fall, solange
+ich hier auf festem Boden stand und nicht unter der Gerichtsbarkeit und
+Gesetzesgewalt des Skippers. Aber das ist ja immer so: wenn man sich
+zu wohl und zu glücklich fühlt, dann möchte man es noch besser haben,
+läge dieses Besser-haben-Wollen auch nur darin versteckt, daß man sich
+nach einem Landschaftswechsel sehnt und eine stille ewige Hoffnung
+pflegt und nährt, daß jeder Wechsel zu Besserem führen müsse. Ich
+glaube, seit Adam sich im Paradiese langweilte, ist es der Fluch der
+Menschen, sich nie vollkommen glücklich zu fühlen und immer auf der
+Jagd nach einem größern Glück zu sein. Wenn ich an England denke
+mit seinem ewigen Nebel, seiner ewigen naßkalten Witterung, seiner
+Fremdenhetzerei, seines ewig stupid lächelnden Kronprinzen, dem die
+Maske angefroren ist, und es vergleiche mit diesem freien, sonnigen
+Lande und seinen freundlichen Bewohnern und mir nun vorstelle, daß
+ich alles dies zurücklassen soll, so ist mir aber doch in der Tat zum
+Sterben zumute.
+</p>
+
+<p>
+Aber da war das Schicksal. Ich hatte ja gesagt, ich hatte nun als guter
+Seemann, der zu seinem Wort steht, anzuzeichnen für den Eimer, und
+wenn er direkt auf den Meeresboden führe; mit diesem Boot, das ich
+ausgelacht, laut und heulend ausgelacht hatte, als ich es zum ersten
+Male gesehen, und das zu fahren ich nicht gedacht hatte, auch wenn ich
+den letzten Atemzug dadurch hätte aufhalten können. Nicht mit diesem
+Schiff und nicht mit dieser Mannschaft. Yorikke rächte sich dafür, daß
+ich sie ausgelacht hatte. Aber es geschah mir im Grunde ganz recht,
+warum war ich hier hinuntergegangen und hatte mich von ausfahrenden
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+Schiffen sehen lassen. Da soll man mit der Nase wegbleiben, ausfahrende
+Eimer gehen einen gar nichts an, wenn es nicht der eigne ist,
+man soll sie in Ruhe lassen und nicht hinter ihnen herspucken wollen.
+Das ist immer Pech. Das können die nicht vertragen.
+</p>
+
+<p>
+Ein Seemann soll nicht von Fischen träumen, und er soll nicht an Fische
+denken, das ist nicht gut. Und ich war hierhergegangen und wollte
+sogar welche fangen. Jeder Fisch oder seine Mutter hat schon an einem
+ertrunkenen Seemann genascht, darum soll sich ein Seemann vor
+Fischen hüten. Wenn ein Seemann Fische essen will, soll er sie sich von
+einem ordentlichen Fischersmann kaufen. Fische fangen ist dessen Geschäft,
+dem tun sie nichts; wenn der von Fischen träumt, bedeutet
+es Geld.
+</p>
+
+<p>
+Ich schoß die letzte Frage, die möglich war: „Was wird gezahlt?“
+</p>
+
+<p>
+„Englisch Geld.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie ist das Essen?“
+</p>
+
+<p>
+„Reichlich.“
+</p>
+
+<p>
+Nun war ich umzingelt. Nicht eine schmale Ritze blieb offen. Es gab
+für mein Gewissen auch nicht eine einzige Entschuldigung, mein Yes
+zurückzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Sie warfen ein Tau rüber, ich fing das Tau auf, schwang mich mit voran
+gestreckten Füßen gegen die Bordwand, und während sie von Deck aus
+das Tau einholten, stieg ich an der Wand empor und sprang oben über
+die Verschanzung.
+</p>
+
+<p>
+Als ich nun auf dem Deck stand, kam Yorikke merkwürdig rasch in
+volle Fahrt, und während ich das versinkende Spanien mit meinen
+Augen liebkoste, hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt durch jenes große
+Tor geschritten war, über dem die schicksalsschweren Worte stehen:
+</p>
+
+<p class="center">
+Wer hier eingeht,<br>
+Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht,<br>
+Er ist verweht!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-2">
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+ZWEITES BUCH
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="epi" id="chapter-2-1">
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+INSCHRIFT
+ÜBER DEM MANNSCHAFTSQUARTIER
+DES TOTENSCHIFFES
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="center">
+WER HIER EINGEHT,<br>
+DESS’ NAM’ UND SEIN IST AUSGELÖSCHT.<br>
+ER IST VERWEHT<br>
+VON IHM IST NICHT EIN HAUCH ERHALTEN<br>
+IN DER WEITEN, WEITEN WELT.<br>
+ER KANN ZURÜCK NICHT GEHN,<br>
+NICHT VORWÄRTSSCHREITEN,<br>
+DA, WO ER STEHT, IST ER GEBANNT.<br>
+IHN KENNT NICHT GOTT UND KEINE HÖLLE.<br>
+ER IST NICHT TAG, ER IST NICHT NACHT.<br>
+ER IST DAS NICHTS, DAS NIE, DAS NIMMER.<br>
+ER IST ZU GROSS FÜR DIE UNENDLICHKEIT<br>
+UND IST ZU WINZIG FÜR DAS SANDKÖRNLEIN,<br>
+DAS SEINE ZIELE HAT IM WELTENALL.<br>
+ER IST DAS NIEGEWESEN<br>
+UND DAS NIEGEDACHT!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-2">
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+23
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> betrachtete ich mir die Haifischjäger in der Nähe.
+Der Eindruck, den ich von draußen gewonnen hatte,
+wurde keineswegs besser. Er wurde nicht einmal
+schlimmer, sondern er wurde einfach vernichtend.
+Ich hatte ursprünglich geglaubt, daß einige der Leute
+Neger und einige Araber wären. Aber jetzt erkannte
+ich, daß sie nur unter Kohlenstaub und Dreck so
+aussahen. Der Deckarbeiter steht ja nun auf keinem
+Schiff, die russischen Bolschewistenschiffe vielleicht ausgenommen, in
+der gleichen menschlichen Rangstufe mit dem Skipper. Wo sollte das
+aber auch hinführen? Man könnte die beiden ja eines schönen Tages
+miteinander verwechseln und herausfinden, daß der Deckarbeiter ein
+ebenso intelligenter Mensch ist wie der Skipper. Zuweilen wäre das
+sogar noch nicht einmal ein Beweis, daß der Deckarbeiter überhaupt
+Intelligenz besitzt.
+</p>
+
+<p>
+Hier gab es zweifellos sogar noch unter den Deckarbeitern Rangstufen.
+Da waren Deckarbeiter ersten Grades, Deckarbeiter zweiter, dritter
+und vierter Ordnung. Jene beiden Taschendiebe, die da standen,
+schienen Deckarbeiter fünften Grades zu sein. Ich weiß nicht, welches
+augenblicklich die unzivilisierteste Menschenrasse ist. Das wechselt ja
+mit jedem Jahre, je nachdem, wie wertvoll oder wie wertlos, für andre,
+das Land ist, wo diese Menschenrasse lebt. Aber diese beiden Deckarbeiter
+würden bei jener unzivilisierten Rasse wohl noch nicht einmal
+gebraucht werden können, um Kokosnüsse aufzuschlagen. So viele Deckarbeiter,
+daß jeder Grad seinen rechtmäßigen Vertreter hier haben
+konnte, hatte man für die Yorikke nicht auftreiben können. Infolgedessen
+waren die Deckarbeiter des ersten, des zweiten, des dritten und
+des vierten Grades nicht vertreten, nur zwei des fünften und drei des
+sechsten Grades. Die Vertreter des fünften Grades habe ich geschildert,
+die des sechsten kann ich nicht beschreiben, da ich sie mit nichts vergleichen
+kann, was sich sonst auf Erden findet. Sie waren durchaus
+Original, und ich muß mich damit begnügen, zu sagen, sie waren würdig
+vertreten, und man glaubte es ihnen ohne Legitimation, daß sie der
+sechsten Ordnung angehörten.
+</p>
+
+<p>
+„Gauten Tahk!“ Der Anführer der Taschendiebe und der Jahrmarktsbetrüger
+– halt, ich wollte sagen: der Anführer der Taschendiebe und
+der Roßtäuscher kam auf mich zu. „Ich bing da zwiehte Inkscheneer.
+Disser hier, was miehn Nachtbur ist, disser iehst da Dunkymänn.“ Das
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+war ein Englisch! – Ich muß es wohl zukünftig mehr in eine besser
+lesbare Sprache übersetzen, um es verständlich zu machen. Er wollte mir
+mitteilen, daß er der Zweite Ingenieur und damit mein direkter Vorgesetzter
+sei, seit ich zur Schwarzen Bande gehörte, und daß sein Nachbar,
+der an seiner Seite stand, der Donkeyman sei, also mein Unteroffizier.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich,“ stellte ich mich nun selbst vor, „ich bin der Generaldirektor
+der Kompanie, die diesen Eimer besitzt, und ich bin an Bord gekommen,
+um euch Burschen ordentlich Beine zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+Denn wenn die beiden glaubten, sie könnten mich aufziehen, dann
+müssen sie sich schon einen andern suchen, nicht gerade einen, der schon
+als Küchenjunge fuhr, als seine Altersgenossen noch das Abc lernten.
+Mit solcher Vanille müßt ihr mir nun nicht kommen, dann haben wir
+den rechten Ton gleich von der ersten Wache an und werden nicht viel
+gewürzte Schokolade miteinander trinken.
+</p>
+
+<p>
+Aber er hatte nicht begriffen, was ich gesagt hatte; denn er sprach
+weiter: „Gehen Sie zum Quartier und suchen Sie sich Ihre Bunk.“
+</p>
+
+<p>
+Ja, da fallen mir aber doch die Holzschindeln vom Dach, der wird doch
+nicht etwa im Ernst geredet haben und ist tatsächlich der Zweite Ingenieur
+und mein Vorgesetzter, dieser ausgebrochene Galeerensträfling?
+Als hätte mich jemand mit einer Keule über den Schädel gehauen, so
+torkelte ich nun zum Forecastle, zum Quartier.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Mann lagen faul in ihrer Bunk. Als ich hereinkam, sahen sie
+mich schläfrig an, ohne irgendein Interesse oder irgendein Erstaunen
+zu zeigen. Solche unerwarteten Auffrischungen der Mannschaft schienen
+zu oft vorzukommen, als daß sie wert gewesen wären, sie zu beachten.
+Ich habe später einmal gehört, daß in einem Dutzend Häfen, die
+Yorikke gelegentlich anzulaufen pflegte, immer zwei oder drei Mann
+am Ufer lagen, die aus diesem oder jenem Grunde kein andres Schiff
+kriegen konnten oder unbedingt fort mußten, weil die Kaie zu heiß
+wurden, und nun täglich beteten: „O Herr der Schiffe und Heerscharen,
+laß’ die gute alte Yorikke hereinkommen!“ Denn auf der
+Yorikke fehlten immer zwei oder drei Mann, und ich bin sicher, daß die
+Yorikke noch nie in ihrem urlangen Leben jemals mit voller Mannschaft
+gefahren ist. Man sagte der Yorikke auch sonst noch etwas Häßliches
+nach. Es wurde behauptet, ihr Skipper sei schon viele, viele Male
+zu den Galgen gegangen und habe die Gehenkten untersucht, ob nicht
+noch ein Fünkchen Leben in ihnen zurückgeblieben sei und sie noch so
+viel Atem hätten, um ein Ja zu flüstern und angemustert zu werden für
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+die Yorikke. Diese Nachrede ist häßlich, das weiß ich, aber sie ist nicht
+aus der Luft gegriffen und keiner Katze aus dem Ohrläppchen gesaugt.
+Ich fragte nach einer leeren Bunk. Einer der Leute deutete mit dem
+Kopfe nach einer oberen Schachtel. Ich fragte, ob auch niemand drin
+verreckt sei. Der Mann nickte und sagte dann: „Die untere Kommode
+ist auch frei.“
+</p>
+
+<p>
+So nahm ich die untere. Der Mann verlor jegliches Interesse an mir und
+meinem Tun.
+</p>
+
+<p>
+In der Bunk war keine Matratze, kein Strohsack, kein Kissen, keine
+Decke, kein Bettuch. Nichts. Nur das nackte wurmstichige Holz. Und sogar
+an dem Holze hatte man jeden Millimeter gespart, der nur gerade
+noch abzusparen war, damit man den Koffer für menschliche Gebeine
+noch Bunk nennen könne und nicht etwa einen Schirmkoffer. In jedem
+der beiden Bunks, die meinem gegenüber lagen, der eine oben der andre
+unten, lagen Lumpen und zerrissene alte Säcke. Das waren die
+Matratzen für die Mannschaften, die jetzt auf Wache waren oder auf
+dem Deck herumlungerten. Als Kissen hatten sie altes Tauwerk. Daß
+man auf altem Tauwerk schlafen könnte, mußte also doch keine Sage
+aus fernen Zeiten sein. In der Bunk, die über der meinen lag, in der also
+einer kürzlich verreckt war, vielleicht gestern erst, lagen keine Lumpen.
+Wenn ich auf meiner Bunk saß, so konnte ich die gegenüberliegende
+Bunk erreichen, ohne daß ich die Beine hätte lang ausstrecken brauchen.
+Ich stieß bereits mit den Knien an, während ich hier saß. Der Schiffsbauer
+war ein guter Rechner gewesen. Er hatte ausgerechnet, daß auf
+einem Schiff immer ein Drittel oder manchmal gar die Hälfte der Mannschaft
+auf Wache ist in der Zeit, wo die Bunks im Gebrauch sind. Aber
+es traf sich, daß wir drei Mann, die wir in diesem Abteil wohnten, alle
+dieselbe Wache hatten, so daß wir alle zu gleicher Zeit uns hier in
+diesem Raum, der zwischen den Bunks kaum einen halben Meter breit
+war, aus- und ankleiden mußten. Dieses Gewimmel von sich bewegenden
+Armen, Beinen, Köpfen und Schultern wurde noch unübersichtlicher,
+als in einem Nachbarquartier ein Mann mit seiner Bunk herunterbrach
+und die gebrauchen mußte, wo der eine verreckt war. Wie
+sich das ja immer so fügt, so war es auch hier; der neue Quartierbewohner
+gehörte mit zu unsrer Wache, und nun waren die Einzelheiten
+des Gewimmels beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr
+zu unterscheiden. Wenn es gar zu arg durcheinanderging, so daß die
+Schiffsglocke schon die Wache ausrief, dann schrie der eine oder der
+andre plötzlich ein brüllendes Halt! aus, bei dem nach stillem Übereinkommen
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+jeder von uns still hielt für die Dauer einer Sekunde. Dieses
+Halt! durfte nicht unnützlich geführt werden, sondern nur dann, wenn
+einer in höchster Not war, daß er seinen linken Arm verloren hatte oder
+sein rechtes Bein sich mit dem linken Bein eines der andern Insassen so
+vertauscht hatte, daß man ohne dieses Halt! nie herausgefunden hätte,
+daß der Martin mit dem rechten Bein des Bertrand auf Wache ging,
+während Bertrand erst bei Tagesanbruch merkte, daß er die ganze
+Wache hindurch mit der rechten Hand des Martin und mit der linken
+des Henrik das Ruderrad gequirlt hatte, während ich die Hände Bertrands
+verdreckte und überhaupt nicht wußte, wer meine abnutzt.
+</p>
+
+<p>
+Ernstere Folgen hatte es schon, wenn im trüben Halbschlummer der
+rußenden Quartierlampe Bertrand mit seinem rechten Bein in das
+linke Bein seiner eignen Hose stieg, während er mit seinem linken Bein
+voll angezogen im rechten Bein der Hose Henriks steckte. Manchmal
+kostete es zwei halbe Hosen, manchmal kostete es nach allen Seiten
+herumfliegende Püffe, manchmal eine eingebrochene Bunk oder eine
+durchstoßene Tür. Immer aber kostete es eine ganze Freiwache
+Streitens und Zankens, um festzustellen, wer zuerst in das falsche
+Hosenbein gestiegen sei, wodurch der Unschuldige gezwungen wurde,
+sich rasch nach einem freien Hosenbein umzusehen, damit er nicht etwa
+mit einem unbekleideten Beine auf die Wache zu gehen gezwungen war.
+Es ist in der Tat zweimal vorgekommen, daß ein Hosenbein im Quartier
+zurückblieb, das beidemal von seinem rechtmäßigen Besitzer erst vermißt
+wurde als der Morgen aufkam. Es wäre ja vielleicht gegangen,
+wenn man sich geeinigt hätte. Aber wer sollte denn der Ausgestoßene
+sein, der eine Minute früher aufzustehen verdammt wurde? Beim Aufstehen
+begann ja gleich der wütende Streit darüber, daß eine halbe
+Stunde zu früh geweckt worden sei, wodurch gleich alle in die nötige
+Stimmung versetzt wurden, um jede Einigungsverhandlung auszuschließen
+und im Keime zu ersticken. Dieses Streiten und Wüten und
+Androhen, daß man der Wache das Zufrühwecken schon anstreichen
+wolle, erreichte seinen Höhepunkt gerade immer dann, wenn die Schiffsglocke
+die Wache aufrief. Dann paarte sich die Wut mit Nervosität, daß
+man nicht fertig würde, und gleich mit einem Anranzer die Wache beginnen
+müsse, weil der Hund wieder einmal zu spät geweckt habe, was
+er aus reinem Schabernack täte, wenn man an und für sich schon mit
+dem Zweiten nicht gut steht.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-3">
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+24
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">lektrisches</span> Licht hatte die Yorikke nicht; sie
+wußte offenbar in ihrer Unschuld auch gar nicht einmal,
+daß es so etwas gäbe. Das Quartier war erleuchtet
+von einer Petroleumlampe. Man muß diesen
+Leuchtapparat schon so nennen. Es war ein verbeulter
+Blechbehälter mit einer Kranzverschraubung, die
+aus Eisenblech war, die man aber durch betrügerische
+Mittel so behandelt hatte, daß man glauben sollte, sie
+sei aus reinem Messing. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, wo dieser Betrug
+aufrechterhalten werden konnte. Aber weil jedes Kind weiß, daß
+Messing nicht rostet und von jenem Messingkranz nur noch Rost übriggeblieben
+war, der durch eine lange Gewohnheit in der Form eines
+Zylinderkranzes zusammenhielt, so war der Betrug herausgekommen,
+freilich zu einer Zeit, als die Lampe nicht mehr umgetauscht werden
+konnte, weil die Garantie abgelaufen war. Die Lampe hatte auch einmal
+einen Zylinder gehabt. Der winzige Rest dieses Zylinders konnte allein
+nur dadurch als Überbleibsel eines brauchbaren Lampenzylinders
+zweifelsfrei festgestellt werden, weil zuweilen die Frage durch das
+Quartier schwirrte: „Wer ist denn heute dran, den Zylinder zu putzen?“
+Es war nie jemand dran, und es ging auch nie jemand dran. Diese Frage
+wurde auch nur aus alter Gewohnheit gestellt, um uns in dem Glauben
+zu lassen, wir besäßen einen Lampenzylinder. Ich habe nie jemand gesehen,
+der so viel Mut besessen hätte, „dran“ zu gehen. Er wäre nicht
+mehr davongekommen. Eine leise direkte Berührung des Zylinders
+hätte ihn in Staub zerfallen lassen, der Missetäter wäre dafür verantwortlich
+gewesen, man hätte ihm den Zylinder von der Heuer abgezogen,
+und auf diesem Wege hätte die Kompanie einen neuen Zylinder bekommen.
+Das Schiff noch lange nicht. Irgendwo hätte sich schon ein
+Glasscherben gefunden, der durch die Frage: „Wer ist denn heute dran?“
+die Form eines Zylinders bekommen hätte. Die Lampe selbst war eine
+der Lampen, die jene sieben Jungfrauen getragen hatten, als sie auf der
+Hut waren. Unter solchen Umständen durfte man nicht gut erwarten,
+daß sie ein Seemannsquartier auch nur notdürftig erleuchten konnte.
+Der Docht war auch noch derselbe, den eine Jungfrau aus ihrem wollenen
+Unterrock geschnitten hatte. Das Öl, das wir für die Lampe faßten,
+und das aus betrügerischen Gründen Petroleum, manchmal sogar
+Diamantöl genannt wurde, war schon ranzig, als die Jungfrauen Öl auf
+ihre Lampen gossen. In der Zwischenzeit war es nicht besser geworden.
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+Bei dem traulichen, zu traulichen Schein dieser Lampe, die laut Vorschrift
+die ganze Nacht hindurch im Quartier zu brennen hatte und die
+erstickend schlechte Luft noch mehr verdickte, weil sie nie brannte,
+sondern stets nur schmökte, sich an- und auszukleiden, entweder müde
+zum Zusammenbrechen oder völlig schlaftrunken durch ein handfestes
+Aufgerissenwerden, hätte in diesem engen Raum zu größeren Katastrophen
+geführt als ich zu erzählen für gut befunden habe, wenn nicht
+in den meisten Fällen abschwächende Umstände vorhanden gewesen
+wären. Es werden ja selten Dinge auf die äußerste Spitze getrieben.
+Um die Wahrheit zu gestehen, in den meisten Fällen wurde weder ausgekleidet,
+noch angekleidet. Nicht etwa, daß wir nichts zum An- und
+Auskleiden gehabt hätten. Das war es nicht. Etwas war schon immer
+noch vorhanden, daß wir wenigstens den guten Willen zeigen konnten.
+Aber was dann, wenn man weder eine Matratze, noch eine Decke, noch
+sonst etwa etwas Ähnliches hat?
+</p>
+
+<p>
+Als ich ankam, hatte ich in der Erinnerung an normale Boote gefragt:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wo ist denn die Matratze für meine Bunk?“
+</p>
+
+<p>
+„Wird hier nicht geliefert.“
+</p>
+
+<p>
+„Kissen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wird hier nicht geliefert.“
+</p>
+
+<p>
+„Decke?“
+</p>
+
+<p>
+„Wird hier nicht geliefert.“
+</p>
+
+<p>
+Mich wunderte nur, daß die Kompanie überhaupt das Schiff lieferte,
+das wir zu fahren hatten; und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man
+mir gesagt hätte, das Schiff muß jeder selber mitbringen. Ich war an
+Bord gekommen mit einem Hut, einer Jacke, einer Hose, einem Hemd
+und einem Paar – als sie noch neu waren, hatten sie Stiefel geheißen.
+Heute konnte man sie nicht gut so nennen, man würde es mir nicht geglaubt
+haben. Da waren aber andre an Bord, die nicht so reich waren.
+Einer hatte überhaupt keine Jacke, ein andrer überhaupt kein Hemd
+und ein Dritter hatte keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die er
+sich aus alten Säcken, Kistendeckeln und Tauwerk gemacht hatte. Später
+erfuhr ich, daß die, die am wenigsten hatten, beim Skipper am höchsten
+angesehen wurden. Sonst ist es gewöhnlich andersherum. Aber hier, je
+weniger jemand hatte, desto weniger unternahm er das Wagnis, auszusteigen
+und die gute Yorikke ihrem Schicksal zu überlassen.
+</p>
+
+<p>
+Meine Bunk war an der Korridorwand befestigt. Die gegenüberliegenden
+Bunks waren an einer Holzwand befestigt, die das Quartier in zwei
+Kammern teilte. An der andern Seite dieser Holzwand waren gleichfalls
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+zwei Bunks und diesen beiden Bunks gegenüber an der äußeren
+Bordwand waren abermals zwei Bunks. Dadurch war es möglich gemacht
+worden, daß dieses Quartier, das für vier ausgewachsene Menschen
+schon reichlich knapp war, nun acht Leuten zum ständigen Wohnaufenthalt
+zu dienen hatte. Jene Holzwand, die das Quartier in zwei
+Kammern teilte, war aber nicht durch das ganze Quartier gezogen, weil
+sonst die Leute, die in der äußeren, der Bordwandkammer lagen, zur
+Seitenluke hätten herauskriechen müssen, die aber auch nicht groß
+genug war, daß sich jemand hätte hindurchzwängen können. Diese
+Wand war also nur in zwei Drittel Länge mitten durch den Raum gezogen,
+und da, wo diese Wand aufhörte, begann der Meßraum, der
+Speisesalon. Laut Vorschrift muß der Meßraum von den Schlafkammern
+getrennt sein. Das war hier vollkommen geglückt. Alle drei Räume
+waren derselbe Raum, durch die Wand aber war dieser Raum in drei
+Räume geteilt, wo eben nur die Türen immer offen waren. So hatte man
+sich das zu denken, denn die Kammern hatten keine besondere Tür, das
+Quartier hatte eine gemeinschaftliche Tür, die in den Korridor führte.
+In jenem Meßraum stand der rohe Eßtisch, und an jeder Längsseite des
+Tisches war eine rohe Bank. In einer Ecke, neben dem Eßtisch, stand
+ein alter verbeulter Blecheimer, der immer leckte. Er war Wascheimer,
+Badewanne, Scheuereimer alles in einer Gestalt. Außerdem diente er
+noch andern Zwecken, darunter auch solchen, um schwerbesoffene Seeleute
+um einige Kilo zu erleichtern, in den Fällen, wo der Eimer rechtzeitig
+erreicht wurde. Wurde er zu spät erreicht, wachte gewöhnlich ein
+Unbeteiligter in seiner Bunk auf, weil er von einem Wolkenbruch heimgesucht
+worden war, der alles mögliche in die Bunk gebracht hatte, das
+auf und unter der Erde erzeugt wird, mit der einzigen Ausnahme:
+Wasser. Wasser war nicht dabei, bei diesem Wolkenbruch, no, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Da waren vier Kleiderspinde in diesem Quartier. Wäre es nicht der
+verrotteten Lumpen und alten Säcke wegen gewesen, die darin hingen,
+so hätte man die Spinde leer nennen können. Acht Mann lagen in diesem
+Quartier, aber es waren nur vier Spinde drin. Vier Spinde zuviel, denn
+wenn man nichts zum Reinhängen hat, braucht man auch kein Spind.
+Das war ja auch der Grund, weshalb nur vier vorhanden waren. Es war
+von vornherein ausgemacht, daß fünfzig Prozent der Mannschaft, die
+auf der Yorikke fahren, nichts haben, das sich lohnen möchte, in einem
+Spinde aufbewahrt zu werden. Türen hatten die vier Spinde nicht mehr,
+woraus zu schließen war, daß hundert Prozent der Mannschaft keine
+Spinde benötigten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+Die Bullaugen waren auffallend klein und trübe. Die Frage, wer sie zu
+putzen hatte, tauchte zuweilen auf, aber niemand beantwortete sie mit
+„ich“, und wenn sie einer mit „Sie“ oder mit „du“ beantwortete, so wurde
+das unter Wutausbrüchen bestritten, bis man sich auf „er“ einigte. Wer
+immer auch dieser Er sein mochte: wenn er genannt wurde, war er auf
+Wache, konnte also an der Abstimmung dieser Frage nicht teilnehmen
+und hätte jetzt übrigens auch gar keine Zeit gehabt, sich um ungeputzte
+Bullaugen zu kümmern. Das Putzen des einen kam ja sowieso nicht in
+Frage, weil das Glas ausgebrochen und die leere Stelle mit Zeitungspapier
+verklebt worden war.
+</p>
+
+<p>
+Das war der Grund, weshalb selbst bei hellem Sonnenschein das Quartier
+in mysteriöse Dämmerung gehüllt war. Die beiden Bullaugen, die
+zum Deck hinausführten, durften bei Nacht nicht geöffnet werden, weil
+das Lampenlicht des Quartiers die Wache auf der Brücke störte. Deshalb
+stand in dem Quartier die Luft still wie festgerammt, weil kein
+Durchzug war.
+</p>
+
+<p>
+Jeden Tag wurde das Quartier gefegt von einem, der im Dreck stecken
+blieb und seine Füße nicht mehr herausziehen konnte oder eine Nähnadel
+oder einen Knopf verloren hatte. Einmal in der Woche wurde das
+Quartier mit Salzwasser überflutet, was wir scheuern und schrubben
+nannten. Es gab weder Seife, noch Soda, noch Bürsten. Wer sollte sie
+liefern? Die Kompanie nicht. Und die Mannschaft hatte nicht einmal
+Seife, um sich ein Hemd zu waschen. Man war schon selig, wenn man
+eine Krume Seife in der Tasche trug, um sich das Gesicht zuweilen
+waschen zu können. Liegen lassen durfte man die Krume nicht. Wenn
+sie wie ein Stecknadelknopf groß gewesen wäre, irgend jemand hätte
+sie gefunden, behalten und nie zurückgegeben.
+</p>
+
+<p>
+Der Dreck war so dick und so hübsch festgetrocknet, daß man eine Axt
+gebraucht hätte, ihn loszukriegen. Hätte ich je die Kraft gefunden, das
+zu tun, ich würde mich darüber hergemacht haben. Nicht aus übertriebenen
+Reinlichkeitsgefühlen, die gingen auf der Yorikke bald verloren,
+sondern aus wissenschaftlichen Gründen. Ich trug in mir die feste
+Überzeugung, und diese Überzeugung habe ich heute noch, daß, wenn
+ich nicht zu müde gewesen wäre und den Dreck schichtweise abgemeißelt
+hätte, dann hätte ich in den tieferen Schichten Geldmünzen der
+Phönizier gefunden. Was für Schätze ich gefunden hätte, wenn ich noch
+einige Schichten tiefer gedrungen wäre, wage ich gar nicht auszudenken.
+Vielleicht lagen da die abgeschnittenen Fingernägel des Urgroßvaters
+des Neandertalmenschen, die solange schon und so vergebens gesucht
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+werden, und die so ungemein wichtig sind, um festzustellen, ob der
+Höhlenmensch schon etwas von Mr. Henry Ford aus Detroit gehört
+hätte, oder ob er imstande gewesen wäre, auszurechnen, wieviel Dollar
+Mr. Rockefeller jede Sekunde verdient, wenn er seine blaue Brille
+putzt, denn die Universitäten können nur dann auf einen Privatzuschuß
+rechnen, wenn sie einen Teil der Reklame zu übernehmen gewillt sind.
+Wenn man das Quartier verlassen wollte, so hatte man einen dunklen
+lächerlich schmalen Korridor zu durchwandern. An der gegenüberliegenden
+Seite unsers Quartiers lag ein ähnliches Quartier, nicht genau
+so, nur ähnlich, weil es noch verdreckter, noch muffiger und noch dunkler
+war als unsres. Das eine Ende des Korridors führte auf das Deck, das
+andre zu einer Fallgrube. Ehe man diese Fallgrube erreichte, waren zu
+beiden Seiten noch je eine winzig kleine Kammer, die für den Zimmermann,
+den Bootsmann, den Donkeyman und noch einen -mann bestimmt
+waren, die alle im Unteroffiziersrange standen, und die deshalb
+ihre eignen Quartiere hatten, damit sie nicht dieselbe Luft wie die gewöhnliche
+Mannschaft zu atmen verpflichtet waren, was der Autorität
+hätte schaden können.
+</p>
+
+<p>
+Die Fallgrube führte zu zwei Kammern, die eine war die Ketten- und
+Rüstkammer, während die andre die Schreckenskammer genannt
+wurde. Es war niemand auf der Yorikke, der behaupten konnte, er sei
+je in der Schreckenskammer gewesen oder habe je einen Blick hineingeworfen.
+Sie war immer fest verschlossen. Als einmal aus irgendeinem
+Grunde, ich weiß nicht mehr zu sagen, welches dieser unerhörte Grund
+war, nach dem Schlüssel für die Schreckenskammer gefragt wurde,
+stellte es sich heraus, daß niemand wußte, wo der Schlüssel sei, und daß
+die Offiziere behaupteten, der Skipper habe den Schlüssel. Der Skipper
+aber verschwor seine Seele und seine noch ungeborenen Kinder, daß er
+den Schlüssel nicht habe, und daß er strengstens verbiete, daß jemand
+die Kammer öffne oder gar hineingehe. Jeder Skipper hat seine Schrullen.
+Er hatte viele, unter andern jene, nie die Quartiere der Mannschaft
+zu inspizieren, was er jede Woche einmal zu tun, laut Vorschrift, verpflichtet
+war. Er begründete die Schrulle damit, daß er es nächste Woche
+ja tun könne, daß er sich gerade heute nicht den Appetit verderben
+wolle und auch das Besteck noch nicht gesetzt habe, was er jetzt zuerst
+einmal tun müsse.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-4">
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+25
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> waren aber doch einmal Leute in jener Schreckenskammer
+gewesen und hatten sich alles angesehen,
+was drin war. Diese Leute waren jetzt nicht mehr auf
+der Yorikke, sie waren sofort runtergefeuert worden,
+als es herauskam, daß sie es gewagt hatten, in jene
+Kammer einzudringen. Aber ihre Erzählung hatte
+sich doch auf der Yorikke erhalten. Solche Erzählungen
+erhalten sich immer, auch wenn die gesamte
+Mannschaft entlassen wird auf einen Ruck, besonders in jenen Fällen,
+wenn der Eimer auf einige Monate ins Trockendock muß.
+</p>
+
+<p>
+Die Mannschaft mag das Schiff verlassen. Die Erzählungen verlassen
+ein Schiff nie. Wenn das Schiff die Erzählung gehört hat, bleibt die Erzählung
+auch drauf. Sie dringt in das Eisen, in das Holz, in die Bunks,
+in die Ladeschächte, in die Kohlenbunker, in den Kesselraum. Und dort
+erzählt das Schiff in den Nachtstunden seinen Kameraden, den Mannschaften,
+die Geschichten wieder, Wort für Wort, genauer als wenn die
+Geschichten gedruckt wären.
+</p>
+
+<p>
+Auch diese Geschichten über die Schreckenskammer waren erhalten geblieben.
+In der Kammer hatten die beiden Eindringlinge mehrere
+menschliche Skelette gesehen. Wieviele es waren, hatten sie in ihrem
+grausigen Schreck nicht zählen können. Es wäre auch nur schwer möglich
+gewesen, weil die Skelette auseinandergefallen und durcheinandergeschüttelt
+worden waren. Es war aber eine ganze Anzahl. Es wurde
+auch bald festgestellt, wer die Skelette waren, oder richtiger, wem sie
+ursprünglich gehörten. Die Skelette waren die Überreste ehemaliger
+Mitglieder der Yorikke-Mannschaft, die von Ratten aufgefressen worden
+waren, die die Größe sehr großer Katzen hatten. Diese überlebensgroßen
+Ratten waren wiederholt gesehen worden, wenn sie aus irgendwelchen
+Löchern der Schreckenskammer herauswischten.
+</p>
+
+<p>
+Warum diese bedauernswerten Opfer den Ratten zum Fraße vorgeworfen
+worden waren, stand zuerst nicht zweifelsfrei fest. Es kamen
+Gerüchte in Umlauf, die sich schließlich aber auf eines kristallisierten.
+Diese armen Männer waren geopfert worden, um die Fahrtkosten für
+die Yorikke niedrigzuhalten und die Dividenden der Kompanie oder
+des Einzelbesitzers der Yorikke hochzuhalten. Wenn nämlich in einem
+Hafen ein Mann abmusterte und er wagte es, die Bezahlung der Überstunden
+zu verlangen, wie es laut Vereinbarung getan werden soll, so
+wurde er kurzerhand in die Schreckenskammer gebracht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+Dem Skipper blieb ja kein andrer Ausweg. Die Bezahlung der Heuer
+und die Abmusterung wurden im Hafen vorgenommen. Dort konnte
+der Skipper den Mann, der seine Überstunden bezahlt haben wollte,
+nicht gut über Bord werfen; denn das hätten die Hafenbehörden sehen
+können und den Skipper wegen Hafenverunreinigung mit Geldstrafe
+belegt. Was er mit seinem Manne tat, darum hatten sich die Behörden
+nicht zu kümmern, nur was er mit dem Hafen und dem Hafenwasser
+tat. Hätte der Skipper nun den Mann einfach vom Boot gehen lassen,
+so wäre der Mann zur Polizei gegangen oder zum Konsul oder zu einer
+Seemannsgewerkschaft, und der Skipper hätte die Überstunden bezahlen
+müssen. Um das zu vermeiden, wurde der Mann kurz entschlossen
+in die Schreckenskammer eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Wenn das Schiff nun auf hoher See war, so ging der Skipper runter, um
+den Mann wieder rauszulassen, denn nun war er ja nicht mehr gefährlich.
+Aber die Ratten wollten den Mann jetzt nicht mehr hergeben, sie
+hatten schon angefangen, an ihm zu essen, und eine Anzahl von Paaren
+wartete bereits mit Heiratslizenzen, weil die Gelegenheit so günstig
+war, ein ganz ausgezeichnetes Hochzeitsessen geben zu können. Der
+Skipper brauchte den Mann bitter notwendig zum Arbeiten, und er
+mußte sich in einen Kampf mit den Ratten einlassen. Bei diesem Kampfe
+aber zog der Skipper jedesmal den Kürzeren und mußte endlich, um
+sein eignes Leben zu retten, die Kammer verlassen, ohne den Mann
+mitzukriegen. Hilfe konnte der Skipper ja nicht herbeirufen, dann
+wäre das alles herausgekommen, und er hätte von nun an die Überstunden
+bezahlen müssen.
+</p>
+
+<p>
+Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube
+ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der
+Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie gepackt
+worden. So hart, wie wir arbeiten mußten, haben Sklaven nie
+arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind
+Sklaven nie gewesen. Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden
+war, und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware mußte
+sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und
+übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur die Transportkosten,
+geschweige denn einen Preis, daß der Händler noch tüchtig daran verdienen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die
+als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie Menschen.
+Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten,
+bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie
+das Futter nicht mehr wert sind. Da gibt es zu dieser Stunde noch Schiffe
+zivilisierter Völker, auf denen die Seeleute gepeitscht werden dürfen,
+wenn sie sich weigern, die Arbeit von zwei Wachen dauernd zu übernehmen
+und von der dritten Wache noch die Hälfte, weil der Schiffsbesitzer
+so schlechte Löhne zahlt, daß die Mannschaft immer um ein
+Drittel zu kurz ist.
+</p>
+
+<p>
+Und der Seemann hat zu essen, was ihm vorgesetzt wird, ob der Koch
+gestern noch Schneider war, weil ein richtiger Koch für die Heuer nicht
+zu haben war, oder ob der Skipper an der Mannschaftskost so viel zu
+ersparen trachtet, daß die Mannschaft nie satt wird.
+</p>
+
+<p>
+Die Seegeschichten erzählen viel über Schiffe und über Matrosen. Wenn
+man diese Schiffe aber ein wenig aufmerksam betrachtet, dann sieht
+man, daß es Sonntag-Nachmittags-Schiffe sind, und die Matrosen in
+jenen Seegeschichten sind immer lustige Operettensänger, die sich die
+Hände maniküren und ihren Liebeskummer hätscheln.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-5">
+26
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> den schläfrigen Leuten im Quartier hatte ich
+alles in allem kaum zehn Worte gewechselt. Als
+ich meine Bunk hatte und mir gesagt war, daß es
+hier weder Decken noch Matratzen gäbe, war der
+Gesprächsstoff erschöpft.
+</p>
+
+<p>
+Über mir hörte ich das übliche Rattern und Knattern
+der Ketten, das dröhnende Hämmern des
+Ankers, der gegen die Bordwand schlug, ehe er
+zur Ruhe kam, das Rasseln der Wintschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln,
+das Kommandieren, das Fluchen, das alles notwendig ist, damit
+ein Schiff rausgehen kann. Dasselbe Geräusch hört man, wenn das
+Schiff reinkommt.
+</p>
+
+<p>
+Mich ärgert dieses Geräusch immer und macht mich mißmutig. Ich fühle
+mich nur wohl, wenn der Eimer draußen auf hoher See schwimmt. Ganz
+gleich, ob er heim geht oder raus. Aber ich will draußen sein mit dem
+Schiff. Ein Schiff im Hafen ist kein Schiff, sondern eine Kiste, die gepackt
+wird, in die eingepackt oder aus der ausgepackt wird. Im Hafen
+ist man auch gar kein Seemann auf dem Schiff; man ist eben gerade
+Tagelöhner. Die dreckigste Arbeit wird im Hafen gemacht, und man
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+arbeitet, als ob man in einer Fabrik wäre, aber nicht auf einem Schiff.
+Solange ich das Rasseln und Kommandieren hörte, verließ ich das
+Quartier nicht. Wo gearbeitet wird, da soll man nicht nahe gehen. Denn
+steht man erst einmal in der Nähe, dann kann leicht etwas für einen
+dabei abfallen: „He, langen Sie doch da rasch mal zu.“ Ich denke ja
+gar nicht daran. Wozu denn? Ich kriege es ja nicht bezahlt. Da hängen
+sie in jedes Bureau und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung:
+„Do more!“ oder „Tu mehr!“ Die Erklärung wird einem
+kostenfrei gegeben auf einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz
+gelegt wird: „Tu mehr! Denn wenn du heute mehr tust, als man
+von dir fordert, wenn du heute mehr arbeitest, als wofür du bezahlt
+wirst, dann wird man dir auch eines Tages das bezahlen, was du
+mehr tust.“
+</p>
+
+<p>
+Mich hat noch nie jemand damit fangen können, darum bin ich ja auch
+nicht Generaldirektor der Pacific Railway and Steamship Co. Inc. geworden.
+Man kann es immer wieder in den Sonntagsblättern lesen und
+in den Zeitschriften und in den Bekenntnissen erfolgreicher Männer,
+daß allein durch dieses freiwillige Mehrarbeiten, das Ehrgeiz, Strebsamkeit
+und den Wunsch, kommandieren zu dürfen, verrät, schon manch
+einfacher schlichter Arbeitsmann Generaldirektor oder Milliardär geworden
+sei, und daß jedem, der diesen Spruch gewissenhaft befolgt, der
+gleiche Weg zum Generaldirektorposten offenstehe. Aber soviel Generaldirektorstellen
+und soviel Milliardärposten sind in ganz Amerika
+nicht frei. Da kann ich erst mal dreißig Jahre lang immer mehr und
+immer noch mehr arbeiten, ohne mehr bezahlt zu bekommen, weil ich
+ja doch Generaldirektor werden soll. Wenn ich dann gelegentlich einmal
+nachfrage: „Na, wie ist es denn nun mit dem Generaldirektorposten,
+ist noch nichts frei?“ so wird mir gesagt: „Bedaure sehr, momentan
+noch nicht, wir haben Sie aber vorgemerkt, arbeiten Sie noch eine
+Weile tüchtig so weiter, wir werden Sie nicht aus dem Auge verlieren.“
+Früher hieß es: „Jeder meiner Soldaten trägt den Marschallstab in
+seinem Tornister“, heute heißt es: „Jeder unsrer Arbeiter und Angestellten
+kann Generaldirektor werden.“ Ich habe als Junge ja auch
+Zeitungen ausgeschrien und Stiefel geputzt und mir mit elf Jahren
+schon meinen Lebensunterhalt verdienen müssen, aber ich bin bis heute
+weder Generaldirektor noch Milliardär geworden. Die Zeitungen, die
+jene Milliardäre als Jungen ausgerufen haben, und die Stiefel, die sie
+geputzt haben, müssen ganz andre Zeitungen und Stiefel gewesen sein,
+als die, mit denen ich in Berührung gekommen bin.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+Wenn man des Nachts so auf dem Ausguck steht, und es ist alles ruhig,
+kommen einem allerlei schnurrige Gedanken. So habe ich mir schon ausgemalt,
+was geschehen wäre, wenn die Soldaten Napoleons plötzlich alle
+ihren Marschallstab aus ihren Tornistern genommen hätten. Wer macht
+denn dann die Nieten warm in der Kesselschmiede? Die frischgeadelten
+Generaldirektoren natürlich. Wer sonst? Es ist ja niemand sonst
+übriggeblieben, der es machen könnte, und der Kessel soll doch fertig
+werden, und die Schlacht soll geschlagen werden, weil man sonst weder
+Generaldirektoren noch Marschälle braucht. Der Glaube füllt leere Säcke
+mit Gold, macht Zimmermannssöhne zu Göttern und Artillerieleutnants
+zu Kaisern, deren Namen Jahrtausende überstrahlt. Mach’ die Menschen
+gläubig, und sie prügeln ihren lieben Gott zum Himmel hinaus und
+setzen dich auf seinen Thron. Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube
+zerbricht alle Sklavenketten.
+</p>
+
+<p>
+Als das Gerassel endlich einschlief und ich bereits Deckarbeiter müßig
+herumstehen sah, verließ ich das Quartier und ging hinaus aufs Deck.
+Gleich hoppte der Taschendieb, der sich mir als Zweiten Ingenieur vorgestellt
+hatte, auf mich zu und sagte in seinem unsagbar komischen
+Englisch zu mir: „Der Skipper will mit Ihnen sprechen, kommen
+Sie mit.“
+</p>
+
+<p>
+Die Redewendung „Kommen Sie mit“ bereitet in neunzehn von zwanzig
+Fällen nur den Satz vor: „Wir werden Sie für eine gute Weile hierbehalten.“
+</p>
+
+<p>
+Auch wenn in diesem Ausnahmefalle der zweite Satz nicht gesprochen
+worden wäre, so war seine Folge doch schon entschieden. Yorikke lief
+bereits wie das leibhaftige Donnerwetter auf hoher See. Der Lotse
+hatte das Boot verlassen, und der Erste Offizier hatte die Wache übernommen.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper war ein noch junger Mann, sehr gut genährt, mit einem gesunden,
+roten und glattrasierten Gesicht. Er hatte wässerig blaue Augen,
+und in seinem gelbbraunen Haar waren brandrote Farbtöne. Er war
+außerordentlich gut gekleidet, beinahe überelegant. Die Zusammenstellung
+der Farben des Anzuges, der Krawatte, der Strümpfe und der
+eleganten Halbschuhe waren gut gewählt. Nach seinem Aussehen würde
+man ihn nicht für den Kapitän eines kleinen Frachtdampfers, nicht einmal
+für den eines großen Passagierschiffes gehalten haben. Er sah nicht
+aus, als ob er einen Eimer auch nur von einer offnen Reede zu einer
+andern offnen Reede bringen könnte, ohne dabei auf der andern Seite
+der Erdoberfläche zu landen. Er sprach ein gutes reines Englisch, wie
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+man es in einer sehr guten Schule in einem nicht englisch sprechenden
+Lande lernen mag. Die Worte wählte er sehr sorgfältig aus, es machte
+den Eindruck, als ob er sehr geschickt, aber sehr rasch während des
+Sprechens nur solche Worte auswählte, die er fehlerfrei aussprechen
+konnte. Um dies mit Erfolg tun zu können, machte er im Sprechen
+Pausen, wodurch er die Vorstellung erweckte, daß er ein Denker sei.
+Der Kontrast zwischen dem Skipper und dem Zweiten Ingenieur, der
+ja ebenfalls Offizier war, hatte nichts Komisches an sich, sondern war
+so erschütternd, daß, wenn ich je im Zweifel gewesen wäre, wo ich war,
+ich es aus diesem Kontrast sofort gewußt hätte.
+</p>
+
+<p>
+„So, Sie sind der neue Kohlenzieher?“ grüßte er mich, als ich in seine
+Kabine trat.
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Kohlenzieher? No, Sir, I am fireman, ich bin Heizer.“ Mir kam
+schon der Leuchtturm in Sicht.
+</p>
+
+<p>
+„Von Heizer habe ich nichts gesagt“, mischte sich jetzt der Taschendieb
+ein. „Ich habe gefragt Heizpersonal, nicht wahr, das habe ich doch
+gefragt?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist richtig,“ erwiderte ich, „das haben Sie gefragt, und das habe
+ich mit ja beantwortet. Aber nie in meinem Leben habe ich dabei an
+Kohlenzieher gedacht.“
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte zu dem Roßtäuscher:
+„Das ist nun Ihre Sache, Mr. Dils. Ich habe geglaubt, das sei
+in Ordnung.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will sofort das Boot verlassen, Skipper. Ich denke mit keiner Idee
+daran, als Kohlenzieher zu zeichnen. Sofort ausbooten. Ich protestiere,
+und ich werde mich beim Hafenamt beschweren wegen versuchten
+Shanghaiing.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat Sie shanghaied?“ fuhr jetzt der Roßtäuscher auf. „Ich? Das
+ist eine unverschämte Lüge.“
+</p>
+
+<p>
+„Dils,“ sagte der Kapitän jetzt sehr ernst, „damit will ich nichts zu tun
+haben. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Das haben Sie auszubaden,
+das erkläre ich gleich hier. Machen Sie das draußen miteinander ab.“
+</p>
+
+<p>
+Der Taschendieb ließ sich aber nicht verwirren. „Was habe ich gefragt?
+Habe ich nicht gefragt: Kesselgang?“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig, das haben Sie gefragt, aber Sie haben nicht gesagt –“
+</p>
+
+<p>
+„Gehört der Kohlenzieher zur Schwarzen Bande oder nicht?“ fragte der
+Ingenieur nun lauernd.
+</p>
+
+<p>
+„Allerdings gehört der Kohlenzieher dazu,“ bestätigte ich der Wahrheit
+gemäß, „aber ich habe –“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+„Dann ist es ganz in Ordnung“, sagte nun der Skipper. „Wenn Sie
+Heizer meinten, so hätten Sie das ausdrücklich sagen müssen, dann
+hätte Mr. Dils Ihnen schon gesagt, daß wir keinen Heizer zu kurz sind.
+Also gut, dann können wir ja nun schreiben.“
+</p>
+
+<p>
+Er nahm die Mannschaftslisten und fragte nach meinem Namen.
+</p>
+
+<p>
+Unter meinem guten Seemannsnamen auf einem Totenschiff? Niemals.
+So tief bin ich noch nicht gesunken. Ich kriege ja nie wieder in meinem
+Leben einen ehrenhaften Eimer. Lieber das Entlassungszeugnis aus
+einem anständigen Gefängnis, das ist besser als das Quittungsbuch
+eines Totenschiffes.
+</p>
+
+<p>
+So gab ich meinen guten Namen auf und sagte mich von meinen Familienbanden
+los. Ich hatte keinen Namen mehr.
+</p>
+
+<p>
+„Geboren in und wann?“
+</p>
+
+<p>
+Der Name war weg, aber ich hatte meine Heimat noch.
+</p>
+
+<p>
+„Geboren in und wann?“
+</p>
+
+<p>
+„In – in –“
+</p>
+
+<p>
+„In wo?“
+</p>
+
+<p>
+„Alexandria.“
+</p>
+
+<p>
+„In U. S.?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein in Ägypten.“
+</p>
+
+<p>
+Nun war auch die Heimat weg; denn von nun hatte ich das Quittungsbuch
+der Yorikke als einzigen Ausweis für den Rest meines Lebens.
+</p>
+
+<p>
+„Nationalität? Britisch?“
+</p>
+
+<p>
+„No. Ohne Nationalität.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sollte meinen Namen und meine Nationalität in den Listen der
+Yorikke für ewige Zeiten registriert wissen? Ein gutgewaschener Amerikaner,
+zivilisiert, ausgerüstet mit dem Evangelium der Zahnbürste und
+der Wissenschaft des täglichen Füßewaschens, sollte je eine Yorikke gefahren,
+je eine Yorikke bedient, gescheuert, angestrichen haben? Meine
+Heimat, nein, nicht meine Heimat, aber die Vertreter meiner Heimat
+hatten mich zwar ausgestoßen und verleugnet. Aber kann ich die Erde
+verleugnen, deren Hauch ich mit meinem ersten Atemzuge trank? Nicht
+der Vertreter wegen und nicht seiner Flagge wegen, aber der Liebe zur
+Heimat wegen, ihr zuliebe, ihr zu Ehren, habe ich sie abzuschwören.
+Auf der Yorikke fährt kein ehrlicher amerikanischer Junge, selbst
+wenn er dem Henker entlaufen sein sollte.
+</p>
+
+<p>
+„No, Sir, keine Nationalität.“
+</p>
+
+<p>
+Nach Seemannskarte, Heuerbuch, Paß oder sonst etwas Ähnlichem fragte
+er nicht. Er wußte, daß Leute, die zur Yorikke kommen, nicht nach
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+solchen Dingen gefragt werden dürfen. Sie könnten ja sagen: „Ich habe
+keine Papiere.“ Was dann? Dann dürfte er sie nicht zeichnen lassen, und
+Yorikke würde keine Mannschaft haben. Beim nächsten Konsul mußte
+die Liste ja amtlich bestätigt werden. Aber dann war nichts mehr zu
+ändern, der Mann war bereits angemustert, hatte bereits gefahren, da
+war es nicht mehr möglich, ihm die konsulare Bestätigung zu verweigern.
+Der Konsul kennt amtlich keine Totenschiffe und nichtamtlich
+glaubt er nicht daran. Konsul zu sein, erfordert Talente. Die Konsuln
+glauben auch nicht an das Geborensein von Menschen, wenn der Geburtsschein
+das Geborensein nicht schwarz auf weiß beurkundet.
+</p>
+
+<p>
+Was blieb von mir noch übrig, nachdem Name und Heimat verspielt
+waren? Die Arbeitskraft. Das allein war es, das zählte. Das allein
+wurde bezahlt. Nicht zum vollen Werte. Aber etwas, damit nicht die
+Erschlaffung den Spaß verdirbt.
+</p>
+
+<p>
+„Die Heuer für die Kohlenzieher ist siebzig Peseta“, sagte der Skipper
+so wie nebenbei, während er in die Liste schreibt.
+</p>
+
+<p>
+„Wa–a–a–s?“ schreie ich. „Siebzig Peseta?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, haben Sie das nicht gewußt?“ fragt er mit einer müden Geste.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe angemustert für englische Heuer“, verteidige ich nun meinen
+Lohn.
+</p>
+
+<p>
+„Mr. Dils?“ fragt der Skipper. „Was ist das, Mr. Dils?“
+</p>
+
+<p>
+„Habe ich Ihnen englische Heuer versprochen?“ sagt der Roßtäuscher
+grinsend zu mir.
+</p>
+
+<p>
+Ich könnte diesem Hund gleich so eine in die Fresse hauen, aber hier
+will ich doch nicht in Eisen liegen. Nicht auf der Yorikke, wo mich die
+Ratten lebendig anfressen würden, wenn man sich nicht wehren kann.
+„Jawohl, Sie haben mir englische Heuer versprochen“, schrie ich nun in
+Wut auf den Gauner ein. Es ist ja das Letzte, was ich zu verteidigen
+habe, meinen Arbeitslohn. Den Hundelohn. Je schwerer die Arbeit,
+desto geringer der Lohn. Der Kohlenzieher hat die schwerste und
+teuflischste Arbeit auf dem Eimer und meist den schäbigsten Lohn.
+Englische Heuer ist ja auch nicht berühmt, aber wo in der Welt bekommt
+denn der Arbeiter seinen vollen Lohn? Wer den Arbeiter seinen
+Lohn nicht zahlt, ist ein Bluthund. Aber man braucht den Lohn mit dem
+Arbeiter, der die Arbeit so bitter benötigt, nur vorher ausmachen, dann
+ist es sein Lohn. Sein Lohn, und man ist kein Bluthund mehr. Gäbe es
+keine Gesetze, dann würde es auch keine Milliardäre geben. Worte
+kann man kneten, darum werden Gesetze in Worten niedergeschrieben.
+Dem Hungernden ist das Kneten bei Todesstrafe verboten; bei etwa
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+mildernden Umständen ist Freiheitsstrafe vorgesehen, um Gnade üben
+zu können und die Menschlichkeit der Gesetze zu beweisen.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, das haben Sie, Sie haben mir englische Heuer zugesagt“,
+schreie ich noch einmal.
+</p>
+
+<p>
+„Schreien Sie nicht so“, sagt der Kapitän und sieht von der Liste auf.
+„Wie ist das nun, Dils? Ich bin das endlich leid. Wenn Sie Leute annehmen,
+will ich doch, daß alles in Ordnung ist.“
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper spielt fein. Yorikke darf stolz sein auf ihren Meister.
+</p>
+
+<p>
+„Von englischer Heuer habe ich gar nicht gesprochen“, sagt der Roßtäuscher.
+</p>
+
+<p>
+„Doch haben Sie das. Das kann ich beschwören.“ Das winzige Eckchen
+Recht, das mir noch geblieben ist, will ich verteidigen bis zum Äußersten.
+</p>
+
+<p>
+„Beschwören? Begehen Sie nur ja keinen Meineid, Mann. Ich weiß genau,
+was ich alles zu Ihnen gesagt habe, und ich weiß ganz genau, was
+Sie geantwortet haben. Ich habe hier genug Zeugen an Bord, die bei mir
+standen, als ich Sie anmusterte. Ich habe gesagt ‚englisches Geld‘, aber
+von englischer Heuer habe ich kein Wort gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+Der Hund hat recht. Er hat in der Tat englisches Geld gesagt und das
+Wort Heuer gar nicht erwähnt. Ich hatte natürlich darunter englische
+Heuer verstanden.
+</p>
+
+<p>
+„Dann ist das ja wohl nun auch in Ordnung“, sagte der Skipper ruhig.
+„Sie bekommen natürlich ihre Heuer in englischen Pfunden und Schillings
+ausgezahlt. Für Überstunden werden fünf Pence bezahlt. Und wo
+wollen Sie abmustern?“
+</p>
+
+<p>
+„Im nächsten Hafen, den wir anlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das können Sie nicht“, sagt der Roßtäuscher grienend.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, das kann ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Können Sie nicht“, wiederholte er. „Sie haben gemustert für Liverpool.“
+</p>
+
+<p>
+„Das meine ich ja auch“, sage ich. „Liverpool ist ja der nächste Hafen,
+den wir anlaufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ antwortet der Skipper, „wir haben deklariert Griechenland,
+aber ich habe meine Absichten geändert und mache Nordafrika.“
+</p>
+
+<p>
+Deklariert und während der Fahrt Kurswechsel. Ei, lieber Freund, du
+bist deutlich. Marokko und Syrien bezahlen gute Preise für – –. Und
+wenn du das Geld noch schnell glücklich drin hast, dann wird angemustert
+auf große lange Fahrt. He? Einen Salzwasserfisch, der in so
+vielen Meeren geschwommen ist, dem kannst du nichts verstecken. Das
+wäre nicht der erste Blender, den ich fahre.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+„Sie haben mir gesagt Liverpool, und Sie haben ausdrücklich erwähnt,
+daß ich in Liverpool abmustern darf“, rufe ich erregt dem Taschendieb
+zu.
+</p>
+
+<p>
+„Kein Wort wahr, Skipper“, sagt der gerissene Bursche. „Ich habe gesagt,
+wir haben Stückgut für Liverpool, und er könne dort abmustern,
+wenn wir Liverpool machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ja dann alles in Ordnung“, bestätigt nun der Kapitän. „Wir
+haben acht Kisten Ölsardinen für Liverpool, Stückgut, weit unter
+Frachtsatz. Lieferungsgrenze achtzehn Monate. Ich werde doch nicht
+dieser acht Kisten wegen, die als Nebengut gehen, Liverpool machen.
+Die sind Gelegenheitsgut, die keine Fracht kosten sollen. Wenn ich mehr
+aufnehme, daß es sich lohnt, gehe ich natürlich schon innerhalb der
+nächsten sechs Monate rauf.“
+</p>
+
+<p>
+„Das konnten Sie doch aber gleich sagen, daß es nicht Stückgut sei,
+sondern Schnappgut, das Sie für Liverpool haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Das haben Sie ja nicht gefragt“, widerspricht der Roßtäuscher.
+</p>
+
+<p>
+Eine feine Gesellschaft. Schmuggeln, Deklarierungen fälschen, Häfen
+täuschen, Kurse schwindeln und Totenschiffe fahren. Denen gegenüber
+ist ein zünftiger Seeräuber ein Edelmann. Einen Seeräuber fahren, ist
+keine Schande, da würde ich weder Namen noch Nationalität abschwören.
+Seeräuber fahren, ist Ehrensache. Diesen Eimer fahren, ist
+eine Schmach, an der ich lange zu würgen haben werde, bis sie geschluckt
+und verdaut sein wird.
+</p>
+
+<p>
+„Wollen Sie hier Ihren Namen untersetzen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper reicht mir einen Federhalter.
+</p>
+
+<p>
+„Darunter? Nie! nie!“ Ich rufe es in Empörung.
+</p>
+
+<p>
+„Wie Sie wollen. Mr. Dils, bitte, schreiben Sie hier als Zeuge hin.“
+</p>
+
+<p>
+Dieser Taschendieb, dieser Roßtäuscher, dieser Gauner, dieser Betrüger,
+dieser Shanghaier, dieser Mann, für den der Strick, mit dem
+zwei Dutzend Raubmörder gehenkt worden sind, zu anständig und zu
+ehrenhaft wäre, soll da für mich unterschreiben. Dieses Aas soll nicht
+einmal unter meinem ausgedachten Namen seine aussätzige Hand hinlegen
+dürfen.
+</p>
+
+<p>
+„Geben Sie her, Skipper, ich unterschreibe selbst, es ist ja nun doch
+alles schon Schiet mit Rotz.“
+</p>
+
+<p>
+„Helmont Rigbay, Alexandria (Ägypten).“
+</p>
+
+<p>
+Da steht es. Fest und sicher. Nun, Yorikke, hoiho! Geh’ zur Hölle
+meinetwegen. Jetzt ist alles, alles egal. Ausgelöscht aus den Lebenden.
+Verweht. Kein Hauch von mir ist mehr in der Welt.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Holla–he! Holla–he! Hoiho!</p>
+ <p class="verse">Ich liege nicht an einem Riff,</p>
+ <p class="verse">Ich fahre auf dem Totenschiff</p>
+ <p class="verse1">So fern vom sonn’gen New Orleans,</p>
+ <p class="verse1">So fern vom lieben Louisiana.</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Holla–he! Morituri salutant! Die modernen Gladiatoren grüßen dich,
+o Cäsar Augustus Capitalismus. Morituri salutant! Die Totgeweihten
+grüßen dich, o Cäsar Augustus Imperator, wir sind bereit zu sterben
+für dich, für die heilige und glorreiche Versicherung.
+</p>
+
+<p>
+O Zeiten, o Sitten! Die Gladiatoren zogen in glänzenden Rüstungen
+in die Arena. Fanfaren schmetterten und Zimbeln klangen. Schöne
+Frauen winkten ihnen zu von den Brüstungen und ließen ihre goldgestickten
+Tüchelchen fallen; die Gladiatoren hoben sie auf, preßten sie
+an ihre Lippen, atmeten den berückenden Hauch, und ein süßes Lächeln
+dankte ihnen und grüßte sie. Unter dem begeisterten Beifallsgeschrei
+einer erregten Menge, unter den Klängen rauschender Kriegsmusik,
+hauchten sie ihren letzten Atem aus.
+</p>
+
+<p>
+Wir aber, die Gladiatoren von heute, wir verkommen im Dreck. Wir
+sind zu müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern,
+weil wir vor der Schüssel einschlafen. Wir verhungern,
+weil die Kompanie sparen muß, um die Konkurrenz auszuhalten. Wir
+sterben in Lumpen, schweigend, auf einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum.
+Wir sehen das Wasser kommen, und wir können nicht mehr rauf.
+Wir hoffen, daß der Kessel explodiert, um es kurz zu machen, weil die
+Hände eingeklemmt sind, die Feuertüren aufgerissen sind und die
+glühende Kohle an unsern Füßen und Schenkeln langsam frißt. Der
+Kesselbums? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das Verbrennen und
+Verbrühen nichts aus.
+</p>
+
+<p>
+Wir sterben ohne Fanfarenmusik, ohne das Lächeln schöner Frauen,
+ohne das Beifallsrauschen einer erregten, festlich gestimmten Menge.
+Wir sterben schweigend und in Lumpen, für dich, o Cäsar Augustus!
+Heil dir, Imperator, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität.
+Wir sind niemand, wir sind nichts.
+</p>
+
+<p>
+Heil dir, Cäsar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und
+Waisen Pension zu zahlen. Wir, o Cäsar, sind die getreuesten deiner
+Diener. Die Totgeweihten grüßen dich!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-6">
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+27
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> war halb sechs, als ein Neger das Abendbrot in das
+Quartier brachte. Das Abendbrot war in zwei verbeulten
+und fettigen Blechkumpen. Eine dünne
+Erbsensuppe, Pellkartoffeln und heißes braunes
+Wasser in einer zerhämmerten Emaillekanne. Das
+braune Wasser hieß: Der Tee.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist denn das Fleisch?“ fragte ich den Neger.
+</p>
+
+<p>
+„Nichts von Fleisch heute“, sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah ihn an und bemerkte, daß er kein Nigger war, sondern ein
+Weißer. Er war der Kohlenzieher einer andern Wache.
+</p>
+
+<p>
+„Abendessen holen ist deine Sache“, wandte sich der Mann mir zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin hier nicht als Meßboy, als Moses, damit du das nur gleich
+weißt“, sagte ich darauf.
+</p>
+
+<p>
+„Hier gibt es keine Meßboy.“
+</p>
+
+<p>
+„Na?“
+</p>
+
+<p>
+„Das müssen hier die Kohlenzieher machen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Hiebe setzen schon. Das kann ja nett werden. Ich sehe schon, warum
+und wozu. Das Schicksal will seinen Lauf haben.
+</p>
+
+<p>
+„Abendessen holt der Kohlenzieher der Rattenwache.“
+</p>
+
+<p>
+Der zweite Hieb. Jetzt zähle ich nicht mehr die Hiebe. Laß sie kommen
+und fallen. Mach das Fell dick.
+</p>
+
+<p>
+Also Rattenwache. Das war ja vorauszusehen. Wache von zwölf bis
+vier, die niederträchtigste Wache, die erfunden wurde, um Seeleute zu
+martern. Um vier kommt man von Wache. Man wäscht sich. Dann holt
+man Abendessen für die ganze Bande. Dann wäscht man das Geschirr
+für die ganze Bande, weil ja kein Meßboy da ist und die Kohlenzieher
+alles mitzumachen haben. Dann legt man sich in die Bunk. Da es bis
+zum nächsten Morgen um acht nichts mehr zu essen gibt, man aber in der
+Nacht auf Wache zu gehen hat und nicht nur zu gehen, sondern zu
+arbeiten und wie, so muß man tüchtig Abendbrot reinhauen, weil man
+sonst in der Nacht klappt. Mit dem vollen Magen kann man aber nicht
+schlafen. Bis um zehn manchmal sitzen auch noch die Freiwachen auf
+und spielen Karten oder erzählen sich etwas. Da sie keinen andern
+Raum haben, wo sie hingehen können, so sitzen sie hier. Man kann ihnen
+das Geplauder doch nicht verbieten, sie verlernen ja sonst die Sprache,
+und sie reden doch schon leise, um den schlafenden Mitarbeiter nicht zu
+stören. Aber das leise Reden stört noch mehr als das laute. Um elf fängt
+man an, einzuschlafen. Zwanzig vor zwölf kommt die Wecke. Raus und
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+runter. Um vier kommt man von Wache. Wäscht sich. Vielleicht. Man
+fällt in die Bunk. Um halb sechs geht der Tageslärm auf dem Boot schon
+los. Um acht wird man aus dem Schlaf gerissen: „Frühstück ist da!“ Den
+ganzen Vormittag wird auf dem Boot gehämmert, genagelt, gesägt,
+kommandiert. Um zwanzig vor zwölf kommt keine Wecke, weil ja nicht
+angenommen wird, daß jemand um diese Zeit schlafen könne. Man ist
+schon auf und fällt in seine Wache. Und so fort, um vier – ja und immer
+so weiter.
+</p>
+
+<p>
+„Wer wäscht denn das Geschirr, wenn kein Meßboy da ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Kohlenzieher.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer scheuert denn die Aborte?“
+</p>
+
+<p>
+„Der Kohlenzieher.“
+</p>
+
+<p>
+Das ist ja eine durchaus ehrenwerte Beschäftigung, wenn man sonst
+nichts weiter zu tun hat. In diesem Falle ist es Schweinerei. Und wer
+die Aborte gesehen hätte, der würde gesagt haben: „Das ist die größte
+Schweinerei, die ich je in meinem Leben oder in einem Schützengraben
+gesehen habe.“ Aber ich habe erfahren gelernt, daß die Schweine
+saubere Tiere sind, die dem Pferde an Sauberkeit nichts nachgeben.
+Wenn ich den Bauer oder den Schweinezüchter in einen finstern Stall
+stecke, der zwei Schritte lang und zwei Schritte breit ist, ihn überfüttere,
+nie hinauslasse, nur ab und zu ein paar Hälmchen Stroh hinwerfe und
+die alten vermanschten nicht oder nur selten herausnehme, weil er sich
+ja in dem Mist so wohl fühlt, dann möchte ich einmal sehen, wie der
+Bauer in diesem Stall nach zwei Wochen aussieht, und wer das größere
+Dreckschwein ist, der Bauer oder sein Dickerchen. Unbesorgt, alles wird
+an den Menschen heimgezahlt werden, alles, was er Pferden, Hunden,
+Schweinen, Fröschen und Vögeln angetan hat. Dafür wird er einmal
+mehr büßen müssen, als was er seinen eignen Mitmenschen tat. Man
+kann keinen Abort scheuern, wenn man zu müde ist, um den Löffel mit
+Reis in den Mund zu bringen, no, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Sonniges Spanien, das ist die Strafe, weil ich dich, du freundliche
+Wirtin, verließ!
+</p>
+
+<p>
+Auf einem guten Schifflein ist ein Nauke; ein Tagarbeiter, der so als
+Knochenbeilage mitgenommen wird, sich nie überarbeitet, immer überall
+da sein soll, um zuzufassen, seinen Deckarbeiterlohn bekommt und
+im großen und ganzen ein ganz angenehmes Leben führt. Nauke ist der
+Mann für alles. Und alles, was verkehrt geht, wird stets auf Nauke
+zurückgeführt. Er ist an allem schuld. Wenn in den Bunkern Feuer ausbricht,
+Nauke ist schuld, obgleich er nie in die Bunker darf, aber er hat
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+die Luken nicht regelmäßig gehoben. Wenn dem Koch das Essen anbrennt,
+Nauke kriegt den Krach, obgleich er nie in die Küche darf, aber
+er hat an den Wasserkränen geschraubt, als er sie putzte. Wenn das
+Schiff untergeht, Nauke ist schuld, weil er, weil er – nun ja, weil er
+Nauke ist.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Yorikke waren die Kohlenzieher die Nauken, und der Nauke
+der Nauken war – richtig geraten: der Kohlenzieher der Rattenwache.
+Wenn irgend etwas Dreckiges, Unangenehmes, Lebensgefährliches zu
+tun war, sagte es der Erste Ingenieur dem Zweiten, daß er es tun solle.
+Der sagte es dem Donkeyman, der dem Putzer und Öler, der dem
+Heizer und der Heizer sagte: „Das ist keine Heizerarbeit, das ist Kohlenziehers
+Sache.“ Und der Kohlenzieher der Rattenwache tat es, weil er
+es tun mußte.
+</p>
+
+<p>
+Kam der Kohlenzieher dann heraus mit blutenden und aufgeschlagenen
+und zerschrammten Knochen und mit zwanzig Brandwunden bedeckt,
+und hatte er an den Beinen hervorgezogen werden müssen, weil er sonst
+verbrüht worden wäre, dann ging der Heizer zum Öler und sagte: „Ich
+habe es getan.“ Der Öler zum Donkeyman: „Ich.“ Der Donkeyman
+zum Zweiten Ingenieur: „Ich.“ Und der Zweite zum Ersten, und der Erste
+Ingenieur ging zum Alten und sagte: „Ich möchte das im Journal rapportiert
+haben: ‚Der Erste Ingenieur hat, während die Kessel über vollen
+Feuern lagen, um die Fahrt nicht nachzubüßen, unter Lebensgefahr
+einen Rohrbruch ersten Grades ausgeheilt. Schiff konnte ungeschwächte
+Fahrt beibehalten‘.“ Die Kompanie liest das Journal, und der Direktor
+sagt: „Wir müssen dem Ersten Ingenieur der Yorikke ein größeres Schiff
+geben, der Mann ist Besseres wert.“ Der Kohlenzieher hat die Narben,
+die er nie wieder los wird, und ist gekrüppelt. Aber warum mußte es
+denn der Kohlenzieher tun? Er konnte doch auch sagen wie die andern:
+„Das tu ich nicht, da komme ich nicht mehr lebendig heraus.“ Aber das
+konnte er eben nicht sagen. Er mußte, mußte es tun. „Ja, Mann, wollen
+Sie denn das ganze Schiff untergehen lassen und alle Ihre Kameraden
+dabei ertrinken lassen? Können Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“
+Die Deckarbeiter konnten es ja nicht tun, die verstanden ja
+nichts von Kesseln. Der Kohlenzieher verstand auch nichts von Kesseln,
+er verstand nur Kohle zu schleppen. Der Ingenieur verstand etwas von
+den Kesseln, er wurde dafür ja als Erster Ingenieur bezahlt, weil er
+etwas von Kesseln verstand und bei seinen Prüfungen solche Dinge
+machen mußte. Aber der Kohlenzieher arbeitete vor den Kesseln und
+neben den Kesseln und hinter den Kesseln, und er war der Kohlenzieher,
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+und er war der Mann, der die Verantwortung für den Tod so vieler
+Menschen nicht tragen wollte, auch wenn sein Leben dabei in die Kehrichttonne
+ging. Das Leben eines dreckigen Kohlenziehers ist kein
+Leben, niemand zählt es. Es ist weg und Schluß, reden wir nicht mehr
+davon. Eine Fliege kann man ja schließlich aus der Milch fischen und ihr
+das kleine Leben schenken, aber ein Kohlenzieher ist nicht einer Fliege
+gleich. Der Kohlenzieher ist Dreck, Staub, Scheuerlappen; er ist eben
+gerade gut genug, die Kohle zu ziehen.
+</p>
+
+<p>
+„Kohlenzieher, he!“ ruft der Erste Ingenieur, „wollen Sie einen Rum
+trinken?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Chef.“
+</p>
+
+<p>
+Aber das Schnapsglas fällt ihm aus der Hand, der Rum ist weg. Die
+Hand ist verbrüht, yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Das Abendessen stand auf dem Tisch. Hungrig war ich inzwischen auch
+geworden, und ich dachte, daß ich ganz gut etwas essen könnte. Das war
+meine Absicht. Aber die Absicht haben und die Absicht ausführen, sind
+zwei Dinge. Ich sah mich nach einem Teller und nach einem Löffel um.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Laß den Teller stehen, das ist meiner.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wo kriege ich denn da einen Teller her?“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du dir keinen mitgebracht hast, dann wirst du wohl ohne Teller
+hier leben müssen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wird denn hier kein Geschirr geliefert?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur was du selber hast, das kannst du dir liefern.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie soll ich denn da essen, ohne Teller, ohne Gabel und Löffel?“
+</p>
+
+<p>
+„Deine Sache.“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, du Neuer,“ rief einer aus seiner Bunk heraus, „du kannst
+meinen Teller, meine Tasse und mein Geschirr haben. Hast es aber
+immer zu putzen dafür.“
+</p>
+
+<p>
+Da war einer, der hatte nur einen zerbrochenen Teller, aber keine Tasse;
+ein andrer eine Gabel, aber keinen Löffel. Wenn nun das Essen ins
+Quartier kam, entstand zuerst immer ein Streit darüber, wer zuerst den
+Löffel oder die Tasse oder den Teller gebrauchen dürfe; denn wer zuerst
+in den Besitz des Tellers oder des Löffels gelangte, fischte sich natürlich
+das Beste heraus. Niemand kann es ihm übelnehmen.
+</p>
+
+<p>
+Das, was Tee genannt wurde, war heißes braunes Wasser. Oft war es
+nicht heiß, sondern lauwarm. Das, was Kaffee genannt wurde, gab es
+zum Frühstück und um drei Uhr. Diesen Drei-Uhr-Kaffee habe ich nie
+gesehen. Grund: Rattenwache. Von zwölf bis vier war ich auf Wache.
+Um drei gab es den Kaffee. Um vier, wenn ich abgelöst wurde, war auch
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+nicht ein Tropfen mehr von diesem Kaffee vorhanden. Manchmal war
+noch heißes Wasser in der Galley, aber wenn man keine eignen Kaffeebohnen
+hatte, so konnte man sich keinen Kaffee bereiten.
+</p>
+
+<p>
+Je weiter Kaffee oder Tee von wahrem Kaffee oder Tee entfernt sind,
+desto mehr hat man das Bedürfnis, ihn mit Zucker und Milch zu verschönern,
+um die Phantasie anzuregen. Alle drei Wochen erhielt jeder
+Mann eine kleine Büchse kondensierte und gezuckerte Milch und jede
+Woche ein halbes Kilo Zucker; denn Kaffee und Tee wurden von der
+Galley schlicht geliefert, also ohne Milch und Zucker.
+</p>
+
+<p>
+Hatte man die Milch gefaßt, so öffnete man die Büchse und nahm als
+sparsamer Mensch ein Löffelchen voll heraus, um dem Tee ein Wölkchen
+zu geben. Dann stellte man seine Büchse sorgfältig fort, um sie erst
+wieder beim nächsten Kaffee zu gebrauchen. Aber während man sich
+auf Wache befand, wurde die Büchse nicht gestohlen, aber von andern
+aufgebraucht bis auf den letzten Rest. Da die sichersten Verstecke am
+leichtesten gefunden werden, passierte mir das nur beim erstenmal, daß
+meine Milch verschwand. Als ich das zweitemal Milch faßte, löffelte ich
+sie auf einem Sitz völlig aus, das einzige Mittel, meine Ration zu retten,
+ein Mittel, das alle anwandten.
+</p>
+
+<p>
+Mit dem halben Kilo Zucker machte man es genau ebenso, er wurde sofort
+nach dem Fassen auf einen Ruck aufgegessen. Wir kamen einmal
+zu einer Einigung. Der Zucker des ganzen Quartiers wurde in eine gemeinsame
+Büchse geschüttet, und jeder sollte sich einen Löffel herausnehmen,
+wenn der Kaffee oder Tee kam. Die Folge dieser Einigung war,
+daß der ganze Zucker am zweiten Tage verschwunden war und mich
+nur die leere Büchse angähnte.
+</p>
+
+<p>
+Frisches Brot gab es jeden Tag. Und jede Woche bekam das Quartier
+eine Büchse Margarine, die gut reichen konnte. Aber niemand konnte
+sie essen, weil Schmierseife besser schmeckte.
+</p>
+
+<p>
+An Tagen, wo wir das Maul zu halten und die Augen zuzumachen
+hatten, gab es für jeden Mann zwei Glas Rum und eine halbe Tasse
+Marmelade. Das waren die Tage, an denen geblendet wurde.
+</p>
+
+<p>
+Zum Frühstück gab es Graupen mit Pflaumen oder Reis mit Blutwurst
+oder Kartoffeln und Hering oder schwarze Bohnen und Salzfisch. Alle
+vier Tage fing das wieder mit Graupen und Pflaumen an.
+</p>
+
+<p>
+Sonntag gab es zum Mittag Rindfleisch mit Mostrichsoße oder Cornedbeef
+mit Wasserbrühe, Montag Salzfleisch, das nie jemand aß, weil es
+nur Salz und Schwarte war, Dienstag getrockneten Salzfisch, Mittwoch
+Trockengemüse und Backpflaumen in einer blauwäßrigen Schleimerei
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+aus Kartoffelstärke. Die Schleimerei hieß: Der Pudding. Donnerstag
+begann es wieder mit Salzfleisch, das nie jemand aß.
+</p>
+
+<p>
+Das Abendessen war eines der genannten Frühstücke oder Mittagessen.
+Zu jeder Mahlzeit gab es Pellkartoffeln, von denen nur die Hälfte gebraucht
+werden konnten. Der Skipper kaufte nie Kartoffeln. Sie wurden
+aus der Ladung genommen, wenn wir Südkartoffeln fuhren. Solange
+sie neu und jung waren, machten diese Kartoffeln einem Spaß
+und waren Leckerbissen, aber wenn wir lange keine Kartoffeln gefahren
+hatten, dann kamen die an die Reihe, von denen ich sprach.
+</p>
+
+<p>
+Als Blendladung fuhren wir manchmal nicht nur Kartoffeln, sondern
+auch Tomaten, Bananen, Ananas, Datteln, Kokosnüsse. Diese Ladungen
+allein machten es möglich, daß wir bei dem Essen bestehen konnten und
+nicht an Eßekel verreckten. Wer einen Weltkrieg mitgemacht hat, der
+hat vielleicht gelernt, was ein Mensch ertragen kann, ohne zu krepieren,
+wer aber auf einem echten Totenschiff oder auf einer echten Blendlaterne
+gefahren ist, der weiß es ganz sicher, wieviel ein Mensch aushalten
+kann. Das Ekeln gewöhnt man sich bald ganz ab.
+</p>
+
+<p>
+Das Geschirr, das mir so opferwillig zum Gebrauch angeboten wurde,
+war nicht ganz komplett, es bestand nur aus einem Teller. Als ich das
+notwendige Geschirr beisammen hatte, gebrauchte ich die Gabel von
+Stanislaw, die Tasse von Fernando, das Messer von Ruben, und den
+Löffel hätte ich von Hermann haben können, aber einen Löffel besaß
+ich selbst. Für diese Opferwilligkeit hatte ich das Geschirr aller hübsch
+sauber zu putzen, zweimal für jede Mahlzeit. Zuerst, wenn ich es übernahm,
+und dann, nachdem ich es gebraucht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Als das Abendessen vorüber war, hatte ich die Kumpen zu waschen, also
+die verbeulten Blechwaschbecken, in denen das Essen aus der Galley
+geholt wurde. Zu diesem Waschen brauchte weder ich noch sonst jemand
+Seife, Soda oder Bürste, weil solche Dinge nicht vorhanden
+waren. Wie die Kumpen dann aussahen, wenn wieder das frische Essen
+hineingeschüttet wurde, braucht nicht erzählt zu werden.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Dreck konnte ich nicht leben. Ich ging daran, das Quartier zu
+scheuern. Die Burschen waren nach dem Essen sofort in ihre Bunks gefallen
+wie tot. Während des Essens war kaum gesprochen worden. Es
+ging zu, als ob Schweine an einem Trog stehen. Drei Tage später erkannte
+ich diesen Vergleich nicht mehr. Die Fähigkeit, Vergleiche zu
+ziehen oder deutliche Erinnerungen aus einem früheren Leben zu erwecken,
+war erloschen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+„Seife wird nicht geliefert“, wurde mir brummend aus einer Bunk zugerufen.
+„Schrubber oder Bürsten auch nicht. Und nun halte Ruhe mit
+deinem Herumwirtschaften, wir wollen schlafen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sofort mittschiffs und zur Ingenieurskabine, wo ich anklopfte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will das Quartier scheuern und verlange Seife und eine kräftige
+Schrubberbürste.“
+</p>
+
+<p>
+„Was denken Sie denn von mir? Sie wollen doch nicht damit sagen,
+daß ich Ihnen Seife oder Bürsten zu kaufen habe? Nichts zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber nun ich selbst. Ich habe keine Seife für mich selbst. Und ich
+soll doch vor den Kesseln arbeiten.“ Das wollte ich doch sehen, ob ich
+keine Seife bekäme.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Ihre eigne Sache, wenn Sie sich waschen wollen, müssen Sie auch
+Seife haben. Seife gehört zu einer anständigen Seemannsausrüstung.“
+</p>
+
+<p>
+„Kann sein, mir ist das neu. Toiletteseife ja, aber nicht Arbeitsseife, und
+für Kesselbande hat der Ingenieur die Seife zu stellen oder der Skipper
+oder die Kompanie. Das ist mir gleichgültig, wer die Seife zu stellen hat.
+Ich will aber Seife haben. Was ist das überhaupt für eine Sauerei? Auf
+jedem anständigen Eimer wird alles gestellt, Matratze, Kissen, Bettuch,
+Decke, Handtuch, Arbeitsseife und vor allem Eßgeschirr. Das gehört
+zur Ausrüstung des Schiffes und nicht zur Ausrüstung des Mannes.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht bei uns. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie unverschämter Patron, Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Raus aus meiner Kabine oder ich rapportiere zum Skipper und laß
+Sie festlegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das wäre mir ganz recht.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht wie Sie denken, Mann. So besoffen sind wir nicht. Ich brauche
+den Kohlenschlepper. Nein, ich lasse Sie festlegen mit einer vollen
+Monatsheuer, wenn Sie mir noch mal so kommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Feine Leute, das muß ich sagen. Auch noch die paar Groschen abtricken.“
+</p>
+
+<p>
+Der Gauner saß da und grinste. Bei Klopperei kommt nie etwas heraus,
+und er trickt mir zwei Monatsheuern ab.
+</p>
+
+<p>
+„Erzählen Sie doch das alles Ihrer Urgroßmutter“, sagte er. „Sie wird
+sich das ruhig mit anhören. Aber ich nicht. Raus jetzt, aber flott. Vorwärts
+ins Bett, um elf haben Sie auf Wache zu gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Meine Wache fängt um zwölf an. Zwölf bis vier.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht bei uns und nicht mit den Kohlschleppern. Die Kohlschlepper
+fangen um elf an und ziehen von elf bis zwölf Asche, und um zwölf
+fängt die Arbeitswache an.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+„So. Von elf bis zwölf ist wohl keine Arbeitswache?“
+</p>
+
+<p>
+„Asche ziehen, das haben die Kohlschlepper bei uns nebenbei zu
+machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Überstunden werden angeschrieben.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht bei uns. Und nicht für Ascheheben.“
+</p>
+
+<p>
+In welchem Jahrhundert lebte ich denn? Unter welche Menschenrasse
+war ich geraten? Halb im Dusel torkelte ich zum Quartier.
+</p>
+
+<p>
+Da war das Meer, das blaue herrliche Meer, das ich so sehr liebte, und
+in dem als anständiger Seemann zu versinken ich nie mit Grauen angesehen
+hatte. War es doch die große festliche Vermählung mit dem Weibe,
+das so launenhaft war, das so wütend rasen konnte, so viel herrliches
+Temperament hatte, das so berückend lächeln, so bezaubernde Schlaflieder
+singen konnte und so wunderschön, ach, so über alle Maßen
+schön war.
+</p>
+
+<p>
+Es war dasselbe Meer, auf dem tausende und tausende ehrlicher, gesunder
+Schiffe fuhren. Und nun hatte mich das Schicksal ausersehen,
+mich ein Schiff fahren zu lassen, das an Lepra erkrankt war, und das
+nur noch fuhr mit der Hoffnung, daß das Meer Erbarmen mit ihm haben
+möge. Aber es sah ganz so aus, ich hatte es im Gefühl, daß die See das
+mit Lepra behaftete Schiff nicht aufnehmen wollte, um sich nicht verpesten
+zu lassen. Noch nicht. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch
+wartete das Meer, noch hoffte es, daß es diese Pest nicht zu erdulden
+haben werde, das dieses Meeresgeschwür irgendwo auf dem Lande oder
+in einem verschmierten Winkelhafen zerplatzen und vergehen würde.
+Noch war Yorikkes Zeit nicht gekommen. Ich hatte noch kein Todesahnen,
+an meine Bunk hatte der Gast noch nicht geklopft. Denn als ich
+jetzt an der Reeling stand, über mir den sternenblinkenden Himmel
+und vor mir das grünlich flickernde Meer, an mein verlorenes New
+Orleans und an mein sonniges Spanien dachte, da überkam es mich:
+Hopp drüber Junge, schiet sie an mit dem Kohlschlepper und mach ein
+flottes sauberes Ende, damit du nicht deinen Rest verlierst. Aber dann
+war ja nur ein andrer armer müder, verlumpter, verhungerter, verdreckter
+und gehetzter Kohlschlepper, der Doppelwache bekam und mir
+die letzte Reise so schwer machte und ich immer wieder hoch kommen
+mußte.
+</p>
+
+<p>
+Ei zum Teufel nochmal, beiß zu und schiet. Die Yorikke kann dich,
+mein Junge, nicht unterkriegen. Nicht die Konsuln. Nicht die Yorikke.
+Nicht der Taschendieb. Bist ja von New Orleans, Junge. Rin in die
+Schiet und durchgeschwommen. Es gibt auch wieder mal Wasser und
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+Seife. Der Gestank ist nur äußerlich. Patsch rin, daß es spritzt. Weg
+von der Reeling, und dem Biest, das dich unterkriegen will, eins in die
+Zähne gehauen! Spuck noch mal runter und nun weg in die Bunk!
+</p>
+
+<p>
+Als ich weg war von der Reeling, wußte ich, daß ich zwar auf einem
+Totenschiff und auf einer Blendkaroline war, aber daß es nicht mehr mein
+Totenschiff war. Mit der Yorikke half ich keine Versicherung fahren.
+Auf ihr wurde ich kein Gladiator. Ich spucke dir ins Gesicht, Cäsar
+Augustus Imperator. Spare deine Seife und fresse sie, ich brauche sie
+nicht mehr. Aber du sollst mich nicht mehr winseln sehen. Ich spucke dir
+ins Angesicht, dir und deinem Gezücht.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-7">
+28
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">inschlafen</span> konnte ich nicht. Ich lag auf den
+blanken Brettern meiner Bunk wie ein eingelieferter
+Spitzbube auf der nackten Pritsche in einer Polizeiwache.
+Die schmökende Petroleumlampe füllte den
+Raum mit einem Dunst, daß Atmen eine Qual wurde.
+Da ich ja keine Decke hatte, fröstelte ich, denn die
+Nächte auf dem Meere können ganz verteufelt kalt
+werden. Gerade war ich in einen dämmernden Halbschlaf
+gefallen, als ich plötzlich mit kräftigen und ungeduldigen
+Händen so gerüttelt und gestoßen wurde, als sollte ich durch die Wand
+geworfen werden.
+</p>
+
+<p>
+„Raus du. Ist halb elf.“
+</p>
+
+<p>
+„Halb erst? Warum kommst du nicht um dreiviertel?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin gerade oben, weil ich für den Heizer Trinkwasser hole. Ich
+kann nicht nochmal raufkommen. Mußt raus. Zehn vor zwölf weckst
+du deinen Heizer und holst ihm Kaffee.“
+</p>
+
+<p>
+„Kenn ihn nicht. Weiß seine Bunk nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Komm raus. Ich zeig dir.“
+</p>
+
+<p>
+Ich stand auf, und mir wurde die Bunk des Heizers gezeigt, der zu
+meiner Wache gehörte.
+</p>
+
+<p>
+„Mach voran. Rasch. Geh gleich zu der Aschenwintsche. Wir haben verflucht
+viel Asche.“ Der Mann verschwand wie ein Geist.
+</p>
+
+<p>
+Es war fast finster in dem Quartier, weil die Lampe kein Licht gab.
+</p>
+
+<p>
+Beim Licht einer zerbrochenen kleinen verräucherten Laterne zeigte
+mir der Kohlenzieher der Vorwache, es war Stanislaw, wie die Wintsche
+gehandhabt werden muß.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+„Höre mal, Stanislaw, das verstehe ich nicht“, sagte ich. „Ich kenne doch
+nun auch etwas von Salzkrusten, aber das habe ich noch nicht erlebt,
+daß die Kohlschlepper Wache aufzubüßen haben. Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich gut. Ich bin auch nicht gerade aus den Windeln gerutscht.
+Woanders hat der Heizer beim Aschehieven zu helfen. Aber hier wird
+ja der Heizer allein nicht fertig, und wenn ihm der Schlepp nicht manchmal
+hilft, fällt er runter auf hundertzwanzig, daß es nur so rasselt, und
+der Eimer sackt und steht wie eine Böckchenpinne. Auf andern Eierkisten,
+auch wenn es Särge sind, hat die Wache zwei Heizer oder wenigstens
+einundeinenhalben. Aber ich denke doch, du weißt jetzt schon,
+wo du bist, mein Seemannsengelchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich engele nicht. Da kannst du Zinnober drauf schlucken.“
+</p>
+
+<p>
+„Willst du achtern kanten? Glückt nicht. Wirst du schon noch lernen.
+Setz dich nur lieber gleich richtig in die Wolle und such dir das Boot
+aus, mit dem du klippen willst. Der Koch hier ist der Großvater. Der
+erzählt dir was, wenn du mit ihm angewärmt bist. Der Hund hat zwei
+Westen in seiner Bunk liegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben wir denn keine Westen?“ fragte ich erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht mal ein Ring ist da. Vier Dekorationsringe mit Goldbronze. Aber
+ich rate dir, nimm keinen davon. Wenn du da den Kopf durchsteckst,
+nimm lieber einen Mühlstein. Mit dem Mühlstein hast du vielleicht noch
+Hoffnung, mit den Dekorationswürsten nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie kann der Hund denn das machen? Da muß doch in jeder Bunk
+eine Weste sein. Ich bin das so gewöhnt, daß ich das gar nicht beachtet
+habe, daß keine da ist.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw lachte und sagte: „Du hast so eine Kanne noch nicht gefahren.
+Darum. Yorikke ist meine vierte Leichenkanne. Die sind ja jetzt zum
+Aussuchen.“
+</p>
+
+<p>
+„He–ho, Lawski!“ schrie sein Heizer den Aschenschacht hinauf.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist los, Heizer?“ fragte Stanislaw runter.
+</p>
+
+<p>
+„Zieht ihr denn heute keine Asche, oder was ist los?“ blökte der Heizer
+rauf. Es war Martin.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich ziehen wir. Aber ich muß doch den Neuen anlernen. Der
+kennt doch die Wintsche nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann mach zu und komm runter. Mir ist ein Rost raus.“ Der Heizer
+schrie es rauf.
+</p>
+
+<p>
+„Erst muß die Asche gezogen werden. Der Rost hat Zeit. Ich muß den
+Neuen anlernen“, schrie Stanislaw wieder runter.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+„Nein, was Leichenkannen anbetrifft – wie heißt du denn eigentlich,
+Neuer?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Pippip.“
+</p>
+
+<p>
+„Hübscher Name. Bist du Türke?“
+</p>
+
+<p>
+„Ägypter.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut. Ägypter hat gefehlt. Wir haben hier alle Nationen auf
+der Kanne.“
+</p>
+
+<p>
+„Alle? Auch Yanks?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, du schläfst noch. Die beiden einzigen, die nie auf einer
+Leichenkanne fahren, das sind Yanks und Kommse.“
+</p>
+
+<p>
+„Kommse?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach tu doch nicht so unschuldig, du Schaf. Bolsches. Kommunisten.
+Yanks kommen nicht, weil die in dem Dreck den ersten Tag verrecken
+würden, und weil denen auch immer von ihren Konsuln geholfen wird.
+Der winkt ihnen schon die Weisheit über die Eimer.“
+</p>
+
+<p>
+„Und die Komms?“
+</p>
+
+<p>
+„Die sind zu schlau, die riechen, was los ist, wenn sie nur den Mastknopf
+sehen. Kannst dich drauf verlassen. Die sind gekocht. Wo ein
+richtiger Komms drauf ist, kann keine Versicherung fahren. Die beerdigen
+dir jede Versicherungspolice, und wenn sie noch so fein gezuckert
+ist. Die haben dir Riecher, da können wir alle nicht mit. Und
+die haben auch immer gleich die schönste Sauerei mit der Inspektion.
+Aber nun kann ich dir auch erzählen, wenn da ein gesunder Eimer ist,
+wo nicht nur Yanks drauf sind, sondern Yanks, die Komms sind, Mann,
+das ist Honig. Das ist –. Ich kann es dir ja sagen, ich fahre überhaupt
+nur, um mal auf einen solchen Eimer zu kommen. Da gehe ich nie wieder
+runter. Da mache ich sogar den Nauke. Mir ganz egal. Wenn du mal
+einen Eimer sehen solltest, der von New Orleans ist oder da herum. Das
+ist eine Sache.“
+</p>
+
+<p>
+„So ein Schiff habe ich noch nicht gesehen“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Kommst du auch nicht drauf, und wenn du hundert Jahre alt wirst und
+alles ausgestiegen ist. Du nicht. Ein Ägypter überhaupt nicht, und wenn
+er einen Paß hat wie Zucker. Jetzt ist es für mich auch vorbei. Wer die
+Yorikke gefahren hat, kommt nie wieder auf einen gesunden Eimer.
+Jetzt wollen wir mal dran gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hängt er drin?“ schrie Stanislaw in den Schacht.
+</p>
+
+<p>
+„Hiev up!“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw schaltete den Hebel ein, und die Aschkanne rasselte rauf. Als
+sie in Reichhöhe war, warf er den Hebel wieder herum. Die Kanne
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+ruckte noch mal rauf und noch mal runter und hing dann in der
+Schachtluke.
+</p>
+
+<p>
+„Nun hängst du die Kanne aus und trägst sie zur Schanze und schüttest
+sie aus. Da gib aber gut Achtung, daß dir die Kanne nicht mit über
+Stag geht. Dann sitzt du da. Dann können wir mit einer arbeiten, und
+wir können zwei Stunden früher aufstehen. Daß du’s weißt.“
+</p>
+
+<p>
+Die Kanne war glühend heiß, und obenauf lagen die rotglühenden
+Schlacken. Ich konnte sie kaum anfassen, aber es mußte sein. Und
+schwer war die Kanne. Sicher ihre fünfzig Kilo. Nun hatte ich die
+Kanne vor der Brust quer über das vier Meter breite Gangdeck zu
+schleppen und in den Holzschacht zu schütten, durch den die Asche ins
+Meer fiel und dort zischend verschwand. Dann trug ich die Kanne
+zurück, und ich hängte sie wieder in die Hievketten.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch ganz klar, warum die Westen gegangen sind. Ich bin
+sicher, der Skipper hat sie verkauft, um nebenbei was zu machen“, sagte
+Stanislaw. „Aber des Verkaufens wegen war es nicht. Siehst du, wenn
+keine Westen da sind, kommen auch keine Zeugen vor das Seemannsgericht.
+Verstehst du jetzt den Zimt? Auf Zeugen kann man sich
+schlecht verlassen. Manchmal haben sie doch was gesehen oder gemerkt,
+und die Versicherung ist ja auch immer gleich dahinterher und schnappt
+sich die Leute. Die Boote mußt du dir mal bei Tage betrachten – wie
+war doch gleich dein Name? Ja, also die Boote mußt du dir mal bei Tage
+betrachten, Pippip. Da kannst du deine Stiefel durchschmeißen. Aber
+glatt. Noch weniger Zeugen.“
+</p>
+
+<p>
+„Na rede keinen Seetang, hä?“ sagte ich zur Antwort. „Der Skipper
+will doch auch runter.“
+</p>
+
+<p>
+„Sorge dich nur nicht um den Skipper. Denk zuerst an deine Haut. Der
+Skipper kommt schon runter. Wenn du alles so gut weißt, wie das, dann
+fehlt dir nichts mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist doch aber auch schon von drei Leichenkannen runtergekommen
+oder etwa nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Auf zweien bin ich richtig ausgestiegen und habe den letzten Hafen
+nicht im Stich gelassen. Und beim dritten – aber du Esel, Glück mußt
+du eben auch haben. Wenn du kein Glück hast, dann bleibe nur überhaupt
+vom Wasser weg, sonst fällst du in die Waschschüssel und kommst
+nicht mehr hoch.“
+</p>
+
+<p>
+„Lawski! Mensch! Was ist denn los da oben?“ schrie nun wieder der
+Heizer rauf.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+„Die Ketten haben sich ausgehakt, verflucht nochmal“, blökte Stanislaw
+runter.
+</p>
+
+<p>
+„Das gibt heute eine lange Asche, wenn ihr so weiter macht“, kam wieder
+die Stimme aus der Tiefe.
+</p>
+
+<p>
+„So, nun probiere mal die Wintsche, aber sei vorsichtig, die haut wie das
+Donnerwetter. Die haut dir glatt den Schädel ab, wenn du nicht alle
+Gedanken beieinander hast.“
+</p>
+
+<p>
+Die schwere Kanne kam rauf und sauste oben gegen den Deckel, daß ich
+glaubte, sie würde den ganzen Schacht in Trümmer schlagen, aber ehe
+ich den Hebel herum hatte, setzte die Wintsche von selbst mit der Konterwirkung
+ein, und der Eimer raste wieder den Schacht hinunter. Er
+schlug unten mit einem fürchterlichen Getöse auf, die Schlacken spritzten
+herum, der Heizer schrie wie verrückt, und im selben Augenblick
+setzte abermals die Konterwirkung ein, und die Kanne, jetzt halb leer,
+raste wie wahnsinnig ein zweitesmal gegen die Deckung des Schachtes,
+schlug herum mit donnerndem Krachen, und mit einem entsetzlichen Geprassel
+fielen die Schlacken den Schacht hinunter, beim Fallen gegen die
+Eisenwände des Schachtes schlagend und das Getöse und Geratter so
+vermehrend, daß man glauben konnte, das ganze Schiff splittert auseinander.
+Die Kanne war schon wieder am Heruntersausen, als Stanislaw
+jetzt eingriff und den Hebel packte. Sofort stand die Kanne so brav
+da, als ob sie ein totes Geschöpf sei.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte Stanislaw, „so einfach ist das nicht. Das muß gelernt sein.
+Da brauchst du zwei Wochen, bis du den Dreh heraus hast. Geh besser
+runter und schippe ein, dann werde ich die Wintsche bedienen. Ich zeige
+es dir morgen mittag, bei Tage, da kriegst du das dann schon besser.
+Wenn die Wintsche in die Wicken gehauen wird, dann können wir die
+Asche mit der Hand hieven. Und das wünsche ich dir nicht und uns
+nicht. Dann laufen wir nicht mehr, dann kriechen wir nicht mehr, dann
+rollen wir nur noch von einem Platz zum andern.“
+</p>
+
+<p>
+„Laß es mich noch mal versuchen, Lawski. Ich will mal gnädige Frau
+zu ihr sagen. Vielleicht tut sie es dann.“
+</p>
+
+<p>
+Dann rief ich runter: „Hopp an.“
+</p>
+
+<p>
+„Hiev up!“ kam der Schrei.
+</p>
+
+<p>
+„Na, Frau Gräfin, wollen wir jetzt?“
+</p>
+
+<p>
+Der Prophet weiß, sie tat es, sie tat es so sanft, so zart. Sie stand auf
+den Millimeter. Ich glaube, daß ich Yorikke besser kannte als ihr
+Skipper oder der Großvater. Die Wintsche gehörte zu jenen Teilen des
+Schiffes, die schon in der Arche Noah mitgewirkt hatten und noch aus
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+der Zeit vor der Sintflut stammten. In dieser Dampfwintsche waren alle
+Geister und Geisterchen zusammen, die in den übrigen Ecken und Winkeln
+der Yorikke nicht mehr Platz fanden, weil ihre Zahl zu groß war.
+Darum auch hatte die Wintsche ihre Persönlichkeit, die respektiert werden
+wollte. Stanislaw erwarb sich den Respekt durch eine langgeübte
+Hand, ich mußte es durch Worte machen.
+</p>
+
+<p>
+„Euer königliche Gnaden, noch mal, bitte.“
+</p>
+
+<p>
+Sieh da, abermals glitt die Aschkanne wie mit Sammetpfötchen gestreichelt.
+Aber freilich, oft genug noch, spielte sie toll und machte Splittereffekte,
+jedoch nur, wenn ich vergaß, sie mit Höflichkeit zu behandeln.
+Es waren manchmal recht ergötzliche Fangversuche, die ich anzustellen
+hatte, um den rauf- und runterrasenden Behälter zu schnappen. Bald
+sauste er oben durch, bald raste er runter und gleich wieder hoch. Wenn
+der Hebel nicht genau, aber haargenau gehalten wurde, schlug der
+Konterhub ein.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw war runtergegangen und schippte und rief die „Hiev-ups“
+aus. Und ich hängte meine Kannen aus und ein, schleppte sie glühend
+heiß, wie sie waren, über das Gangdeck und schüttete sie in den Aschenschacht.
+</p>
+
+<p>
+Als fünfzig Kannen gehievt waren, schrie Stanislaw, daß wir den Rest
+lassen wollten für die nächste Wache, weil es zu spät sei. Ich dachte, daß
+ich nun zusammenbrechen würde, von diesem atemlosen Schleppen der
+unglaublich schweren Kannen. Aber ehe ich Zeit hatte, umzuklappen,
+schrie Stanislaw herauf: „He, mach voran, zwanzig vor zwölf.“
+</p>
+
+<p>
+Ich schleppte mich zum Quartier. Das Deck war nicht erleuchtet, um das
+Petroleum zu sparen; und ich schlug mir viermal die Schienenbeine auf,
+ehe ich bis zum Forecastle kam. Was da alles auf dem Deck herumlag,
+läßt sich nur dadurch näher beschreiben, daß ich sage: „Da lag alles auf
+dem Deck herum.“ Alles, was die Erde hervorbringt, je hervorgebracht
+hat. Unter diesem alles lag sogar ein schwerbesoffener Schiffszimmermann,
+der der Zimmermann der Yorikke war; sich in jedem Hafen sinnlos
+besoff und den ersten Tag auf Fahrt nicht einmal als Besenstiel gebraucht
+werden konnte. Der Skipper war nur froh, wenn ihm nicht
+jedesmal die A. B.s dabei Gesellschaft leisteten und wenigstens einer
+der A. B.s noch genug Leben zurückbehalten hatte, um am Ruder zu
+stehen. Der Zimmermann, die drei A. B.s und noch ein paar andre
+hätten ruhig Westen bekommen dürfen. Sie hätten keine Versicherung
+vermanscht, anders, sie hätten die wackligste Versicherung gerettet,
+ohne zu wissen, was man von ihnen wollte. Sie hatten auch die meiste
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+Aussicht, mit in Boot eins zu kommen, das der Skipper brauchte, um
+das wohlgepflegte Journal zu retten und die Lizenz zu behalten mit
+Auszeichnung für Pflichteifer trotz Lebensgefahr.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte jetzt die Kaffeekanne zu nehmen, damit zur Galley zu gehen,
+wo der Kaffee auf dem Kochherd stand, und sie zu füllen. Dann hatte
+ich den Weg zum drittenmal zu machen, über das Verdeck, wo kein
+Licht brannte. Meine Schienbeine bluteten fürchterlich. Aber da war
+keine Handapotheke an Bord, und wenn wirklich der Erste Offizier
+irgendwo etwas versteckt hielt für erste Hilfe, wegen solcher Kleinigkeiten
+durfte man ihm nicht kommen.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt bearbeitete ich meinen Heizer, um ihn hochzukriegen. Er wollte
+mich ermorden, daß ich es wagte, ihn schon zu wecken. Und als die
+Glocke ausrief und er den heißen Kaffee noch nicht hatte schlucken
+können, wollte er mich ein zweites Mal ermorden, weil ich ihn zu spät
+geweckt hatte. Sich zu streiten, ist Kraftvergeudung. Nur Narren streiten
+sich. Sag’ deine Meinung, wenn du überhaupt eine hast, was selten genug
+der Fall ist, und dann halt’s Maul und laß den andern reden, bis
+ihm das Maul aus den Angeln fällt. Sage immer ja zu der Meinung des
+andern, und wenn er dann fertig ist und nicht mehr japsen kann und
+dich fragt: „Na, habe ich nicht recht?“ dann erinnere ihn so nebenbei
+daran, daß du ihm deine Meinung ja schon längst gesagt hättest, daß
+er aber im übrigen durchaus recht habe. Eine Woche lang Heizer der
+Rattenwache wecken, macht jemand auf Jahre hinaus unfähig, Politik
+zu begreifen.
+</p>
+
+<p>
+Der Kaffee war heiß, schwarz und bitter. Kein Zucker, keine Milch. Brot
+war vorhanden, aber man mußte es trocken essen, weil die Margarine
+stank. Der Heizer kam zum Tisch, fiel auf die Bank, richtete sich hoch,
+und während er die Kaffeetasse an den Mund führen wollte, fiel sein
+Kopf herunter und schlug auf die Tasse, daß sie umkippte. Er schlief
+schon wieder und tastete träumerisch nach dem Brot, um sich ein Stück
+abzureißen, weil er das Messer nicht halten konnte vor Müdigkeit. Jede
+seiner Bewegungen wurde vom ganzen Körper ausgeführt, nicht nur
+mit den Händen, den Armen, den Fingern, den Lippen oder dem Kopfe.
+Die Glocke rief aus, er bekam einen Wutanfall, des Kaffees wegen, und
+sagte: „Geh’ runter, ich komme gleich. Kümmere dich um Schlackenwasser.“
+</p>
+
+<p>
+Als ich an der Galley vorbeikam, sah ich Stanislaw im Dunkeln da
+herumwirtschaften. Er versuchte, Seife zu stehlen, die der Koch vielleicht
+irgendwie versteckt haben mochte. Der Koch stahl die Seife vom
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Steward, und der Steward stahl die Seife aus dem Koffer des Skippers.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Zeig mir doch mal den Weg runter in die Stokehold, in den Kesselraum,
+Lawski“, sagte ich zu ihm.
+</p>
+
+<p>
+Er kam raus, und wir hatten auf eine höhere Etage zu klimmen, die das
+Halbdeck vom Mittschiff war. Er zeigte mir einen schwarzen Schacht.
+„Da gehen die Leitern runter. Du kannst nicht fehlgehen“, sagte er und
+ging wieder zurück zur Galley.
+</p>
+
+<p>
+Aus der tiefschwarzen und doch so glänzend klaren Meeresnacht blickte
+ich hinunter in den Schacht. In einer unendlich erscheinenden Tiefe sah
+ich eine flackernde, dunstige, rauchige Helle. Diese Helle war rötlich von
+dem Widerschein der Kesselfeuer. Mir war, als sähe ich in die Unterwelt.
+In diesen rötlichen, dunstigen Schein trat jetzt eine nackte menschliche
+Gestalt, verrußt und mit glitzernden Streifen rieselnden Schweißes.
+Die Gestalt stand da, die Arme verschränkt und starrte bewegungslos
+auf die Quelle des rötlichen Scheines. Dann bewegte sich die Gestalt,
+ergriff ein langes schweres Schüreisen und stellte es an die Rückwand,
+nachdem sie unschlüssig damit herumgewirtschaftet hatte. Die Gestalt
+ging jetzt vor, bückte sich, und einen Augenblick darauf war es, als sei
+sie von Flammen umlodert. Dann reckte sich die Gestalt hoch, die
+Flammen waren verlöscht und übrig blieb nur der gespenstische rötliche
+Schein.
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte die Leiter hinuntergehen. Als ich aber einen Fuß auf die
+oberste Sprosse gesetzt hatte, schlug mir eine entsetzliche Säule von
+Hitze, erstickendem Ölgestank, Kohlenstaub, Flugasche, dickem Petroleumqualm
+und Wasserdampf entgegen. Ich fiel zurück, und mit einem
+lauten Japser schnappte ich nach frischer Luft, weil ich glaubte, meine
+Lungen könnten nicht mehr arbeiten.
+</p>
+
+<p>
+Aber es half nichts. Ich mußte da hinunter. Da war ein Mann unten. Ein
+lebender Mensch, der sich bewegen kann. Und wo ein andrer Mensch
+sein kann, da kann auch ich sein. Ich kletterte rasch fünf oder sechs
+Sprossen, dann aber ging es nicht mehr. Mit einem Rasen sauste ich
+wieder hoch, um Luft zu bekommen.
+</p>
+
+<p>
+Die Leiter war aus Eisen, die Sprossen aus fingerdickem Rundeisen.
+Nur an der einen Seite war ein Geländer, die andre Seite, die äußere
+Seite, war ohne Geländer, also just die Seite war offen, wo man in den
+Schacht abstürzen konnte, während die Seite, die an der Wand der
+Maschinenhalle war, mit einem Geländer gesichert war.
+</p>
+
+<p>
+Als ich meine Lungen wieder aufgefüllt hatte, machte ich den dritten
+Versuch, und ich kam auf eine Plattform. Drei Schritte über die Plattform,
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+die nur einen halben Schritt breit war, führten zum Ende der
+Platte, wo eine zweite Leiter tiefer in den Schacht ging. Diese drei
+Schritte konnte ich aber nicht machen. In Gesichtshöhe war hier die
+Aschenhievwintsche, und das Dampfrohr der Wintsche hatte einen
+langen, aber ganz dünnen Riß. Durch diesen Riß zischte ein brühend
+heißer Wasserdampf, scharf und schneidend wie eine Stichflamme. Der
+Riß lag so, daß selbst, wenn man sich bückte, man diesem schneidenden
+Dampfstrahl nicht ausweichen konnte. Ich versuchte, mich hochzurecken,
+aber dann wurden die Arme und die Brust angefressen und verbrüht.
+Inzwischen mußte ich hoch, um Luft zu schöpfen.
+</p>
+
+<p>
+Ich war auf falschem Wege. Das war nicht der meine. Ich ging wieder
+zur Galley, wo Stanislaw immer noch nach Seife suchte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe mit dir runter, komm los“, sagte er bereitwillig.
+</p>
+
+<p>
+Als wir auf dem Wege waren, sagte er: „Du bist doch nie Kesselbums
+gewesen, nicht wahr? Habe ich doch gleich gesehen. Zu einer Wintsche
+sagt man doch nicht guten Tag, der haut man eins auf den Schädel und
+fertig.“
+</p>
+
+<p>
+Ich war nicht in der Laune, ihm jetzt zu erzählen, wie man mit Dingen
+umzugehen hat, die eine Seele haben.
+</p>
+
+<p>
+„Recht hast du, Lawski, bin nie beim Kessel gewesen, habe noch nie da
+überhaupt reingeguckt. War Deckarbeiter, Steward, Kabinenjunge, seit
+ich meinen ersten Eimer gesehen habe. Nie schwarzen Gang gerochen,
+war mir immer zu stickig. Sag’, willst du mir nicht für die erste Wache
+eine Krume zur Hand gehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Rede nicht lange. Freilich. Komm nur voran. Wir werden die Kohlsuppe
+schon kochen. Kenne deine Sorgen. Dein erster Leichenwagen. Ich
+kenne die Särge, kannst mir glauben. Aber manchmal dankst du Himmel
+und Hölle, daß dir eine Yorikke quer vor’n Bug kommt, und du hoppst
+drauf mit einem Wonnegefühl, als ob – ja, hab’ nur keine Bange. Wenn
+was krumm geht, ruf mich nur. Ich zieh dich schon raus aus dem Dreck.
+Wenn wir auch alle miteinander Tote sind, nur nicht verzagen. Schlimmer
+kann es nicht kommen.“
+</p>
+
+<p>
+Es kam aber schlimmer. Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein
+Toter sein, ein Toter zwischen Toten. Ausgelöscht kann man sein aus der
+Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und
+kann dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen
+man nicht entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer
+Weg zur Flucht offen gelassen ist.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-8">
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+29
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> sah Stanislaw zu dem Schacht gehen, den ich soeben verlassen
+hatte, weil ich glaubte, ich hätte mich im Wege geirrt.
+Er kletterte die Leiter ohne zu zögern hinunter, und ich folgte
+ihm. Als wir am Ende der ersten Leiter waren und auf die
+Platte kamen, die unter dem heißen Dampfstrahl lag, sagte
+ich: „Da können wir nicht durch. Da wird uns die Haut bis
+auf die Knochen abgeledert.“
+</p>
+
+<p>
+„Meist gibt es was ab. Ich kann dir morgen meine Arme
+zeigen. Aber wir müssen durch“, sagte Stanislaw. „Hilft uns nichts.
+Kein andrer Weg zu den Kesseln für uns. Die Ingenieure lassen uns
+nicht durch die Maschinenhalle gehen, wir sind zu dreckig, und es ist
+gegen die Vorschrift.“
+</p>
+
+<p>
+Während er das noch sagte, sah ich, wie er plötzlich seine Arme um den
+Kopf schlug, sich so Gesicht, Ohren und Nacken schützend. Nun drehte,
+quetschte und reckte er sich zwischen die glühend heißen Dampfrohre,
+wo die Schutzpackungen längst abgefault und abgerissen waren, und
+der glühend heißen Kesselwand hindurch wie eine geölte Zitterschnecke.
+Das konnte ihm kein Schlangenmensch nachmachen, dachte ich, als ich
+das sah. Aber ich erfuhr nun, daß der ganze Kesselbums das so zu
+machen hatte, und ich verstand auch mit einemmal, warum es auf der
+Yorikke so viele Dinge zu essen gab, die kein Mensch essen konnte und
+die über Bord flankiert wurden. Das Flankieren durfte der Koch nicht
+sehen, dann gab es einen Mordskrach, weil alle Salzschwarten und alles
+Ungenießbare, das nicht in den Magen hineinwollte, weil der Magen
+sich sträubte, in die Küche zurückgebracht werden mußte, damit daraus
+Irish Stew, Frikandellen, Gulasch, Haschee und ähnliche Delikatessen
+gemacht werden konnten.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du nun gesehen, Sohn, wie das gemacht wird? Besinne dich nicht
+lange. Wenn du dich erst besinnst und dir das anguckst und darüber
+nachdenkst, daß du an der einen Seite verbrüht werden magst und an
+der andern Seite hinuntersausen kannst in den Schacht, dann geht’s gar
+nicht. Arme um den Kopf, sieh so – und dann Schlange gemacht. Kann
+dir eines Tages von Nutzen sein, wenn du andern Leuten zu tief in die
+Taschen gelinst hast und man dir eiserne Vorhänge an die Fenster gehängt
+hat. Bin ich auch schon durchgekommen. Immer gut, wenn man in
+der Übung bleibt, du weißt nie, wie du es gebrauchen kannst. Hopp an.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Schwupp! da war ich durch. Ich fühlte Heißes an meinen Armen, aber
+das war sicher nur Einbildung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+Am andern Ende der Platte ging eine lange eiserne Leiter weiter hinunter,
+zu den Grundmauern der Unterwelt. Diese zweite Leiter war so
+heiß, daß mein Taschentuch, das ich bisher benutzt hatte, wertlos wurde.
+Ich mußte mich mit den gebogenen Ellbogen in das Geländer hängen,
+um Halt an der Leiter zu greifen. Je tiefer ich kam, desto dicker wurde
+die Luft, desto heißer, qualmiger, öliger und unerträglicher. Die Hölle,
+die ich nun endlich nach meinem Tode erreicht hatte, konnte das nicht
+sein. In der Hölle hatten ja auch die Teufel zu leben, hier aber konnten
+keine Teufel leben, das war undenkbar.
+</p>
+
+<p>
+Doch da stand ein Mensch, ein nackter, schwitzender Mensch, der Heizer
+der Vorwache. Menschen konnten hier auch nicht leben. Aber sie mußten.
+Sie waren Tote. Ausgelöschte. Landlose. Paßlose. Heimatlose. Die
+mußten, ob sie konnten oder nicht. Teufel konnten hier nicht leben, denn
+ein Rest von Kultur ist selbst den Teufeln gelassen, das weiß Goethe.
+Aber Menschen mußten hier nicht nur leben, sie mußten hier arbeiten,
+und sie mußten hier so schwer arbeiten, daß sie alles vergaßen, zuletzt
+sogar, nachdem sie lange vorher sich selbst vergessen hatten, sogar vergaßen,
+daß hier zu arbeiten unmöglich sei.
+</p>
+
+<p>
+Mir ist oft, ehe ich gestorben wurde, und ehe ich zu den Toten kam, unverständlich
+gewesen, wie Sklaverei möglich sein kann, wie Militärdienst
+möglich sein kann, wie es möglich ist, daß Menschen, gesunde und vernünftige
+Menschen, sich ohne Protest vor Kanonen und Kartätschen
+jagen lassen, daß Menschen nicht tausendmal lieber Selbstmord begehen,
+als Sklaverei, Militärdienst, Galeerenketten und Peitschenhiebe
+zu ertragen. Seit ich bei den Toten war, seit ich selbst ein Toter bin, seit
+ich ein Totenschiff fuhr, ist auch dieses Geheimnis für mich gelöst, wie
+sich ja alle Geheimnisse erst nach dem Tode offenbaren. So tief kann
+kein Mensch sinken, als daß er nicht immer noch tiefer sinken könnte,
+so Schweres kann kein Mensch erdulden, als daß er nicht noch Schwereres
+ertragen könnte. Hier ist es, wo der Geist des Menschen, der ihn über
+das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier erniedrigt. Ich habe Packzüge
+von Kamelen, von Lamas, von Eseln und von Maultieren getrieben. Ich
+habe Dutzende unter diesen Tieren gesehen, die sich hinlegten, wenn
+sie nur mit einem Kilogramm überladen waren, die sich hinlegten, wenn
+sie sich schlecht behandelt glaubten, und die sich klaglos hätten zu Tode
+peitschen lassen – und auch das habe ich gesehen – als aufzustehen,
+die Last zu übernehmen oder die schlechte Behandlung weiter zu erdulden.
+Ich habe Esel gesehen, die zu Leuten verkauft worden waren,
+die Tiere schändlich peinigten, und die Esel hörten auf zu fressen und
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+starben weg. Nicht einmal Mais vermochte ihren Entschluß zu ändern.
+Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu sein,
+er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu werden, er
+liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er denken
+kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. Weil er hofft, daß es auch
+wieder besser gehen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen. Mitleid
+mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und mit Soldatenkrüppeln? Haß
+gegen Tyrannen? Nein! Nein! Nein!
+</p>
+
+<p>
+Wäre ich über die Reeling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in
+einer Hölle sein, wo es selbst die Teufel nicht aushalten können. Aber
+ich sprang nicht und habe nun kein Recht, mich zu beklagen oder gar
+andre anzuklagen. Laß den Bettler verhungern, wenn du den Menschen
+in ihm achtest. Ich habe kein Recht, mein trauriges Schicksal zu beklagen.
+Warum sprang ich nicht? Warum springe ich jetzt nicht? Warum
+lasse ich mich peitschen und martern? Weil ich hoffe, ins Leben zurückkehren
+zu können. Weil ich hoffe, New Orleans wiederzusehen. Weil ich
+hoffe, und weil ich lieber durch die Schiet schwimme, als meine gehätschelte
+und getätschelte Hoffnung in die Schiet zu werfen.
+</p>
+
+<p>
+Imperator, du wirst niemals um Gladiatoren verlegen sein; die schönsten
+und stolzesten Männer werden dich anflehen: „O angebeteter, o bewunderungswürdiger
+Imperator, laß mich dein Gladiator sein!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-9">
+30
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">atürlich</span> kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja
+auch andre. Das sehe ich ja mit eignen Augen. Was
+ein andrer kann, das kann ich auch. Der Nachahmungstrieb
+des Menschen macht Helden und macht
+Sklaven. Wenn der nicht an den Peitschenhieben
+stirbt, dann werde ich sie wohl auch überleben
+können. „Siehst du, der da, der geht direkt drauf
+los auf das Maschinengewehrfeuer, Donnerwetter
+nochmal, das ist ein Kerl, verflucht nochmal, vor dem muß man Achtung
+haben, das ist ein Kerl, der hat Mumm in den Knochen.“ Natürlich kann
+ich das auch. So geht der Krieg voran, und so fahren die Totenschiffe,
+alles nach demselben Rezept. Die Menschen haben nur eine Schablone,
+nach der sie alles machen; das geht so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht
+anstrengen brauchen, um ein andres Rezept auszudenken. Man geht
+nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da fühlt man sich so schön sicher.
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+Der Nachahmungstrieb ist schuld daran, daß die Menschheit innerhalb
+der letzten sechstausend Jahre keine Fortschritte gemacht hat, sondern
+trotz Radio und Fliegerei in derselben Barbarei lebt wie am Anfang
+der europäischen Periode. So hat es der Vater gemacht, und so hat es der
+Sohn nachzumachen. Schluß. Was für mich, den Vater, gut genug war, wird
+für dich, du Rotznase, wohl erst recht gut genug sein. Die heilige Konstitution,
+die für George Washington und die Revolutionskämpfer gut genug
+war, ist erst recht gut genug für uns. Und die Konstitution ist gut, denn sie
+hat hundertfünfzig Jahre schon ausgehalten. Aber auch Konstitutionen,
+die einmal junges feuriges Blut in den Adern hatten, bekommen mit der
+Zeit Adernverkalkung. Die beste Religion ist eines Tages heidnischer
+Aberglaube, und keine Religion macht hiervon eine Ausnahme. Allein
+das, was anders gemacht wurde, als bisher, allein das, was unter Protest
+der Väter und Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde,
+hat der Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben
+gegeben, daß eines fernen Tages doch ein Fortschreiten wird beobachtet
+werden können. Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, wenn die Menschen
+nicht mehr an Institutionen glauben und nicht an Autoritäten ...
+</p>
+
+<p>
+„Was stehst du denn rum? Wie heißt du überhaupt, Schlepp?“
+</p>
+
+<p>
+Mein Heizer war runter gekommen und brummte übelgelaunt herum.
+</p>
+
+<p>
+„Pippip ist mein Name.“
+</p>
+
+<p>
+Das schien seine Laune ein wenig zu verbessern.
+</p>
+
+<p>
+„Dann bist du wohl ein Perser?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin Abessinier. Meine Mutter war Parse. Die werfen ihre
+Leichen den Geiern vor.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir den Fischen. Da scheint deine Mutter eine ganz anständige Frau
+gewesen zu sein. Meine war eine alte verfluchte Hure. Aber wenn du
+Hurensohn zu mir sagst, dann gibt es eins in die Fresse.“
+</p>
+
+<p>
+Also er war Spanier. Wenn die drei Worte sprechen, dann sind zwei
+davon „Hurensohn“. Es kommt auf den Grad der Freundschaft an, ob
+man zu jemand sagen darf, daß seine Mutter eine Groschenhure war.
+Je näher man dabei der Wahrheit kommt, desto mehr Aussicht hat man,
+sich plötzlich ein Messer aus den Rippen ziehen zu können. Je weiter
+man von der Wahrheit entfernt ist, desto früher hört man die Antwort:
+„Muchas gracias, Senjor, vielen Dank, bitte, genieren Sie sich nicht,
+stets zu Ihren Diensten.“ Niemand hat ein so zartes und so albernes
+Ehrgefühl wie der dreckigste Prolet. Und wenn die dreckigen Proleten
+eines Tages das Ehrgefühl dort haben werden, wo es wirklich hingehört,
+dann sind sie die Lacher. Heute haben sie ihr Ehrgefühl da, wo es
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+die andern bei ihnen gerne sehen, weil sich dann so gut damit spielen
+läßt, zum Vorteil der andern. Was brauchst du Ehre, Prolet? Lohn
+brauchst du, guten Lohn, dann kommt die Ehre von selbst. Und wenn
+du auch noch die Fabrik hast, dann kannst du die Ehre ruhig den andern
+dauernd überlassen; dann erst wirst du erfahren, wie wenig sich die
+draus machen ...
+</p>
+
+<p>
+Der Heizer der Vorwache zog jetzt einen glühenden dicken Bolzen aus
+dem Feuer und steckte ihn in einen Eimer mit Frischwasser. In Seewasser
+kann man sich ja nicht waschen, das ist kaum gut genug zum
+Schlackenkühlen. Dann begann er sich zu waschen mit Sand und Asche,
+weil er ja keine Seife hatte.
+</p>
+
+<p>
+Der Kesselraum war durch zwei Lampen erhellt. Eine dieser beiden
+Lampen hing vor dem Dampfmeter, damit der Dampfdruck gelesen
+und von dem Heizer geregelt werden konnte. Die andre Lampe hing in
+einer Ecke und wartete auf den Schlepp. In dieser Welt der Toten wußte
+man nichts von einer Erde, wußte man nichts davon, daß es Azetylenlampen,
+Kunstgaslampen, Gasolinlaternen, Spirituslaternen gab, gar
+nicht zu reden von Elektrizität, die sich durch Ankoppelung einer
+Dynamo leicht hätte erzeugen lassen. Aber jeder Cent, ausgegeben für
+die Yorikke, war verschwendetes Geld. Die Fische mit Geld zu füttern,
+wäre närrisch, sie sollen zufrieden sein mit der Mannschaft. Diese
+Lampen hier waren bei den Ausgrabungen des alten Karthago gefunden
+worden.
+</p>
+
+<p>
+Wer die Form dieser Lampen kennen lernen will, gehe in ein Museum,
+sehe sich die römische Abteilung an, wo er unter den Töpferwaren
+auch diese Lampen, die wir hatten, finden wird. Es war ein Gefäß
+mit einer Tülle. In der Tülle steckte ein Ballen Putzwolle. Das
+Gefäß wurde gefüllt mit jener Flüssigkeit, die auch für die Jungfrauenlampe
+im Quartier zu dienen hatte, und die den auf Irrwege
+führenden Namen Petroleum trug. Viermal in einer Stunde mußte die
+Putzwolle weiter herausgezerrt werden, weil sie kohlte und den Kesselraum
+mit einem undurchsichtigen dicken schwarzen Rauch erfüllte, in
+dem die Rußflocken so dicht flogen wie Heuschrecken in Argentinien
+während einer Plage. Die Putzwolle mußte man mit den bloßen Fingerspitzen
+herauspulen, deshalb hatte man nach der ersten Wache abgeschmorte
+Fingernägel und angeschmorte Fingerspitzen. Wenn man mit
+seiner Lampe in den Kohlenbunkern saß, konnte man nicht die Lampe
+erst ausmachen, weil man ja sonst in den Kesselraum runter gemußt
+hätte, um sie wieder anzustecken.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+Stanislaw hatte heute bereits eine Doppelwache gerissen. Was das bedeutet,
+wird noch klar werden. Trotzdem er kaum noch kriechen konnte,
+blieb er doch mit mir noch eine volle Stunde im Kesselraum, um mir beizustehen.
+</p>
+
+<p>
+Neun Feuer mußten von dem Heizer bedient werden. Und um diese
+neun Feuer zu füttern, hatte der Schlepp die Kohle heranzuschaffen.
+Ehe aber mit dem Heranschaffen der Kohle begonnen werden konnte,
+waren andre Arbeiten zu verrichten. Da die Feuer selbst auf diese
+Arbeiten keine Rücksicht nahmen und sie jede Vernachlässigung sofort
+am Meter herausbrüllten oder gar auf der Brücke herausheulten, so
+mußte ein erheblicher Vorrat von Kohle im Kesselraum angeschichtet
+sein, der für diese Zeit der Nebenarbeiten langte. Diesen großen Vorrat
+mußte die abzulösende Wache für die neuantretende Wache hinterlassen,
+und diese neue Wache hatte, wenn sie abgelöst wurde, einen
+gleichen Vorrat der nächsten zu übergeben. Dieser Vorrat konnte nur
+geschaffen werden durch eine unmenschlich erscheinende Kraftanstrengung
+in der Zeit der beiden mittleren Stunden einer Wache, also bei
+meiner Wache von eins bis drei. Von zwölf bis eins kamen die Vorarbeiten
+und um drei begann das Aschehieven mit dem Schlepp der
+neuen Wache. In zwei Stunden also mußte alle die Kohle herbeigeschafft
+werden, die neun Feuer eines in voller Fahrt befindlichen Dampfers in
+vier Stunden verschlingen. Liegt die Kohle in den Bunkern in Front der
+Feuer, so ist das Heranschaffen der Kohle die kräftige Arbeitsleistung
+eines gesunden, starken und gutgenährten Arbeiters. Liegt die Kohle
+aber da, wo sie meist auf der Yorikke lag, so ist es die Arbeit von drei
+oder vier starken Männern. Hier hatte diese Arbeit einer zu tun. Und
+er tut sie. Er ist ja ein Toter. Der kann alles. Und niemand versteht
+besser anzutreiben, niemand versteht höhnischer zu sagen: „Schlapper
+Hund! Solltest mich mal sehen!“ als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet,
+als der Mit-Hungernde, als der Mit-Gepeitschte. Auch die Galeerensklaven
+haben ihren Stolz und ihr Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute
+Galeerensklaven zu sein und „nun einmal zu zeigen“, was sie können.
+Wenn das Auge des Auspeitschers, der mit der Peitsche die Reihen entlanggeht,
+wohlgefällig auf ihm ruht, so ist er beglückt, als hätte ihm ein
+Kaiser persönlich einen Orden an die Brust geheftet.
+</p>
+
+<p>
+Der Heizer warf drei Feuer auf, immer zwei überschlagend. Dann brach
+er drei andre Feuer auf, die dazwischen lagen. Über jedem Feuer stand
+eine Nummer mit Kreide geschrieben, die Nummern von eins bis neun.
+Als das Aufwerfen und das Aufbrechen vorüber war, kam das Feuer
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+drei an die Reihe. Es war ziemlich niedergebrannt, und er brach mit
+einer schweren langen Eisenstange die Schlacken von den Rosten. Die
+Schlacken saßen fest. Und von dem Feuer strömte eine brüllende Hitze
+heraus. Mit jeder Schlacke mehr, die herausgebrochen und vor das
+Feuer gezerrt war, wurde die Hitze mächtiger. Denn nun lagen die
+glühenden Schlacken vor den Feuertüren im Kesselraum und erhitzten
+ihn wie einen Glutofen. Der Heizer und auch ich, wir hatten nur die
+Hosen an, nichts weiter. Der Heizer hatte an den bloßen Füßen zerlumpte
+Tuchpantinen, während ich Stiefel hatte. Ab und zu sprang der
+Heizer hoch und trampelte die glühenden Schlackenkörner von den
+Füßen, auf die sie gesprungen waren. Die Schürstange konnte nur gehalten
+werden, weil der Heizer seine Hände mit Sacklumpen umwickelt
+hatte und Leder von einem alten Koffer zwischen Hand und Eisen hielt.
+Endlich wurde die Hitze, die von den Schlacken ausströmte, so gewaltig,
+daß der Heizer fort mußte vom Feuer. Jetzt wurden die Schlacken mit
+Wasser, das ich aus einem Bottich nahm, gelöscht. Der explosionsartig
+hochgehende Wasserdampf ließ uns beide zurück an die Wand springen.
+Die Schlacken gleich einzeln zu kühlen, wenn sie herauskommen,
+geht nicht, weil während des Kühlens der Heizer nicht arbeiten kann.
+Dann dauert das Ausschlacken zu lange, das Feuer fehlt und der Dampf
+geht so weit zurück, daß eine halbe Stunde wie wahnsinnig gearbeitet
+werden muß, um den Dampf wieder hochzukriegen. Runter geht er wie
+nichts, rauf nur langsam und mit mühseliger Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Alles, was auf der Yorikke war, diente dazu, der Mannschaft Leben
+und Arbeit zu erschweren. Der Kesselraum war viel zu schmal. Er war
+viel schmäler als die Feuerungskanäle lang waren. Wenn die Schürstange
+also in die Feuerung gestoßen oder herausgezogen werden sollte,
+so mußte der Mann mit der Stange alle möglichen Wendungen und
+Drehungen verüben, um die Stange zu handhaben, weil sie immer gegen
+die Rückwand stieß. Durch diese Tänze, die der Heizer zu machen hatte,
+kam es nicht selten vor, daß er bald dort stolperte und in einen Kohlenhaufen
+fiel, bald hier. Bald stieß er sich an der Wand die Knöchel der
+Finger auf, bald an der Feuertür. Wenn er fiel und instinktiv nach
+einem Halt griff, so griff er in glühende Schlacken oder er packte die
+glühende Schürstange an. Es kam auch vor, besonders wenn das Schiff
+rollte, daß er mit dem Gesicht in die Schlacken oder auf die rotglühende
+Schürstange oder auf die Feuertür fiel oder mit den bloßen Füßen auf
+einen herausgenommenen heißen Rost oder auf heiße Schlacke trat.
+Mein Heizer glitschte einmal bei einem unerwartet schweren Roller des
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Bootes aus und fiel mit dem nackten Rücken in die weißglühende
+Schlacke, die vor dem Feuer lag. Totenschiff, yes, Sir. Totenschiffe gibt
+es, die Leichen drin machen, und Totenschiffe gibt es, die Leichen
+draußen machen, und Totenschiffe gibt es, die Leichen überall machen.
+Yorikke machte alles und alle, sie war ein gutes Totenschiff.
+</p>
+
+<p>
+War die Schlacke heraus und gelöscht, so wurde frische Nußkohle aufgeworfen.
+Diese Kohle mußte der Schlepp inzwischen aus der Haufenkohle
+herausgelesen haben, es mußte gute, nicht zu große Stückkohle
+sein, damit sie leicht anbrannte und damit das Feuer schnell wieder in
+Gang kam. Denn die Kohle, die auf der Yorikke verfeuert wurde, war
+die billigste und schlechteste Kohle, die es nur gab, sie erzeugte nur
+wenig Hitze; und das war die weitere Ursache, warum der Schlepp unglaubliche
+Riesenmengen von Kohle herbeischaffen mußte, um den
+Dampf hochzuhalten. Nun wurden die andern Feuer wieder nachgesehen,
+während ich die Schlacke nach der Mitte der Kesselwand zu
+schaufelte, wo sie nicht im Wege lag.
+</p>
+
+<p>
+Der andre Heizer hatte sich inzwischen fertig gewaschen, war aber die
+ganze Zeit über immer in Gefahr gewesen, von dem glühenden Schüreisen
+gestoßen und angeschmort zu werden oder von einer springenden
+Schlacke verbrannt zu werden. Aber das kümmerte ihn nicht sehr, er
+war tot. Man konnte es jetzt auch sehen. Gesicht und Körper waren von
+dem Waschen mit Sand und Asche ziemlich rein geworden. In die
+Augen konnte er aber nicht gut mit Sand und Asche gehen, darum hatten
+die Augen breite schwarze Ringe. Das gab dem Gesicht das Aussehen
+eines Totenschädels, um so mehr, als die Backen vor schlechter Ernährung
+und vor übermäßiger Arbeit tief eingefallen waren. Er zog sich
+seine Hose an und sein durchlöchertes Hemd und kletterte die Leiter
+hoch. Ich hatte gerade Zeit genug, einmal einen Blick nach oben zu
+werfen, als ich ihn die Schlange machen sah.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw schaffte indessen Kohle heran, damit ich wenigstens den Vorrat
+bekam. Es kamen dann die Feuer sechs und neun an die Reihe. Als
+sechs ausgeschlackt und aufgeschüttet war und die übrigen Feuer soweit
+vorbereitet waren, um auch neun ausschlacken zu können, kam
+Stanislaw und sagte zu mir: „Nun bin ich fertig. Ich kann nicht mehr.
+Es ist eins. Ich habe fünfzehn Stunden jetzt ununterbrochen gewürgt.
+Um fünf muß ich schon wieder Asche hieven. Es ist ja gut, daß du da
+bist, wir hätten das nicht mehr länger machen können. Ich will dir nur
+jetzt gestehen, wir sind nur zwei Schlepps, wenn du eingerechnet bist.
+Wir haben also nicht zwei Wachen jeder, sondern drei, und dazu
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+kommt zu jeder Wache eine Stunde Aschehieven extra. Und morgen
+haben wir, auch noch extra, die Berge von Asche, die auf Deck liegen,
+weil im Hafen ja keine Asche ausgeworfen werden darf, abzuschaufeln.
+Wird für jeden vier Stunden extra machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind doch dann alles Überstunden, die Doppelwachen, das Abschaufeln
+der Deckasche und das Aschehieven“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das sind alles Überstunden. Wenn es dir Vergnügen macht und du
+gerne schreibst, kannst du dir die ganzen Überstunden anschreiben.
+Aber bezahlen tut sie dir keiner.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mir aber bei der Heuer ausgemacht worden“, antwortete ich.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Was ausgemacht wird, hat keine Geltung bei uns. Nur was du in der
+Tasche hast, das hat Geltung. Und in die Tasche kriegst du immer nur
+Vorschuß, Vorschuß, Vorschuß. Immer soviel, daß es zum Besaufen gerade
+langt und vielleicht für ein Paar Pantinen oder ein Hemd, aber
+nicht mehr. Denn wenn du anständig aussiehst und ruhig durch die
+Straße gehen kannst, <a id="corr-12"></a>könntest du ja vielleicht wieder lebendig werden.
+Verstehst du jetzt den Dreh? Kannst nicht fort. Mußt Geld haben,
+mußt eine ganze Hose, eine ganze Jacke, ganze Stiefel und Papiere
+haben. Kriegst du nicht. Kannst nicht lebendig werden. Wenn du aussteigst,
+läßt er dich einfangen, wegen Desertion. Die haben dich gleich
+mit deinen Lumpen und keinen Papieren. Dann zieht er dir zwei oder
+drei Monatsheuern ab wegen Desertion. Kann er. Tut er. Dann bettelst
+du wegen eines Schillings auf den Knien für Schnaps. Schnaps mußt du
+haben. Tot sein tut manchmal doch weh, auch wenn man sich schon lange
+daran gewöhnt hat. Gute Nacht. Waschen tu ich mich nicht, ich kann
+nicht mehr die Hand heben. Laß dir keine Roste durchfallen, das
+kostet Blut, Pippip. Gute Nacht.“
+</p>
+
+<p>
+„Heilige Maria, genotzüchtigter Gabriel, Joseph und Arimathia, Eberklöten
+und Bockpinnen, Himmelkreuzdonnerwetter – –“
+</p>
+
+<p>
+Der Heizer schrie wie besessen und nahm einen gewaltigen Anlauf, um
+eine neue Serie von Flüchen und Verwünschungen loszulassen, daß die
+Bewohner aller Höllen schamrot werden mußten. Von der Erhabenheit
+seines Gottes, von der jungfräulichen Reinheit der Himmelskönigin,
+von der Würde der Heiligen blieb nichts mehr bestehen. Sie sanken in
+den Kot der Straße und wurden durch die Jauche der Gosse geschleift.
+Die Hölle hatte ihre Schrecken für ihn verloren, ihn konnte kein noch so
+fürchterlicher Bannstrahl des Himmels mehr treffen, denn als ich fragte:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Heizer, was ist denn los?“ da heulte er wie eine blutdürstige Bestie:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Sechs Roste sind rausgefallen. Heilige verhur – –“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-10">
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+31
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> hatte beim Raufgehen gesagt, daß das
+Herausfallen der Roste Blut kostet. Damit meinte er,
+wenn einer rausfällt. Jetzt waren sechs raus. Sie einzusetzen
+kostete nicht nur Blut und nicht nur abgestoßene
+Fleischstücken und abgeschmorte Hautfetzen,
+das kostete blutendes Sperma, herausgezerrte Sehnen,
+das Mark floß einem wie wäßrige Lava aus den
+Knochenröhren, die Gelenke krachten wie Holz, das
+gebrochen wird. Und während wir arbeiteten wie verblödete Maden,
+fiel der Dampf und fiel und fiel. Und wir sahen die Arbeit, die uns bevorstand,
+den Dampf wieder hochzubringen. Sie kroch und würgte sich
+in unsre Kadaver, während wir mit den Rosten würgten. Seit jener Nacht
+stehe ich über den Göttern. Ich kann nicht mehr verdammt werden. Ich
+bin frei, darf unbekümmert tun und lassen, was ich will. Ich darf Götter
+verfluchen, darf mich verwünschen, darf handeln, wie es mir gefällt.
+Kein menschliches Gesetz, kein göttliches Gebot mehr kann meine
+Handlungen beeinflussen, denn ich kann nicht mehr verdammt werden.
+Die Hölle ist ein Paradies. Keine menschliche Bestie kann Höllenqualen
+ausdenken, die mich erschrecken könnten. Wie immer auch die Hölle beschaffen
+sein mag, sie ist Erlösung. Erlösung vom Einsetzen rausgefallener
+Roste auf der Yorikke.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper ist nie im Kesselraum gewesen und keiner der beiden Offiziere.
+Freiwillig ging niemand in diese Hölle. Sie machten sogar einen
+Umweg, wenn sie am Einsteigschacht vorbei mußten. Die Ingenieure
+wagten sich in den Kesselraum nur, wenn die Yorikke sanft im Hafen
+lag und der Kesselbums Reinigungsarbeiten machte, Rohre ziehen, Maschinenhalle
+putzen und ähnliche dreckige Tagesarbeiten. Selbst dann
+hatten die Ingenieure diplomatisch mit den Schwarzen Banditen umzugehen.
+Denn die waren immer und immer in einem Zustande, dem
+Ingenieur einen Hammer an den Schädel zu pfeffern. Was bedeutete
+dem Kesselbums Gefängnis, Zuchthaus oder der Henker? Nicht einen
+Pfifferling machten die sich daraus.
+</p>
+
+<p>
+Von der Maschinenhalle aus führte ein schmaler niedriger Gang zwischen
+dem Steuerbordkessel und der Steuerbordwand zu dem Kesselraum.
+Dieser Gang war von der Maschinenhalle durch eine schwere
+eiserne kleine Tür, die wasserdicht war – was auf der Yorikke wasserdicht
+genannt werden konnte – abgetrennt. Kam jemand von der Maschinenhalle,
+und hatte er die Luke passiert, so mußte er mehrere
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+Stufen hinuntergehen, um den Gang zu erreichen. Dieser Gang war drei
+Fuß nur breit und so niedrig, daß man ganz gebückt gehen mußte, um
+sich nicht den Kopf an den eisernen, scharfkantigen Querstreben einzurennen.
+Der Gang war, wie alles auf der Yorikke und wie auch der
+Kesselraum, stockdunkel bei Tage und bei Nacht. Zudem war der Gang
+heiß wie ein Hochofen. Wir, die Schlepps, fanden uns in dem Gange mit
+verbundenen Augen zurecht, denn er gehörte mit zu den Spezialmarterwegen.
+Durch diesen Gang hatten wir einige hundert Tonnen Kohle
+nach den Kesseln zu schaufeln und zu quetschen, von den Bunkern, die
+neben der Maschinenhalle lagen. Wir kannten diesen Martergang und
+seine labyrinthischen Rätsel. Andre Leute kannten ihn nicht so gut.
+</p>
+
+<p>
+Fiel nun der Dampf erheblich, weit unter hundertdreißig, dann mußte
+der wachhabende Ingenieur etwas tun. Dafür wurde er ja bezahlt. Der
+Erste kam auch nicht in den Kesselraum. Auf Fahrt nie. Ein zerschlagenes
+Schulterblatt hatte ihn gelehrt, daß man den Kesselbums auf Fahrt
+nicht belästigen darf. Er rief nur von oben, vom Deck aus, den Schacht
+hinunter: „Der Dampf fällt!“ Dann war er aber auch schon weg. Denn
+von unten kam das Gebrüll: „Du gottverfluchter Hurenhund, das wissen
+wir selber. Komm runter, du Schwein, wenn du was willst.“ Dabei
+flogen aber auch schon Kohlenstücken gegen die Einsteigluke.
+</p>
+
+<p>
+Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten
+Sitten, wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen geben will,
+daß er anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben
+ab, nach innen mehr als nach außen.
+</p>
+
+<p>
+Der Zweite Ingenieur war noch verhältnismäßig jung, vielleicht sechsunddreißig.
+Er war ein großer Streber und wollte gern Erster werden.
+Er glaubte, seine Strebsamkeit am besten beweisen zu können dadurch,
+daß er den Kesselbums herumjagte, besonders wenn Yorikke im Hafen
+lag, denn dann hatte er das Maschinenkommando. Er war kein guter
+Lerner und lernte schwer, eigentlich nie, mit dem Kesselbums der
+Yorikke umzugehen. Es gibt Ingenieure, die vom Kesselbums angebetet
+werden. Ich habe einmal einen Skipper gekannt, der vom Kesselbums
+wie ein Gott verehrt wurde. Der Skipper ging jeden Tag persönlich in
+die Galley: „Koch, ich will das Essen sehen, das meine Heizer und Kohlschlepps
+heute kriegen. Will ich kosten. Das ist Dreck. Das geht über
+Bord. Die Heizer und Kohlschlepps fahren einen Dampfer, niemand
+sonst.“ Und wenn er einen Schlepp oder einen Heizer auf dem Deck
+traf: „Schlepp, wie war das Essen heute; genug Fleisch? Wie kommt
+ihr mit der Milch zurecht? Abends kriegt ihr eine Extraration an Eiern
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+und Speck. Bringt euch der Junge auch regelmäßig den kalten Tee
+runter, der angeordnet ist?“ Und merkwürdig, die Heizer und Schlepps
+auf jenem Eimer hatten ein Benehmen, daß sie zum Gesandtschaftsball
+hätten eingeladen werden können.
+</p>
+
+<p>
+Als beim Einsetzen der Roste der Dampf fiel und fiel, kam der Zweite,
+der die Wache hatte, durch den Gang, lugte um die Kesselecke und sagte:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Was ist mit dem Dampf los? Der Kasten wird gleich stehenbleiben.“
+Der Heizer hatte in dem Augenblick gerade die rotglühende Schürstange
+in der Hand, mit der er einen Rost vom Aschenzug aus einzustützen
+versucht hatte. Mit einem fürchterlichen Geheul, mit blutunterlaufenen
+Augen und schäumendem Munde richtete er sich auf und raste
+wie ein Irrsinniger mit der glühenden Stange auf den Ingenieur los,
+um ihm die Stange durch den Leib zu rennen. Aber wie ein Funke war
+der Ingenieur hinter der Ecke verschwunden und sauste den Gang
+zurück. In der Schnelligkeit, mit der er floh, maß er die Höhe des Ganges
+nicht genügend und schlug sich den Schädel an einer der Querstreben
+auf. Der Heizer hatte die Stelle, wo der Ingenieur gestanden hatte, getroffen.
+Der Stoß war so gewaltig, daß ein Fladen von dem Mauerwerk,
+das den Kessel gegen Hitzeverlust schützte, absprang und die Stange
+sich oben verbog. Doch der Mann gab die Verfolgung nicht auf. Er raste
+hinter dem Zweiten her mit der Stange, und er hätte ihn mitleidlos erschlagen
+und zermanscht, wenn der Ingenieur nicht rechtzeitig, blutüberströmt
+von dem Gegenrennen an den Eisenstreben, die Stufen erreicht
+und die Luke hinter sich zugeschlagen und verrammelt hätte.
+</p>
+
+<p>
+Der Ingenieur rapportierte den Fall nicht, wie kein Unteroffizier oder
+Offizier, der von einem gemeinen Soldaten unter vier Augen gebackpfeift
+wurde, die Backpfeifen rapportieren würde, um nicht zugeben zu
+müssen, daß ihm das geschehen konnte. Hätte der Ingenieur den Fall
+rapportiert, so hätte ich als Zeuge geschworen, daß der Ingenieur hereingekommen
+sei und den Heizer mit einem Schraubenschlüssel habe erschlagen
+wollen, weil angeblich nicht genügend Dampf gewesen sei und
+der Heizer ihm gesagt habe, er möge machen, daß er rauskäme, er sei
+ja besoffen, und da ist er in seiner Trunkenheit rausgetorkelt und hat
+sich den Kopf aufgeschlagen. Das ist nicht gelogen. Abgesehen von
+allem andern, der Heizer ist mein Leidensgefährte. Und wenn die
+andern blöken: „Right or wrong, my country! Recht oder Unrecht, mein
+Vaterland!“, so habe ich, verflucht nochmal, Recht und Schuldigkeit, zu
+rufen: „Right or wrong, my fellow-worker! Recht oder Unrecht, meine
+Mitproleten!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+Am nächsten Tage fragte der Erste den Zweiten, wie er zu dem Loch im
+Schädel gekommen sei. Der Gefragte erzählte die Wahrheit. Aber der
+Erste, ein schlauer Bursche, rapportierte nichts, sondern sagte zum
+Zweiten: „Da haben Sie verteufelt Glück gehabt, Mensch. Machen Sie
+das nicht nochmal. Wenn Roste raus sind, lassen Sie sich nicht sehen,
+gucken Sie zum Einsteigeschacht rein, aber melden Sie sich mit keinem
+Atemzuge, daß Sie da sind. Lassen Sie den Dampf runtergehen, soviel
+er will, und wenn der Kasten stehenbleibt. Wenn Sie runtergehen, solange
+Roste raus sind und die nächste halbe Stunde danach, werden sie
+mitleidlos totgeschlagen und in den Feuerungskanal geschoben. Kein
+Mensch erfährt je, wo Sie geblieben sind. Ich warne Sie.“
+</p>
+
+<p>
+So ein Streber war der Zweite doch nicht, daß er sich diese Warnung nicht
+zu Herzen genommen hätte. Er ist nie wieder in den Kesselraum gekommen,
+wenn Roste gefallen waren, und wenn er sonst kam, weil der
+Dampf büßte und nicht hochkommen wollte, dann kam er wohl rein,
+sagte keine Silbe, sah nach dem Dampfmeter, stand eine Weile, bot dem
+Heizer und dem Schlepp eine Zigarette an und sagte dann: „Wir haben
+ludermäßige Kohle, da kann ein Heizer von Gold gemacht sein und er
+kann keinen Dampf halten.“
+</p>
+
+<p>
+Heizer sind ja keine Idioten und verstehen natürlich sofort, was der
+Ingenieur will, und tun das Beste, was sie können, um den Dampf hochzukriegen.
+Denn nicht nur andre Leute, sondern auch Proleten haben
+Sportgefühl. Aber es soll sich kein Arbeiter über seine Vorgesetzten beschweren,
+er hat immer die, die er verdient, und die er sich macht. Ein
+gutgezielter und gutsitzender Hieb zur rechten Zeit ist besser als ein
+langer Streik oder ein langes Herumärgern. Ob man die Arbeiter als
+„Rohlinge“ bezeichnet, kann ihnen gleichgültig sein. Respektieren soll
+man sie, das ist die Hauptsache. Nur nicht schüchtern sein, Prolet. Was
+Übles man der Yorikke auch immer sonst nachreden konnte, in einem
+Dinge verdiente sie, mit Lorbeer gekrönt zu werden: Sie war ein vortrefflicher
+Lehrmeister. Ein halbes Jahr Yorikke, und man hatte keine
+Götzen mehr. Hilf dir selbst und verlaß dich nicht soviel auf andre.
+Gefallene Roste einsetzen, ist selbst auf einem gesunden Eimer kein Vergnügen,
+wie ich später erfuhr. Es ist immer eine sehr ärgerliche Sache.
+Doch nicht mehr als das. Auf der Yorikke aber war es Blutarbeit.
+</p>
+
+<p>
+Jeder Rostbarren wog etwa vierzig bis fünfzig Kilo. Diese Barren lagen
+mit ihren Nocken auf einer Querleiste vorn und auf einer Querleiste
+am Ende des Feuerungskanals. Die Querleisten waren einmal gut und
+neu gewesen, zu der Zeit, als der große Streik ausbrach beim Bau des
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+Turms von Babel und jene Sprachverwirrung eintrat, die auf der
+Yorikke ihren Höhepunkt erreicht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Kein Wunder, daß in der langen Zwischenzeit jene Querleisten ihre
+stützende Wirkung verloren hatten. Die Leisten waren verschmort. Die
+Roste lagen mit ihren Nocken nur auf winzigen Narben jener abgeschmorten
+Querbalken. Beim Aufbrechen der Schlacke brauchte man
+nur einen Millimeter zu unvorsichtig sein, oder die Schlacke brauchte
+nur sehr fest sitzen, dann rutschte ein Rostbarren ab und fiel hinunter
+in den Aschfall. Der Rostbarren war glühend und mußte aus dem Aschfall
+herausgefischt werden mit einem merkwürdigen Instrument, das
+Rostzange hieß und etwa zwanzig Kilo wog. Hatte man den Barren gefischt,
+so mußte er in den Feuerungskanal gehoben und in seine alte
+Lage gebracht werden. Da die Querbalken abgeschmort waren im Laufe
+der Jahrtausende, so waren die verschrumpelten und verbrannten Narben,
+auf denen der Barren ruhen sollte, weniger als einen halben Zoll
+breit. Hatte man den Barren vorn glücklich drin, rutschte er hinten ab
+und fiel wieder in den Aschfall zurück, wo er abermals herausgefischt
+werden mußte, um das Einsetzen ein zweitesmal zu versuchen. Diesmal
+lag er hinten glücklich in der Narbe, aber er erreichte vorn nicht den Rest
+des Balkens und fiel nun vorn in den Aschfall. Fiel der Barren an einem
+Ende in den Aschfall, so gab auch das andre Ende nach, und der ganze
+Barren fiel runter. Dieses Herausfischen und Wiedereinheben mußte so
+lange versucht werden, bis der Barren durch ein glückliches Zusammentreffen
+mehrerer glücklicher Umstände an beiden Enden diesen knappen
+halben Zoll von Auflagefläche gewonnen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Handelte es sich nur um einen Barren, so war das schon das Schlimmste,
+was man sich nur an Arbeit vorstellen kann. Aber durch das Fischen und
+durch das Einlegen stieß man zuweilen einen Nachbar-Barren an und
+der folgte dem Rufe und fiel gehorsam auch nach in den Aschfall, dabei
+seinen nächsten Nachbar mit sich reißend. Beim Einlegen des letzten
+Nachbars fiel ein weiterer Nachbar herunter, der an und für sich schon
+nur noch einen Millimeter auflag und schon eine Stunde sehnsüchtig
+darauf gewartet hatte, daß ihn doch jemand berühren möge, damit er
+endlich einen Grund habe, auch in den Aschfall rutschen zu können und
+den Tanz mitzumachen.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser Fischzeit und Einlegezeit brannte das Feuer in dem
+Kanal natürlich lustig weiter, die Barren waren glühend, die Zange war
+glühend, das Schüreisen, mit dem die Barren während des Einlegens
+von unten aus gestützt wurden, war glühend und die Barren hatten ein
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+Gewicht, daß sie selbst dann eine ansehnliche Last darstellten, wenn sie
+eiskalt waren und man sie in den Armen vor sich tragen konnte. Ununterbrochen
+durfte man nicht an den Barren arbeiten, weil die übrigen
+Feuer bedient werden mußten, damit sie nicht verlöschten. Alles, was
+an vorrätiger Kohle im Kesselraum lag, wurde in der Zeit aufgefressen
+und mußte nachgeschleppt werden.
+</p>
+
+<p>
+Als wir endlich die sechs Roste drin hatten und keiner es wagte, in der
+Nähe der Feurungstür fest aufzutreten, um die Barren nicht zu erschüttern
+und sie von ihren Millimeterstütznarben abzuwerfen, fielen wir beide
+leblos in einen Kohlenhaufen. Leblos ist die richtige Bezeichnung; denn
+jegliches Leben in uns war für eine halbe Stunde erloschen. Wir bluteten,
+aber wir fühlten es nicht, unsre Haut war in Streifen und großen
+Flecken von Armen, Händen, Brust und Rücken abgeschmort, aber wir
+fühlten es nicht. Wir hatten nicht mehr die Kraft, zu atmen.
+</p>
+
+<p>
+Ein Hauch des Lebens kam endlich zurück, und wir hatten den Dampf
+wieder hochzubringen. Aus den fernsten Winkeln des Schiffes mußte
+die Kohle geschleppt werden, denn die Kohlenbunker lagen da, wo sie
+am wenigsten Laderaum wegnehmen konnten. Die Laderäume waren
+die Hauptsache. Ihretwegen fuhr die Yorikke, ihretwegen fährt jedes
+Schiff. Die Kohle, das Essen für das Schiff, war Nebensache, wie das
+Essen für die Mannschaft Nebensache war. Wo ein Winkel frei war, der
+als Laderaum nicht verwendet werden konnte, da wurde Kohle verbunkert,
+und da mußte sie weggeschleppt werden. In einer Wache von
+vier Stunden verbrauchten die neun Feuer der Yorikke mehr als vierzehnhundertfünfzig
+volle schwere Schaufeln Kohle. Diese vierzehnhundertfünfzig
+Schaufeln mußten herbeigeschleppt werden. Und das
+mußte getan werden neben dem Ausschlacken, neben dem Aschfallziehen,
+neben dem Aschehieven und, in gebenedeiten Wachen, neben
+dem Rosteeinsetzen.
+</p>
+
+<p>
+Das mußte getan werden von nur einem Kohlenschlepp, dem dreckigsten
+Mann der Mannschaft, dem verachtetsten, der weder Matratze
+hatte, noch eine Decke, noch ein Kissen, noch einen Teller, noch eine
+Gabel, noch eine Tasse, mußte getan werden von einem Manne, dem
+satt zu essen zu geben nicht durchführbar war, weil die Kompanie
+behauptete, sonst nicht konkurrenzfähig zu sein. Und daß Kompanien
+konkurrenzfähig sein müssen, darauf achtet sogar der Staat. Dafür
+achtet er um so weniger darauf, daß die Menschen konkurrenzfähig
+bleiben. Beide, Kompanien und Arbeiter, können nicht gleichzeitig konkurrenzfähig
+gemacht werden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+Um vier wurde mein Heizer abgelöst. Ich nicht. Ich ging meine Ablösung,
+den Stanislaw, um zwanzig vor fünf wecken, zum Aschehieven.
+Ich mußte ihn aus der Bunk ziehen. Er war wie ein Klotz.
+</p>
+
+<p>
+Er war schon lange auf der Yorikke. Er war daran gewöhnt. Wenn jemand,
+vielleicht der Passagier einer Luxuskabine, durch Neugier getrieben,
+an dem Kesselschacht vorbeikommt, so ist sein erster Gedanke:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wie ist es möglich, daß da Menschen arbeiten können?“
+</p>
+
+<p>
+Aber da flüstert ihm sofort der, der immer zur Hand ist und ihm das
+Leben erträglich macht, ins Ohr: „Das sind die gewöhnt, die merken
+davon nichts.“
+</p>
+
+<p>
+Damit kann man alles entschuldigen, und damit entschuldigt man alles.
+So wenig wie sich ein Mensch an Lungentuberkulose gewöhnt, so wenig
+wie er sich daran gewöhnt, dauernd zu hungern, so wenig kann sich ein
+Mensch daran gewöhnen, etwas zu ertragen, was am ersten Tage körperliche
+und seelische Qualen bereitet, die man niemand gönnen mag, der
+Menschenantlitz trägt. Mit der nichtswürdigen Ausrede: „Die sind daran
+gewöhnt!“ entschuldigt man auch das Auspeitschen der Sklaven.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw, ein robuster Bursche, hatte sich nie daran gewöhnt, ich habe
+mich nie daran gewöhnen können, und ich habe nie einen Menschen gesehen,
+der sich an Qualen je gewöhnt hätte. Weder Tiere noch Menschen
+können sich an Qualen gewöhnen, nicht an körperliche, nicht an
+seelische. Sie werden nur abgestumpft, und das nennt man Gewöhnung.
+Doch ich glaube nicht, daß je ein Mensch so abgestumpft werden kann,
+daß er sich nicht nach Erlösung sehnt, daß er nicht in seinem Herzen
+den ewigen Schrei trägt: „Ich hoffe, daß mein Befreier kommt!“ Nur
+der allein hat sich gewöhnt, der nicht mehr hofft. Die Hoffnung der
+Sklaven ist die Macht der Herren.
+</p>
+
+<p>
+„Ist das schon fünf?“ sagte Stanislaw. „Ich habe mich doch soeben erst
+hingelegt.“ Er war noch so dreckig wie er raufgegangen war. Auch jetzt
+konnte er sich nicht waschen. Er war zu müde.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will dir sagen, Stanislaw, ich halte es nicht aus. Ich kann um elf
+nicht Asche hieven und um zwölf ablösen. Ich gehe über die Reeling.“
+Stanislaw saß auf der Bunk, guckte mich verschlafen an, gähnte und
+sagte: „Tu das nicht. Ich kann nicht deine Wache auch noch machen. Ich
+mache auch über die Reeling. Gleich hinterher. Nein. Mache ich nicht.
+Dann schon lieber Pflaumenmus unter den Kessel. Dann geht alles mit
+und die können keinen mehr fangen. Das ist eigentlich ein Spaß. Das
+mit Pflaumenmus.“
+</p>
+
+<p>
+Der arme Stanislaw war noch ganz im Dusel. Dachte ich.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-11">
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+32
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">m</span> sechs Uhr morgens war meine Wache zu Ende.
+Ich hatte dem Stanislaw keinen Kohlenvorrat hinterlassen
+können. Ich konnte die Schaufel nicht mehr
+halten. Ich brauchte keine Matratze, keine Decke,
+kein Kissen, keine Seife. Ich fiel in meine Bunk,
+dreckig, ölig, fettig, verschwitzt wie ich war. Meine
+Hosen waren für dauernd verdorben, auch mein
+Hemd und meine Stiefel. Dick verschmiert mit Öl,
+Kohlenstaub und Petroleum. Löcher reingebrannt, versengt, zerrissen.
+Wenn ich nun an der Reeling der Yorikke stand im nächsten Hafen, in
+Reih und Glied der übrigen Taschendiebe, Einbrecher und entlaufenen
+Sträflinge, dann war ich nicht mehr zu unterscheiden. Ich hatte nun
+auch meine Sträflingskleidung, in der ich nicht mehr aussteigen konnte,
+ohne sofort gefaßt und zurückgeliefert zu werden. Ich war jetzt ein
+Teil der Yorikke geworden, mußte mit ihr gehen auf Tod und Verderben.
+Es gab kein Entrinnen mehr.
+</p>
+
+<p>
+Jemand riß mich auf und schrie mir ins Ohr: „Frühstück ist da.“ Es
+kann kein Frühstück auf der Welt bereitet werden, das imstande gewesen
+wäre, mich aus der Bunk zu bringen. Was war mir Frühstück,
+was war mir Essen? Ein schwarzes, dickes, dunstiges, schwerwuchtendes
+Etwas. Manch einer sagt: „Ich bin so müde, daß ich keinen Finger mehr
+rühren könnte.“ Der das sagen kann, weiß nicht, was Müdesein bedeutet.
+Fingerrühren? Nicht einmal die Augendeckel schlossen ganz,
+vor Müdigkeit. Meine Augen waren halb geöffnet, und ich empfand das
+trübe Tageslicht wie einen lastenden Schmerz, aber ich konnte und
+konnte die Augenlider nicht schließen. Sie schlossen nicht selbsttätig und
+sie schlossen nicht auf meinen Willen. Denn den Willen konnte ich nicht
+aufbringen. Ich hatte nicht den Wunsch, sondern nur ein lastendes Unbehagen:
+„Möchte doch das Tageslicht weggehen.“
+</p>
+
+<p>
+Und als ich nicht dachte, sondern widerstandslos empfand: „Was kümmert
+dich das Tageslicht?“, da riß mich der schwere eiserne Haken eines
+Ladekrans hoch, dem Kranführer flitschte der Hebel aus der Hand, ich
+sauste aus dreißig Meter Höhe hinunter, klatschte flach auf den Ladekai
+und ein dicker Schwarm von Leuten stürmte auf mich los und schrie:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Raus, zwanzig vor elf, Asche hieven.“
+</p>
+
+<p>
+Nachdem die Asche gehievt war, holte ich das Mittagessen aus der
+Galley, hatte mit meinen Kumpen die Leiter Mittschiffs raufzugehen
+und die Leiter zum Vordeck wieder runterzuklimmen. Ich aß ein paar
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+Pflaumen, die „Der Pudding“ hießen, und die in einem blauen Stärkeschleim
+steckten. Etwas andres und mehr zu essen war ich zu müde.
+Ich wusch mich nicht, sondern trat so meine Wache an. Als ich um Sechs
+abends wieder abgelöst wurde, war ich zu müde, um mich zu waschen.
+Das Abendessen war kalt und steif. Das rührte mich nicht. Ich schlug
+in meine Bunk.
+</p>
+
+<p>
+Das ging drei Tage und drei Nächte. Ich hatte keinen andern Gedanken
+als nur: Elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs. In diesem
+Begriff sammelte sich für mich der Weltbegriff und das Persönlichkeitsbewußtsein.
+Ich war ausgelöscht. An Stelle des Ichs stand nichts andres
+als elf bis sechs. Zwei unsagbar wehe Schreie schnitten sich mir mit
+Grausamkeit in das, was Hirn, Fleisch, Seele, Herz gewesen war. Sie
+bereiteten einen Schmerz, der gellend scharf war. Mag sein, daß man
+einen ähnlichen kreischenden Schmerz empfindet, wenn einem das
+nackte Gehirn mit einer Stahlfeder gekitzelt wird. Die Schreie kamen
+immer von weit her, waren immer dieselben, immer gleich grausam und
+schmerzhaft: „Raus, zwanzig vor elf!“ – – „Heilige genotzüchti –
+Roste durchgefallen!“
+</p>
+
+<p>
+Als vier Tage und fünf Nächte um waren, bekam ich Hunger, aß und
+begann, mich daran zu gewöhnen.
+</p>
+
+<p>
+„So schlimm ist das eigentlich gar nicht, Stanislaw“, sagte ich, als ich ihn
+ablösen kam. „Die Frikandellen schmecken ganz gut. Wenn man nur
+etwas mehr Milch bekäme. Na, der Vorrat, den du mir hinterläßt, ist
+auch nicht gerade berühmt. Das stochern wir in einen hohlen Zahn vom
+Feuer eins. Wie kann man denn beim Ersten einen Rum rausschinden?“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Spielend, Pippip. Siehst ja klapprig genug aus. Glaubt er dir. Gehst
+jetzt gleich rauf und sagst, hast dir den Magen verdorben und mußt
+immerfort kotzen. Sagst, kannst nicht auf Wache gehen, kotzt grün.
+Gleich hast du ein Weinglas weg. Zweimal die Woche kannst du drauf
+reiten auf das Rezept. Wenn du mehr kommst, zieht es nicht mehr. Dann
+gießt er dir unversehens halb Rizinus mit ein, merkste erst, wenn du
+geschluckt hast. Und kannst ihm doch nicht gut in die Kabine spucken,
+mußte dann aufscheuern. Also schluckste. Gib das Rezept nicht weiter.
+Ist bloß für uns beide. Die Heizer haben ein separates. Pfeifens aber
+nicht, die Gauner.“
+</p>
+
+<p>
+Ich gewöhnte mich immer mehr.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam die Zeit, wo ich schon wieder Nebengedanken bekam, wo ich
+nicht in einem ermüdeten Dämmerzustande, sondern ganz trocken dem
+Zweiten zuschrie, wenn er nicht sofort den Kesselraum verließe, er nicht
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+nur einen Hammer, sondern auch noch einen Knebelbolzen an den Schädel
+kriegen würde, und daß er mich wehrlos über Bord schmeißen dürfe,
+wenn ich ihm nicht ganz gewiß mit dem Hammer die Vorderfront und
+mit dem Bolzen die Hinterpartie seines Idiotenschädels einschlüge, und
+daß er uns diesmal nicht durch den Gang entkommen würde.
+</p>
+
+<p>
+Er hätte in der Tat nicht entkommen können. Er hatte wohl auch das
+Gefühl. Wir hatten in dem Gange eine Stange aus Eisen so angebracht,
+daß sie in der Schwebe hing. Von der Rückwand des Kesselraumes aus
+führte eine Schnur zu jener Eisenstange. Wollte er entfliehen, so sprang
+einer sofort zu der Schnur und zog sie an. Dadurch wurde die Stange
+aus der Schwebe ausgelöst und fiel so in seinen Weg, daß er in der Falle
+war. Ob er lebend herausgekommen wäre oder mit kurz und klein geschlagenen
+Gliedmaßen nur, hing lediglich von der Anzahl der rausgefallenen
+Roste ab.
+</p>
+
+<p>
+Es vergingen manchmal fünf Wachen, ohne daß auch nur ein Rost herausfiel.
+Aber die Roste brannten ja auch durch und mußten durch neue
+ersetzt werden, weil sonst die Feuer durchbrachen. Zuweilen hatte man
+so viel Glück, daß bei dem Neueinsetzen nur ein Nachbar mitging, und
+daß man die beiden mit Geduld und Blut so andächtig behandeln
+konnte, daß es bei den beiden blieb. Dafür aber kamen dann auch die
+Prüfungen um so schärfer, daß nicht nur sechs fielen, sondern acht, und
+nicht nur in einem Feuerzug, sondern in zwei oder drei in derselben
+Wache. Fürwahr, es wurde einem nichts geschenkt.
+</p>
+
+<p>
+Als wir Goldküste machten, kamen wir in Wetter, und was für ein Wetter!
+Ehre sei Gott in der Höhe, und blas’ mir die Trompeten! Das war
+ein Lüftchen. Da bring mal die Kumpen mit Suppe und Schneidergulasch
+heil über Mittschiff zum Quartier. Fleckenseife und Benzin
+nochmal! Das will gelernt sein.
+</p>
+
+<p>
+Nun das Aschehieven. Da hat man die schwere Aschkanne ausgehängt
+und trägt sie warm im Ärmchen rüber über das Gangdeck zum Ascheschacht.
+Aber ehe man mit seiner geliebten Kanne dort ankommt, hat
+Yorikke übergerollt und man saust mit seiner holden gefüllten Kanne
+das ganze Gangdeck entlang und sauber zur Gangstieg. Kachelt Yorikke
+achtern aus, landet man mit seiner Aschkanne immer noch fest im Arm
+unten auf dem Vordeck, läßt Yorikke vorn die blanken Oberschenkel
+sehen, rasselt man mit der Kanne nach achtern und rollt das ganze
+Achterdeck rauf und runter und der Erste Offizier schreit von der
+Brücke herunter: „He, Schlepp, wenn Sie über Stag gehen wollen, man
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+immer los, es hält Sie niemand, aber die Aschkanne lassen Sie gefälligst
+hier. Die können Sie beim Fischen nicht gebrauchen.“
+</p>
+
+<p>
+Unten vor den Kesseln ist es dann auch viel gemütlicher als sonst. Wenn
+der Heizer gerade mit einem schön einstudierten Schwung eine volle
+Schaufel aufschmeißen will, dreht er sich plötzlich und schmeißt einem
+die Schaufel voll Kohlen klatschend ins Gesicht oder zwischen die Eingeweide.
+Beim nächsten Überholer kommt er gar nicht zum Schwunge,
+sondern fliegt mit seiner Schaufel in einen Kohlenhaufen, in dem er
+verschwindet und aus dem er erst hervorkraucht, wenn Yorikke wieder
+hier überlegt.
+</p>
+
+<p>
+In den Bunkern, wenn es Oberbunker sind, die auch mit Gut beladen
+werden können, ist der Spaß noch größer, weil man mehr Spielraum
+hat. Man hat glücklich am Steuerbordschacht zweihundert Schaufeln
+aufgeschichtet und beginnt gerade damit, sie nach dem Kesselschacht
+abzuwerfen.
+</p>
+
+<p>
+Ratsch! legt Yorikke über nach Backbord. Und Schlepp, seine Schaufel
+und seine schönen zweihundert Würfe Feuergut rutschen in einem
+wilden Gemengsel über nach Backbord und steigen an der Backbordwand
+hoch. Yorikke macht nun einen Längser, man kommt ins Gleichgewicht
+und beschließt die zweihundert Würfe am Backbordschacht
+abzuwerfen. Eine Schaufel hat man gerade unten, da legt sich Yorikke
+zur Abwechslung nach Steuerbord über und das Gemengsel, mit dem
+Schlepp in der Mitte, rasselt nach Steuerbord, wo es ursprünglich herkam.
+Jetzt aber überlistet man die gute Yorikke. Man überlegt nicht
+lange, prasselt gleich zehn, fünfzehn Schaufeln runter in den Steuerbordschacht,
+dann rennt man noch rechtzeitig rüber nach Backbord, und
+wenn die Lawine dort nachkommt, gleich wieder fünfzehn Würfe den
+Backbordschacht runter, und wie der Satan rüber nach Steuerbord, schon
+ist die Lawine hinterher, fünfzehn Würfe hier in den Schacht und so
+kriegt man seine Kohle vor die Kessel, wenn sie in den Oberbunkern
+lagern.
+</p>
+
+<p>
+Ein Kohlschlepp muß ebensoviel von Navigation verstehen wie der
+Skipper, sonst würde er zu manchen Zeiten nicht ein Kilo Kohle vor die
+Kessel kriegen. Natürlich ist der Schlepp am ganzen Körper braun und
+blau, die Nase zerschunden, die Schienbeine aufgeschlagen, die Hände
+und Arme abgeschunden. Lustig ist das Seemannsleben, hoiho!
+</p>
+
+<p>
+Und lustiger noch ist es, daß Hunderte von Yorikken, Hunderte von
+Totenschiffen auf den sieben Meeren fahren. Alle Nationen haben ihre
+Totenschiffe. Die stolzesten Kompanien, die die schönsten Flaggen
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+protzig wehen lassen, schämen sich nicht, Totenschiffe zu fahren. Wozu
+zahlt man denn Versicherungsprämien. Nicht zum Vergnügen. Alles
+muß seinen Profit abwerfen.
+</p>
+
+<p>
+Es fahren viele Totenschiffe auf den sieben Meeren, weil es viele Tote
+gibt. Nie gab es so viel Tote, als seit der große Krieg für die Freiheit
+gewonnen wurde. Für jene Freiheit, die Pässe und Nationalitätsnachweise
+der Menschheit aufzwang, um ihr die Allmacht des Staates zu
+offenbaren. Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten,
+der absoluten Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und
+Maitressen ist besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines
+größeren Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des
+Staates und seiner Lakaien.
+</p>
+
+<p>
+Erhebe die Freiheit zu einem religiösen Symbol, und sie wird leicht die
+blutigsten Religionskriege entfesseln. Wahre Freiheit ist relativ. Keine
+Religion ist relativ. Am wenigsten relativ ist die Profitgier. Sie ist die
+älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen.
+Yes, Sir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-12">
+33
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ird</span> man so zuschanden gearbeitet, daß man nicht
+einmal mehr „pip“ sagen kann, so kümmert man
+sich um nichts, was um einen herum vor sich geht.
+Laß geschehen was da will, nur in die Bunk und
+geschlafen. Man kann so müde gearbeitet werden,
+daß man aufhört, an Widerstand zu denken, daß
+man aufhört, an Flucht zu denken, daß man aufhört,
+an Müdigkeit zu denken. Man wird Maschine,
+man wird Automat. Um einen herum darf nun geraubt oder gemordet
+werden, man sieht nicht hin, man hört nicht hin, nur schlafen, schlafen,
+nichts weiter.
+</p>
+
+<p>
+Dösig stand ich an der Reeling und schlief im Stehen. Eine gute Anzahl
+von Feluken mit ihren merkwürdigen spitzen Segeln waren in der
+Nähe. Aber das fiel nicht auf. Die waren immer herum. Fischer und
+Schmuggler, und was sie sonst für Geschäfte haben mochten, Geschäfte,
+an die man zu denken nicht wagen würde.
+</p>
+
+<p>
+Ich ruckte zusammen und wurde völlig wach. Ich konnte nicht begreifen,
+was es war, das mich so aufriß. Es schien ein mächtiges Getöse
+zu sein. Aber als ich mich auf das Getöse eingestellt hatte, kam mir zum
+Bewußtsein, daß es kein Getöse war, das mich so überwach gemacht
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+hatte, sondern daß es eine schwere Ruhe war. Die Maschine hatte aufgehört
+zu arbeiten, und das verursacht merkwürdige Gefühle. Tag und
+Nacht hört man das Stampfen und Dröhnen der Maschine, es dröhnt im
+Kesselraum wie ein rollendes Donnern, in den Bunkern wie ein dumpfes
+schweres Hämmern, im Quartier wie ein drehendes, ratterndes Keuchen
+und Pumpen. Es kriecht einem in Fleisch und Hirn. Man hat es in allen
+Fibern seines Körpers. Der ganze Körper wird ein holpriges Stampfen.
+Der ganze Mensch fällt in den Rhythmus der Maschine ein. Er spricht,
+er speist, er liest, er arbeitet, er hört, er sieht, er schläft, er wacht, er
+denkt, er fühlt und lebt in diesem Rhythmus. Und plötzlich hört das
+Stampfen der Maschine auf. Man empfindet einen eigentümlichen
+Schmerz. Man wird leer in sich, als ob man in rasender Geschwindigkeit
+in einem Aufzuge hinuntersause. Die Erde versinkt einem unter den
+Füßen, und man empfindet, daß der Boden des Schiffes herausgefallen
+ist, und daß man auf den Boden des Meeres sinkt.
+</p>
+
+<p>
+Yorikke stand und wogte leicht auf dem glatten ruhigen Meer. Die
+Ketten rasselten und der Anker fiel.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw kam in dem Augenblick vorbei mit der Kaffeekanne.
+</p>
+
+<p>
+„Pippip,“ rief er mich an und sagte halblaut, „jetzt haben wir unten
+aber zu hopsen, ei verflucht nochmal. Müssen den Dampf hochpfeifen
+auf hundertfünfundneunzig.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist wohl verrückt, Stanislawski,“ sagte ich, „da fliegen wir ja
+gleich ohne Aufenthalt durch bis auf den Sirius. Bei hundertsiebzig
+klappern uns ja schon die Eingeweide.“
+</p>
+
+<p>
+„Deshalb drücke ich mich ja hier oben rum, so viel ich kann“, griente
+Stanislaw, „da rennt man mit dem Schädel nicht erst lange gegen die
+Platte. Man geht dann gleich wie ein Gummiball ab, und ehe die Brocken
+nachkommen, schwimmt man schon. Als ich die Feluken so verdächtig
+in der Nähe sah, habe ich wie ein Wahnsinniger Vorrat gemacht, um
+nur recht viel Gelegenheit zu haben, raufzukommen. Dem Heizer
+habe ich gesagt, ich habe Durchfall. Das nächstemal mußt du dir was
+andres aussuchen, man kann nicht immer den gleichen Hanfsamen erzählen,
+sonst will er selber raufgehen und schmeckt die Pomeranzen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn los?“
+</p>
+
+<p>
+„Na, du bist mir ein Schaf. Es wird geblendet. Skipper zieht die Prozente
+ein für die Versicherung. So einen Esel, wie du bist, habe ich in meinem
+Leben nicht gesehen. Was denkst du denn, wo du drauf bist?“
+</p>
+
+<p>
+„Leichenwagen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+„Das hast du ja wenigstens schon klar. Aber die rennen doch so einen
+Eimer nicht runter ohne Musik. Das bilde dir nur ja nicht ein. Die
+Yorikke ist geliefert. Der Totenschein liegt schon bei der Kompanie, die
+brauchen bloß noch das Datum reinschreiben. Na, und siehst du, Mensch,
+wenn man schon auf der letzten Violinsaite spielt, dann ist doch alles
+Kick und Kaktus. Die Yorikke kann alles machen, was sie will, sie
+ist verzweifelt, sie steht auf der Totenliste. Die kann alles riskieren,
+verstehst du? Guck mal da rauf, auf den Laternenkorb. Da hängt der
+Boss’n mit der Prismatüte und guckt raus, ob die Luft dicht ist. Dann
+kannst du aber mal die Yorikke loskartoffeln sehen, Mensch, die olle
+ausgeleierte Schachtel macht dir in der ersten Viertelstunde einen Satz,
+daß dir himmelangst wird, bei dem Dampfdruck. Entweder ruff in den
+Mond oder raus mit fünfunddreißig Meilen. Da sollst du mal die Yorikke
+sehen. Nach einer halben Stunde pfeift und keucht sie aus allen Knopplöchern
+und hat für vier Wochen Asthma. Aber sie ist raus. Und das ist
+die Hauptsache. Jetzt muß ich aber runter. Ich komme gleich wieder,
+wenn ich ein paar geschippt habe. Dann muß ich wieder abknöppen
+gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir fuhren gewöhnlich hundertfünfzig, auch hundertfünfundfünfzig
+Druck, wenn die Yorikke gegen schweres Wetter zu kämpfen hatte.
+Hundertsechzig war ihre „Achtung!“, hundertfünfundsechzig „Warnung!“,
+hundertsiebzig „Gefahr!“. Hier blies sie ab mit markdurchdringendem
+Geheule. Um ihr das Heulen auszutreiben, waren jetzt die
+Tränendrüsen zugeschraubt. Wenn sie Lust hatte, konnte sie nach innen
+in sich hineinweinen, ihr grausames Schicksal beweinen und mit Trauer
+zurückdenken an jene Zeit, wo auch sie ein ehrliches rotbäckiges
+Jungferlein war. Sie hatte alle Stadien eines abenteuerlichen Weibes
+durchgemacht in ihrem langen, reichen Leben. Sie war auf glänzenden
+Bällen gewesen, wo sie die Königin des Festes war und umworben
+wurde von den schönsten Herren. Sie hatte sich mehrfach verheiratet,
+war ihren Männern durchgebrannt, war in üblen Hotels gefunden worden,
+war dreißigmal geschieden worden, hatte von neuem Glück gehabt
+und war in die Gesellschaft wieder aufgenommen worden, hatte
+wieder Dummheiten gemacht, sich eine Zeitlang dem Suff ergeben und
+schottischen Whisky nach Norwegen und nach den Krabbenlöchern an
+der Küste des States Maine geschmuggelt, und nun war sie endlich
+Kuppelmutter, Testamentsschleicherin, Giftmischerin und Engelmacherin
+geworden. So tief kann eine Frau sinken, die aus bester Familie
+kam und, versehen mit ausgezeichneter Erziehung und mit seidenen
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Röckchen und Fähnchen ins Leben zog. Aber das Unglück vieler schöner
+Frauen ist, daß sie nicht zur rechten Zeit zu sterben verstehen ...
+</p>
+
+<p>
+Die Ladeluken wurden geöffnet und es wurde in den Eingeweiden der
+Yorikke emsig herumgewühlt.
+</p>
+
+<p>
+Die Feluken waren nahe gekommen, und zwei machten längsseit fest.
+Sie waren von marokkanischen Fischern bemannt. Die kamen wie die
+Katzen an Bord. Die Lademasten wurden ausgeholt und fingen kreischend
+an zu arbeiten. Drei Marokkaner, die wie Fischer gekleidet
+waren, jedoch sonst den Fischern nicht glichen, klug und intelligent
+aussahen, gingen mit dem Zweiten Offizier zur Kabine des Skippers.
+Der Offizier kam wieder heraus und überwachte das Verladen. Der
+Erste stand auf der Brücke und hatte die Augen überall, am Horizont,
+auf dem Wasser, auf dem Schiff. Vorn in seinem Gurt hatte er einen
+schweren Browning stecken.
+</p>
+
+<p>
+„Alles dicht, Boss’n?“ schrie er rauf zum Mast.
+</p>
+
+<p>
+„Alles dicht, aye, aye, Sir.“
+</p>
+
+<p>
+„All right! Keep on!“
+</p>
+
+<p>
+Die Kisten schwangen lustig durch die Luft und runter in die Feluken.
+Dort waren andre Marokkaner mit flinken Händen tätig, die Kisten
+unter den Ladungen von Fischen und Früchten zu verstauen. War eine
+Feluke geladen, so machte sie los und stieß ab. Sofort kam eine andre
+herbeigerudert, machte fest und nahm die Ladung ein.
+</p>
+
+<p>
+Jede Feluke, die ihre Ladung hatte, stieß ab, heißte die Segel und flog
+davon. Jede segelte in eine andre Richtung. Einzelne in die Richtung,
+wo auf keinen Fall Land liegen konnte, es wäre denn, daß sie nach
+Amerika hätten segeln wollen.
+</p>
+
+<p>
+Der Zweite Offizier hatte einen Block mit eingeschobenem Kohlenpapier
+und einen Bleistift. Er zählte die Kisten. Dann rief ihm einer der Marokkaner,
+der als Lademeister zu arbeiten schien, eine Zahl zu, der Offizier
+antwortete die gleiche Zahl zurück und schrieb sie dann auf. Auch der
+Lademeister schrieb auf einem Stück Papier mit. Die Zahlen wurden
+in Englisch gerufen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich wurden keine Kisten mehr heraufgezogen und die Luken geschlossen.
+Die letzte Feluke, die Ladung genommen hatte, war schon
+weit fort. Die ersten konnte man nicht mehr sehen. Sie waren hinter
+dem Horizont verschwunden oder vom Dunst verschluckt. Die andern
+sah man in verschiedenen Richtungen wie kleine Stückchen weißen
+Papiers herumschwimmen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+<a id="corr-13"></a>Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht.
+Sie hatte keine Ladung eingenommen. Sie hatte nur ihre Fischladung.
+</p>
+
+<p>
+Die drei Marokkaner, die mit dem Skipper in der Kabine gewesen
+waren, kamen jetzt mit ihm heraus. Sie lachten und schwätzten miteinander.
+Dann verabschiedeten sich die drei mit großen schönen Gesten
+ihrer Arme und Hände, kletterten am Fallstieg hinunter, stiegen in ihr
+Schifflein, stießen ab, heißten die Segel, der Fallstieg wurde hochgezogen,
+die Ankerkette rasselte, und Yorikke war auf voller Fahrt.
+</p>
+
+<p>
+Nach zehn Minuten etwa kam der Skipper raus und rauf zum Deck:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wo steht sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Sechs ab von der Küste.“
+</p>
+
+<p>
+„Bravo. Dann sind wir ja raus?“
+</p>
+
+<p>
+„Yes, Sir!“
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie frühstücken. Wir wollen einen heben. Geben Sie dem
+Ruder den Kurs und kommen Sie.“
+</p>
+
+<p>
+Damit war der Spuk vorbei.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Spuk hatte etwas zurückgelassen. Wir alle bekamen großes
+Nach-Sturm-Frühstück. Bratwürste, Schinken, Kakao, Bratkartoffeln
+und pro Kehle ein Wasserglas Rum, der uns in unsre Blechtassen gefüllt
+wurde. Dieses Nach-Sturm-Frühstück war das Maulpflaster für
+uns. Das Maulpflaster für den Skipper sah anders aus. Das konnte man
+nicht essen, man mußte es in die Brieftasche stecken.
+</p>
+
+<p>
+Aber wir waren ja so zufrieden. Wir wären mit dem Skipper in die
+Hölle gefahren, wenn er gesagt hätte: „Los, Jungens!“ Und keine
+Daumenschrauben hätten aus uns herausquetschen können, was wir
+gesehen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten nur gesehen, daß an der Maschine ein Lager heiß gelaufen
+war, daß wir uns vor Anker legen mußten, bis der Schaden wieder
+repariert war, und daß, während wir vor Anker lagen, Feluken ankamen,
+die uns Fische und Früchte hatten verkaufen wollen. Der Koch
+hat für zwei Mahlzeiten Fische gekauft, und die Offiziere haben sich
+Ananas und frische Datteln und Orangen gekauft.
+</p>
+
+<p>
+Das können wir beschwören, weil es die Wahrheit ist, yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Einen so guten Kapitän läßt man nicht im Stich, no, Sir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-13">
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+34
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">obald</span> man nicht überarbeitet wird, gleich kümmert
+man sich um andre Dinge und steckt seine Nase in
+Sachen, die einen gar nichts angehen, die einen nur
+auf Ideen und Gedanken bringen, die verderblich
+sein müssen, wenn man sie pflegt und hätschelt. Seemann,
+bleib bei deinem Ruder und bei deinem Farbenpott;
+dann bist du auch immer ein braver Seemann
+und ein anständiger Kerl.
+</p>
+
+<p>
+Der Ingenieur hatte einen Kohlenbunker aufschrauben lassen, der nahe
+den Kesseln lag, weil der Bunker für Ladung gebraucht werden sollte.
+Jetzt konnte man die Kohlenschächte des Kesselraumes so schön und
+mollig auffüllen. Und als die Schächte aufgefüllt waren, der Bunker
+leer war und Yorikke die Ladung übernommen hatte, begann eine wollüstige
+Zeit. Sie dauerte nur drei Tage, dann waren die Schächte wieder
+leer, aber es waren doch schöne Tage, ganz unvergeßlich.
+</p>
+
+<p>
+Es waren die Tage der Galeerensklaven, wenn die Segel voll sitzen und
+nur tote Kreuzerfahrten gemacht werden. Sie bleiben angeschmiedet,
+damit sie die Gewohnheit nicht verlieren; sie werden weiter gepeitscht,
+damit sie das Gefühl nicht verlieren und nicht an Aufruhr denken; sie
+müssen weiter arbeiten, damit die Muskeln nicht zu schlapp werden.
+Aber sie dürfen sich hin und wieder ausruhen und den Kopf auf die
+Riemenstangen fallen lassen, weil unter den vollen Segeln die auslegenden
+Riemen bremsen und nicht in Richtung wirken.
+</p>
+
+<p>
+Auch die vollen Kesselschächte konnten bremsend wirken, wenn man
+nicht ruhte, und sie hätten den Kesselraum so verstopfen können, daß
+der Heizer nicht arbeiten konnte, vielleicht gar Feuer ausbrach.
+</p>
+
+<p>
+Die Ladung wurde ebenfalls auf offner See eingenommen. Irgendwo
+an der Küste Portugals mußte es sein; denn die Bootsleute sprachen
+portugiesisch. Es ging ähnlich zu wie weiter südlich an den Küsten
+Afrikas das Ausladen.
+</p>
+
+<p>
+Auch hier kamen drei Mann zuerst an Bord, die wie Fischer aussahen,
+jedoch keine Marokkaner waren. Auch sie gingen mit dem Skipper in
+dessen Kabine. Es wurde geladen, es wurden Zahlen in Englisch gerufen
+und in Arabisch geschrieben. Dann zogen die Boote mit ihren
+Fisch- und Apfelsinenladungen wieder ab, in alle Richtungen hinaus.
+Zuletzt stiegen auch die drei in ihr Boot und setzten ab.
+</p>
+
+<p>
+Diesmal gab es kein großes Nach-Sturm-Frühstück, sondern nur Kakao
+und Stollenkuchen mit Rosinen. Es gab ja auch nichts zu schwören.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+„Denn was soll man schwören?“ sagte Stanislaw. „Wenn da einer kommt
+und hebt die Luke auf und guckt rein und sieht die Kisten, was willst du
+da schwören? Kannst doch nicht gut schwören, es ist keine Kiste da,
+wenn der Mann sie in der Hand hat. Aber da kommst du auch gar nicht
+zum Schwören. Da sind die Kisten und fertig. Kann nur der Skipper
+schwören, wo er mit den Kisten hin will. Und der wird ihnen schon was
+schwören, da kannst du Schlacke drauf fressen.“
+</p>
+
+<p>
+Jetzt hatte ich und natürlich auch Stanislaw feine Wachen. Wenn ausgeschlackt
+war, wurden die Aschenfälle gezogen, dann hob ich dem
+Kohlefall das Schürzchen hoch, und der Kesselraum lag voll, Vorrat mit
+eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so rum in den Eingeweiden.
+Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen,
+Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die
+Kisten aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel
+oder Seife. Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die
+alles haben, alles behalten können und das übrige noch dazu kriegen.
+Moral ist die Butter für die, denen das Brot fehlt.
+</p>
+
+<p>
+Man muß die Kisten nur wieder gut zumachen und darf das Hemd und
+die Stiefel nicht gleich anziehen. Wenn es rauchig wird, verkauft man
+es besser im nächsten Hafen. Nimmt jeder ab. Der Seemann ist billig.
+Er spart ja die Ladenmiete und kann deshalb unter Fabrikpreisen
+verkaufen.
+</p>
+
+<p>
+Seine Ausgaben hat man auch. So leicht ist es nicht, an die Kisten zu
+kommen. Man muß Schlangenmensch sein. Das hatte ich ja gelernt.
+Jeden Tag ein paarmal Training; wenn man nachließ, spürte man es
+sofort an den verbrühten Armen und den verschmorten Stellen auf dem
+Rücken. Es hat auch seine Schwierigkeiten, in den Laderäumen rumzuwirtschaften
+und seine Ware zu suchen und in Empfang zu nehmen. Da
+rutscht so eine Kiste, ein paar andre rutschen nach und man ist gefangen
+in der Falle oder zu Brei zerquetscht. Licht hat man ja keins, sondern
+Wachszündhölzchen, damit man den Waren heimleuchten kann.
+</p>
+
+<p>
+Die Yorikke fuhr keine echten Werte, sie fuhr Totenwerte. Alte Schrauben,
+versichert als Corned Beef. Aber diese Einladungen und Ausladungen
+ließen meinen Geschäftssinn nicht ruhen. Das waren keine
+alten Schrauben und das waren auch keine Zementfüllungen. Ich kenne
+die Marokkaner, die machen sich nichts aus Schrauben und gebackenem
+Zement. Außerdem hatte ich gesehen, daß nur ein Rettungsboot dicht
+war und daß die Offiziere mit dem Skipper auf Wertschätzung standen.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+Die beiden Offiziere beanspruchten Boot zwei; sie durften nicht mit in
+Boot eins, dann wären Skipper und Offiziere erschlagen worden, weil
+man wußte, was los war. Ein zweites Boot mußten sie schon klarmachen.
+Die beiden andern Boote waren ja für den Bootsmann und die A. B.s,
+den Kesselbums und einen Ingenieur. Wenn der zweite Offizier mit
+zum Skipper in Boot eins stieg, das fiel niemand auf, aber beide Offiziere
+durften nicht rein. Solange also nicht Boot zwei überholt war,
+konnte der Yorikke nichts geschehen. Geschah ihr trotzdem etwas, dann
+lag der Fall treu und alles konnte in Boot eins steigen, und wer nicht
+Platz hatte, wurde rausgepfeffert. Da packen alle Hände zu. Dann ist es
+auch nicht nötig, Zeugen zu verheiligen, weil alles, was heimkommt,
+bester Zeuge ist, denn es war eine treue Beerdigung, an der Versicherung
+kann keine Maus knabbern.
+</p>
+
+<p>
+Boot zwei also war für mich das Signal für die Beerdigung. Es war noch
+knistertrocken, also hatte auch die Yorikke noch andre, treue Werte an
+Bord und nicht nur reine Totenwerte. Wenn es auch Blender waren, so
+wollte ich doch wissen, was die Blender im Magen hatten. Wissenschaft
+macht sich manchmal bezahlt.
+</p>
+
+<p>
+Da war ich drin im Laderaum und betrachtete mir die Kisten.
+</p>
+
+<p class="center">
+„Garantiert echtes schwäbisches Pflaumenmus“<br>
+„Garantiert reine Früchte und Zucker“<br>
+„Kein Farbenzusatz“<br>
+„Erste schwäbische Pflaumenmusfabrik A.-G.“<br>
+„Oberndorf a. N.“
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Wir sind schöne Esel. Da fressen wir die Schmierseife rein, die Margarine
+heißt, und hier liegt das schönste schwäbische Pflaumenmus
+stapelweise aufgeschichtet. „O Stanislaw, ich habe dich für einen so
+intelligenten Burschen gehalten, aber du bist das größte Rindvieh auf
+Erden.“
+</p>
+
+<p>
+Das war mein erster Gedanke. Stanislaw hatte immer so einen großen
+Mund, er tat immer so klug, er wußte immer alles, wußte immer, wohin
+die Yorikke ging und wohin sie nicht ging. Aber das Pflaumenmus hatte
+er doch nicht entdeckt.
+</p>
+
+<p>
+Kisten aufmachen ist Spielerei, wenn man Übung hat. Feine große
+Büchsen. Das gibt ein Fressen morgen, dick drauf geschmiert auf das
+warme Brot. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Garantiert reine
+Früchte und Zucker. Kein Ersatz aus deutscher Rübenzeit. Reine Früchte
+und Zucker. Die Marokkaner wissen schon, was gut ist. Das ist besser
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+als Datteln und Rosinen, schwäbisches Pflaumenmus aus der Ersten
+Pflaumenmusfabrik. Mit dem Meißel, den ich zum Aufmachen der
+Kiste gebraucht hatte, öffnete ich jetzt gleich eine Büchse. Ich war
+mit zwei Büchsen zum Bunker gekrochen, wo ich ja meine Lampe
+unbekümmert brennen durfte. Es konnte mir schon keiner raufkommen,
+weil ich das Brett, das über zwei Streben lag und das zur
+Bunkerluke führte, weggezogen hatte. Von den Ingenieuren wäre sowieso
+keiner über das Brett gegangen; denn das erforderte Mut. Besonders
+stark war das Brett nicht, und es war auch nicht mehr neu. Es war nicht
+ausgemacht, ob es heute oder morgen brach. Und wenn es brach, oder
+wenn man beim Drübergehen infolge eines unerwarteten Stampfers der
+Yorikke das Gleichgewicht verlor, so sauste man zwanzig Fuß tief
+runter in den Kesselraum und schlug sich auf dem Wege dahin einen
+Schädelbruch, wenn man Glück hatte. Wenn man Pech hatte, so war es
+schon ganz egal, ob man einen oder zehn Schädelbrüche hatte. Aber
+besser ist besser, dachte ich, und darum hatte ich das Brett weggezogen.
+Die Büchse war auf. Es war keine Blendung, verflucht noch mal. Es war
+tatsächlich garantiert reines Pflaumenmus. Offenbar hatte ich Goldstaub
+erwartet, weil ich so erstaunt war. Das hätte ich von der Yorikke
+nicht gedacht. Sie fährt treues, echtes Gut. Und ich habe das arme Weib
+unter Verdacht gehalten, daß sie Deklarierungen kleistert und Blender
+fährt. Man soll doch nie voreilig urteilen, wenn man es mit Weibern
+zu tun hat.
+</p>
+
+<p>
+Man soll nicht voreilig urteilen, wenn man es mit –.
+</p>
+
+<p>
+Schmeckt das Zeug? Schmeckt ganz gut. Schmeckt – na – na – warte
+mal – schmeckt etwas ranzig. Nein, schmeckt nach – nach – nach was
+denn zum Donnerwetter nochmal? Die haben Coppers reingetan, die
+Säue. Die haben Kupfermünzen rein getan, damit die Pflaumen Farbe
+behalten sollen. Garantiert kein Farbzusatz. Ist keine Farbe, aber
+schmeckt danach. Wollen doch noch mal kosten. Ja, Teufel, schmeckt
+nach Grünspan, direkt nach Messing. Kann ich nicht essen auf Brot.
+Ich werde den Geschmack nicht los. Frißt sich auf der Zunge ein und
+klietscht gegen den Gaumen.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht nur oben so schlimm. Gehen wir mal tiefer mit dem Finger
+in die Marmelade! Was ist denn das? Da sind ja noch die ganzen
+Pflaumenkerne drin geblieben. Das ist ja eine Marmelade. Scheint echt
+schwäbisch zu sein, die Kerne alle drin zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Na? Was ist denn das? Das sind aber merkwürdige Pflaumen, die echt
+schwäbischen Pflaumen. Die haben sehr mysteriöse Kerne. Die Kerne
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+sind ja aus Blei, tatsächlich aus Blei. Und damit das Blei nicht beschädigt
+wird, hat es einen weißen Stahlpanzer. Und jeder Kern steckt auf einer
+Messinghülse. Daher der Messinggeschmack. Und in den Hülsen? Was
+ist denn da drin? Zucker. Feiner Zucker. Schwäbischer Zucker muß das
+sein. Ist schwarz und schmeckt ganz salzig. Garantiert reine Früchte
+und Zucker. Feine Blender. Man soll nicht voreilig urteilen, Yorikke ...
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Dann ging ich auf die zweite Reise. Mausefallen. Daß die Marokkaner so
+wild auf Mausefallen sein sollten, glaubte ich nicht. Es waren wirklich
+Mausefallen in den Kisten. Als ich aber nach den Kernen suchte, fand
+ich Mausefallen ohne Fallen, mit einem R am Ende. Mauser.
+</p>
+
+<p>
+Da waren Kisten mit Kinderspielzeug. „Blechautos mit aufziehbarem
+Federwerk.“ Ich suchte nicht nach den Kernen und sparte mir die Mühe,
+weil die Blechautos mit aufziehbarem Federwerk aus der „Ältesten
+Suhler Spielwarenfabrik“ kamen. Aber England war viel besser und
+viel gründlicher vertreten als Belgien und benachbarte Gebiete. Belgien
+hatte Zuckerwaren beigesteuert und England Kasserollen aus Weißblech.
+Die Marokkaner haben ganz recht. Spanien den Spaniern, Frankreich
+den Franzosen und China den Chinesen. Wir lassen keine Chinesen
+rein. Aber wenn die uns nicht reinlassen, dann ist unser Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra!
+befleckt, bedreckt, beschiet und muß mit Blutfleckseife
+ausgewaschen werden, yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+He, Skipper, auf mich kannst du zählen. Du machst das Geschäft, und
+ich habe das Wohlgefallen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-14">
+35
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw,</span> nun sag mal, warum frißt du denn die
+Margarine immer so in dich hinein? Hast du denn gar
+kein Schamgefühl?“
+</p>
+
+<p>
+„Was willst du machen, Pippip. Erstens habe ich
+Hunger, und zweitens kann ich doch nicht meine
+Lumpen auskochen, den Saft eindicken und dann als
+Marmelade aufs Brot schmieren. Hab doch weiter
+nichts aufs Brot. Und immer das trockene Brot hinterwürgen,
+Mensch, du wirst ja ganz dusselig davon. Kriegst ja Betonfundamente
+in den Bauch.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist schön dumm,“ sagte ich nun, „weißt du, daß wir Marmelade
+geladen haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich weiß ich“, sagte Stanislaw, ruhig weiter kauend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+„Warum machst du denn nicht eine Kiste dicht?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch keine Marmelade für uns.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Die ist bloß gut für Marokkaner, Spanier und Franzosen und natürlich
+für die Lieferanten. Aber für uns, für dich und für mich, ist das
+keine Marmelade. Die kannst du nicht verdauen. Die kannst du nur
+verdauen, wenn man sie dir in die Rippen pfeffert. Aber dann kriegst
+du die Lauferei, da läufst du gleich so sehr, daß du deinen Urgroßvater
+noch einholen und mit ihm zusammen gehen kannst.“
+</p>
+
+<p>
+Der wird doch nicht etwa?
+</p>
+
+<p>
+Ich platzte gleich raus: „Weißt du denn etwa schon, was da drin ist. Du
+hast doch nicht etwa –?“
+</p>
+
+<p>
+„Nachgesehen? Für was für ein großes Kamel hältst du mich denn eigentlich?
+Die drei Edlen waren noch beim Skipper in der Kabine und oben
+wurde noch die Luke dicht gemacht, damit auch ja niemand dran kann,
+da hatte ich schon eine Kiste auf. Ich brauche doch nur lesen Pflaumenmus
+oder Marmelade oder Dänische Butter oder Corned Beef oder Ölsardinen
+oder Schokolade, da bin ich doch auch schon dahinter.“
+</p>
+
+<p>
+„Da ist aber tatsächlich Pflaumenmus drin“, erwiderte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist immer was drin. Aber das kannst du nicht essen. Das schmeckt
+zu sehr nach Grünspan. Stirbst an Blutvergiftung. Auf der letzten
+Reise, ehe du raufkamst, da hatten wir Corned Beef. Natürlich auch
+Blender, aber ich habe gründlich abgehäutet, das kann ich dir sagen.
+Das war fein. Da war nichts dran. Das war in Pergament gefettet.
+Manchmal hat man eben Glück. War gute amerikanische Ware. Ging
+nach Damaskus oder da herum.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie waren denn die Knochen?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Knochen? In Corned –? Ach so, die Knochen meinst du. Das waren
+K’rabben. K–rabben. Karabiner. Made in U. S. A. Feines Modell. Da
+hat der Skipper schwer Draht gezogen. Da gab es Kognak, Rinderbraten,
+Huhn und frisches Gemüse. Da mußte nicht nur das Maul, da
+mußten auch die Glotzen und die Riecher gepflastert werden. Ein französischer
+Jäger kriegte uns auf, ehe wir raus waren. Die haben geschnüffelt,
+mit Zigaretten und mit Franken rumgeschmissen. Aber mußten
+wieder abziehen und dem Skipper Verbeugungen machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hat denn keiner für die gewinkten Franken gepfiffen?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei uns? Auf der Yorikke? Wir sind alle Dreck und haben nichts mehr
+zu melden. Wir sind tot. Du auch. Na, und sieh mal, jemand anders
+ins Portemonnaie sehen oder in den Glasschrank gucken oder Kisten
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+aufmachen in einem Schuppen oder auf der Yorikke, dem Zweiten und
+dem Ersten noch dazu den Hammer an den Schädel feuern, das ist alles
+Ehrensache. Behältst du immer den Kopf hoch, behältst du immer deinen
+Murr, deinen Stolz. Aber pfeifen bei der Polizei oder der auch nur mit
+einem Fingernagel helfen, das ist schäbig. Da kannst du dir nicht mehr
+in die Augen gucken. Wenn die was wollen, laß sie doch machen. Aber
+du bist doch ein anständiger Kerl, da putzt man den Burschen nicht die
+Brillengläser. Ich will lieber auf der Yorikke und mit der Yorikke verrecken,
+als mit einem Polizisten tauschen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir lagen auf der Reede an der portugiesischen Küste, um Deckungsgut
+einzunehmen und die Yorikke zu klären. Die Yorikke war plötzlich
+in Verdacht gekommen. Deshalb nahm der Skipper nur echtes Gut ein
+und ließ sehr saubere Deklarierungen gegen die Yorikke laufen, an
+denen auch nicht ein Pünktchen zu deuteln war. Es war sehr billiges
+Gut, denn hohes vertraute der Yorikke niemand an. Wer sie kannte,
+nicht. Aber da gibt es ja so unendlich viel Gut, das an sich keinen besonderen
+Wert darstellt, aber doch gefahren werden muß und doch
+wieder zu gut ist, um nur als Ballast zu gehen. Den Wert bekommt
+dieses Gut erst, wenn es abgeliefert ist.
+</p>
+
+<p>
+Nach fünf Uhr des Nachmittags hatten wir nichts mehr zu tun, und die
+Arbeit begann erst wieder am nächsten Morgen um sieben. Das war die
+Arbeitszeit, wenn wir auf Reede oder am Kai in einem Hafen lagen.
+Die Arbeit in diesen Fällen war meist unangenehm, aber doch nicht gar
+so schwer wie auf der Fahrt.
+</p>
+
+<p>
+Hier war es dann, daß wir schon manchmal einige Stunden beieinander
+sitzen konnten, um in Ruhe zu schwätzen. Ein Schiff ist immer groß
+genug, daß man irgendwo sitzen kann, ohne daß man sich mit den Ellbogen
+stößt.
+</p>
+
+<p>
+So viele Leute auf der Yorikke waren, so viele Nationen waren auch
+vertreten. Jede Nation hat ihre Toten, die leben und atmen, aber gegenüber
+der Nation doch tot für ewig sind. Manche Staaten haben ganz
+offen ihre Totenschiffe. Diese Totenschiffe nennt man dann Fremdenlegion.
+Wer sie überlebt, kann vielleicht ein neues Leben damit erkauft
+haben. Er hat einen neuen Namen erworben, der ihm bestätigt wird,
+und er hat einen neuen Platz in einer Nation gefunden, als wäre er als
+Säugling eben hineingeboren.
+</p>
+
+<p>
+Alle Kommandos auf der Yorikke wurden in Englisch gegeben, und alle
+Unterhaltung wurde in englischer Sprache gepflogen, weil sonst eine
+Verständigung nicht denkbar gewesen wäre. Es war ein höchst
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+merkwürdiges Englisch. Nur der Skipper sprach ein reines, fehlerfreies
+Englisch. Alle übrigen dagegen sprachen etwas, das mit Englisch nichts
+zu tun hatte. Es war Yorikkisch. Eine eigne Sprache.
+</p>
+
+<p>
+Wie die Sprache klang und aussah, läßt sich nur schwer schildern. Jeder
+Seemann weiß zwei Dutzend englische Worte. Und jeder weiß drei bis
+sechs Worte, die der andre nicht weiß, aber von ihm lernt durch das Zusammenleben
+an Bord, wenn nur Englisch gesprochen wird. Dadurch
+eignet sich jeder in kurzer Zeit etwa zweihundert Worte an. Zweihundert
+Worte der englischen Sprache auf diese Weise, aber nur auf diese Weise
+gelernt und dazu die Zahlen, die Namen der Tage und Monate in Englisch,
+ermöglichen jedem Menschen, alles das klar und zweifelsfrei auszudrücken,
+was er innerhalb dieses Kreises sagen will. Ganze Romane
+kann er mit diesem Sprachschatz erzählen. Er kann natürlich kein englisches
+Buch lesen und noch viel weniger eine englische Zeitung. Keine
+andre europäische Sprache kann diesen Vorteil ihren Schülern bieten,
+sich so leicht und so rasch im Leben verwenden zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Ehe ich aber das Yorikkisch verstand und mich in Yorikkisch ausdrücken
+konnte, vergingen mehrere Tage. Hätte ich Worte und Wortverbindungen
+so gebraucht, wie ich sie seit meinen ersten nassen Windeln gehört
+und geplappert hatte, würde mich niemand auf der Yorikke, der
+Skipper ausgenommen, verstanden haben, und man würde mir kaum
+geglaubt haben, daß ich Englisch spräche.
+</p>
+
+<p>
+Wie war das Yorikkische Englisch entstanden, und wie war das Englisch
+auf andern Totenschiffen entstanden?
+</p>
+
+<p>
+Das Sprachengewirr unter den Angehörigen der verschiedenen Nationen,
+die auf der Yorikke fuhren, machte eine gemeinsame Sprache notwendig.
+Da jeder, wenn er nur ein paar Wochen fährt, einige englische
+Brocken weiß und gleich mitbringt, so ergibt sich ganz von selbst das
+Englisch als Kommando- und Umgangssprache.
+</p>
+
+<p>
+Da ist das Wort First-Mate, Erster Offizier, das die meisten wissen, und
+da ist das Wort Money, das jeder weiß.
+</p>
+
+<p>
+Nun aber kommt die lebendige Entwicklung, eine Sprachentwicklung,
+wie sie sich nicht nur auf der Yorikke zeigte, sondern wie sie sich in
+ganzen Völkern zeigt und von jeher gezeigt hat.
+</p>
+
+<p>
+Mate wird in London-West ganz anders ausgesprochen als in London-Ost,
+und der Amerikaner spricht achtzig Prozent der Worte anders aus
+als der Engländer, und sehr viele schreibt er auch ganz anders und verwendet
+sie in ganz andern Ideenverbindungen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+Der Zimmermann hat das Wort First-Mate nie in England gehört, sondern
+von einem Schweden, der das Wort von einem Seemann aus
+London-Ost gehört hatte. Der Schwede konnte es schon selbst nicht
+richtig aussprechen, außerdem hatte er es noch in dem üblen Petty-coat-lane
+oder Cockney-Dialekt gehört, den er für die richtige und allein
+gültige Aussprache halten mußte, weil er ja das Wort von einem Engländer
+vernommen hatte. Wie das Wort nun von dem Zimmermann
+ausgesprochen wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Ein Spanier
+bringt die Aussprache des Wortes Money, ein Däne bringt Coal, ein
+Holländer Bread, ein Pole Meal, ein Franzose Thunder und ein Deutscher
+Water.
+</p>
+
+<p>
+Das Wort First-Mate läuft durch alle Stadien der Laute, die ein Mensch
+geben kann: Feist-Moat, Fürst-Meit, Forst-Miet, Fisst-Määt und noch so
+viel mehr als Leute auf der Yorikke sind. Nach einer kurzen Zeit aber
+schleifen sich die verschiedenartigen Aussprache-Färbungen gegeneinander
+ab und es kommt zu einer einheitlichen Aussprache, in der sich
+alle die Tonfarben wiederfinden in abgeschwächter Form. Wer neu hinzukommt,
+selbst wenn er genau weiß, wie das Wort richtig ausgesprochen
+wird, ja selbst wenn er Professor der Phonetik in Oxford wäre, muß
+das Wort Yorikkisch aussprechen, wenn er zu jemand den Befehl bringen
+soll, daß der First-Mate ihn zu sehen wünsche, weil der Mann sonst
+gar nicht wüßte, was man von ihm wolle. Der Professor merkt nach
+kurzer Zeit gar nicht mehr, daß er die Worte Yorikkisch ausspricht, weil
+er sie nur in dieser Form hört und sie sich in dieser Form in sein Gedächtnis
+einprägen. Von den Vokalen bleibt nicht viel an richtiger Aussprache
+übrig, aber von den Konsonanten bleibt genug übrig, um das
+Wort nach einigem Hinhören doch zu verstehen. Dadurch bleibt die
+Sprache immer Englisch in ihrem Skelett und kann auf jedes andre
+Schiff übertragen werden. Gäbe es keine Buchdruckerkunst, so würde es
+so viele ganz selbständige Sprachen geben wie es Dialekte gibt. Hätten
+die Amerikaner nicht die gleiche Schriftsprache wie die Engländer,
+würde heute die Sprache der beiden Völker ebenso verschieden sein wie
+die Sprache der Holländer und der Deutschen.
+</p>
+
+<p>
+Der Seemann ist, soweit die Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An
+welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden
+und kann sich verständlich machen. Und wer eine Yorikke überwinden
+und überleben kann, den kann nichts mehr in Schrecken versetzen, für
+ihn ist nichts unmöglich.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-15">
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+36
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> wurde nur von mir und den Heizern
+Stanislaw oder Lawski gerufen. Alle übrigen, auch
+die Offiziere und Ingenieure riefen ihn Pole, manche
+Pollack. Die Mehrzahl der Leute wurden nach ihrer
+Nationalität gerufen: He, Spanier oder Russ oder
+Holländer. Und das war ein ironischer Witz des
+Schicksals. Ihre Nation verleugnete sie und stieß sie
+von sich, auf der Yorikke war ihre Nation ihre ganze
+Persönlichkeit. Jeder, der auf einem Schiff angezeichnet werden soll,
+wird zum Konsul gebracht, zum Konsul jenes Staates, unter dessen
+Flagge des Schiff fährt. Der Konsul hat die Anmusterung zu bestätigen
+und zu registrieren. Er prüft die Papiere des Seemanns, und wenn ihm
+die Papiere nicht gefallen, verweigert er die Registrierung, und der
+Mann kann nicht mustern. Die Anmusterung vor dem Konsul muß im
+Hafen erfolgen, ehe der Mann seine Arbeit beginnt.
+</p>
+
+<p>
+Yorikke hätte auf diese Art nie einen Mann bekommen, vielleicht nicht
+einmal Ingenieure und Offiziere; denn wer mit seinen Papieren in
+Ordnung war, ging der Yorikke in weitem Bogen aus dem Wege. Die
+Yorikke verdarb die besten Papiere eines Mannes, und ein Mann, der
+von der Yorikke abzeichnete, hatte ein oder zwei Jahre dreiviertel und
+halbe Yorikken erst zu fahren, ehe er sich wieder beim Skipper eines
+ehrlichen Schiffes sehen lassen konnte, falls er überhaupt je auf eine
+dreiviertel Yorikke kommen konnte. Denn selbst da war der Skipper
+mißtrauisch. „Auf der Yorikke haben Sie gefahren? Wo werden Sie denn
+verlangt? Was haben Sie denn ausgefressen?“ Das sagt der Skipper.
+</p>
+
+<p>
+Und der Mann sagt: „Ich konnte kein andres Schiff kriegen und nahm
+deshalb die Yorikke für eine Reise.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will keine Scherereien haben mit der Polizei oder mit den Konsuln.
+Ich möchte nicht gern, daß es heißt, auf meinem Schiff haben sie unter
+der Mannschaft einen Raubmörder verhaftet, der in Buenos-Aires verlangt
+wird“, sagt der Skipper.
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Skipper, wie können Sie denn das sagen? Ich bin ein ganz ehrlicher
+Mann.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja. Aber von der Yorikke. Ich kann doch nicht von Ihnen fordern,
+daß Sie mir von allen Ländern der Erde ein polizeiliches Leumundszeugnis
+beibringen, nicht älter als vier Wochen. Da haben Sie zwei
+Schillinge, für ein gutes Abendessen, aber Anmusterung? Ich möchte
+doch lieber nicht das Risiko übernehmen. Vielleicht kriegen Sie ein
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+andres Schiff, liegen ja eine Masse hier. Gehen Sie mal zu dem Italiener
+da drüben. Kann sein, er nimmt es nicht so hart.“
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper der Yorikke konnte mit keinem seiner Leute zum Konsul
+gehen, wahrscheinlich nicht einmal mit seinem Ersten Offizier, und ich
+würde mich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht beim Konsul sehen
+lassen dürfte, ohne daß der Konsul sofort den Hörer abnimmt und zum
+Skipper sagt: „Setzen Sie sich, bitte, Herr Kapitän, nur einen Augenblick,
+dann stehe ich zu Ihren Diensten.“
+</p>
+
+<p>
+Diese Dienste würde der Skipper vielleicht nicht abwarten, sondern
+etwas andres tun; rin ins Auto, rauf auf die Yorikke, Anker gehievt
+und abgesurrt mit hundertfünfundneunzig und zugeschraubten Tränendrüsen.
+</p>
+
+<p>
+Die Yorikke bekam alle Leute unter dem Schiffsnotgesetz. Sie kamen
+rauf, wenn der Blaue Peter eingezogen wurde und der Lotse schon an
+Bord war. Kein Konsul der Erde wird dann verlangen, daß der Skipper
+nun wieder anhalten und mit einem Mann zum Konsul gehen soll. Das
+verlangt noch viel weniger irgendeine Hafenbehörde. Früher konnte
+man den Mann nicht anmustern, weil keiner da war, und weil man nicht
+wußte, daß von der Mannschaft sich einer besaufen und achtern abkanten
+würde. Das merkte man erst, als das Lotsensignal gepfiffen
+wurde und der Mann nicht an Bord war.
+</p>
+
+<p>
+Selten verriet jemand auf der Yorikke einem andern seinen wahren
+Namen und seine wahre Nationalität. Ebenso selten erfuhr man, unter
+welchem Namen und unter welcher Nationalität jemand angemustert
+hatte. Kam jemand neu, so fragte ihn der Offizier oder der Ingenieur
+oder ein Mann, eben irgendeiner, der mit ihm zuerst zu tun hatte: „Wie
+heißen Sie?“ Darauf sagte der Gefragte: „Ich bin Däne.“ Damit hatte
+er zwei Fragen beantwortet und nun hieß er Der Däne oder nur Däne.
+Mehr zu fragen, hielt man für überflüssig. Man wußte meist oder
+glaubte meist, daß Däne schon gelogen war, und sich mehr anlügen zu
+lassen, darauf ging man nicht aus. Willst du nicht belogen werden, dann
+darfst du auch nicht fragen.
+</p>
+
+<p>
+Um uns an einem faulen Abend, während wir auf der Reede lagen, die
+Zeit zu vertreiben, erzählte mir Stanislaw seine Geschichte und ich ihm
+meine. Ich erzählte ihm nicht meine wahre Geschichte, sondern eben
+eine Geschichte. Ob er mir eine wahre Geschichte erzählte, weiß ich
+nicht. Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, ob das Gras
+grün ist, es kann ja nur in meinen Augen eine grüne Täuschung verursachen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+Aber gute Gründe machen mich glauben, daß die Geschichte, die mir
+Stanislaw erzählte, der vollen Wahrheit entsprach, weil sie den Geschichten
+aller Reisenden auf Totenschiffen so ähnlich war.
+</p>
+
+<p>
+Sein Name, den ich, wie die ganze Geschichte, auf dem Eimer nicht verraten
+durfte, war Stanislaw Koslowski. Er war geboren in Posen und
+dort bis zu seinem vierzehnten Jahre in die Schule gegangen. Indianer-
+und Seegeschichten verlockten ihn, er rannte von Hause fort, kam nach
+Stettin, verbarg sich dort auf einem dänischen Fischkutter und fuhr
+mit ihm nach Fünen. Dort fanden ihn die Fischersleute in ihrem Kutter
+halberfroren und halb verhungert. Er sagte, er sei aus Danzig, borgte
+sich von seinem Buchbinder, wo er die Seegeschichten zu kaufen pflegte,
+den Namen aus und gab ihn als seinen Namen an. Er erzählte weiter,
+daß er ein Waisenkind sei und von den Leuten, bei denen er in Pflege
+sei, so schlecht behandelt und so verprügelt werde, daß er ins Meer gesprungen
+sei, um sich zu töten. Da er aber schwimmen könne, so habe er
+zu schwimmen angefangen und sich auf dem Kutter versteckt. Er schloß
+seine Erzählung unter Tränen mit den Worten: „Wenn ich zurück nach
+Deutschland muß, binde ich mir Hände und Füße zusammen und
+springe sofort ins Meer. Zu den Pflegeeltern gehe ich nicht zurück.“
+</p>
+
+<p>
+Die Fischersfrauen weinten alle herzzerbrechend über das traurige
+Schicksal des kleinen deutschen Jungen und nahmen ihn auf. Zeitungen
+lasen sie nicht, und in die dänischen Zeitungen kam es wohl auch nicht,
+daß ganz Deutschland nach dem Jungen abgesucht wurde und die gräßlichsten
+Geschichten in Umlauf waren, was wohl alles mit dem Jungen
+geschehen sein könne.
+</p>
+
+<p>
+Bei den Fischersleuten auf Fünen mußte er schwer arbeiten, aber es
+gefiel ihm hundertmal besser als in den Straßen von Posen; und wenn
+er daran dachte, daß man ihn zu einem Schneider hatte in die Lehre
+geben wollen, so verging ihm alle Lust, seinen Eltern auch nur das
+kleinste Zeichen zu schicken, daß er am Leben sei. Die Furcht, Schneider
+werden zu müssen, war größer als die Liebe zu Vater und Mutter, die
+er ganz niedlich hassen konnte für ihre Absicht, ihn zu einem tüchtigen
+Schneider ausbilden zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+Mit siebzehn Jahren verließ er die Fischersleute mit deren Segenswünschen,
+um nach Hamburg zu gehen und für große Fahrt zu mustern.
+In Hamburg war kein Schiff zu haben, und er nahm für einige Monate
+Arbeit bei einem Segelmacher. Er meldete sich vorschriftsmäßig unter
+seinem richtigen Namen an, bekam seine Invalidenkarte und ließ sich
+endlich ein gutes deutsches Seemannsbuch ausstellen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+Dann fuhr er los auf große Fahrt auf ehrlichen deutschen Schiffen.
+Dann wechselte er und fuhr auf einem Holländer. Und dann kam der
+blutige Tanz ums goldene Kälbchen. Als das los ging, war er mit seinem
+Holländer im Schwarzen Meer. Auf der Heimfahrt passierte das Schiff
+den Bosporus, wurde von den Türken untersucht, und er mit noch einem
+Deutschen wurde herausgeholt und in die türkische Kriegsmarine gesteckt,
+unter anderm Namen, weil er seinen richtigen nicht angab.
+</p>
+
+<p>
+Dann kamen zwei deutsche Kriegsschiffe nach Konstantinopel, die in
+einem italienischen Hafen gelegen hatten und dort den Engländern, die
+ihnen auflauerten, entwischt waren. Stanislaw kam nun auf eines dieser
+Schiffe und diente weiter unter türkischer Flagge, bis er eine passende
+Gelegenheit fand, den Türken den Abschied zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Er fand Heuer auf einem Dänen. Der Däne wurde von einem deutschen
+Unterseeboot durchsucht, und ein Schwede, der auf dem Schiff fuhr, und
+dem er erzählt hatte, daß er nicht Däne, sondern Deutscher sei, verriet
+ihn an die Offiziere des Unterseebootes. Stanislaw kam nach Kiel und
+wurde unter falschem Namen in die deutsche Kriegsmarine gesteckt.
+Artilleriedienst.
+</p>
+
+<p>
+In Kiel traf ihn ein andrer Kuli, mit dem er früher auf einem deutschen
+Handelsschiff gefahren war. Durch den kam der richtige Name heraus,
+und Stanislaw wurde nun mit seinem richtigen Namen in der deutschen
+Kriegsmarine geführt.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw war dabei, als in der Nähe von Skagen zwei sich bekämpfende
+Nationen, die Engländer und die Deutschen, zu gleicher Zeit Sieger
+wurden und die Engländer mehr Schiffe verloren als die Deutschen und
+die Deutschen mehr als die Engländer. Stanislaw wurde von dänischen
+Fischerbooten aufgepickt und ins Dorf gebracht. Da er mit dänischen
+Fischersleuten umzugehen verstand und hier ein Bruder jener Frau
+war, die ihn in Fünen aufgenommen hatte, so lieferten ihn die Fischer
+nicht ab an die dänische Regierung, sondern versteckten ihn und brachten
+ihn endlich als Dänen auf einem guten Schiff in Esbjerg unter, mit
+dem Stanislaw wieder auf große Fahrt kam. Diesmal hütete er sich, zu
+verraten, daß er Deutscher sei, und so konnte er allen Unterseebooten,
+englischen und deutschen, ins Gesicht lachen.
+</p>
+
+<p>
+Die Regierungen vertrugen sich, die großen Räuber setzten sich alle zu
+einem fetten Versöhnungsbankett nieder, und die Arbeiter und kleinen
+Leute in allen Ländern hatten die Unfallkosten, die Hospitalrechnungen,
+die Beerdigungskosten und das Versöhnungsbankett zu bezahlen.
+Dafür durften sie den einziehenden Heeren, die „im Felde gesiegt“
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+hatten, mit kleinen Fähnchen und Taschentüchern zuwedeln und
+den übrigen Heeren, die „im Felde nicht besiegt“ waren, mit brausender
+Begeisterung zurufen: Macht nischt, das nächste Mal! Und als den
+Arbeitern und den Kleinen schwindlig wurde von der Höhe der Rechnungen,
+die sie bezahlen sollten, weil die großen Räuber nichts verdient
+und sogar das noch für die Wohltätigkeit geopfert hatten, da führte
+man die kleinen Leute an das Grab des „Unbekannten Kriegers“, wo
+sie so lange standen und man so lange auf sie einredete, bis sie dran
+glaubten, an die Pflicht des Bezahlens und an die Echtheit des Unbekannten
+Kriegers. Wo man sich keinen Unbekannten Krieger leisten
+konnte, weil man keinen hatte, da schläferte man das Denken der
+Arbeiter damit ein, daß man ihnen den Dolch im Rücken zeigte und sie
+raten und streiten ließ, wer ihn reingesteckt habe.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam die Zeit, wo in Deutschland ein Zündholz zweiundfünfzig
+Billionen Mark kostete, während die Herstellung jener zweiundfünfzig
+Billionen Mark in Nicht-Billionen-Scheinen mehr kostete als ein ganzer
+Eisenbahnwaggon voll Zündhölzer. Da fand es die dänische Kompanie
+an der Zeit, ihre Schiffe nach Hamburg ins Trockendock zu schicken zum
+Überholen. Die Mannschaften wurden entlassen und in ihre Heimat
+geschickt. Stanislaw war mit dem Schiff nach Hamburg gekommen und
+war nun gleich in seinem Heimatlande.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-16">
+37
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">as</span> dänische Heuerbuch war nicht viel wert. In
+Dänemark lagen so viele Schiffe auf, daß man
+kaum auf Musterung rechnen konnte. Und Stanislaw
+wollte endlich wieder einmal ein richtiges
+Seemannsbuch haben.
+</p>
+
+<p>
+Er ging zum Seemannsamt, wo er dachte, das
+Buch zu bekommen.
+</p>
+
+<p>
+„Müssen Sie erst eine Bescheinigung von der
+Polizei beibringen.“ – „Ich habe hier mein altes Seemannsbuch.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ein dänisches. Wir sind hier nicht in Dänemark.“
+</p>
+
+<p>
+Das dänische Seemannsbuch trug einen andern Namen, nicht den richtigen
+Namen Stanislaws.
+</p>
+
+<p>
+Er ging zur Polizei, sagte seinen richtigen Namen und wollte eine Bescheinigung
+haben, damit er ein Seemannsbuch bekommen könne.
+</p>
+
+<p>
+„Hier gemeldet?“ wurde er gefragt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+„Nein. Bin gestern erst angekommen. Mit einem Dänen“, sagte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Dann lassen Sie sich erst Ihren Geburtsschein schicken, sonst können
+wir Ihnen keine Bescheinigung geben“, sagte die Polizei.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw schrieb nach Posen, um seinen Geburtsschein zu bekommen.
+Er wartete eine Woche. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete zwei
+Wochen. Der Geburtsschein kam nicht.
+</p>
+
+<p>
+Nun schrieb Stanislaw einen Einschreibebrief und packte fünfzig Billionen
+Mark bei für Unkosten.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw wartete drei Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Er
+wartete vier Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Was kümmert man
+sich in Polen um den Geburtsschein eines Mannes, der in Deutschland
+wohnt. Man hat andre Sorgen. Da ist erst mal Oberschlesien. Und da ist
+erst mal Danzig. Und wer weiß, wo die Geburt registriert ist. In diesem
+Kram können wir uns nicht zurecht finden. Das ist alles nichts für uns.
+Das Geld, das Stanislaw mitgebracht hatte, ein hübsches Päckchen
+dänischer Kronen, war längst über alle Berge. Berge? Nein, war längst
+über ganz St. Pauli. In St. Pauli kennt man dänische Kronen und weiß
+sie zu schätzen, sind beinahe ebenso gut wie Dollar. „Was willst du
+machen, wenn da die Mädels sind? Kannst doch nicht gut abwinken.
+Sieht ja aus, als ob du nicht mehr –. Ja, da waren halt die
+Kronen im –.“
+</p>
+
+<p>
+„Verhungern und Kohldampf schieben tun nur die Dussel und Idioten“,
+sagte Stanislaw. „Ein ehrliches Handwerk ernährt immer seinen
+Mann.“
+</p>
+
+<p>
+Da fiel schon mal eine Kiste auf dem Güterbahnhof aus einem Güterwagen,
+wo die Tür zu leicht aufging. „Mußt bloß da sein, wenn sie fällt,
+und mußt sie nicht liegen lassen. Das ist der ganze Witz an der Geschichte“,
+sagte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Dann gingen auch schon mal ein paar Zuckersäcke im Hafen auf. „Wenn
+du da mit einem leeren Rucksack gehst“, sagte Stanislaw, „und es geht
+ganz von allein so ein Zucker- oder Kaffeesack auf, und der ganze
+Brassel rutscht dir in den Rucksack, da machst du doch nicht den Rucksack
+los, schüttest den Kaffee wieder aus und gehst deiner Wege. Das
+wäre ja Gottversuchen. Wenn du den Kaffee wieder ausschüttest und
+es sieht einer, denkt er gar noch, du hättest ihn gestohlen, und er läßt
+dich hochgehen.“
+</p>
+
+<p>
+Es gab auch Salvarsan und Koks. „Für die arme leidende Menschheit
+muß man ein Herz haben, da kannst du nicht drum rum. Weißt nicht,
+wie es dir tun kann, wenn du Salvarsan nötig hast und kannst es nicht
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+kriegen. Mußt nicht nur immer an dich denken, mußt auch mal an andre
+denken, wenn es dir gut gehen soll.“
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du, Pippip,“ ergänzte Stanislaw seine Erzählung, „jedes Ding
+hat seine Zeit. Da kommt dann eine Zeit, wo du dir sagen mußt, nun
+trachte aber nach etwas anderm. Das ist der Fehler, daß die meisten
+nicht zur rechten Zeit sagen können: Nun aber runter von der Ella, sonst
+kommst du nicht mehr raus und die Olsche schnappt dich. Und da sagte
+ich mir, jetzt mußt du einen Kasten kriegen, und wenn du ihn stehlen
+sollst, sonst sitzt du fest.“
+</p>
+
+<p>
+Als Stanislaw zu dieser Überzeugung gekommen war, ging er wieder
+zur Polizei und sagte, daß sein Geburtsschein nicht gekommen sei.
+</p>
+
+<p>
+„Die verfluchten Pollacken,“ sagte der Inspektor, „das machen sie aus
+Niedertracht. Wir werden ihnen schon noch die Hölle heiß machen,
+lassen Sie nur erst mal die Franzosen in Afrika und die Engländer in
+Indien und China die Hände voll Dreck haben, dann werden wir schon
+was pfeifen.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw, den die politische Meinung des Inspektors nicht interessierte,
+der aber aus Höflichkeit zugehört, genickt und mit der Faust auf den
+Tisch geschlagen hatte, sagte nun: „Wo krieg ich denn nun mein Seemannsbuch
+her, Herr Inspektor?“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie denn nicht schon mal in Hamburg gewohnt?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich. Vor dem Kriege.“
+</p>
+
+<p>
+„Lange?“
+</p>
+
+<p>
+„Über ein halbes Jahr.“
+</p>
+
+<p>
+„Gemeldet gewesen?“
+</p>
+
+<p>
+„’türlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Welchen Bezirk?“
+</p>
+
+<p>
+„Hier in diesem Bezirk. Auf diesem Revier.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann gehen Sie nur einmal rasch zur Hauptmeldestelle und lassen Sie
+sich einen Meldeauszug geben. Dann kommen Sie damit her und bringen
+Sie zwei oder drei Photographien mit, die ich Ihnen stempeln kann.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw bekam den Meldeauszug und eilte zurück zu dem Inspektor.
+Der Inspektor sagte: „Der Auszug ist richtig, wenn ich nur genau
+wüßte, daß Sie auch der sind, der hier im Auszug genannt ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Das kann ich beweisen. Ich kann ja den Segelmacher Andresen, bei
+dem ich gearbeitet habe, herbringen. Aber da steht ja ein Wachtmeister,
+der mich vielleicht noch kennt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Sie kennen?“ fragte der Wachtmeister.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+„Ja. Ihnen habe ich neun Mark Ordnungsstrafe zu verdanken, die Sie
+mir eingebracht haben, wegen einer Prügelei. Damals hatten Sie noch
+eine Fliege an der Unterlippe, die Sie jetzt abrasiert haben“, sagte
+Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Ja–a–a–! Jetzt kann ich mich auf Sie besinnen. Richtig, Sie arbeiteten
+bei dem Andresen. Wir hatten ja noch die Geschichte mit Ihnen.
+Posen suchte Sie, weil Sie als Junge zu Hause durchgebrannt waren. Wir
+ließen Sie dann hier, weil Sie ja hier anständig in Arbeit waren.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann stimmt das alles“, sagte nun der Inspektor. „Jetzt kann ich Ihnen
+die Bescheinigung geben und die Photographien stempeln.“
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage ging Stanislaw mit der Bescheinigung zum Amt.
+</p>
+
+<p>
+„Die Bescheinigung stimmt. Der Inspektor bestätigt, daß er Sie persönlich
+kennt. Aber. Aber die Reichsangehörigkeit bezweifeln wir noch.
+Da steht Deutsche Reichsangehörigkeit. Das müssen Sie uns beweisen.“
+</p>
+
+<p>
+Das sagte man ihm auf dem Amt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe doch in der K. M. gedient und bin am Skagerrak verwundet
+worden.“
+</p>
+
+<p>
+Der Beamte zog die Augenbrauen hoch und machte eine Gebärde, als
+ob von dem, was er jetzt sagen wolle, der Weiterbestand der Erde abhängig
+sei. „Als Sie in der Kaiserlichen Marine dienten und am Skagerrak
+verwundet wurden, wo wir es den scheinheiligen Hunden aber
+gründlich gegeben haben, da waren Sie deutscher Reichsangehöriger.
+Das wird nicht in Zweifel gestellt. Aber ob Sie heute noch deutscher
+Staatsangehöriger sind, das ist von Ihnen zu beweisen. Solange Sie
+uns das nicht beweisen können, sind wir nicht in der Lage, Ihnen ein
+Seefahrtsbuch auszustellen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo muß ich denn da hingehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Da müssen Sie zum Polizeipräsidium gehen. Abteilung Staatsangehörigkeit.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-17">
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+38
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> mußte doch wieder nach seinem ehrlichen
+Handwerk sehen, um nicht zu verhungern.
+Da half nichts. Seine Schuld war es nicht. Arbeit gab
+es nicht einen Brocken. Alles saugte an der Arbeitslosenunterstützung.
+Stanislaw machte keinen Versuch,
+sie mitzunehmen. Ehrliches Handwerk war ihm lieber.
+</p>
+
+<p>
+„Es drückt einen so nieder, wenn man immer zwischen
+Arbeitslosen steht und dort der paar Pfennige wegen
+halbe Tage in Reih und Glied anstehen und jeden Tag hinlaufen muß.
+Dann schon lieber Schmalmachen nachts auf der Straße oder aufpassen,
+ob nicht jemandem die Brieftasche juckt“, sagte Stanislaw.
+„Meine Schuld ist es nicht. Hätten die mir ein Buch gegeben, als ich das
+erstemal da war, wäre ich längst fort. Ich kriege schon einen Kasten.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Auf dem Polizeipräsidium fragte man ihn: „Sie sind in Posen geboren?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Geburtsschein?“
+</p>
+
+<p>
+„Hier ist die Quittung vom Einschreibebrief. Schicken keinen.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Bescheinigung von dem Inspektor in Ihrem Revier genügt mir. Es
+ist nur die Staatsangehörigkeit. Haben Sie für Deutschland optiert?“
+</p>
+
+<p>
+„Ob ich was habe?“
+</p>
+
+<p>
+„Ob Sie für Deutschland optiert haben? Ob Sie, als die polnischen Provinzen
+abgegeben werden mußten, vor einer deutschen zuständigen Behörde
+die Erklärung persönlich zu Protokoll gegeben haben, daß Sie
+deutscher Staatsangehöriger bleiben wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein“, sagte Stanislaw. „Das habe ich nicht getan. Davon habe ich gar
+nichts gewußt, daß man das tun müsse. Ich habe geglaubt, wenn ich
+Deutscher einmal bin und nichts andres werde, daß ich dann auch
+Deutscher bleibe. Ich war doch in der K. M. und habe Skagerrak mitgekämpft.“
+</p>
+
+<p>
+„Damals waren Sie Deutscher. Damals gehörte die Provinz Posen noch
+zu Deutschland. Wo waren Sie denn, als die Optionen gemacht werden
+mußten?“
+</p>
+
+<p>
+„Auf großer Fahrt. Draußen.“
+</p>
+
+<p>
+„Da hätten Sie zu einem deutschen Konsul gehen müssen und dort Ihre
+Option zu Protokoll geben müssen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich habe doch gar nichts davon gewußt“, sagte Stanislaw. „Wenn
+man draußen fährt und hat seine verfluchte schwere Arbeit, dann hat
+man keine Zeit, an solche dummen Sachen zu denken.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+„Hat Ihnen denn Ihr Kapitän nichts gesagt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich fuhr einen Dänen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Beamte dachte eine Weile nach und sagte dann: „Da ist nichts mehr
+zu wollen. Sind Sie vermögend? Haben Sie Landbesitz oder Hausbesitz?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin Seemann.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wie gesagt, da ist nichts mehr zu wollen. Alle Fristen, sogar die Versäumungsfristen
+sind abgelaufen. Und Sie können sich nicht einmal
+berufen darauf, daß Sie irgendwo durch höhere Gewalt gehindert worden
+seien, zu optieren. Sie waren nicht schiffbrüchig in irgendeinem
+Lande, das außerhalb des üblichen Verkehrs liegt. Sie konnten zu jeder
+Zeit einen deutschen Konsul oder den Konsul einer andern Macht, der
+uns vertrat, aufsuchen. Die Aufforderung zur Option ist in der ganzen
+Welt bekanntgemacht worden, und das ist wiederholt geschehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir kommen nicht dazu, Zeitungen zu lesen. Deutsche sieht man nicht,
+und andre versteht man nicht. Und wenn man eine Zeitung wirklich mal
+kriegt, da steht es dann nicht drin, weil das nicht in jede Nummer eingesetzt
+wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann nichts machen, Koslowski. Es tut mir leid. Ich möchte Ihnen
+ja gerne helfen. Aber ich habe nicht die Vollmachten. Sie können sich
+noch an das Ministerium wenden. Aber das dauert lange, und ob Sie
+Erfolg haben, ist noch sehr fraglich. Die Polen kommen uns in keiner
+Weise entgegen. Warum sollen wir dann ihre Stuben rein fegen. Vielleicht
+kommt es noch so weit, daß sie in Polen alle, die für Deutschland
+optiert haben, ausweisen, und dann tun wir das natürlich auch.“
+</p>
+
+<p>
+Überall erzählte man dem armen Stanislaw politische Ansichten, anstatt
+ihm ernsthaft zu helfen. Wenn ein Beamter jemand nicht helfen
+will, so sagt er, er möchte ja so gerne helfen, aber er habe keine Macht
+und keine Vollmachten. Wenn man aber laut mit einem Beamten spricht
+oder ihn nachdenklich ansieht, dann kommt man ins Gefängnis wegen
+Beleidigung eines Staatsbeamten und wegen Widerstandes gegen die
+Staatsgewalt. Dann ist er plötzlich der Staat selbst, ausgerüstet mit
+allen Vollmachten und allen Gewalten, sein Bruder spricht das Urteil,
+und sein andrer Bruder schließt einen in die Zelle oder schlägt einem
+den Knüppel über den Schädel. Was ist der Wert des Staates, wenn er
+dir nicht helfen kann in deinen Nöten?
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, Koslowski,“ sagte der Beamte,
+während er mit dem Stuhle rückte, „gehen Sie zum polnischen
+Konsul. Sie sind Pole. Der polnische Konsul muß ihnen einen polnischen
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+Paß ausstellen. Dazu ist er verpflichtet. Sie sind in Posen geboren. Wenn
+Sie den polnischen Paß haben, dann können wir eine Ausnahme hier
+machen und Ihnen, weil Sie hier ortsansässig sind und auch schon früher
+hier gewohnt haben, ein deutsches Seemannsbuch ausstellen. Das ist
+alles, was ich Ihnen raten kann.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw ging am nächsten Tage zum polnischen Konsul.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind in Posen geboren?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja. Meine Eltern wohnen noch da.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie in Posen oder in einer der Provinzen, die von Deutschland,
+Rußland oder Österreich abgetreten werden mußten, zur Zeit der Abtretung
+gewohnt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Auch nicht zwischen neunzehnhundertzwölf und dem Tage der Abtretung?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich fuhr auf See.“
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie taten und wo Sie fuhren, will ich jetzt noch nicht wissen.“
+</p>
+
+<p>
+„Stanislaw, da war der richtige Zeitpunkt, ihn über die Barriere zu
+ziehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich, Pippip, aber ich wollte doch erst den Paß haben, dann hätte
+ich ihm eine auf die Nase gesetzt, eine Stunde ehe mein Schiff abging.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie bei einer polnischen Behörde innerhalb Polens, die hierfür
+zuständig war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist persönlich zu
+Protokoll gegeben, daß Sie Pole bleiben wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich in den letzten Jahren nicht in
+Posen oder in Westpreußen war.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist keine Antwort auf meine klare Frage. Ja oder nein?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie vor einem rechtmäßig bestallten polnischen Konsul im Auslande,
+der ausdrücklich bevollmächtigt war, Willenserklärungen solcherart
+anzunehmen, persönlich zu Protokoll gegeben, daß Sie polnischer
+Staatsangehöriger bleiben wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie denn dann hier? Sie sind Deutscher. Scheren Sie sich
+zu den deutschen Behörden und belästigen Sie uns ja nicht mehr.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw erzählte das nicht kochend, sondern mehr traurig, weil er
+aus Gründen andrer Art dem Konsul nicht seine Meinung nach Seemannsart
+hatte sagen können.
+</p>
+
+<p>
+„Sieh mal einer an,“ sagte ich, „was diese neuen Staaten sich leisten. Das
+ist schon allerhand. Die werden es noch weit bringen. Du solltest nur
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+mal sehen, wie weit es Amerika auf diesem Gebiete schon gebracht hat,
+und wie es sich abrackert, es noch viel weiter zu bringen und das
+muffigste und verstaubteste preußisch-kaiserliche Beamtenhirnchen an
+Muffigkeit und Beschränktheit zu übertrumpfen. Gehe mal nach
+Deutschland oder nach Polen oder nach England oder nach Amerika
+und hilf mal deiner Ella mit Rotwein und Zimt und Nelken aus der
+Appelsoße, da hast du gleich ein Jahr weg, daß es nur so hagelt. Der
+Staat darf keinen Menschen verlieren. Wenn du aber ausgewachsen
+bist, dann will dich keiner haben. Du hast ja kein Vermögen, keinen
+Landbesitz, keinen Hausbesitz. Da geben die Staaten Millionen an
+Dollar aus, halten Tausende von Vorträgen, machen Filme und drucken
+Bücher, damit die Jungen nicht in die Fremdenlegion gehen sollen. Aber
+wenn ein Junge kommt und hat keinen Paß, geben sie ihm einen Tritt
+in den Hintern. Dann muß er in die Fremdenlegion oder, was viel
+schlimmer ist, aufs Totenschiff. Das Volk, das zuerst die Pässe aufheben
+und den Zustand wieder herbeiführen wird, der vor dem Freiheitskriege
+war, und der niemand schadete und allen das Leben erleichterte, das
+Volk, das zuerst diese Tat vollführt, wird den Toten der Totenschiffe
+das Leben zurückgeben und den Besitzern der Totenschiffe den Spaß
+verderben.“
+</p>
+
+<p>
+„Möglich“, sagte Stanislaw. „Von der Yorikke kommt keiner mehr
+runter. Wie es heute ist, nicht. Er hat nur eine Aussicht, wenn sie abrutscht,
+und man rutscht nicht mit ab. Aber so sicher ist das auch nicht,
+man kann leicht auf einer andern Yorikke landen.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw ging nun wieder zum Polizeipräsidium, Abteilung Staatsangehörigkeit.
+</p>
+
+<p>
+„Der polnische Konsul nimmt mich nicht auf.“
+</p>
+
+<p>
+„Das war vorauszusehen. Was machen wir nun, Koslowski. Sie müssen
+doch Papiere haben, sonst kriegen Sie kein Schiff.“
+</p>
+
+<p>
+„Sicher, Herr Kommissar.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, und da gehen Sie morgen früh
+um zehn zum Paßamt. Ist hier gleich dabei, Zimmer dreihundertvierunddreißig.
+Da kriegen Sie dann einen Paß. Mit dem Paß holen Sie sich
+dann Ihr Seemannsbuch.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw war froh, und die Deutschen hatten bewiesen, daß sie Leute
+waren, die noch am wenigsten Bureaukraten genannt werden konnten.
+Er ging zum Paßamt, gab seine Bescheinigung ab und seine Photographien,
+unterschrieb seinen schönen Paß, bezahlte vierzig Trillionen
+Mark und bekam seinen Paß.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+Alles stimmte in dem Paß. Es war ein gutes Papier. Stanislaw hatte nie
+in seinem ganzen Leben je ein so gutes Papier gehabt. Damit konnte er
+direkt nach New York fahren, so gut war das Papier. Er hätte nicht
+einmal nach Ellis Island gebraucht.
+</p>
+
+<p>
+Alles stimmte, Name, Geburtsdatum, Beruf, Geburtsort. Was ist denn
+das? „Staatenlos.“ Macht nichts, brauche ich nicht. Kriege ein Seemannsbuch.
+Und das, was bedeutet das? „Nur für das Inland gültig.“ Wahrscheinlich
+denken die Beamten, daß man auch in der Lüneburger Heide
+mit Dampfern fahre, oder daß man auf Elbkähnen rudern wolle.
+</p>
+
+<p>
+Wieder ein Tag mehr, und Stanislaw ist auf dem Seemannsamt.
+</p>
+
+<p>
+„Seefahrtsbuch? Können wir nicht ausstellen. Sie haben ja keine Staatsangehörigkeit.
+Und die Staatsangehörigkeit, die Heimatsberechtigung
+ist für das Seefahrtsbuch die Hauptsache, der übrigen Sachen wegen
+kann man auch mit der Invalidenkarte auskommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie soll ich denn da ein Schiff kriegen? Sagen Sie mir das bloß.“
+Stanislaw war zu Ende mit seiner Weisheit.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben ja einen Paß, da kriegen Sie jedes Schiff. Es geht ja aus dem
+Paß hervor, wer Sie sind, was Sie sind, und daß Sie hier in Hamburg
+wohnen. Sie sind doch ein alter befahrener Mann, Sie kriegen spielend
+ein Schiff. Kriegen jeden Ausländer, verdienen Sie mehr als auf deutschen
+Schiffen bei diesem Tiefstand der Mark.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw bekam ein Schiff. Einen schönen Holländer. Gute Heuer. Als
+der Heuerbas den Paß sah, sagte er: „Feine Sache“, und als der Skipper
+den Paß sah, sagte er: „Gute Papiere, das habe ich gern; wir wollen jetzt
+zum Konsul gehen, anmustern und registrieren, Akten verlesen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul registrierte und trug den Namen Stanislaw Koslowski ein.
+Dann sagte er: „Seemannsbuch?“
+</p>
+
+<p>
+Und Stanislaw antwortete: „Paß.“
+</p>
+
+<p>
+„Ebensogut“, erwiderte der Konsul.
+</p>
+
+<p>
+„Paß ist ganz neu, hier vom Präsidium, zwei Tage alt. Alles in Ordnung.
+Der Mann ist gut.“ Das sagte der Skipper und zündete sich eine
+Zigarre an.
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul nahm den Paß, blätterte darin herum, nickte wohlgefällig,
+weil es ein Meisterwerk gutgeölter Bureaukratie war. Solche Dinge behagten
+dem Konsul.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich hielt er inne und erstarrte zu einer Eiskruste.
+</p>
+
+<p>
+„Können nicht mustern“, sagte er.
+</p>
+
+<p>
+„Was?“ rief Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+Und „Was?“ rief der Skipper und ließ vor Erstaunen die Zündholzschachtel
+auf den Boden fallen.
+</p>
+
+<p>
+„Mustere ich nicht an“, sagte der Konsul.
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn nicht? Ich kenne ja den Beamten vom Präsidium, der die
+Unterschrift gegeben hat, persönlich.“ Der Kapitän wurde ungeduldig.
+„Der Paß ist durchaus einwandfrei. Aber ich kann nicht mustern. Er
+hat ja keine Staatsangehörigkeit“, ereiferte sich der Konsul.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mir ganz Wurscht“, sagte darauf der Skipper. „Ich will den
+Mann haben, mein Erster kennt ihn, und die Schiffe, auf denen der
+Mann gefahren hat, sind Topp. Solche Leute, wie den hier, will ich um
+mich haben.“
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul hatte das Paßbüchlein zugeklappt und patschte sich damit
+auf die offne linke Hand.
+</p>
+
+<p>
+Er sagte nun: „Sie wollen den Mann gern haben, Herr Kapitän? Wollen
+Sie ihn adoptieren?“
+</p>
+
+<p>
+„Unsinn!“ bellte der Skipper.
+</p>
+
+<p>
+„Übernehmen Sie persönlich die Verantwortung dafür, daß Sie den
+Mann wieder loswerden können?“
+</p>
+
+<p>
+„Verstehe ich nicht“, brummte der Skipper.
+</p>
+
+<p>
+„Der Mann darf in keinem Lande landen. Er darf an Land gehen, solange
+das Schiff im Hafen liegt. Wenn das Schiff fort ist, und er wird
+aufgegriffen, hat die Kompanie oder Sie, Kapitän, den Mann wieder
+aus dem Lande herauszubringen. Wo wollen Sie ihn hinbringen?“
+</p>
+
+<p>
+„Er kann doch hier nach Hamburg jederzeit zurück“, sagte der Skipper.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Kann. Kann. Nein, er kann nicht. Deutschland kann seine Aufnahme
+verweigern und gibt ihn der Kompanie zurück oder Ihnen. Deutschland
+braucht ihn nicht mehr aufzunehmen, sobald er auch nur die Grenze
+übertreten hat. Er hat einen Weg. Er kann sich eine Bescheinigung verschaffen,
+daß er jederzeit nah Hamburg oder Deutschland zurück
+dürfe und da wohnen darf. Aber eine solche Bescheinigung kann nur
+das Ministerium ausstellen, und das Ministerium wird es kaum so ohne
+weiteres tun, weil diese Bescheinigung gleichbedeutend ist mit deutscher
+Staatsbürgerschaft. Und dann kommt es wieder zu dem Ausgangspunkt
+zurück. Könnte er eine Staatsbürgerschaft erwerben, dann hätte er sie,
+er ist ja Deutscher, ist in Posen geboren. Aber weder Deutschland, noch
+Polen erkennen ihn an. Nur wenn Sie oder Ihre Kompanie volle Verantwortung
+für den Mann übernehmen –“
+</p>
+
+<p>
+„Wie kann ich denn das?“ rief der Kapitän unwillig aus.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+„Dann kann ich den Mann nicht anmustern“, sagte der Konsul ruhig,
+strich den Namen aus dem Buche wieder aus und händigte Stanislaw
+den Paß ein.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie,“ der Skipper drehte sich noch einmal um und sagte zu dem
+Konsul, „hören Sie, können Sie denn keine Ausnahme machen? Ich
+möchte den Mann gern haben. Er ist ein vorzüglicher Rudermann.“
+</p>
+
+<p>
+„Tut mir leid, Kapitän, dazu reichen meine Vollmachten nicht aus. Ich
+habe mich an meine Vorschriften zu halten. Ich bin nur ein Diener.“
+</p>
+
+<p>
+Der Konsul hob die Schultern hoch bis zu den Ohren, als er das sagte,
+seine Arme gingen mit hoch, und die Unterarme hingen nun rechtwinklig
+und wackelnd im Ellbogengelenk. Das sah aus, als ob man ihm die
+Flügel gerupft und gestutzt hätte.
+</p>
+
+<p>
+„Verfluchter Schietkram, verfluchter“, schrie der Skipper, warf seine
+Zigarre wütend auf den Fußboden, trampelte wie wild darauf rum,
+ging zur Tür und warf die Tür krachend zu.
+</p>
+
+<p>
+Draußen auf dem Korridor stand Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Was mache ich denn bloß mit dir, Junge“, sagte der alte Skipper. „Ich
+möchte dich ja so gerne mitnehmen. Aber nun kannst du nicht mal mehr
+Notmusterung machen, der Konsul kennt deinen Namen. Da hast du
+zwei Gulden, mach’ dir einen vergnügten Abend. Muß mich nach einem
+andern A. B. umsehen.“
+</p>
+
+<p>
+Skipper und schöner Holländer waren weg.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-18">
+39
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ber</span> ein Schiff mußte Stanislaw unbedingt haben.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ehrliches Handwerk ist ganz gut, für eine Weile.
+Aber nicht zu lange. So eine Kiste oder so ein Sack,
+das tut ja niemand weh. Das sind Geschäftsunkosten
+in einem großen Hause. Die Kiste kann ja auch bei
+Verladung in die Brüche gehen. Aber man wird das
+ehrliche Handwerk leid.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte nichts darauf und ließ ihn ruhig reden.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ja, man wird es wahrhaftig leid,“ setzte Stanislaw fort, „man kriegt
+das Gefühl, als ob man jemand auf der Tasche liegt. Eine Zeit, ja, aber
+dann wird es einem so widerlich, immer auf der Tasche zu liegen. Man
+will doch auch was tun, was schaffen. Sehen will man, wie das rennt,
+was man arbeitet. Siehst du, Pippip, so am Ruder stehen, in schwerem
+Wetter, und den Kurs halten ... Das ist eine Sache, da kann das ganze
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+ehrliche Handwerk nicht mit. Verflucht und zugenäht, nein, da kann es
+nicht mit. Da stehst du und stehst, und der Kasten will herumhauen und
+rauswichsen aus dem Kurs. Aber da hältst du ihn an der Kandare.
+Sieh mal so.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw packte mich beim Gürtel und versuchte mich herumzuwitschen,
+als ob er das Ruderrad in der Hand hätte.
+</p>
+
+<p>
+„Du, ich bin kein Ruder, laß los!“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann, wenn du es durchhältst im schweren Wetter, und es rutscht
+dir noch nicht einmal einen viertel Strich ab, Pippip, ich kann dir sagen,
+da könnte man schreien und brüllen vor lauter Vergnügen, daß man
+diesen Riesenkasten so an der Schlippe halten kann, daß er tun muß,
+wie du willst, wie ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee. Und wenn
+dann der Erste oder gar der Skipper auf die Rose guckt und sagt:
+‚Kos’ki, Junge, Sie können aber mal Kurs halten, verflucht feine Arbeit,
+könnte ich selber nicht besser machen. Weiter so, dann halten wir die
+Karline gut in der Zeit!‘ ja, Mensch, Pippip, da lacht dir das Herz, da
+könnte man gleich so wegheulen und natschen, daß dir der Rotz die
+Backen runtertrippt, vor lauter Vergnügen. Siehst du, das kann das
+ehrliche Handwerk nicht und nie. Lachst ja auch, wenn dir ein Schnapp
+glückt, aber lachst doch nicht so, lachst mehr scheinheilig und drehst dich
+immer um dabei, ob nicht schon einer hinter dir her ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe ja an dicken Eimern noch nicht gerudert, aber doch schon an
+kleinen, und ich denke, du hast recht“, sagte ich. „Aber beim Anpinseln
+geht es einem auch so. Wenn dir eine grüne oder braune Kante so recht
+fein glückt, ohne zu klecksen und ohne auszurutschen, da hat man auch
+seinen Spaß.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw schwieg eine Weile, spuckte über die Reeling, schob sich ein
+neues Dickerchen zwischen die Zähne, den er vor einer halben Stunde
+von einem Händler, der mit einem Boot herangepullt war, gekauft
+hatte und sagte: „Wirst vielleicht lachen. Kohlenschleppen, wenn man
+eigentlich A. B. ist, und ein besserer A. B. als diese Räuber hier, ist ja
+vielleicht eine Schmach. Aber doch nicht. Hat auch seine Freuden. Auf
+so einem Kasten ist alles wichtig. Wenn nicht geschleppt wird, kann der
+Heizer keinen Dampf halten, und wenn der keinen Dampf hält, steht
+die Karre wie eine Ramme im Lehm. Und mal so fünfhundert Schaufeln
+in einem Zug auf zehn Schritt Entfernung durch die Schachtluke pfeffern
+und einen Vorrat hinhauen, daß der Heizer kaum noch treten kann,
+bloß um mal zu sehen, was du schaffen kannst, wenn du mal rangehst
+an die Ella, und du siehst dir den Berg an, den du so auf einen Sitz hingehauen
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+hast, da lacht dir auch das Herz im Leibe. Du könntest den
+Berg wahrhaftig abknutschen vor Vergnügen, wenn er da so dick aufgeschichtet
+daliegt und dich so verwundert anglubscht, weil er doch eben
+noch oben in einem Bunker war und nun mit einemmal hier vor den
+Kesseln liegt. Nein, an Arbeit, an gesunde Arbeit, kann das schönste
+ehrliche Handwerk nicht ran.
+</p>
+
+<p>
+Und warum macht man das ehrliche Handwerk überhaupt? Weil man
+keine Arbeit hat, weil man keine kriegt. Mußt doch was tun, kannst doch
+nicht den ganzen geschlagenen Tag im Bett liegen oder dich in den
+Straßen rumtreiben, wirst ja ganz vertattelt im Kopf.“
+</p>
+
+<p>
+„Na und was dann, als du den Holländer nicht kriegtest?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Arbeit mußte ich haben, und ein Schiff mußte ich haben, weil ich sonst
+verrückt geworden wäre. Den guten Paß, das feine Papier, verkaufte ich
+für Dollar. Dann platzte wieder ein Sack, und ich hatte ein paar Silberlinge
+in der Hand. Machte mit ein paar dänischen Fischern ein saftiges
+Spritgeschäft, das ich ihnen durch den Zoll brachte, na und da hatte ich
+ja feine Pinke.
+</p>
+
+<p>
+Ich mich in den Zug gesetzt und runter nach Emmerich. Komme auch
+glatt rüber. Drüben aber, als ich mir eine Karte nach Amsterdam kaufen
+will, werde ich geschnappt, und nachts bringen sie mich über die Grenze
+und schieben mich rüber.“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“ fragte ich. „Du willst doch nicht etwa sagen, daß die Holländer
+Leute nachts über die Grenze bringen, ganz heimlich?“
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte hören, wie es Stanislaw ergangen war.
+</p>
+
+<p>
+„Die? Die?“ sagte Stanislaw, und streckte seinen Kopf weit vor und
+bohrte mich fest mit seinen Augen. „Die machen noch ganz andre Sachen.
+Da ist jede Nacht an den Grenzen das schönste Austauschgeschäft mit
+Menschen. Die Deutschen schleppen ihre lästigen Ausländer und Bolschewisten
+über die holländische, belgische, französische und dänische
+Grenze, und das machen die Holländer, die Belgier, die Franzosen, die
+Dänen. Ich bin sicher, die Schweizer, die Tschechen, die Polen machen es
+genau ebenso.“
+</p>
+
+<p>
+Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Kann ich nicht glauben. Das ist ganz
+ungesetzlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber sie machen’s. Sie haben es doch mit mir gemacht, und ich habe an
+der Grenze und in Holland ein paar Dutzend getroffen, mit denen sie es
+von allen Seiten aus gemacht hatten.
+</p>
+
+<p>
+Was wollen Sie denn tun? Totschlagen und eingraben können sie doch
+die Leute nicht. Sie haben ja nichts verbrochen. Haben bloß keinen Paß
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+und können keinen kriegen, weil sie nicht geboren sind oder nicht optiert
+haben. Jedes Land versucht, seine Paßlosen und Staatenlosen loszuwerden,
+weil die Leute ihnen immer wieder Scherereien machen. Wenn
+sie mit den Pässen aufhören, hört diese Warenverschiebung auch auf.
+Also, ob du es glaubst oder nicht, mit mir haben sie es getan.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw ließ sich aber nicht einschüchtern weder mit der Drohung
+Arbeitshaus, noch mit der Drohung Gefängnis, noch mit der Drohung
+Internierung. Er ging in derselben Nacht wieder rüber nach Holland,
+machte es klüger und kam nach Amsterdam. Er kriegte einen Italiener,
+ein ganz schmachvolles Totenschiff, und ging mit ihm nach Genua. Dort
+segelte er achtern raus, kriegte wieder ein Totenschiff, diesmal einen
+unmittelbaren Leichenmacher, und ging mit ihm aufs Riff. Er, mit noch
+ein paar andern, überlebte die Leichen, strolchte sich bettelnd durch zu
+einem andern Hafen und kam über ein andres Totenschiff, wo er infolge
+einer gräßlichen Schlägerei abkanten mußte, auf die Yorikke.
+</p>
+
+<p>
+Wo bleibt er? Wo bleibe ich? Wo bleiben alle die Toten eines Tages? Am
+Riff. Früher oder später. Einmal trifft es. Man kann nicht ewig Totenschiffe
+fahren. Man muß die Fahrerei eines Tages doch bezahlen, ob
+man noch soviel Glück hat. Und man muß immer auf ein Totenschiff.
+Kein andrer Ausweg ist einem geblieben. Das feste Land ist mit einer
+unübersteigbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen
+sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind.
+Es ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines
+Sinnes entwickeln will und muß, dem einzelnen Menschen, der nicht
+numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit
+kühler Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch
+kommen müssen. Vorläufig aber hat Cäsar Kapitalismus an diesem
+Mord noch kein wesentliches Interesse, weil er den Kehricht, der über
+die Zuchthausmauern geworfen wird, noch gebrauchen kann. Und Cäsar
+Kapitalismus läßt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht.
+Auch der Kehricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch
+seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre, unverzeihliche
+Sünde.
+</p>
+
+<p>
+„In der Bunk über mir,“ sagte ich eines Tages zu Stanislaw, „da ist
+einer verreckt, wurde mir erzählt. Weißt du was davon, Lawski?“
+</p>
+
+<p>
+„Freilich, weiß ich davon. Wir waren ja sozusagen Brüder. Er war ein
+Deutscher. War aus Mülhausen im Elsaß. Seinen richtigen Namen weiß
+ich nicht. Kümmert mich auch nicht. Er sagte, er hieße Paul. Gerufen
+wurde er Franzos oder French eigentlich. War Kohlschlepp. Er hat mir
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+mal in einer Nacht, als wir zusammen im Achterbunk saßen und er wie
+ein kleiner Junge heulte, erzählt, was mit ihm los war.“
+</p>
+
+<p>
+Paul war in Mülhausen geboren und hatte Kupferschmied, glaube ich,
+gelernt in Straßburg oder in Metz. Ich habe das verwechselt, weil es nur
+so nebenbei war.
+</p>
+
+<p>
+Er ist dann auf die Wanderschaft gegangen nach Frankreich und
+Italien. In Italien war er interniert, als der Dreck da losging, oder
+warte mal, nein, es war anders. Er war in der Schweiz gewesen als es
+losging, hatte kein Geld, wurde rübergeschoben und eingezogen. Dann
+wurde er auf einem Patrouillengang von den Italienern gefangengenommen.
+Er brach aus, stahl sich Zivilsachen, grub seine feldgrauen
+Lumpen ein und trieb sich in Mittelitalien und Süditalien herum. Er
+kannte ja die Gegenden, weil er da gearbeitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Endlich wurde er erwischt. Daß er ausgekniffener Kriegsgefangener
+war, wußte man nicht, man hielt ihn für einen Deutschen, der sich da
+während der ganzen Zeit herumgetrieben hatte, und so kam er in ein
+Internierungslager für Zivilgefangene. So war die Geschichte.
+</p>
+
+<p>
+Ehe noch die Zivilgefangenen ausgetauscht wurden, war er schon wieder
+ausgebrochen und walzte rauf durch die Schweiz. Er wurde abgeschoben
+nach Deutschland und arbeitete da in einer Brauerei. Dann kam er in
+revolutionäre Geschichten rein, wurde verhaftet und mit Landesverweis
+bedacht als Franzose. Die Franzosen nahmen ihn nicht an, weil er
+schon ewige Zeiten fort war von Mülhausen und weder für Frankreich,
+noch für Deutschland optiert hatte. Was kümmert man sich als Arbeiter
+um solchen Quatsch. Da hat man andres zu denken und zu sorgen, besonders
+wenn man keine Arbeit hat und rumlaufen muß wie verrückt,
+um wenigstens was für den Magen zu schaffen.
+</p>
+
+<p>
+Aber er wurde wegen der bolschewistischen Sachen, von denen er gar
+nichts verstand, landesverwiesen. Er kriegte zweimal vierundzwanzig
+Stunden Zeit, sich zu verduften, oder sechs Monate Arbeitshaus. Kam er
+raus aus dem Arbeitshaus, so bekam er wieder zwei Tage Zeit, und war
+er nicht weg in der Zeit, dann blühte ihm wieder Arbeitshaus oder
+Gefängnis oder Internierungslager. Arbeitshaus haben sie ja nicht mehr
+oder nennen es nicht mehr so, wie er mir sagte. Aber sie haben dafür
+ähnliche Einrichtungen. Die Brüder finden immer eine neue Schikane,
+wenn sie mit einer alten aufräumen aus irgendwelchen Gründen. Was
+wissen die von menschlichen Gründen? Da gibt es bloß Verbrecher
+und Nichtverbrecher. Wer nicht beweisen kann, daß er bestimmt kein
+Verbrecher ist, der ist eben einer.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+Also raus mußte er. Er war ein halbes Dutzend mal schon beim französischen
+Konsul gewesen, aber der wollte nichts von ihm wissen,
+schmiß ihn raus und verbot ihm das Betreten des Konsulats.
+</p>
+
+<p>
+Paul walzte nun nach Luxemburg, machte die Grenzen und kam nach
+Frankreich. Als er geschnappt wurde, sagte der Esel, er sei Franzose.
+Es blieb ihm ja nichts weiter übrig. Es wurde nachgeforscht, und die
+fanden raus, daß er sich auf diesem Wege die französische Staatsangehörigkeit
+in ungesetzlicher Weise habe erschleichen wollen. Das ist ein
+großes Verbrechen. Ein saftiger Einbruch ist lange kein so großes Verbrechen.
+Die hätten ihm ein paar Jahre aufgeknackst.
+</p>
+
+<p>
+Na, kurz und gut, er kriegte ein Mauseloch, um zu entwischen. Anmusterung
+für die Fremdenlegion. Da konnte er sich ja ein Zehntel französische
+Staatsangehörigkeit verdienen, wenn er es aushielt.
+</p>
+
+<p>
+Aber er hielt es nicht aus und mußte kippen.
+</p>
+
+<p>
+Wie er mir erzählte, ist das ja nun so mit dem Abbrennen. Wo willst du
+hin? Rüber auf spanisches Gebiet? Gut. Wenn nur der Weg nicht so weit
+wäre. Aber da kommen Marokkaner, die sich das Kopfgeld verdienen
+wollen. Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, wenn man sie
+um ein paar Datteln oder um einen Schluck Wasser anbettelt. Und
+zurück als Deserteur, dann schon lieber mit einem Stück spitzen Holz
+erstechen.
+</p>
+
+<p>
+Dann wieder trifft man Marokkaner, die ziehen einen aus bis aufs
+Hemd und lassen einen liegen im Sonnenbrand und im Sande.
+</p>
+
+<p>
+Dann trifft man welche, die rauben einen nicht aus, aber schlagen einen
+tot oder martern einen tot, weil er von der verhaßten Legion ist oder
+von den verhaßten Christenhunden einer ist.
+</p>
+
+<p>
+Da sind auch welche, die verschleppen einen und verkaufen einen tief
+ins Innere als Sklave zu den Göpelmühlen. Auch ein Vergnügen, lieber
+die Kaldaunen aus dem Leibe reißen.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Junge hatte Glück, ein ganz verfluchtes Glück. Er traf Marokkaner
+an, die ihn erschlagen wollten oder an den Pferdeschwanz binden
+und abhäuten. Aber er konnte ihnen verständlich machen, noch rechtzeitig
+genug, denn sie lassen sich für gewöhnlich in keine Diskussionen
+ein, daß er Deutscher sei. Na, die Deutschen sind ja auch Christenhunde,
+aber sie haben gegen die Franzosen gekämpft, das wird ihnen
+hoch angerechnet, wie man in Spanien und in Mexiko es den Deutschen
+hoch anrechnet, daß sie fünfzigtausend Amerikanern unter die Erde
+verholfen haben. Bei den Marokkanern haben aber die Deutschen noch
+einen andern Stein im Brett, sie haben an der Seite der Türken, an der
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+Seite der Mohammedaner gegen die Engländer und Franzosen gekämpft,
+und sie haben die mohammedanischen Glaubensgenossen, die
+auf seiten der Engländer und Franzosen kämpften und von den Deutschen
+gefangen wurden, nicht als Kriegsgefangene, sondern als dreiviertel
+Freunde behandelt. Das weiß jeder, der Allah und den Propheten
+anruft, ob er in Marokko wohnt oder in Indien.
+</p>
+
+<p>
+Es ist nur so ungemein schwer, einem nichttürkischen Mohammedaner
+das begreiflich zu machen, daß einer Deutscher ist. Er denkt sich die
+Deutschen ganz anders aussehend als die verhaßten Franzosen und
+Engländer, und wenn er nun sieht, daß der Deutsche auch nicht viel
+anders aussieht, so glaubt er es ihm nicht und denkt, der Mann will ihn
+beschwindeln. Wenn er nun gar als Deutscher in der Fremdenlegion
+dient, um die Mohammedaner dort zu bekämpfen, so glaubt es ihm
+selbst der nicht mehr, der vielleicht zuerst ihn für einen Deutschen gehalten
+hätte. Denn ein Deutscher kämpft nicht auf seiten der Franzosen
+gegen die Mohammedaner, die um ihre Freiheit kämpfen, weil
+die Deutschen das selbst wissen, was es bedeutet, wenn man um die
+Freiheit und Unabhängigkeit seines Landes gegen Franzosen und Engländer
+zu kämpfen hat.
+</p>
+
+<p>
+Wie es geschah, niemand kann es sagen. Durch ein unbegreifliches Gefühl,
+das in den Marokkanern plötzlich auftauchte, glaubten sie ihm,
+daß er Deutscher sei, und daß er nie gegen Marokkaner gekämpft habe.
+Sie nahmen ihn auf, pflegten ihn, fütterten ihn gut und gaben ihn von
+Sippe zu Sippe und von Stamm zu Stamm weiter, bis er an der Küste
+landete und dort mit den Pflaumenmushändlern auf die Yorikke gebracht
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper nahm ihn mit Freuden auf, weil er einen Kohlschlepp
+brauchte, und Paul war glücklich, unter uns zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Aber nach zwei Tagen schon, obgleich er mit Rosten kein Pech hatte und
+die Kohlen damals gut zur Hand lagen, sagte er: „Ich wollte, ich hätte
+die Fremdenlegion nicht gekippt. Das hier ist zehnmal schlimmer als
+die böseste Kompanie in unsrer Division. Wir lebten demgegenüber ja
+wie die Fürsten. Hatten menschliches Essen und menschliche Quartiere.
+Ich gehe hier in die Wicken.“
+</p>
+
+<p>
+„Mach keine solchen Töne, Paul“, sagte Stanislaw, um ihn aufzurichten.
+Aber Paul, der vielleicht auch durch die Strapazen der Flucht schon
+etwas abgekriegt hatte, fing an Blut zu spucken. Immer mehr. Dann
+kotzte er Blut in großen Fladen. Und eines Nachts, als ich ihn ablösen
+kam, lag er auf einem Kohlenhaufen oben im Bunker im dicken Blut.
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+Tot war er nicht. Ich schleife ihn ins Quartier und packte ihn in seine
+Bunk da oben. Früh als ich ihn wecken kommen wollte, war er tot. Um
+acht kam er über Bord. Der Skipper nahm nicht mal die Mütze ab, er
+tippte bloß so an den Rand. Eingewickelt wurde er auch nicht. Er hatte
+nur Lumpen, die vom Blut verkleistert waren. Ans Bein kriegte er
+einen dicken Klumpen Kohle. Ich glaube, selbst diesen Klumpen Kohle
+gönnte ihm der Skipper nur mit schiefem Maul. Ins Journal ist Paul
+nicht gekommen. Luft, verwehte Luft.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-19">
+40
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_p.jpg" alt="P"><span class="hidden">P</span></span><span class="postfirstchar">aul</span> war nicht der einzige Schlepp, den die Yorikke verschluckt
+und verdaut hat, während Stanislaw drauf war.
+Da war der Kurt, ein Junge von Memel, auch nicht optiert.
+Zu der Zeit trieb er sich in Australien herum, wurde aber
+nie erwischt, um interniert zu werden. Schließlich kriegte
+er namenloses Heimweh und mußte nach Deutschland.
+Irgendwo in Australien hatte er was ausgefressen. Eine
+Streikbrechergeschichte mit Streikbrecherverholzen, und einer
+von diesen Lumpen war liegengeblieben und nicht mehr aufgestanden.
+Kurt konnte nicht zum Konsul gehen, um auf treuem Wege wegzukommen,
+denn wenn es sich um Streik handelt oder um Geschichten, die
+nach Kommunismus riechen, dann bocken die Konsuln gleich alle zusammen,
+auch wenn sie ein paar Monate vorher sich noch anspucken
+wollten. Der Konsul hätte ihn sicher der Polizei verwinkt, und Kurt
+hätte seine zwanzig Jahre machen müssen. Ein Konsul ist immer auf
+seiten des Staatsgedankens. Des Staatsgedankens, dieses großen erlauchten
+Wortes, das nichts als Unfug stiftet und die Menschen zu
+Nummern macht. Und diese Staatsidee ist so stark in den Konsuln entwickelt,
+daß sie zugunsten der Staatsidee ihre eignen Söhne verkaufen,
+nur damit der Staat recht behalten kann. Streik ist ja gegen den Staat
+gerichtet. Manchmal, wenn er ein treuer und nicht ein geschobener
+Streik ist.
+</p>
+
+<p>
+Es gelang Kurt, ohne Papiere bis nach England zu kommen. Aber England
+ist eine böse Sache. Eine Insel ist immer bös. Man kann rauf, aber
+nicht mehr runter. Kurt konnte nicht mehr runter. Er mußte zum
+Konsul. Der Konsul wollte wissen, warum er von Brisbane in Australien
+fort sei, warum er dort nicht den deutschen Konsul aufgesucht habe,
+und warum er auf illegalen Wegen nach England gekommen sei.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+Kurt konnte das nicht erzählen und wollte es auch nicht erzählen, weil
+ja England für ihn auch nicht sicherer war als Australien. Die Engländer
+hätten ihn sofort an Australien zur Aburteilung ausgeliefert.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Konsulat in London oder in Southampton oder in welcher
+Stadt in England es sein mochte, bekam Kurt in dem Bureau des Konsuls,
+wo alles an die Heimat erinnerte, ein so übermächtiges Heimwehgefühl,
+daß er bitterlich zu weinen anfing. Darauf schrie ihn der Konsul
+an, er möge hier kein Theater machen, sonst schmisse er ihn raus, solche
+Vagabunden kenne er schon zur Genüge. Kurt gab ihm die einzige richtige
+Antwort, die ein echter Junge für solche Gelegenheiten auf Lager
+hält, und um der Einladung den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ergriff
+er einen Sandstreuer oder was es war und feuerte es dem Konsul
+an den Kopf. Der fing gleich an zu bluten und an zu schreien, aber
+Kurt war raus wie der Teufel.
+</p>
+
+<p>
+Er hätte sich den Weg zum Konsul sparen können, denn da er von Memel
+war und nicht optiert hatte, konnte ihm der Konsul ja doch nicht helfen.
+Dazu reichten dessen Vollmachten nicht aus. Wie gewöhnlich. Er war
+ja nur Diener des Götzen.
+</p>
+
+<p>
+Dadurch war Kurt nun endgültig tot und konnte die Heimat nicht wiedersehen.
+Es war ihm ja durch eine Amtsperson bestätigt worden, daß
+sein Heimweh nur Theater war. Was weiß eine Amtsperson davon, daß
+ein Vagabund, ein zerlumpter Weltherumtreiber auch Heimweh bekommen
+kann? Solche Gefühle sind nur denen vorbehalten, die weiße
+Wäsche haben und jeden Tag ein reines Taschentuch aus der Kommode
+nehmen können. Yes, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was
+Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist,
+daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das
+treue Heimatsgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon
+mehr übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo ich bin und wo mich
+niemand stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will,
+was ich tu, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine
+Heimat, da ist mein Vaterland.
+</p>
+
+<p>
+Der Junge von Memel kriegte einen Spanier und kam schließlich auf
+die Yorikke als Schlepp.
+</p>
+
+<p>
+Schutzvorrichtungen gab es auf der Yorikke nicht, erstens kosten sie
+Geld und zweitens hindern sie an der Arbeit. Ein Totenschiff ist keine
+Kleinkinderbewahranstalt. Mach die Augen auf, und wenn was abgeht,
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+so ist das nur faules Fleisch oder ein fauler Finger, der doch nicht
+arbeiten wollte.
+</p>
+
+<p>
+Das Wasserstandglas an den Kesseln hatte weder ein Schutzglas, noch
+ein Drahtgitter. Eines Tages platzte es, als Kurt auf Wache war. Es war
+auch kein Langhebel dran, wodurch das Rohr, das zum Wasserstandglas
+führte, von einem sicheren Platz aus hätte abgedrosselt werden
+können. Das kochende Wasser strahlte heraus, und der Kesselraum war
+in dichten heißen Dampf gehüllt.
+</p>
+
+<p>
+Das Rohr mußte abgedrosselt werden. Mußte gemacht werden. Aber
+der Drosselhahn war direkt unter dem gebrochenen Glas, zwei Zoll von
+der Strahlöffnung entfernt. Es mußte abgedrosselt werden, sonst lag
+der Eimer einen halben Tag fest, und wenn schweres Wetter aufkam,
+konnte das Schiff nicht manövrieren und wurde gepfeffert, daß kein
+Splitter mehr heil blieb.
+</p>
+
+<p>
+Wer drosselt ab? Der Schlepp natürlich. Der Vagabund opferte sein
+Leben, damit Yorikke manövrierfähig blieb und erst dann zu den
+Fischen ging, wenn es befohlen wurde.
+</p>
+
+<p>
+Und Kurt drosselte ab. Dann brach er zusammen und wurde von dem
+Ingenieur und dem Heizer in seine Bunk getragen.
+</p>
+
+<p>
+„So etwas von Schreien“, erzählte mir Stanislaw, „kannst du dir nicht
+denken. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen und nicht auf dem
+Bauche und nicht auf den Seiten. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter
+wie ein zerrissenes Hemd, alles Blasen und Blasen, dick wie ein Kopf, und
+eine neben der andern. Hätte man ihn in ein Hospital gebracht, ich weiß
+ja nicht, vielleicht hätte man ihm helfen können mit Hauteinsetzen.
+Aber man hätte schon eine ganze Kalbshaut gebrauchen müssen, um ihn
+wieder zurechtzuflicken. Und geschrien und geschrien und geschrien!
+Ich wünsche nur, daß der Konsul ihn im Schlafe gehört hätte, er wäre
+den Schrei nicht mehr los geworden. Die sitzen am Tisch und schreiben
+Formulare voll. Hundert Meilen hinter der Front des nackten Lebens.
+</p>
+
+<p>
+Tapferkeit im Kriege? Quatsch! Tapferkeit auf dem Felde der Arbeit.
+Aber da kriegst du keinen Orden. Da bist du kein Held. Er hat sich totgeschrien.
+Abends kam er über Bord, der Junge von Memel. Na, Pippip,
+ich muß die Kappe abnehmen, guck mich nicht so an. Da mußt du Präsentiert
+das Gewehr! machen. Kannst nicht anders. Über Bord, mit
+einem Klumpen Kohle am Bein. Sah aus wie ein Sträfling. Der Zweite
+Ingenieur sah hinterdrein und sagte dann: „Verfluchte Geschichte, jetzt
+haben wir wieder keinen Schlepp.“ Das war alles, was er sagte. Und
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+gerade er war der Mann, der es hätte machen müssen; denn es war eine
+Reparatur, und solche Reparaturen gehen den Schlepp gar nichts an.
+Ja, das war der Kurt. Steht auch nicht im Journal. Der Zweite Ingenieur
+steht drin. Der Koch hat es gesehen, als er Seife stehlen ging in
+die Kabine vom Skipper. Na, was sich unsereiner dafür schon kauft.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-20">
+41
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> den übrigen Mannschaften redete ich sehr
+wenig. Sie waren meist brummig, übelgelaunt und
+schläfrig, wenn sie nicht besoffen waren, was in
+jedem Hafen vorkam. Aber, wenn ich ganz ehrlich
+sein soll, so waren es eigentlich sie, die nicht
+mit uns redeten. Ich war ja nur Schlepp, ich und
+der Stanislaw. Und der Schlepp ist ja nicht, bei
+weitem nicht so viel wie ein A. B., nicht einmal
+so viel wie ein Deckarbeiter. Das sind alles Herren im Vergleich zum
+Schlepp. Der Schlepp wühlt im Dreck und in der Asche und ist erst
+recht Dreck und Asche. An ihm kann man sich ja die Finger dreckig
+machen. Und nun gar erst der Zimmermann oder gar, um noch höher
+zu gehen, der Bootsmann. Denen gegenüber ist man nur ein Würmchen.
+Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste Rangunterschiede
+zu machen wie der Arbeiter.
+</p>
+
+<p>
+Nun erst in der Fabrik. Der die Schrauben drehen darf, tausendweise,
+alle nach Schablone, was ist der für ein großer Mann gegenüber dem,
+der die Schrauben in einem Korbe wegschleppen muß. Und der die
+Schrauben wegschleppen darf, was ist der für eine unerreichbare Größe
+gegenüber dem, der die Säle ausfegen darf. Und der, der ausfegen darf,
+wirft sich in die Brust und sagt: „Ach der, der sucht ja bloß den Dreck
+durch, der muß ja die Messingspäne aussuchen, mit dem kann ich doch
+nicht verkehren. Wie sieht denn das aus?“
+</p>
+
+<p>
+Unter den Toten hört der Rangunterschied nicht auf. Er wird noch
+größer beinahe. Wer da hinten an der Mauer nur gerade so verscharrt
+ist, weil er ja irgendwo liegen muß, der ist nichts. Der in einem Tannensarg
+begraben wird, ist schon mehr. Nachts, wenn sie tanzen, guckt er
+den Verscharrten mit keiner Miene an, sondern sieht sehnsüchtig rüber
+zu denen, die mit ihrem Eichensarg tanzen. Zu denen, die mit einem
+Metallsarg mit goldenen Ecken gravitätisch herumwandern, wagt er
+gar nicht aufzusehen; das würden die sich auch sehr verbitten. Damit
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+man das alles gleich von vornherein klarstellen kann, darum werden ja
+die einen in Metallsärgen mit vergoldeten Ecken begraben und die
+andern in einer viereckigen Holzkiste in einem Winkel verscharrt. Erst
+die Würmer und die Maden, diese revolutionären Aufräumer und Umwälzer,
+die machen sich nichts aus Rangunterschieden. Die sind alle
+gleich weiß und alle gleich groß und sie wollen fressen; und das Fressen
+nehmen sie sich, wo sie es kriegen, sie holen es sich aus dem Metallsarg
+mit vergoldeten Ecken ebenso rasch wie aus der Kiste.
+</p>
+
+<p>
+Der Herr Zimmermann und der Herr Bootsmann und der Herr Donkeyman
+waren Petty-Offiziere, Unteroffiziere. Sie waren genau so dreckig
+wie wir, waren auch nicht länger befahren als wir, waren für den geregelten
+Gang der Yorikke viel weniger wichtig als wir, aber die
+Schlepps mußten den Herrn Donkeyman bedienen. Mußten ihm das
+Essen aus der Galley holen, auf den Tisch stellen und wieder abservieren.
+Damit der Rangunterschied gewahrt blieb. Der Donkeyman ist
+der Wintschenmaschinist, und wenn das Schiff im Hafen liegt und die
+Heizer und Schlepps haben Tagarbeit, dann muß er die Kessel heizen,
+auch des Nachts. Auf der Fahrt murkst er im Wege herum, putzt an den
+Maschinen hier ein wenig, dort schmiert er ein Lager, dann muß er
+einen Selbstöler auseinandernehmen und auswaschen und dann wieder
+da ein wenig Dreck wegnehmen und ihn hier hinlegen. Dafür braucht
+er nicht in den großen Quartieren schlafen, sondern in kleinen, wo nur
+zwei oder drei Bunks sind, und dafür bekommt er Sonntag Grießpudding
+mit Himbeersaft und in der Woche zweimal Backpflaumen in
+blauer Stärke, während wir keinen Pudding am Sonntag und nur einmal
+in der Woche Backpflaumen in blauer Stärke fassen. Wenn wir
+aber zweimal Backpflaumen kriegen mit versteinertem Salzfisch, dann
+bekommt er dreimal Backpflaumen. Er, der Bootsmann, der Zimmermann,
+die Unteroffiziere. Dafür hat er hinter uns her zu sein und aufzupassen,
+daß wir nicht etwa einen Kesselbunker aufschrauben, wenn
+schweres Wetter ist und die Achterbunker noch ein paar Kilogramm
+haben. Was würde Cäsar mit seinen Armeen machen, wenn er keine
+Unteroffiziere hätte, die auf der ersten Sprosse der Leiter zum Generalfeldmarschall
+stehen? Unteroffiziere, die von oben kommen, sind nicht
+zu gebrauchen; sie müssen von unten kommen, gestern noch geprügelt
+worden sein, dann sind sie gut zu gebrauchen, die können am besten
+prügeln.
+</p>
+
+<p>
+Dann kamen die A. B.s und dann die Deckarbeiter. Stanislaw konnte
+mehr als alle drei A. B.s zusammen, aber er war nur Dreck. Sie hätten
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+sich erst wohlgefühlt, wenn angeordnet worden wäre, daß die Schlepps,
+wenn sie an dem Donkeyman vorbeigehen wollten, zu fragen hätten,
+ob es ihnen auch erlaubt sei, an ihm vorbeizugehen.
+</p>
+
+<p>
+Dennoch waren sie alle Tote, und dennoch waren sie alle auf dem Wege
+zu den Fischen.
+</p>
+
+<p>
+Soweit das Erhabenheitsgefühl bei ihnen nicht verletzt wurde, konnte
+man mit ihnen umgehen, und sie fühlten sich durchaus im gleichen Schiethaufen
+mit uns. Die weniger Befahrenen unter den Deckarbeitern waren
+noch zu unsicher unter uns alten Seehunden, um irgendwelchen Sprossensinn
+uns gegenüber zu entwickeln. Mit der Zeit kam dann doch ein
+Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das seinen Grund in der uns allen
+gemeinsamen Schicksalslage hatte. Wir alle waren Verwehte, wenn es
+auch keiner für sich zugeben wollte und immer noch auf ein Entspringen
+hoffte. Uns allen drohte das gleiche Schicksal der Gladiatorenopferung,
+was wir alle wußten, ohne es offen auszusprechen. Seeleute
+sprechen nicht von Schiffbruch und nicht von Untergang, das ist nicht gut.
+Lockt nur den Gast aufs Schiff. Aber gerade dieses wartende Wissen,
+dieses bebende Zählen der Tage von einem Hafen zum andern, dieses
+verhaltene Nichtaussprechen der Tatsache, daß, wie lange es auch immer
+dauern möge, wir doch mit jedem Tage näher und sicherer dem letzten
+Tage kommen, wo es um den brutalen Kampf, ums nackte Leben gehen
+würde, knüpfte uns mit einem merkwürdigen Band zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Es ging nie einer allein in den Hafen, immer zu zweien oder dreien.
+Seeräuber konnten nicht ein Viertel so schlimm aussehen wie wir. Wir
+kamen nie in Händel mit den Mannschaften andrer Schiffe. Zum Teil
+waren wir ihnen zu dreckig und zu zerlumpt, zum Teil hakten sie nicht
+ein. Wir konnten sagen, was wir wollten, sie taten, als hörten sie es
+nicht, tranken ihren Wein aus oder ihren Schnaps und gingen ihrer
+Wege. Sie waren die ehrliche Arbeiterklasse, der vierte Stand; wir
+waren der fünfte, der noch lange nicht dran ist, solange nicht der vierte
+erst einmal an der Krippe sitzt. Vielleicht waren wir gar der sechste und
+hatten noch ein paar Jahrhunderte zu warten.
+</p>
+
+<p>
+Die vom vierten, dem ehrlichen Stand, ließen sich auch darum nicht mit
+uns ein, weil sie uns für Desperados hielten. Das waren wir ja auch. Uns
+war alles gleichgültig. Was immer auch geschah, es konnte uns nichts
+Schlimmeres geschehen. Also los, weg mit ihm.
+</p>
+
+<p>
+Wenn wir in eine Seemannskneipe kamen, war der Wirt immer ängstlich
+darauf bedacht, uns nur ja recht schnell heraus zu haben, obgleich
+wir alles über die Kante hauten, was wir in der Tasche hatten oder im
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+Munde, weil die Taschen zerrissen waren, oder auch im Mützenleder,
+wenn es noch vorhanden war. Wir waren gute Kunden, aber solange
+wir in der Taverne waren, ließ der Wirt kein Auge von uns und beobachtete
+jeden Schritt und jeden Blick. Schien es ihm, daß einer mit
+den Augen zuckte und einen vom ehrlichen Stand zu deutlich anguckte,
+ging der Wirt sofort zu dem Manne hin, der angeguckt worden war, und
+bearbeitete ihn, daß er das Lokal verließe. Er mußte ihn ja vorsichtig
+und zart behandeln, denn hätte der Betreffende gemerkt, was los war,
+so hätte er vielleicht doch einmal gelippt, und dann war die Appelsoße
+im Gange.
+</p>
+
+<p>
+Wahrscheinlich hatte sich mit der Zeit durch die übermäßige Arbeit, die
+wir zu leisten hatten, durch die seltsame, verlorene Lage, in der wir uns
+alle befanden, durch die unaufhörliche Spannung vor dem krachenden
+Schrei der aufgebrannten Yorikke, die nicht zu den Fischen wollte,
+in unsre Gesichter etwas eingegraben, das alle Menschen, die nicht auf
+der Yorikke fuhren, mit unsagbarem Grauen erfüllte. Es mußte etwas
+in unsern Gesichtern und in unsern Augen liegen, das Frauen manchmal
+erbleichen und aufschreien machte, wenn wir unerwartet in ihren
+Gesichtskreis traten. Selbst Männer sahen uns scheu an und drehten und
+wendeten sich, um einen andern Weg zu machen, damit sie nicht an uns
+vorbei brauchten. Die Polizei folgte uns mit den Augen, solange sie
+auch nur ein Zipfelchen von uns sah. Merkwürdig war es mit Kindern.
+Manche fingen an zu schreien, wenn sie uns sahen, und liefen fort wie
+gehetzt, manche wieder blieben stehen, rissen die Augen weit auf, wenn
+wir vorüber kamen, manche wieder folgten uns atemlos, als hätten sie
+Traumgestalten verwirklicht gesehen, und manche, und das war recht
+seltsam, kamen auf uns zu, gaben uns die Hand, lachten uns an und
+sagten: „Guten Tag, Mann!“ oder „Guten Tag, Seemann!“ oder so
+etwas. Unter denen, die uns die Hand gaben, waren aber wieder einige,
+die, nachdem sie uns die Hand gegeben hatten, aufblickten mit großen
+Augen, uns mit offnem Munde anstarrten, dann plötzlich wegrannten
+und sich nicht mehr umdrehten.
+</p>
+
+<p>
+Waren wir so tot, daß die Kinderseele den Tod in uns sah und fühlte?
+Waren wir den Kindern erschienen, als sie noch unter dem Herzen ihrer
+Mütter träumten? Schlang sich ein geheimnisvolles Band um uns Fortgehende
+und Totgeweihte und um die Kinderseelen, die gerade über die
+Schwelle des Lebens getreten sind und noch den Schatten des unbekannten
+Reiches im Bewußtsein tragen? Wir die Gehenden – sie die Kommenden,
+die Verwandtschaft lag im Gegensatz.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+Richtig sauber gewaschen waren wir nie. Mit Sand und Asche kann man
+sich nicht sauber waschen. Wenn man in einem Hafen dachte, daß man
+ja auch Seife haben wollte, war das Geld schon weg für andre Dinge,
+die einem auch wichtig erschienen, Wein und Gesang und alles das
+übrige. Singen konnten wir auch. Es war ein Grölen und Heulen, aber
+niemand rief vom Fenster hinunter, daß wir ruhig sein sollten. Sie hüteten
+sich. Die Polizei hörte nichts und sah nichts.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal kauften wir ja auch ein Stück Seife, aber man hatte es nur
+einen Tag. Dann war es weg für immer. Man kann doch nicht die Seife
+den ganzen Tag im Munde halten, um sie zu schützen. Und weil man das
+Geld auch nicht dauernd im Munde halten konnte und es auch nicht gestohlen
+haben wollte und sich dann noch ärgern mußte, gab man es aus.
+Das einfachste Ding von der Welt.
+</p>
+
+<p>
+Es kam vor, daß wir uns rasieren ließen, wenn wir daran dachten, solange
+wir noch Geld hatten, oder wenn wir zufällig in eine Schaufensterscheibe
+guckten und uns selber nicht mehr kannten. Denn einen
+Spiegel hatten wir nicht. Das war gut, so wußte keiner, wie er selbst
+aussah im Gesicht. Es war ja immer der andre, der so fürchterlich
+aussah, daß die Frauen aufschrien und sich in den Häusern versteckten.
+Nicht rasiert, das Gesicht rot und verschrammt von dem Sand und der
+Asche, die nackten Arme voll Brandnarben und die Kleidung versengt,
+verbrannt, zerrissen, verlumpt.
+</p>
+
+<p>
+Nach einem englischen, französischen, deutschen, dänischen oder holländischen
+Hafen gingen wir nie. Da hatten wir nichts zu suchen. Immer
+an den Küsten Afrikas oder Syriens. Nur selten gingen wir in Spanien
+oder Portugal an einen Kai, meist blieben wir draußen auf der Reede
+liegen und nahmen die Ladung von Leichtern und von Booten über. Der
+Skipper mochte wohl wissen, warum er in manchen Häfen nicht an den
+Kai ging, sondern sich auf Reede vor Anker legte. Dann signalisierte
+er nach einem Boot und fuhr hinein zum Hafen, um die Papiere in
+Ordnung zu bringen beim Konsul oder bei den Hafenbehörden.
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen unsre eignen Wege. Es gibt keine Totenschiffe. Das sind
+Dinge der Vorkriegszeit. Es gibt keine, weil man sie in einem Hafen, in
+einem bekannten Hafen nicht sieht. Sie sind da draußen in der Ferne,
+wo jede Bucht ein Hafen ist, wenn ein Schuppen hingebaut wird. In
+den chinesischen Gewässern, in den indischen, in den persischen, den
+malaiischen, an den Küsten des südlichen und östlichen Mittelmeeres,
+an den Küsten Madagaskars, an den Westküsten und Ostküsten
+Afrikas, an den Küsten Südamerikas, in der Südsee. Platz genug für
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+alle und für ein paar Tausend mehr. Sowenig wie man je alle Vagabunden
+von den Landstraßen der Erde wird vertreiben können, weil ja
+auch ganz anständige Leute darunter sein mögen, die eben gerade nur
+mal knapp bei Gelde sind, ebensowenig wird man die Totenschiffe von
+den sieben Meeren vertreiben können. Wer sie suchen wollte, findet sie
+nicht. Es gibt ja dreimal mehr Wasser auf der Erde als Land; und wo
+Wasser ist, da ist auch eine Straße für ein Schiff, aber wo Land ist, da
+ist noch lange nicht eine Straße für einen Vagabunden.
+</p>
+
+<p>
+Die Yorikke hätte nie jemand gefunden. Sie hatte einen Skipper, der
+sich aufs Handwerk verstand. Er konnte mit Fürsten umgehen, sie
+würden ihn für ihresgleichen gehalten haben. Kam jemand irgendetwas
+verdächtig vor, er schlug die Geschicktesten. Seine Papiere waren immer
+in Ordnung, soweit sie sich auf die Yorikke und auf ihren Mageninhalt
+bezogen. Kein zehnmal konzessionierter und überwachter Postdampfer
+konnte bessere Papiere zeigen. Und das Journal? Es stimmte auf die
+Minute.
+</p>
+
+<p>
+Da kam mal ein spanisches Kriegsboot auf, als wir noch innerhalb der
+Seegrenze waren. Das Boot suchte. Jedes Kind wußte, daß Corned Beef
+mit Knochen ein gutes Geschäft ist.
+</p>
+
+<p>
+Das Boot signalisierte, aber der Skipper pfiff drauf. Dann feuerte das
+Boot den Stopper. Und Yorikke stoppte. Es hatte nicht mehr gelangt.
+Sie war noch drin. Na, solche Boote machen sich ja nichts draus. Sie versuchen
+auch außerhalb der Grenze zu picken. Der Skipper muß vor
+Gericht beweisen, daß er nicht mehr drin war, sondern schon anderthalb
+Seemeilen raus. Soll er mal beweisen, das ist nicht so einfach. Es steht
+kein Grenzpfahl im Wasser. Die Rumjäger in den States kennen überhaupt
+keine Seegrenze. Manchmal glückt es dem Skipper aber doch, zu
+beweisen, daß er raus war. Na, dann wird eben bezahlt. Und eine halbe
+Stunde drauf wird es woanders schon wieder versucht. Nur der Mensch,
+der kleine, der muß das Gesetz achten, der Staat braucht das nicht. Er
+ist die Allmacht. Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine
+Moral. Er mordet, wenn er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für
+gut befindet; er raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut
+befindet; er zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was
+er will. Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er
+den Menschen bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine
+Gebote Gottes, die er den Kindern mit dem Knüppel einbläuen läßt.
+Er macht sich seine Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der
+Allwissende und der Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst,
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+und wenn sie ihm eine Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er
+sie selbst. Er hat keinen Richter über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht,
+und wenn der Mensch anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er
+ihm mit der Flagge Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen
+herum, daß der Mensch ganz duselig wird, und brüllt ihm ins Ohr:
+„Haus und Herd – Weib und Kind“ und bläst ihm in die Nasenlöcher
+den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche Vergangenheit. Und dann plappern
+die Menschen alles nach, weil der Allmächtige sie in ausdauernder
+Arbeit zu Maschinen und Automaten gemacht hat, die ihre Arme, Beine,
+Augen, Lippen, Herzen und Gehirnzellen genau so bewegen, wie es der
+allmächtige Staat haben will. Das hat nicht einmal der allmächtige
+Gott zuwege gebracht, und der konnte doch auch etwas. Aber diesem
+Ungeheuer gegenüber ist er nur ein armer Stümper. Seine Menschen
+handelten ganz selbständig, sobald sie erst einmal ihre Arme und Beine
+bewegen konnten. Sie liefen ihm davon, achteten seine Gebote nicht,
+sündigten wie toll und setzten ihn endlich ab. Bei dem neuen allmächtigen
+Gott haben sie es schwerer, weil er noch zu jung ist, und weil sie
+noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten und den Apfel vom
+Baume zu reißen.
+</p>
+
+<p>
+Wir stoppten. Blieb uns ja nichts andres übrig. Er hätte uns sonst hochgeblasen.
+Und dann kamen sie rauf.
+</p>
+
+<p>
+„Möchten die Papiere sehen. Ja, danke, die sind in Ordnung. Wir dürfen
+doch wohl einmal überprüfen. Wir halten Sie nicht auf. Ein paar
+Minuten nur.“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, bitte, meine Herren, aber nicht zu lange. Ich habe Verspätung,
+oder ich muß Ihre Regierung haftbar machen.“ Der Skipper lacht. Wie
+der Mann zu lachen verstand. Mit seinem Lachen, das so halb ironisch,
+so halb ungemein lustig war, leerte er alles aus, was da noch verdächtig
+sein konnte.
+</p>
+
+<p>
+Die guten Leute hatten etwas von Corned Beef mit Knochen vernommen.
+Wie Ameisen krochen sie in dem Laderaum herum und suchten
+Corned Beef von Chikago. Und der Skipper lachte und lachte.
+</p>
+
+<p>
+Es war kein Corned Beef da. In der Galley waren ein paar Büchsen.
+Zum Hausgebrauch für das Mitschiff.
+</p>
+
+<p>
+Aber da war Kakao. Holländischer, garantiert reiner, entölter, Van
+Houtens. Kisten und Kisten voll. Aller Kakao in Blechbüchsen. Damit
+das Aroma nicht verlorengeht.
+</p>
+
+<p>
+Der Untersuchungsoffizier tippte auf eine Kiste, die ganz mitten drin
+lag. Die Kiste kam hoch. Er lief sie öffnen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+Und der Skipper lachte. Und der Offizier wurde nervös. Er wollte es
+nicht merken lassen, aber er konnte es nicht verbergen. Das Lachen
+machte ihn halbverrückt.
+</p>
+
+<p>
+Schöne große Büchsen. Alle mit Etiketten verklebt. Der Skipper trat an
+die Kiste, nahm eine Blechbüchse heraus und reichte sie dem Offizier
+zu, während er seinem Lachen einen ganz unterstrichnen sarkastischen
+Ton gab. Der Offizier sah den Skipper an, dann sah er die Büchse an
+und nun trat er mit einem schneidigen Schritt auf die offene Kiste zu
+und nahm sich selbst eine Büchse heraus, gleich neben der Lücke. Er
+riß das Etikett hastig ab und öffnete die Büchse. – Kakao.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper schüttelte sich vor Lachen.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich fiel dem Offizier wieder das Corned Beef mit Knochen ein und
+er schüttele den Kakao aus der Büchse völlig aus.
+</p>
+
+<p>
+Kakao. Da war nichts andres drin. Nichts als garantiert reiner entölter
+Van Houtens Kakao.
+</p>
+
+<p>
+Aber der Offizier, zitternd vor Nervosität, nahm jetzt dem Skipper die
+Büchse aus der Hand, riß das Etikett ab, hob den Blechdeckel ab und da
+war – Kakao. Er steckte den Deckel wieder auf und gab die Büchse
+dem Skipper mit einem „Danke!“ zurück.
+</p>
+
+<p>
+Was in dem Skipper vorging, als ihm der Offizier die Büchse aus der
+Hand nahm, weiß nur er allein. Aber er lachte, daß man es drüben auf
+dem Kriegsboot, das beigedreht hatte, hören konnte.
+</p>
+
+<p>
+Der Offizier entschuldigte sich, gab das Revisionsdokument, in das er
+das Zeichen der geöffneten Kiste einschrieb mit der Quittung für die
+beiden verdorbenen Büchsen Kakao, stieg mit seinen Leuten in die
+Schaluppe und setzte ab zu seinem Boot.
+</p>
+
+<p>
+Als er abstieß, rief der Skipper rüber zur Galley: „Koch, heute abend
+Kakao für die Mannschaft und Rosinenstollen.“
+</p>
+
+<p>
+Dann ging er näher zur Kiste, suchte eine Weile herum, bis er fand,
+was er haben wollte, nahm die gewünschte Büchse heraus und übergab
+sie dem Koch. Dann ließ er die Kiste wieder zunageln und verstauen.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte auf Deck gestanden, als dies geschah. Und da man Gelegenheiten
+nie verpassen soll, so machte ich mich nachts gleich daran, ein
+paar Blechbüchsen Kakao flottzumachen. Im nächsten Hafen brachten
+sie immer ein paar Schillinge ein, oder man konnte sie für Tabak eintauschen.
+</p>
+
+<p>
+Fünf zog ich ab und verstaute sie im Bunker.
+</p>
+
+<p>
+Bei der Ablösung sagte ich zu Stanislaw: „Hast du schon mal an den
+Kakao gedacht? Ehrliches Handwerk. Ein paar Schillinge sind drin.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+„Da ist kein Schilling drin. Wenn es Kakao wäre. Aber es sind ja
+Kakaobohnen, und wenn du nicht die passenden Kakaomühlen dazu
+verkaufen kannst, kriegst du nicht einen roten Penny dafür.“
+</p>
+
+<p>
+Das kam mir verdächtig vor. Stanislaw hatte also schon an das Handwerk
+gedacht. Wahrscheinlich schon eine Kiste aufgehabt, als die zweite
+noch am Lademast hing.
+</p>
+
+<p>
+Ich kletterte sofort rauf in den Bunker und machte eine Büchse auf.
+Stanislaw hatte recht. Es waren Kakaobohnen. Sehr harte, mit Messinghülsen.
+In der zweiten Büchse, dasselbe. In der dritten, vierten, fünften:
+dasselbe. Ich machte sie wieder schön zu und packte sie zurück in die
+Kisten. Für arabische und marokkanische Kakaobohnen hatte ich kein
+Interesse; die passenden Mühlen, falls wir sie an Bord hatten, hätte ich
+ja doch nicht sicher heruntergekriegt.
+</p>
+
+<p>
+Nur der Skipper war fähig, Kakaobohnen in Kakaopulver zu verwandeln.
+Er konnte es auf zwei Arten. Er konnte das Wunder vollbringen
+dadurch, daß er die Blechbüchse in der Kiste ließ, er konnte es
+aber auch dadurch, daß er die Büchse in die Hand nahm. Er war ein
+Meister in der schwarzen Magie, yes, Sir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-21">
+42
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> machten Tripolis und hatten verteufelt schweren
+Seegang. Wir wurden im Kesselraum hin und her gepfeffert,
+und in den Bunkern war es noch schlimmer.
+Ich betrachtete mir, wenn ich mal ein wenig zum
+Verschnaufen im Kesselraum auf einem Kohlenhaufen
+saß, zuweilen das kleine Glasröhrchen, das
+einen erwachsenen Seemann so martervoll verschlucken
+kann, wenn es dazu in der Laune ist. Dabei
+legte ich mir die Frage vor, ob ich das Rohr abdrosseln würde, wenn
+das Röhrchen zum Tanzvergnügen geht.
+</p>
+
+<p>
+Natürlich sagte ich nein. Aber wer kann sagen, was er tun wird, wenn
+die Frage nicht gestellt wird, sondern wenn die Frage entschieden werden
+muß und man gar nicht daran denkt, daß die Frage überhaupt
+existiert? Der Heizer kann ja drunter liegen und kann nicht mehr allein
+fort. Meinen Heizer im Stich lassen, daß er mir mein ganzes Leben
+hinterher schreit: „Pippip! Pippip! Ich verbrühe! Hol mich raus,
+Pippip! Ich kann nicht sehen, meine Augen sind rausgebrüht, Pippip,
+schnell, es ist gleich vorbei! Pip–pip–p–“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+Na, nu laß mal da deinen Heizer liegen. Da gehst du eben, auch wenn
+du weißt, ihr bleibt beide da liegen.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht gehe ich auch nicht. Warum? Mein Leben ist auch etwas wert.
+Mein Leben –
+</p>
+
+<p>
+„Pippip, Schlepp, spring Back, nicht gucken, Backbord und her!“
+</p>
+
+<p>
+Der Heizer brüllt es, daß er das Hämmern der Maschine überkreischt.
+</p>
+
+<p>
+Ohne aufzugucken, mache ich einen Satz rüber nach Backbord und falle
+dort in die Knie, weil ich über das Schüreisen falle, das im Wege liegt.
+Gleichzeitig erfolgt ein Krach und ein Rasseln, das betäubend ist.
+</p>
+
+<p>
+Unter seinem schwarzen dicken Kohlenstaub, den er im Gesicht hat, sehe
+ich, daß der Heizer ganz bleich ist. Auch Tote können noch erbleichen.
+Ich klaube mich auf mit zerschundenen Schienbeinen und aufgeschlagenen
+Kniescheiben und drehe mich um.
+</p>
+
+<p>
+Die Aschenhuze, die Aschenführung, ist runtergekommen.
+</p>
+
+<p>
+Diese Aschenführung ist ein runder Blechkanal, wie ein großer Blechschornstein,
+mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. In ihm werden
+die Aschkannen hochgehievt, damit sie nicht hin und her schlenkern
+können, sondern oben in den Aushebeschacht geführt werden.
+</p>
+
+<p>
+Die Huze hängt weit in den Kesselraum hinein bis etwa neun Fuß über
+dem Boden. Oben ist sie an einen Kranz festgenietet. Sie ist sicher dort
+an den Nieten durchgerostet, und jetzt bei dem Wetter hat sie den Rest
+bekommen und ist abgebrochen. Wo will sie hin? Sie muß in den Kesselraum.
+Sie ist senkrecht fallendes, sehr starkes Eisenblech und hat
+hundert Kilo oder mehr. Schneidet den Kopf und den ganzen Körper
+der Länge nach durch. Geht wie mit dem Rasiermesser. Oder schlägt
+den Arm ab und nimmt die eine Schulter mit. Wenn sie Gnade übt, nur
+den halben Fuß. Wer denkt an die Aschenhuze, daß die einmal abrosten
+könnte am Kranz. Sie hängt seit der Zerstörung Jerusalems da
+drin und ist nie runtergefallen. Die ganzen vielen Jahrhunderte nicht.
+Und nun mit einemmal fällt es ihr ein, runterzukommen.
+</p>
+
+<p>
+Seemannslos. Arbeiterlos. Deine Schuld. Geh zur rechten Zeit drunter
+weg, dann kann dir nichts passieren.
+</p>
+
+<p>
+Hallo, Heizer, da bin ich ja nochmal mit einem Sprung davongekommen.
+Gleich beim ersten Schrei: „Schlepp, Back!“ gesaust wie ein
+Affe. Nicht erst lange gedacht, was los ist. Die Yorikke entwickelt die
+Instinkte, sie hält einen in Form.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Heizer, verflucht nochmal, das war ein Sprung zur rechten Zeit.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Danke! ist nicht. Wozu? Morgen dir, übermorgen Stanislaw. Wer weiß,
+wen die nächste Kugel trifft. Wir sind im Kriege. Kopp weg. Aber ehe
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+du es hörst, ist er schon weg, der Kopp. Der Rest bleibt liegen. Wird
+nicht bezahlt. Über Bord. Klumpen Kohle ans Bein. An die Mütze getippt.
+Grabmusik: „Nun haben wir wieder keinen Schlepp.“
+</p>
+
+<p>
+Das Glasröhrchen ist heil. Es hat sein Opfer. Der Aschenhuze hat der
+Heizer den Spaß verdorben. Aber dafür wartet die Rache. Was ist das
+nächste Glasröhrchen? Wer ist der Nächste? Junge, zieh dir den Gürtel
+fest. Da ist Warnung in der Luft. Warnung für dich. Es schwirrt der
+Gast herum, er kriecht in den Winkeln und lauert in den Ecken. Beim
+nächstenmal macht er bessere Arbeit und läßt nicht gerade den Heizer
+zufällig nach oben blicken, daß er sieht, wie sich erst die eine Hälfte am
+Kranz löst und dann die andre. Beim nächstenmal ist es vielleicht das
+Brett da oben, auf dem du rüberbalancierst zur Bunkerluke.
+</p>
+
+<p>
+Mein Junge, ich glaube, du steigst am besten aus in Tripolis. Wenn du
+auch tot bist, man macht doch gern noch manchmal einen Spaziergang
+aus den Gräbern und sieht, was draußen los ist, weil man sich so rasch
+an die stickige Luft im Grabe nicht gewöhnen kann. Mußt ja wieder
+rein ins Grab oder in ein Totenschiff, aber hast doch eine Nase voll
+frischer Luft mitgenommen und beim zweiten Male geht es schon besser.
+Aber Tripolis war nichts mit Aussteigen. Wir konnten keinen Schritt
+tun ohne Bewachung. Beim geringsten Versuch, achtern abzubleiben,
+hätten sie uns gepackt und zurückgebracht. Hätten dem Skipper eine
+Kostenrechnung gemacht, und er hätte sie von der Heuer abgezogen.
+Es war auch nichts in Syrien. Man konnte nicht abkanten. Wir waren
+freie Männer, freie Seeleute. Durften in die Häfen gehen, durften in
+den Kneipen rumsaufen, durften tanzen und unser Geld verspielen
+oder es uns aus den Taschen räubern lassen. Alles durften wir tun, weil
+wir ja freie Seeleute und keine Sträflinge waren. Aber sobald Yorikke
+das Blaue Peterlein flattern ließ, und man drückte sich auffällig weit
+vom Kai oder von den Molen herum oder gar in verschnörkelten Gäßchen
+und dunklen Winkeln, da hatte einen auch schon einer am Arm:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Monsieur, s’il vous plaît, Ihr Schiff wartet, wir werden Sie begleiten,
+damit Sie nicht den Weg verfehlen.“
+</p>
+
+<p>
+Und war man dann erst wieder drauf auf der Yorikke, hatten sie das
+Recht, draußen am Kai zu stehen und einem das abermalige Verlassen
+des Bootes zu verbieten, denn Blau Peterlein flatterte, und das hieß, nun
+hat die Freiheit wieder mal ein Ende.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte schon recht gehabt: „Kommst nicht mehr runter. Und
+wenn du kommst, die kriegen dich und stecken dich auf einen andern
+Toteneimer, der vielleicht noch schlimmer ist. Denn die Toten nehmen
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+dich immer wieder auf, auch aus den Händen der Polizei. Mit Dank.
+Drücken dem Engelmacher noch zehn Schillinge in die Hand dafür.
+Füttern dich sogar, bis sie dich auf ein andres Totenschiff, das hereinkommt,
+verkaufen können. Müssen dich doch los werden. Können dich
+doch nicht nach der Heimat deportieren, hast ja keine.“
+</p>
+
+<p>
+„Da brauche ich doch aber nicht raufzugehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mußt rauf. Der Skipper sagt, er hat dich gezeichnet, auf Handschlag.
+Dir glaubt man nichts, dem Skipper glaubt man. Er ist ja ein Skipper
+und hat eine Heimat, wenn es auch nur selbst eine geschwindelte ist und
+er selber nicht mehr heim darf. Aber er ist der Skipper. Mußt rauf. Er
+hat dich gemustert. Hat dich nie gesehen. Aber auf Handschlag gemustert.
+Mußt rauf. Bist Deserteur.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Stanislaw, nun rede mal klar. Da gibt es doch noch Recht“, sagte
+ich, weil ich glaubte, er übertreibt.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch schon mein viertes. Es ist dein erstes. Und ich bin durch
+mit allen Zipfeln.“
+</p>
+
+<p>
+„Man kann dich doch nicht zwingen. Ich bin doch freiwillig auf die
+Yorikke gekommen“, wandte ich ein.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das erstemal kommt man halb freiwillig. Aber hättest du deine
+Sachen alle klar gehabt, wärst du nicht freiwillig gekommen. Wenn du
+deine Sachen in Ordnung hast, kann dir niemand mit solchem Zimt
+kommen, wie Handschlag, Deserteur und so. Da sagst du, du willst zum
+Konsul. Da müssen sie dich gehen lassen und können mitkommen. Wenn
+der Konsul sagt, daß er dich annimmt, daß er dich anerkennt, müssen
+sie abziehen. Da ist nichts von Handschlag, da heißt es zu dem Skipper:
+‚Wer sind Sie? Wann wurde das Schiff zum letztenmal inspiziert? Wie
+sind die Gebührnisse für die Mannschaft, Essen, Löhnung, Quartiere?‘
+Da zuppelt er ab, der Skipper und sagt nichts mehr von Handschlag.
+Kannst du zum Konsul gehen? Hast du Papiere? Hast du ein Vaterland?
+Na also. Können sie mit dir machen, was sie wollen. Glaubst du
+nicht? Steig aus, versuche es.“
+</p>
+
+<p>
+„Hast du denn dein dänisches Heuerbuch nicht mehr?“ fragte ich
+Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Eine Frage! So eine dumme Frage! Wenn ich das noch hätte, wäre ich
+doch nicht hier. Ich hab’s doch gleich für zehn Dollar verkauft, als ich
+den schönen Paß in Hamburg kriegte. Auf einen Dänen darf er nicht
+damit gehen, auch nicht zu einem dänischen Konsul. Der nimmt es ihm
+gleich ab, weil es angemeldet ist; es ist doch ein Schwimmer. Lebt doch
+nicht mehr. Aber für kleine Verhältnisse ist es hundert Dollar wert.
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+Wenn ich es nur hätte. Hab mich doch auf meinen eleganten Paß verlassen.
+War doch wie eine Festung, so gut und so sicher. Kerngesund.
+Echt bis auf die Pupille. Besser als zehn Eide. Konnte von der ganzen
+Erde aus angeklingelt werden in Hamburg, ohne Murren. Bloß die
+Nummer gewinkt. Schon war die Antwort da: Paß ist klar wie ein
+Diamant. Aber er war doch bloß Gipsfront. Hatte bloß ein schönes Gesicht
+und nichts dahinter.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum hast du es denn nicht noch woanders damit versucht?“
+</p>
+
+<p>
+„Habe ich doch, Pippip. Denkst du denn, ich laß so einen eleganten
+Schwenker gehen, ohne ihn ein halbes Dutzend mal anzuziehen und zu
+sehen, ob er nicht doch noch paßt? Ich hatte doch auch einen Schweden.
+Da sind wir gar nicht erst bis zum Konsul gekommen. Der Skipper
+nahm ihn, guckte rein und sagte gleich: „Nichts zu machen mit uns. Ich
+werde Sie nicht mehr los.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Deutschen hätten dich doch aber genommen“, sagte ich nun.
+</p>
+
+<p>
+„Zuerst einmal zahlen die ja hundemäßig. Damals wenigstens. Was sie
+heute zahlen, weiß ich nicht. Ich hätte auch gern einen genommen. War
+mir ja egal. Aber wenn du da ankamst, gleich sprangen sie dir ins Gesicht:
+‚Nehmen keine Pollacken. Pollacken raus. Freßt oberschlesische
+Steinkohle. Könnt ja euren Pollackenrachen nicht voll kriegen.‘ Und
+lauter solche Sachen. Das wäre dann die ganze Fahrt so gegangen. Auch
+wenn ich hätte mustern können. Die andern, die Mannschaften sind ja
+noch zehnmal schlimmer, noch zehnmal verhetzter. Hältst du gar nicht
+aus. Geht vom frühen Morgen bis zum Abend: ‚Saupollack. Dreckpollack.
+Mistpollack. Wollt ihr nicht auch noch Berlin einsacken, ihr Pollackenschweine?‘
+Hältst du nicht aus, Pippip. Gehst über die Reeling.
+Dann schon lieber Yorikke. Da schmeißt keiner dem andern seine
+Nationalität vor, weil keiner mehr eine Nationalität hat, mit der er
+protzen kann.“
+</p>
+
+<p>
+So verging ein Monat nach dem andern. Ehe ich es mir versah, war ich
+vier Monate auf der Yorikke. Und ich hatte gedacht, ich könnte dort
+keine zwei Tage leben.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-22">
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+43
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_l.jpg" alt="L"><span class="hidden">L</span></span><span class="postfirstchar">asset</span> uns Menschen machen ein Bild, das uns gleich sei, und
+lasset uns ihnen die Fähigkeit geben, zu glauben und sich
+zu gewöhnen, damit sie uns nicht eines Tages absetzen.
+Yorikke war erträglich geworden. War eigentlich doch ein
+ganz feines Schifflein. Das Essen war gar nicht so schlecht,
+wie es schien. Es gab ja hin und wieder Nach-Sturm-Frühstück.
+Auch schon mal Kakao mit Rosinenstollen. Und zuweilen
+ein halbes Wasserglas Kognak oder ein volles Wasserglas
+Rum. Manchmal gab der Koch sogar ein halbes Kilo Zucker
+extra her, wenn man ihm schöne Nußkohle für die Galley aus den
+Bunkern klaubte.
+</p>
+
+<p>
+Der Dreck in den Quartieren war zu ertragen. Wir hatten ja keine
+Bürste und keinen Feger. Wir fegten mit einem Sacklumpen. Seife
+hatten wir ja auch keine. Und wenn wir uns ein Stück kauften für den
+persönlichen Gebrauch, werden wir es doch nicht aufbrauchen für Reinquartier.
+Wir waren doch nicht verrückt.
+</p>
+
+<p>
+Die Bunk war auch gar nicht so hart, wie sie erst erschien. Ich hatte mir
+aus Putzwolle ein Kissen zurecht gemacht. Wanzen? Gibt es auch
+anderswo. Nicht nur auf der Yorikke. Es war ganz gut zu ertragen. Es
+sah auch niemand mehr so dreckig aus und so zerlumpt, wie in den
+ersten Tagen. Auch die Eßgeschirre waren nicht mehr so schmierig.
+</p>
+
+<p>
+Mit jedem Tag war alles ein klein wenig sauberer und besser und erträglicher
+geworden. Wenn Augen sehr lange dasselbe sehen, sehen sie
+es nicht mehr. Wenn müde Glieder jeden Tag auf demselben harten
+Holze ruhen, schlafen sie bald wie auf Daunen. Wenn die Zunge jeden
+Tag dasselbe schmeckt, weiß sie nicht, wie andres wohl schmecken mag.
+Wenn alles rundherum kleiner wird, sieht man nicht, wie man zusammenschrumpft,
+und wenn alles dreckig ist, was einen umgibt, sieht
+man nicht, wie dreckig man selbst ist.
+</p>
+
+<p>
+Die Yorikke war recht erträglich. Mit Stanislaw konnte man sich gut
+unterhalten. Er war ein kluger und intelligenter Junge, der viel gesehen
+und alles mit ganz klaren Augen gesehen hatte, und der sich das Hirn
+nicht so leicht verkleistern ließ. Mit den Heizern konnte man auch
+sprechen. Wußten auch dies und jenes Neue zu erzählen. Die Deckarbeiter
+waren auch keine verblödeten Dummköpfe. Dummköpfe
+kamen nie zu den Toten und nur selten Durchschnittsmenschen. Denn
+die haben immer alles schön in Ordnung. Die können nie über die
+Mauer fallen, weil sie nie hochklettern, um zu sehen, wie es auf der
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+andern Seite wohl aussehen mag. Die glauben, was man ihnen darüber
+erzählt. Die glauben, daß auf der andern Seite der Mauer Mordbrenner
+sitzen. Die Mordbrenner sitzen immer auf der andern Seite der Mauer.
+Und wer das nicht glaubt und einmal nachsehen will, ob es wahr ist,
+auf die Mauer klettert und dabei runterfällt, dem geschieht es ganz
+recht, daß er draußen bleibt. Und wenn er schon auf die andre Seite
+will, um den Mordbrennern die überflüssigen Hosenknöpfe zu verkaufen,
+dann soll er wenigstens durch das Tor gehen, damit man sieht,
+wer es ist, und damit der Nachtwächter, der über der Haustür den
+Adler und die Fahnenstange hat, damit man auch gleich weiß, daß er
+der Nachtwächter seines Landes ist, das Trinkgeld nicht einbüßt. Wer
+kein Trinkgeld bezahlen kann und keinen Zettel in der Tasche hat,
+auf dem abgestempelt wurde, daß er der Sohn seiner Mutter ist, soll
+daheim bleiben. Freiheit ja, aber muß abgestempelt sein. Freizügigkeit
+der Erdenbewohner ja, aber nur mit Zustimmung der Nachtwächter.
+Vier Monate Heuer hatte ich beim Skipper stehen. Hundertzwanzig
+oder einige mehr Pesetas Vorschuß gingen ab. Blieb ein ganz hübsches
+Sümmchen übrig. War auch dann noch ein ganz nettes Sümmchen,
+wenn es in Pfunde umgerechnet wurde.
+</p>
+
+<p>
+Umsonst wollte ich nun auch nicht gerade gearbeitet haben und das
+Geld dem Skipper schenken. Und so hatte er mich nur um so fester.
+Aber wo und wann und wie abmustern? Gab es doch nicht. In keinem
+Hafen wurde die Abmusterung bestätigt. Keine Papiere, kein Heimatsland.
+Werden den Mann nie wieder los. Kann nicht abmustern.
+</p>
+
+<p>
+Es gab nur eine Abmusterung. Die Gladiatorenabmusterung. Abzeichnung
+auf dem Riff. Abzeichnung bei den Fischen. Kam man klar, dann
+flog man auf eine Küste. Da konnten sie einen nicht gleich wieder ins
+Wasser fegen. Schiffbrüchiger. Es regt sich das Mitleid der Menschen,
+besonders derer, die in Küstenstrichen wohnen. Mit Toten gibt es kein
+Erbarmen, mit Schiffbrüchigen ist es etwas andres.
+</p>
+
+<p>
+Dann muß sich ja auch der Nachtwächter der Flagge melden, unter der
+man aufs Riff ging. Er zahlt nicht für den Mann, er zahlt für den
+Rapport, damit die Versicherung besser geölt wird. Denn wenn der
+Rapport nicht einläuft, dann kommt die Verschollenwartezeit, und das
+bedeutet einen erheblichen Zinsverlust. Wenn der Rapport da ist und
+das Mitleid mit dem Schiffbrüchigen eingetrocknet ist, dann wandert man
+wieder zu den Toten. Erst ganz langsam, dann schneller und immer
+schneller. Die Kompanie ist für den Mann haftbar und sie ist verantwortlich
+für seine Fortschaffung. Wohin mit ihm? Kein Skipper will
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+ihn haben. Er wird ihn nicht mehr los. Auf ein Totenschiff. Er will nicht,
+weil er genug hat, vom letztenmal. Handschlag, versuchte Desertion,
+zehn Schilling in die Hand, Blaues Peterlein, rauf. Guten Morgen, da
+wären wir wieder.
+</p>
+
+<p>
+Die Fische können warten. Er kommt. Einmal kommt er. Er kommt,
+entweder mit dem Glasröhrchen oder mit der Aschenhuze oder mit einer
+Kohlenlawine im Bunker oder mit dem Riff. Aber er kommt. Er kann
+nicht pensioniert werden oder ein Weib nehmen und einen kleinen
+Bootshandel anfangen. Er muß immer wieder in die Arena. Bis er es
+vergißt, daß er in der Arena ist, yes, Sir ...
+</p>
+
+<p>
+Nun lagen wir in Dakar. Ein durchaus anständiger Hafen. Nichts gegen
+ihn einzuwenden.
+</p>
+
+<p>
+Kesselreinigen. Kesselreinigen, wenn die Feuer unter dem zu reinigenden
+Kessel nur gerade einen knappen Tag aus sind und der Nachbarkessel
+unter Dampf bleibt. Und dieses Vergnügen in einer Gegend, wo
+man sagt: „Guck mal da rüber, wo die grünen Zaunpfähle stehen mit
+dem großen A dran, das ist der Äquator, kannst auch sagen Mittagslinie,
+dann mußt du aber das A abschrauben und ein Messingschild anhängen
+mit dem großen M drauf. Aber ob du nun Mittagslinie sagst
+oder Äquator oder überhaupt nichts, es ist immer egal heiß und glühend.
+Wenn du den Äquator anfaßt, die Hand ist sofort weg, wie abrasiert,
+bloß noch ein paar Krümelchen Asche sind übrig. Wenn du ein Stück
+Eisen auf den Äquator legst, schmilzt das wie Butter. Wenn du zwei
+Stück zusammenhältst, die schweißen autogen. Glatt ohne Naht,
+brauchst bloß drücken.“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich,“ sagte Stanislaw, „wir sind mal rübergefahren über den
+Äquator, da war es gerade Weihnachten. Da war doch der immer noch
+so heiß, daß du die dicken eisernen Bordwände man bloß so mit dem
+Finger durchbohren konntest. Brauchtest gar nicht bohren. Bloß so mit
+dem Finger antippen, da war schon ein Loch drin. Wenn du gegen die
+eiserne Bordwand spucktest, flog die Spucke durch wie nichts, war gleich
+wieder ein Loch. Der Skipper sah das von der Brücke und schrie: ‚Ihr
+wollt wohl hier ein Kaffeesieb aus dem Schiff machen. Sofort die Löcher
+wieder zugemacht.‘ Und da wischten wir so ein klein wenig mit der
+Hand rüber oder mit dem Ellbogen und da waren die Löcher wieder zu.
+Es war ja gerade so weich wie Kuchenteig. Die eisernen Masten hatten
+sich ganz umgebogen, so wie ein langes Wachslicht, das du auf einen
+heißen Kochherd stellst. Es war eine Schweinerei, bis wir sie wieder gerade
+hatten. Mit dem Äquator darf man nicht spaßen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+„Ganz gewiß nicht,“ gab ich zu, „darum hat man ja zu beiden Seiten
+des Äquators rund um die Erde einen Lattenzaun gemacht mit Warnungsschildern
+dran. Kannst du ja schon auf der Landkarte sehen, den
+Zaun. Ihr habt den dummen Fehler gemacht, ihr seid drüber weggefahren.
+Wir waren schlauer. Wir sind durch die Unterwassertunnel
+drunter hergefahren. Da ist es schön kühl. Merkst gar nicht, daß du
+unter dem Äquator herfährst.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Äquatortunnel kenne ich. Aber die Kompanie wollte nicht die
+Tunneldurchfahrtkosten bezahlen. Die berechnen pro Tonne einen
+Schilling Tunnelkosten. Wie geht es denn da rein in den Tunnel?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Mensch, das ist doch ganz einfach,“ erwiderte ich, „da ist ein
+großes Loch im Meer und da geht das Schiff eben rein, mit dem Bug zuerst,
+fährt durch und kommt an der andern Seite wieder raus, da ist
+auch so ein Loch im Wasser.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist tatsächlich ganz einfach,“ gab Stanislaw zu, „das hätte ich mir viel
+komplizierter gedacht. Ich habe gedacht, das Schiff wird in eine Art
+Taucheranzug gesteckt und dann runtergezogen. Unten ist eine Maschine,
+die da zieht, und dann geht es unten lang auf Zahnradschienen
+und an der andern Seite wird das Schiff dann wieder hochgezogen.“
+</p>
+
+<p>
+„So hätte man das natürlich auch machen können,“ sagte ich, „aber das
+ist zu umständlich. Könnten sie auch gar nicht machen für einen Schilling
+die Tonne.“
+</p>
+
+<p>
+„Zum Kreuzdonnerwetter nochmal, wird das Geschwätze da drin im
+Kessel nun bald aufhören oder nicht“, schrie der Zweite Ingenieur in
+den Kessel, während er den Kopf zum Mannloch durchsteckte. „Wenn
+da in einem fort erzählt wird, kann der Kessel nicht rein werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Komm doch rein, du Hund, wenn du den Hammer an den Schädel
+haben willst.“ Ich schrie es wie wild, halbverrückt von der Hitze. „Klopp
+dir den Kessel allein, du Roßtäuscher, du verfluchter. Dir werde ich ja
+überhaupt noch was erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich wollte ja gern, daß er mich rapportiert und daß ich rausgefeuert
+werde. Dann hätte ich ein Quittungsbuch kriegen müssen und mein
+Geld. Aber dazu waren die ja viel zu schlau. „Ebenso wie die Offiziere
+im Kriege. Kann man noch so beleidigen und in die Fresse hauen, melden
+dich nicht,“ sagte Stanislaw, „haben dich lieber draußen als daß du
+im Gefängnis im Trocknen sitzt.“
+</p>
+
+<p>
+Kesselreinigen am Äquator, wenn das Feuer nur knapp einen Tag gelöscht
+ist und der Nachbarkessel unter Dampf liegt. Meine Herren! Wer
+nie sein Brot mit Tränen aß, der trinkt es jetzt wie Himbeerlimonade.
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+Wir saßen nackt drin, aber die Wände waren so glühend heiß, daß wir
+uns anziehen mußten und dicke Polster aus Sacklumpen unter die
+Knie zu legen hatten, um nicht anzubrennen.
+</p>
+
+<p>
+Dann klopfen. Und was der Kesselstein für einen Staub macht. Das
+ist, als ob man die Lunge, den Schlund, die Kehle mit Glas abkratzt.
+Wenn man den Mund bewegt, knirscht es zwischen den Zähnen, als ob
+man Sand mahlt, und es kriecht einem am ganzen Rückenmark ein entsetzliches
+Empfinden hoch, als würde das Rückenmark von einem Ende
+aus herausgebohrt.
+</p>
+
+<p>
+Der Kessel ist an sich schon nicht allzu geräumig. Nun liegen auch noch
+die Feuerzüge drin, und man muß auf dem Rücken liegen, auf dem
+Bauche, um überall hinzukommen. Wie eine Schlange windet man sich
+in den Zügen herum. Wo man mit der bloßen Hand hinfaßt, ist es so
+heiß, als fasse man auf eine heiße Herdplatte.
+</p>
+
+<p>
+Dann springt einem Kesselstein in die Augen. Und das harte scharfe
+Körnchen bereitet einem Schmerzen, daß man glaubt, wahnsinnig zu
+werden. Dann wird es mit dreckigen und schweißigen Händen herausgefischt
+und das Auge rötet sich von den Martern, die man ihm angetan
+hatte. Eine Weile geht es gut, und ratsch: wieder ist ein scharfer Splitter
+drin, und die Marter geht von neuem los.
+</p>
+
+<p>
+Schutzbrillen? Die kosten Geld. Für solchen Unfug hat die Yorikke kein
+Geld. So wurde es vor tausend Jahren gemacht, und so wird es heute
+gemacht. Meist sind die Brillen auch nicht viel wert. Entweder man sieht
+nichts durch oder sie drücken oder der Schweiß läuft einem zwischen die
+Plüschdichtungen und frißt sich in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+Hätte man elektrische Lampen gehabt, wäre das ja eine kleine Erleichterung.
+Aber nun die Lampen aus Karthago. In fünf Minuten ist der
+Kessel schwarz und dick von Rauch. Aber es muß geklopft werden.
+</p>
+
+<p>
+Und die Hämmer dröhnen innerhalb des Kessels, als ob tausend Donner
+einem unmittelbar auf das Trommelfell pauken. Es ist keine federnde
+Resonanz, sondern ein hart vibrierendes gell-kreischendes Pochen.
+</p>
+
+<p>
+Fünf Minuten, dann müssen wir raus, um Luft zu holen. Wir kochen
+in Schweiß, die heißen Lungen fliegen und flattern, das Herz tobt, als
+wollte es die Brust durchsprengen, und wir zittern in den Knien.
+</p>
+
+<p>
+Luft, nur Luft. Koste es, was es wolle. Und wir stehen in der Meeresbrise,
+die auf uns wirkt, als wäre sie ein Schneesturm in Saskatchewan.
+Ein breites hartes Schwert stößt durch unsern Körper in seiner ganzen
+Länge. Wir frieren und beben und sehnen uns zurück in die heiße
+Glut des Kessels.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+Wieder fünf Minuten, und wir schreien: Luft. Alle drei, die wir drin
+sind, drängen wir an das kleine Mannloch, durch das wir uns zwängen
+müssen. Nur einer kann zu gleicher Zeit durch und muß sich wie eine
+Katze drehen und winden, um herauszukommen. Während der Zeit,
+wo er sich durch das Mannloch zwängt, kommt auch nicht ein Hauch
+von Luft in den Kessel. Mit Mühe kriege ich, der ich Zweiter bin am
+Loch, die Arme durch und zwänge mich hinaus. Der Heizer fällt innen
+um und schlägt hart auf. Er ist besinnungslos.
+</p>
+
+<p>
+„Stanislaw, der Heizer muß raus, hat schlapp gemacht“, rufe ich mit
+letztem Atem. „Wenn wir ihn nicht holen, zockt er ab und erstickt.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ei–ei–ne Mi–nu–te, Pip–, Hab’ noch keine Luft wieder.“
+</p>
+
+<p>
+Es dauert nicht lange, und das Schwert sitzt uns wieder im Körper und
+wir sehnen uns nach der kochenden Hitze des Kessels.
+</p>
+
+<p>
+Wir nehmen ein Tau. Ich winde mich wieder durch und hole den Heizer
+fest. Und nun arbeiten wir, ihn hinauszukriegen. Das ist das Schwerste.
+Hineinwinden und herauswinden kann man sich. Aber einen leblosen
+Menschen da durchzuziehen, das erfordert unendliche Geduld und Geschicklichkeit
+und Kenntnisse in der Anatomie. Der Kopf ist rasch
+durch. Aber die Schultern.
+</p>
+
+<p>
+Endlich schnüren wir die Schultern zusammen wie ein Paket, ganz fest
+und dann können wir ihn hieven und er kommt.
+</p>
+
+<p>
+In den Schneesturm bringen wir ihn nicht, sondern wir lassen ihn im
+Kesselraum und legen ihn sogar dicht in die Nähe der Feuer des Nachbarkessels.
+Wir binden seine Schultern los.
+</p>
+
+<p>
+Der Atem ist weg. Ganz weg. Aber das Herz pocht. Leise, doch regelmäßig.
+Wir gießen ihm Wasser über den Kopf und pressen einen nassen
+Sack aufs Herz. Dann fächeln wir ihm Wind ins Gesicht, blasen ihn an
+wie Holzkohlen und tragen ihn endlich unter die Windhuze.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw muß rauf und die Windhuze in den Wind stellen, damit
+frische Luft auf den Heizer fällt.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt läßt sich der Hund von einem Roßtäuscher natürlich nicht sehen;
+aber wir brauchen uns nur etwas im Kessel erzählen, dann ist diese
+widerwärtige Fratze gleich am Mannloch und stopft uns die Luft ab mit
+seiner klobigen Knochenbeule. Er kriegt doch noch den Spitzhammer
+an den Kadaver geworfen. Möchte er wenigstens ein Wasserglas Rum
+für den Heizer bringen, der Schuft. Wir wollen ihn ja gar nicht trinken.
+Nur ein Schlückchen, um den Glasstaub aus der Kehle und aus den
+Zähnen zu kriegen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+Der Heizer ist unter der Windhuze, und ich fange mit Armbewegungen
+an. Allmählich kommt er. Und er kommt immer besser. Als wir ihn
+hoch haben, auf den Kohlenhaufen setzen und in die Ecke drücken, damit
+er einen Halt hat, kommt der Zweite Ingenieur.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn das, zur Hölle nochmal,“ schreit er gleich, „werdet ihr
+bezahlt für Faulenzen oder für was?“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw oder ich oder wir beide hätten ja nun sagen können: „Der
+Heizer war ...“
+</p>
+
+<p>
+Aber wir hatten beide dasselbe Gefühl, und unser Instinkt war wieder
+einmal richtig. Arbeiter brauchen nur auf ihren Instinkt hören, dann
+handeln sie schon ganz richtig.
+</p>
+
+<p>
+Gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, hatten wir uns gebückt, in jede
+Hand einen sauberen dicken Brocken Kohle genommen und noch in
+derselben Sekunde dem Zweiten an seine Knochenbeule und an seinen
+Kadaver gefeuert.
+</p>
+
+<p>
+Die Arme um den Kopf herum, rannte er davon. Stanislaw lief ihm ein
+paar Schritte nach und schrie: „Du Giftkröte, wenn du einen halben
+Schilling für den Pfeffer abziehst, den du erwischt hast, kommst du auf
+der nächsten Fahrt in den Feuerkanal und dann in die Aschkanne und
+du sollst mich ins Gesicht spucken dürfen, wenn ich dich nicht in die
+Feuerung schiebe. Biest von einem Ingenieur.“
+</p>
+
+<p>
+Das Biest machte keine Meldung beim Skipper. Wäre uns auch ganz
+egal gewesen. Wir wären mit Wonne in Dakar ins Gefängnis gegangen.
+Hat auch keinen Penny Strafe abgezogen. Solange wir Kessel reinigten,
+und das dauerte ein paar Tage, ist er nie wieder in die Nähe gekommen.
+Von dem Tage an behandelte er uns wie rohe Eier und bekam mehr
+diplomatische Fähigkeiten, als der Erste sie besaß. Wirkt Wunder,
+wenn man Kohle oder einen Hammer oder eine Schürstange zur Hand
+hat, und man weiß sie am rechten Orte zu gebrauchen.
+</p>
+
+<p>
+Als der Kessel sauber war, bekamen wir zwei Glas Rum und Vorschuß.
+Wir in die Stadt und rumgeguckt. Man denkt ja immer, man könnte
+einen treffen, den man nicht erwartet. Ich hätte wegpacken können auf
+einem Franzosen, der nach Barcelona ging. Aber ich wollte meine vier
+Monate Heuer dem Skipper nicht schenken. Warum sollte ich denn umsonst
+arbeiten? So ließ ich den netten Franzosen allein. Stanislaw hätte
+mit einem Norweger stauen können, der nach Malta ging. Aber er hatte
+dieselben Gründe. Die Heuer. Er hatte viel mehr stehen als ich.
+</p>
+
+<p>
+So trieben wir uns im Hafen herum. Stanislaw ging auf den Norweger
+und ich schlenderte für mich weiter.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-23">
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+44
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">a</span> lag weit draußen die Empreß of Madagascar,
+die Kaiserin von Madagaskar, ein Engländer,
+neun Tausend Tonnen, vielleicht noch mehr. Das
+wäre so ein Eimerchen, um damit abzuflippen
+und zu versuchen, für eine Weile aus dem Grabe
+aufzustehen und einen Spaziergang zu machen.
+Feines neues Bötchen. Wie lackiert, so sauber.
+Sogar das Gold ist noch nicht mal abgewettert.
+Funkelfarbenneu. Aber da ist keine Schanz, da ist nichts frei, auf so
+einem pfirsichweichen Backfischlein. Lächelt so kokett rüber, zwinkert
+mit den angefärbten Wimperchen und flickert mit den unterstrichenen
+Augäpfeln, daß es eine wahre Freude ist. Muß mal rüber und das holde
+Geschöpfchen aus der Nähe besehen.
+</p>
+
+<p>
+Verflucht nochmal, wenn nur die Heuer nicht wäre, ich würde wahrhaftig
+mal anklingeln. Aber die Heuer lasse ich nicht im Stich. Wenn ich
+den Zweiten nur dazu kriegte, daß er mich rausfeuert. Vielleicht einen
+Brocken Bolschewistenhetzerei machen. Aber die pfeifen drauf. Hetz’ so
+viel du magst, kommst nicht runter. Und machst du es zu bunt, zieht er
+dir zwei Wochen Heuer ab. Arbeitest umsonst.
+</p>
+
+<p>
+Wenn die Kaiserin früher abfährt als die Yorikke und ich bin darauf
+mit Notheuer, ist nichts mehr zu wollen. Aber wo ladet mich die Empreß
+wieder ab? Nach England darf sie mich nicht mitnehmen, wird mich nicht
+los. Loswerden muß sie mich. Aber wo? Schiebt mich ab auf ein Totenschiff,
+irgendwo unterwegs oder in irgendeinem Hafen, wo gerade ein
+Schuppen steht.
+</p>
+
+<p>
+Aber fragen kostet ja nichts. – „Hallo!“
+</p>
+
+<p>
+„Hallo! What is up?“ Er hat eine weiße Mütze auf, der es runter ruft.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Ain’t no chance for a fireman, chap? Ist bei euch keine Stelle frei für
+einen Heizer?“ rufe ich hinauf. „Papiere?“ „No, Sir.“
+</p>
+
+<p>
+„Sorry. Bedaure, nichts zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+Habe ich ja gewußt. Ist ein sauberes Fräuleinchen. Muß alles in Ordnung
+sein. Heiratslizenz notwendig. Hat noch eine Mutter, die die Hand
+drauf hält. Mutter Lloyd in London.
+</p>
+
+<p>
+Ich gehe lang runter an dem Eimer. Auf dem Achterdeck sitzt Mannschaft.
+Spielen Karten. Verflucht nochmal, was reden denn die für ein
+Englisch. Das ist ja Yorikkisch. Und das auf einem glattlackierten Engländer,
+wo das Gold noch nicht mal abgeblättert ist? Da stimmt etwas
+nicht. Spielen Karten, aber zanken sich nicht und lachen nicht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+Laß mal sehen. Klingelfisch und Haifischflosse, die sitzen da herum und
+spielen, als ob sie auf ihrem eignen Grabhügel sitzen und um ihre
+Maden spielen. Zu essen haben sie gut, sehen gutgemästet aus. Aber das
+traurige Kartenspiel und die trüben Gesichter, und das alles auf einem
+brandneuen Engländer? Da stimmt etwas nicht. Was tut denn der
+überhaupt hier in Dakar-Hafen? Was hat er denn geladen?
+</p>
+
+<p>
+Eisen, Alt-Eisen. An der Westküste Afrikas? Gleich beim Äquator?
+Alt-Eisen? Well, die Dame Kaiserin geht in Ballast heim und nimmt das
+Alt-Eisen mit. Nach Glasgow. Bezahlt wenigstens die Fahrt zur Hälfte.
+Alt-Eisen ist besser als Sand und Steine.
+</p>
+
+<p>
+Nichtsdestoweniger. Das schöne neue Schifflein Empreß und kann keine
+Ladung kriegen von Afrika nach England?
+</p>
+
+<p>
+Wenn ich hier an der Beach liegen würde, hätte ich es in drei Stunden
+raus, was da los ist mit der blanken Kaiserin. Sie wird doch nicht
+etwa –? Na, bist auch schon eingetrant, siehst auch schon in allen Ecken
+Gespenster. Die Empreß of Madagascar, dieser pfirsichweiche und
+schwellende Backfisch aus Glasgow sollte hier bereits auf den Strich
+gehen? Aufgeschminkt?
+</p>
+
+<p>
+Nein, sie ist nicht geschminkt. Alles Natur. Sie ist keine drei Jahre alt.
+Alles echt. Noch nicht einmal eine Niete abgeschliffen am Röckchen.
+Alles wie geleckt und duftet gesund oben und unten. Aber die Mannschaft,
+die Mannschaft. Da ist etwas nicht in Ordnung.
+</p>
+
+<p>
+Was geht es mich an. Jedes Kind will seine Freude haben.
+</p>
+
+<p>
+Ich gehe zurück zum Norweger.
+</p>
+
+<p>
+Ich setze rauf. Stanislaw ist noch da. Sitzt im Quartier und schnackt mit
+ein paar Dänen. Hat eine Büchse guter dänischer Butter in der Tasche
+und ein Stück Prachtkäse.
+</p>
+
+<p>
+„Pippip, kommst gerade zur Zeit, kannst Abendbrot mitmachen, ein
+treues dänisches Abendbrot, vollwertig und echt“, sagt Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Wir lassen uns nicht nötigen und machen das Abendbrot mit.
+</p>
+
+<p>
+„Habt ihr den Engländer da drüben gesehen, die Empreß?“ frage ich,
+während wir alle im Meßraum sitzen und futtern.
+</p>
+
+<p>
+„Liegt schon eine Weile hier“, sagt einer.
+</p>
+
+<p>
+„Feines Mädchen“, forsche ich nun.
+</p>
+
+<p>
+„Oben Seide, unten meide“, sagt einer von den Dänen.
+</p>
+
+<p>
+„Na?“ frage ich, „meiden? Warum meiden? Ist doch ganz echt.“
+</p>
+
+<p>
+„Freilich ist sie echt“, ruft ein andrer dazwischen. „Kannst du notmustern
+wenn du willst. Mit Honig und Schokolade. Kriegen jeden Tag
+Henkersmahlzeit. Pudding und Braten.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+„Kreuzdonnerwetter nochmal, komm endlich klar“, sage ich nun. „Was
+ist los? Ich habe doch wegen Schanz gefragt, ist nichts zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Lieber Freund, siehst doch nicht so aus, als ob du gestern zum erstenmal
+Seewasser geschluckt hast. Sie ist ein Leichenwagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist wohl verrückt und mit Teer gepinselt?“ rufe ich.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Leichenwagen, sage ich dir“, wiederholt der Däne und gießt sich
+Kaffee ein. „Willst du auch noch Kaffee? Wir brauchen mit der Milch,
+mit dem Zucker und der Butter nicht sparen. Wir können wühlen.
+Kannst eine Büchse Milch mit heimnehmen. Willst du?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Frage allein rührt mich zu Tränen“, sage ich und fülle mir meine
+Tasse mit Kaffee, mit richtigem Bohnenkaffee. Ich hatte vergessen, wie
+das schmeckt, denn Yorikke gab nur Kaffee-Ersatz mit zwanzig Prozent
+Kaffee, damit unser Herz nicht beschädigt würde.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Leichenschiff, sage ich dir noch einmal.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie meinst du das? Leichen von Frankreich nach Amerika, daß sie
+drüben die Mütter in den Blumentopf pflanzen können, um sich an der
+Ehre zu erfreuen und sich am Kriege zur Beendigung aller Kriege begeistern
+zu können?“
+</p>
+
+<p>
+„Rede doch nicht so ausländisch, Mensch.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie fährt Leichen, aber keine Kriegerleichen aus Frankreich.“
+</p>
+
+<p>
+„Sondern?“
+</p>
+
+<p>
+„Kleine Engelchen. Seemanns-Engelchen. Seemanns-Leichen, du Sägefisch,
+wenn du das nicht endlich verstehst.“
+</p>
+
+<p>
+„Hat die Kaiserin die an Bord?“
+</p>
+
+<p>
+„Mensch, mit dir kann man ja Bunkerwände einrennen.“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich hat die Tante sie an Bord. Siebenachtel fertig. Können zu
+Hause in ihrer Dorfkirche schon ruhig in die Gedenktafel für Seeleute
+eingekratzt werden. Braucht nicht mehr ausradiert werden. Wenn du
+deinen Namen auch auf der Gedenktafel in deiner Dorfkirche haben
+willst, brauchst du nur mitgehen. Sieht überhaupt sehr vornehm aus,
+wenn du neben deinem Namen stehen hast ‚Empreß of Madagascar‘.
+Klingt doch nach etwas. Sieht doch besser aus, als wenn da nur daneben
+steht Berta oder Emma oder Nordkap. Man muß auch daran denken,
+wen du als Nachbar kriegst auf der Tafel. ‚Empreß of Madagascar‘, da
+ist Schwung drin, Junge.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum soll denn die schon Versicherung fahren?“ Das leuchtete mir
+nun durchaus nicht ein. Das war wieder nur so Gerede. Blasser Neid,
+weil sie nicht selber drauf waren, auf dem neuen Eimer.
+</p>
+
+<p>
+„Kinderleichte Sache.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+„Ist doch höchstens drei Jahre aus den Windeln“, warf ich ein.
+</p>
+
+<p>
+„Endlich beweist du, daß du länger aus den Windeln bist. Sie ist genau
+drei Jahre alt. War für große Fahrt gebaut, Ostasien und Südamerika.
+Sollte zwölf Knoten machen. War Bedingung. Als sie losackerte, machte
+sie vier und wenn es gut ging vier und einen halben. Das kann sie nicht
+aushalten, dabei geht sie pleite.“
+</p>
+
+<p>
+„Können sie doch umbauen.“
+</p>
+
+<p>
+„Schon zweimal versucht. Wird immer schlechter. Hat ursprünglich sogar
+sechs Knoten gemacht, nach dem Umbau nur noch vier. Die muß
+runter vom Wasser, muß die Versicherung bringen. Haben die Versicherung
+sicher fein gedreht, daß sie Lloyd passieren konnte. Aber
+geht ja alles zu schieben.“
+</p>
+
+<p>
+„Und nun soll sie abrasseln?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat schon zweimal gebrummt. Hat aber nicht gefleckt. Das erstemal
+saß sie auf Sand. Sauber wie hingestreichelt. Haben sicher schon in
+Glasgow darauf gezecht. Kam aber Schwerwetter hoch mit Mordsflut
+und die hob die edle Dame runter vom Sand wie Himmelfahrt mit
+Trompeten und Pauken. Und sie schwenkte lustig ab. Da mag der
+Skipper schön geflucht haben. Beim zweitenmal, das war vorige Woche,
+wir lagen schon hier, da ist sie draußen zwischen Klippen gefegt. Saß
+fein fest. Drahtlose Station war zerhauen. Natürlich. Mußte der Skipper
+Flaggen setzen. Anstandshalber. Sind doch immer Zeugen rum. Da kam
+ein französisches Patrouillenboot, gerade wo der Skipper schon so ganz
+gemütlich ausbooten ließ. Die Patrouille flaggte rüber: „Warten. Hilfe
+unterwegs!“ Da hat der Skipper aber geflucht. Möchte nur wissen, wie
+er das Journal wieder in Ordnung gebracht haben mag. Er hatte es
+doch schon aufgezaubert. Wird schön radiert haben, Junge, Junge. Er
+hatte einen Fehler gemacht. Heißt, es ging wohl nicht anders. War bei
+Ebbe aufgesessen. Nun kamen drei Schlepper und hoben ihn ab von
+den Klippen bei Flut. Ganz elegant. Hatte nicht mal eine Schramme
+abbekommen. Das ist Pech. Muß nun auch die Bergungskosten bezahlen.
+Geht alles runter von der Versicherung. Fragt sich, ob die Versicherung
+die ganzen Kosten trägt. Hängt vom Journal ab.“
+</p>
+
+<p>
+„Und was nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt macht er den Verzweifler. Muß er machen. Dreimal kann er
+nicht abkommen. Dann macht die Versicherung eine Untersuchung und
+streicht die Versicherung. Verlangt einen andern Skipper drauf, der
+treu fährt. Dann ist es aus. Dann muß die Empreß zum Abwracken.
+Fahren kann sie nicht.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+„Warum liegt sie denn da so lange, wenn sie keine Reparatur hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Kann nicht raus. Hat keine Heizer.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Unsinn. Hätte er mich doch nehmen können. Ich sagte ihm doch
+rauf, ich sei Heizer.“
+</p>
+
+<p>
+„Hast du Papiere?“
+</p>
+
+<p>
+„Sei nicht so albern, Mensch.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du keine Papiere hast, nimmt er dich nicht. Er muß ein vornehmes
+Gesicht behalten. Tote wären für ihn verdächtig. Aber ob du
+Zulukaffer bist oder Hottentotte oder taubstumm, das ist ihm gleichgültig.
+Mußt nur Papiere haben und mußt befahren sein. Unbefahrene
+Leute ist nicht gut, da kann die Versicherung mauern und Geschichten
+machen. Die Heizer haben sich rausgemacht. Haben sich verbrannt und
+liegen im Hospital, sonst hätten sie ja nicht fortgekonnt. Die Heizer
+sind am schlimmsten dran, die kommen nicht raus, wenn es ein verzweifelter
+Aufbrummer ist. Da ist gleich Wasser vor den Kesseln, und
+die Kessel gehen auch gewöhnlich gleich hoch, wenn sie so plötzlich kalte
+Dusche kriegen. Die haben gleich die explodierende Lungenentzündung
+weg.“
+</p>
+
+<p>
+„Wartet er jetzt ab, bis die Heizer wieder raus sind aus dem Hospital?“
+</p>
+
+<p>
+„Das nützt ihm nichts. Die brauchen nicht mehr rauf, wenn sie nicht
+wollen. Können sauber abmustern. Haben feine Papiere und können in
+Ruhe auf einen andern warten.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie denkt die Tante denn fortzukommen?“
+</p>
+
+<p>
+Die Leute lachten in sich hinein, und der, der diesen Fall am besten
+studiert zu haben schien, sagte: „Die sind auf Kindsraub aus. Auf
+Shanghaien. Kann ich dir zuflüstern, Junge. Ja, eine feine elegante
+Dame, die Kaiserin von Madagaskar. Oben Seide, unten meide. Meide,
+in die Nähe zu gehen.“
+</p>
+
+<p>
+Dagegen ist die Yorikke ja eine hochachtbare Dame. Sie täuscht nichts
+vor. So wie sie aussieht, so ist sie. Ehrlich bis auf das Gerippe. Beinahe
+fange ich an, Yorikke zu lieben.
+</p>
+
+<p>
+Ja, Yorikke, ich muß es dir gestehen: Ich liebe dich. Liebe dich aufrichtig
+um deiner selbst willen. Habe an meinen Händen sechs schwarzblaue
+Fingernägel und an den Zehen vier schwarzgrünblaue Zehennägel.
+Alles um deinetwillen, geliebte Yorikke. Auf die Zehen sind
+Roste geschlagen, und jeder Fingernagel hat seine eigne schmerzhafte
+Geschichte. Meine Brust, mein Rücken, meine Arme, meine Füße haben
+Narben von bösen Brandwunden. Jede einzelne Narbe wurde geboren
+unter einem Schmerzensschrei, der dir galt, Geliebte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+Dein Herz heuchelt nicht. Dein Herz weint nicht, wenn es nicht zum
+Weinen fühlt, es jubelt nicht, wenn es keine Freude fühlt. Dein Herz
+heuchelt nicht, es ist rein und lauter wie pures Gold. Wenn du lachst,
+Herzliebste, so lacht deine Seele, lacht dein Leib und lacht dein lustiges
+Zigeunerkleid. Und wenn du weinst, Herzallerliebste, dann weint selbst
+das kalte Riff, an dem du vorübergehst.
+</p>
+
+<p>
+Ich will dich nimmermehr verlassen, Geliebte, nicht um alle Schätze der
+Welt. Ich will mit dir wandern, mit dir singen, mit dir tanzen und mit
+dir schlafen. Ich will mit dir sterben, in deinen Armen meinen letzten
+Seufzer tun, du Zigeunerin der Meere. Du protzest nicht mit deiner
+glorreichen Vergangenheit und deinem uralten Stammbaum bei Tantchen
+Lloyd in London. Du protzest nicht mit deinen Lumpen, und du
+spielst nicht mit ihnen. Sie sind dein rechtmäßiges Gewand. Du tanzest
+in deinen Lümpchen froh und stolz wie eine Königin und singst dein
+Zigeunerlied, dein Lumpenlied:
+</p>
+
+<h4 class="hdr" id="subchap-2-23-1">
+DAS TANZLIED DES TOTENSCHIFFES
+</h4>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Was gehn euch meine Lumpen an?</p>
+ <p class="verse">Da hängen Freud’ und Tränen dran.</p>
+ <p class="verse">Was kümmert euch denn mein Gesicht?</p>
+ <p class="verse">Ich brauche euer Mitleid nicht.</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Was kümmert euch, was mir gefällt?</p>
+ <p class="verse">Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt.</p>
+ <p class="verse">In euren Himmel will ich gar nicht rein,</p>
+ <p class="verse">Viel lieber dann schon in der Hölle sein.</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Ich brauch’ gewiß nicht eure Gnaden,</p>
+ <p class="verse">Und selbst wenn Tote ich geladen,</p>
+ <p class="verse">Wenn Schimpf und Schand’ sind an mir dran,</p>
+ <p class="verse">Euch geht das einen Sch...dreck an.</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Ich pfeife auf das Weltgericht.</p>
+ <p class="verse">An Auferstehung glaub’ ich nicht,</p>
+ <p class="verse">Ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht,</p>
+ <p class="verse">Und Höllenstrafen fürcht’ ich nicht.</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse2">Hopla he, auf weiter See,</p>
+ <p class="verse2">Hopla, hopla, he!</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-3">
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+DRITTES BUCH
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="epi blank" id="chapter-3-1" title="ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN">
+<span class="keep-nu-html-checker-happy">&nbsp;</span>
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+</h3>
+
+</div>
+
+<div class="center">
+ <div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN</p>
+ <p class="verse">DA DRAUSSEN KREUZ UND QUER;</p>
+ <p class="verse">DOCH KEINS KANN SO VERRUFEN SEIN,</p>
+ <p class="verse">DASS NICHT MANCH ANDRES</p>
+ <p class="verse">SCHLIMMER WÄR’.</p>
+ </div>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-2">
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+45
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">ag</span> sein, daß man seine Frau nicht zu sehr lieben
+darf, wenn man sie behalten will. Sie langweilt
+sich sonst und läuft zu einem andern, um geprügelt
+zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Es war verdächtig, sehr verdächtig, daß ich die
+Yorikke plötzlich so innig zu lieben begann. Aber
+wenn man soeben die gräßliche Geschichte eines
+Kindsräubers vernommen hat, in der einen Tasche
+eine Büchse Milch, in der andern eine Büchse guter dänischer Butter
+trägt, kann man wohl Liebesgedanken bekommen und diejenige
+lieben, die in ihren Lumpen liebenswerter ist als Leichenräuber in
+seidenen Kleidern.
+</p>
+
+<p>
+Aber verdächtig war diese aufkeimende Liebe doch. Etwas war nicht
+in Ordnung. Da war die Aschenhuze gewesen. Und nun war auch noch
+Yorikke, die ich mit heißer Inbrunst liebte. Das wollte mir nicht gefallen.
+Da stimmte etwas nicht.
+</p>
+
+<p>
+Im Quartier war es nicht auszuhalten. Die Luft stand dick und schwer
+und drückte auf das Hirn.
+</p>
+
+<p>
+„Laß uns wieder rausgehen,“ sagte ich zu Stanislaw, „wir schlendern
+am Wasser herum bis es kühler wird. Nach neun wird sicher eine Brise
+aufkommen. Dann gehen wir heim und legen uns aufs Deck.“
+</p>
+
+<p>
+„Hast recht, Pippip“, gab Stanislaw zu. „Hier kann man weder schlafen
+noch sitzen. Wir können mal raufgehen zu dem Holländer, der da oben
+liegt. Vielleicht sehe ich einen Bekannten.“
+</p>
+
+<p>
+„Immer noch Hunger?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, aber vielleicht kann ich ihnen ein Stück Seife abnehmen und ein
+Handtuch. Wäre ganz gut mitzunehmen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir trotteten langsam los. Es war inzwischen ganz finster geworden.
+Die Hafenlampen waren nur spärlich erleuchtet. Es wurde nirgends
+geladen. Die Schiffe glimmerten schläfrig durch die abendliche
+Dunkelheit.
+</p>
+
+<p>
+„Berühmt ist der Tabak aber auch nicht, den uns die Norweger gegeben
+haben“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte ich das ausgesprochen und mich dabei Stanislaw zugewandt,
+um Feuer von ihm zu kriegen, als ich einen mächtigen Hieb
+über den Schädel erhielt. Ich fühlte den Schlag ganz deutlich, konnte
+mich aber nicht bewegen, meine Beine wurden merkwürdig plump und
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+dick und ich fiel hin. Es sauste und brummte entsetzlich um mich herum
+und es tat drückend weh.
+</p>
+
+<p>
+Das dauerte aber nicht lange, schien mir. Ich stand wieder auf aus
+meiner Betäubung und wollte weitergehen. Aber ich lief gegen eine
+Wand, gegen eine Holzwand. Wie konnte das sein? Ich ging links, doch
+auch da war eine Wand. Und rechts war eine Wand und hinter mir war
+eine Wand. Und alles war finster. Mein Kopf summte und dröhnte. Ich
+konnte nicht denken, wurde müde und legte mich wieder auf den
+Boden.
+</p>
+
+<p>
+Als ich abermals aufwachte, waren die Wände noch immer da. Aber
+ich konnte nicht ruhig stehen. Ich schwankte. Nein, das war es nicht, der
+Boden schwankte.
+</p>
+
+<p>
+Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß jetzt, was los ist. Ich
+bin auf einem Boot, auf einem Eimer, und der ist auf hoher See.
+Schwimmt lustig voran. Die Maschinen stampfen und bollern.
+</p>
+
+<p>
+Mit beiden Fäusten und endlich auch mit den Füßen hämmere ich gegen
+die Wände. Es scheint niemand etwas zu hören. Aber nach längerer Zeit,
+als ich wieder und wieder die Wände bearbeitet und auch mit Schreien
+mein Trommeln unterstützt habe, wird eine Luke aufgemacht und es
+leuchtet jemand mit einer elektrischen Taschenlampe herein.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie jetzt Ihren Soff ausgeschlafen?“ werde ich gefragt.
+</p>
+
+<p>
+„Scheint, ja“, sage ich.
+</p>
+
+<p>
+Es braucht mir niemand etwas erzählen, ich weiß bereits, was los ist.
+Kindsraub, shanghaied. Ich bin auf der Empreß of Madagascar.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sollen zum Skipper kommen“, sagt der Mann.
+</p>
+
+<p>
+Es ist heller Tag draußen. Ich klettere die Leiter hoch, die der Mann
+durch die Luke schiebt und bin bald darauf auf dem Deck.
+</p>
+
+<p>
+Ich werde zum Skipper geführt.
+</p>
+
+<p>
+„Feine Leute seid ihr, muß ich sagen“, schreie ich gleich, als ich in die
+Kabine komme.
+</p>
+
+<p>
+„Bitte?“ sagt der Skipper ganz ruhig.
+</p>
+
+<p>
+„Kindsräuber. Shanghaier. Engelmacher. Leichenfledderer. Das ist es,
+was ihr seid“, schreie ich.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper bleibt ungerührt, steckt sich ruhig eine Zigarre an und
+sagt: „Es scheint, Sie sind noch nicht ganz nüchtern. Wir werden Sie
+mal in kaltes Wasser tauchen müssen, damit der Rauch abzieht.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sehe ihn an und sage nichts.
+</p>
+
+<p>
+Der Skipper drückt auf einen Knopf, der Steward kommt und der
+Skipper nennt zwei Namen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+„Setzen Sie sich“, sagt der Skipper nach einer Weile.
+</p>
+
+<p>
+Es kommen zwei widerliche Kerle rein. Verbrechergesichter.
+</p>
+
+<p>
+„Ist das der Mann?“ fragt der Skipper.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das ist er“, bestätigen die beiden.
+</p>
+
+<p>
+„Was tun Sie hier auf meinem Schiff?“ sagt der Skipper jetzt zu mir
+in einem Tone, als ob er Vorsitzender eines Schwurgerichts wäre. Vor
+sich hat er Papier liegen, auf dem er mit einem Bleistift kritzelt.
+</p>
+
+<p>
+„Das möcht ich gern von Ihnen wissen, was ich hier auf dem Schiff
+mache“, antworte ich.
+</p>
+
+<p>
+Nun redet der eine dieser beiden Verbrecher. Sie scheinen Italiener zu
+sein nach der Art, wie sie die Brocken Englisch herausbringen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir wollten gerade die Ladekammer elf reinigen, und da fanden wir
+den Mann hier besoffen in einer Ecke liegen, wo er fest schlief.“
+</p>
+
+<p>
+„Also“, sagt darauf der Skipper, „dann ist das ganz klar. Sie wollten
+sich auf meinem Schiff blind wegpacken, um nach England zu kommen.
+Sie werden das nun wohl nicht mehr bestreiten wollen. Ich kann Sie
+leider nicht über Bord werfen, was ich ja eigentlich tun müßte. Verdienten
+eigentlich, daß ich Sie ein halbes Dutzend mal am Lademast
+schleifen lasse und Ihnen die Haut ein wenig abschinde, damit Sie dran
+denken, daß ein englisches Schiff nicht dazu dient, Verbrecher, die von
+der Polizei verfolgt werden, in Sicherheit zu bringen.“
+</p>
+
+<p>
+Was sollte ich da lange reden. Er hätte mir von diesen italienischen
+Sträflingen die Knochen zerschlagen lassen, wenn ich ihm gesagt hätte,
+was ich von ihm denke. Er würde es überhaupt tun schon für das, was
+ich ihm gleich am Anfang erzählt habe. Aber er hat ja nur Interesse an
+meinen gesunden Knochen und nicht an meinen zerschlagenen.
+</p>
+
+<p>
+„Was sind Sie?“ fragte er nun.
+</p>
+
+<p>
+„Schlichter Deckarbeiter.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind Heizer.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben sich doch hier gestern als Heizer angeboten?“
+</p>
+
+<p>
+Ja, das hatte ich, und das war mein Fehler. Seitdem haben die mich nicht
+mehr aus den Augen gelassen. Hätte ich damals gesagt, Deckarbeiter,
+hätten sie vielleicht kein Interesse an mir gehabt. Heizer waren es, die
+sie brauchten.
+</p>
+
+<p>
+„Da Sie also Heizer sind und Sie Glück haben dadurch, daß mir zwei
+Heizer krank geworden sind, so können Sie als Heizer arbeiten. Sie
+bekommen englische Heizerheuer, zehn Pfund zehn ist sie augenblicklich.
+Aber ich kann Sie nicht heuern. Wenn wir nach England kommen,
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+habe ich Sie den Behörden zu übergeben; und Sie werden, je nachdem
+der Richter Ihnen geneigt sein wird, zwei bis sechs Monate abmachen
+müssen und dann natürlich Deportation. Aber hier werden Sie, solange
+wir auf Fahrt sind, als regelrechtes Mitglied der Mannschaft unsrer
+Empreß of Madagascar behandelt.
+</p>
+
+<p>
+Wir können uns gut vertragen, wenn Sie Ihre Arbeit tun. Wenn wir uns
+nicht vertragen können, gibt es kein Wasser, lieber Freund. Ich denke
+also, wir vertragen uns lieber. Um zwölf beginnt ihre Wache. Ihre
+Wachen sind sechs und sechs Stunden; die zwei Stunden je Wache mehr,
+werden Ihnen bezahlt mit einem Schilling sechs Pence die Stunde.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Da war ich nun Heizer auf der Empreß of Madagascar, auf der Fahrt
+zu dem Gedenkstein in der Dorfkirche. Ich hatte keine Dorfkirche, also
+blieb mir nicht einmal diese Ehre.
+</p>
+
+<p>
+Die Heuer war gut, da ließ sich Geld dabei machen. Aber in England
+Gefängnis wegen Schiffschleichens und dann vielleicht noch Jahre im
+Gefängnis warten auf Deportation. Doch das war ja eben die Sache.
+Die Heuer bekam ich nicht, weil die Fische sie nicht auszahlen werden.
+Komme ich heil raus, ich kriege keinen Nickel Heuer, ich bin nicht treu
+gemustert. Kein englischer Konsul erkennt diese Strafmusterung an.
+Gefängnis und Deportation rühren mich nicht. Wir kommen nicht nach
+England. Nur ja keine Sorge. Wollen uns doch mal die Boote ansehen.
+Die Boote sind fertig. Da wird es also in den nächsten Tagen losgehen.
+Erste Bedingung ist, alles klarmachen, um auf alle Fälle aus dem
+Kesselraum zu kommen. Beim leisesten Knirscher weg vom Kessel und
+hoch wie der Satan.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-3">
+46
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Quartiere sind wie Salons. Sauber und neu.
+Stinken nur unerträglich nach frischer Farbe.
+Matratzen im Bunk, aber kein Kissen, keine
+Decke, kein Laken. Kaiserin von Madagaskar,
+bist nicht so reich wie du von draußen aussiehst.
+Oder die haben schon alles gezockelt und vermünzt,
+was gerettet werden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Geschirr gibt es auch nicht. Aber man kann es
+schon leichter zusammenklauben, weil da was übrig ist und dort was
+herumliegt. Das Essen wird von einem italienischen Jungen gebracht,
+damit hat man also nichts zu tun. Das Essen ist ausgezeichnet. Freilich,
+unter Henkersmahlzeit verstehe ich etwas andres.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+Rum gibt es hier überhaupt nicht, wie mir von einem erzählt wird. Der
+Skipper ist Anti, schon faul.
+</p>
+
+<p>
+Schiffe ohne Rum stinken wie Jauche.
+</p>
+
+<p>
+Ich sitze im Meßraum des Kesselpersonals.
+</p>
+
+<p>
+Der Meßboy ruft die Leute aus den Bunks zum Essen. Es kommen zwei
+schwere Neger herein, die Kohlschlepps. Und dann kommt ein Heizer
+herein, der auf Freiwache ist.
+</p>
+
+<p>
+Den Heizer kenne ich. Sein Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen.
+Das Gesicht ist aufgeschwommen, und um den Kopf hat er eine Binde.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Stanislaw, du?“
+</p>
+
+<p>
+„Pippip, du auch?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie du siehst. Mitgegangen, mitgefangen“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ja noch ganz gut davon gekommen. Ich habe mich mit ihnen
+schwer gekloppt. Ich kam gleich wieder hoch, nachdem ich den ersten
+Schlag weg hatte. Du lagst fest, hattest gleich einen saftigen gekriegt.
+Aber als du so plötzlich umknicktest, bückte ich mich nach dir und so
+kriegte ich nur einen halben. Gleich war ich wieder auf. Und nun ging
+die Bürsterei los. Waren gleich vier herum. Und ich habe ganz verflucht
+was auf den Schädel gekriegt.“
+</p>
+
+<p>
+„Was haben sie dir denn für eine Geschichte erzählt?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich hätte mich gekloppt, hätte einen erstochen und dann hätte ich mich
+auf dem Eimer versteckt, weil die Polizei hinter mir her gewesen sei.“
+</p>
+
+<p>
+„Mir haben sie etwas Ähnliches erzählt, die Kindsräuber“, sagte ich.
+„Unsre Heuer von der Yorikke sind wir nun auch noch los, und hier
+kriegen wir nie einen Cent.“
+</p>
+
+<p>
+„Dauert ja nur ein paar Tage. Ich denke übermorgen wird es schon soweit
+sein. Es ist ein Platz, wie er ihn sich nicht besser wünschen kann.
+Kann sich schön sauber hinlegen wie gemalt. Kommt niemand her und
+deckt das Gesicht ab. Um fünf ist Exerzieren an den Booten. Merkst
+was, he? Wir sind nicht dabei, wir sind gerade dann auf Wache. Wir
+sind beide Boot vier, Heizer von Wache zwölf bis vier. Ich habe die
+Liste gesehen, hängt im Gangweg.“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du schon, wie es vor den Kesseln ist?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Zwölf Feuer. Vier Heizer. Die beiden andern sind Neger. Auch die
+Schlepps sind Neger. Da die beiden, die am Tisch sitzen.“ Stanislaw
+deutete rüber zu den starken Burschen, die gleichgültig an ihrem Essen
+würgten und uns kaum zu bemerken schienen.
+</p>
+
+<p>
+Um zwölf traten wir unsre Wache an. Die vorige Wache hatte der
+Donkeyman mit den Negern gemacht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+Die Feuer sahen bös aus, und wir hatten beinahe zwei Stunden wild zu
+arbeiten, bis wir sie in Ordnung hatten. Alles war verschlackt; aufzuschmeißen
+verstanden die schwarzen Heizer auch nicht. Sie pfefferten
+die Kohle hinein, und damit gaben sie sich zufrieden. Daß Heizen eine
+Kunst ist, die mancher nie lernt, davon schienen sie nichts zu wissen,
+obgleich sie offenbar schon einige Jahre vor den Kesseln arbeiteten und
+sicher schon eine gute Anzahl von Schiffen abgedient hatten.
+</p>
+
+<p>
+Mit den Rosten hatten wir hier nur wenig Arbeit. Brannte einer durch,
+so ließ er sich rasch einsetzen ohne daß er nachfiel oder gar andre mitriß.
+Die Schlepps, riesenhafte Neger, mit Armen wie Oberschenkel und
+einem Körperbau, daß man glaubte, sie könnten einen ganzen Kessel
+auf ihren Schultern fortschleppen, brachten die Kohle verteufelt langsam
+heran, und wir mußten ihnen ganz gehörig den Marsch blasen, bis
+sie sich endlich herbeiließen, zu arbeiten. Sie stöhnten in einem fort,
+daß es zu heiß sei, daß sie keine Luft bekämen, daß sie vor Staub nicht
+schlucken könnten, und daß sie sicher verdursten würden.
+</p>
+
+<p>
+„Na, Pippip,“ sagte Stanislaw, „da mußten wir ganz anders ziehen auf
+der alten Yorikke. Was tun die Kerle nur mit ihren Knochen? Ehe die
+eine halbe Tonne heran haben, hole ich sechs und puste noch nicht einmal
+dabei. Und hier liegen ihnen die Kohlen direkt vor der Nase.“
+</p>
+
+<p>
+„Gerade jetzt fing auf der Yorikke wieder eine schöne Zeit für eine
+Woche an“, sagte ich. „Sie hatte gerade frisch gekohlt und die Schächte
+und Kesselbunker lagen gepfropft, daß es ein wahrer Spaß hätte sein
+müssen für die nächste Fahrt. Aus. Schiet Yorikke. Haben jetzt andres
+zu denken.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah mich um.
+</p>
+
+<p>
+„Habe auch schon herumgeblickt“, sagte Stanislaw. „Wir müssen Luftlöcher
+suchen. Zur Leiter kommt man nicht immer. Bricht meist weg,
+wenn sie richtig aufknallt. Und wenn gar noch die Kessel oder die Rohre
+anfangen zu summen und zu spucken, dann ist die Leiter eine verfluchte
+Rattenfalle. Kannst nicht mehr runter, nicht mehr rauf.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Oberbunker hat eine Luke zum Deck“, sagte ich. Ich war eben oben
+gewesen und hatte untersucht. „Wir müssen die Luke immer klar
+haben, wenn wir auf Wache gehen. Dann baue ich eine Lattenleiter, und
+die halten wir immer hier an der Schachtluke. Wenn es knirscht, sofort
+raus, rauf, hoch und raus zur Deckluke.“
+</p>
+
+<p>
+Wir arbeiteten uns nicht blöd. Es schien den Ingenieuren auch ganz
+gleich zu sein. Solange die Maschine lief, war es recht. Ob sie große
+Fahrt machte oder kleine, kam nicht in Betracht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+Es hätte alles ganz nach Vorschrift gehen können. Ein paar Löcher
+unten in den Mantel gedrillt, nicht größer als einen halben Zoll, und mit
+ihrer Sargeinlage Alteisen wäre die Empreß sanft und selig eingeschlafen,
+weggesackt wie ein Stein. Nur noch der Pumpe einen Klaps
+gegeben. Aber vor dem Seegericht kann das manchmal fehlgehen, und
+wenn die ganze Mannschaft heil abkommt, so ist das immer verdächtig.
+Zwei Tage waren es nur. Wir hatten gerade die Wache übernommen
+und waren mit dem Ausschlacken halb durch, da hörte ich einen furchtbaren
+Knall und ein Krachen. Ich flog zuerst gegen die Kessel und dann
+zurück in einen Kohlenhaufen.
+</p>
+
+<p>
+Gleich darauf standen die Kessel senkrecht über mir, ein paar Feuerungstüren
+brachen auf und die Glut fiel in den Kesselraum. Zur Lattenleiter
+brauchte ich nicht hinaufsteigen, ich konnte auf ebener Fläche zu
+der Schachtluke gehen.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw war schon raus.
+</p>
+
+<p>
+Als ich in den Bunker kam, kletterte er gerade durch die Luke.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick hörten wir einen gräßlichen Schrei aus dem
+Kesselraum.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte den Schrei auch gehört und drehte sich um.
+</p>
+
+<p>
+„Das war Daniel, der Schlepp“, rief ich Stanislaw zu. „Ich glaube, er
+sitzt fest.“
+</p>
+
+<p>
+„Verflucht, runter, aber rasch“, schrie Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Ich war schon wieder drin im Kesselraum. Die Kessel standen noch
+immer Kopf, und jede Sekunde konnte einer losfahren in die Lüfte. Das
+elektrische Licht war verlöscht, weil offenbar das Kabel durchgerissen
+war. Aber die Glut gab Licht genug, wenn es auch recht gespensterhaft
+aussah.
+</p>
+
+<p>
+Daniel, der eine Neger, lag lang und war mit seinem linken Fuß von
+einer losgelösten Platte eingeklemmt. Er schrie und schrie, weil die Glut
+ihn schmorte.
+</p>
+
+<p>
+Wir versuchten, die Platte zu heben, aber es ging nicht, wir kriegten sie
+nicht hoch und konnten mit der Schürstange nicht heran, um sie hochzuheben.
+</p>
+
+<p>
+„Geht nicht, Daniel, Fuß sitzt fest.“ Ich schrie es in wahnsinniger Eile
+auf Daniel ein.
+</p>
+
+<p>
+Was tun? Sollen wir ihn hierlassen?
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist der Hammer?“ schreit Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Schon ist der Hammer zur Hand, und in derselben Sekunde haben wir
+eine Schaufel glattgeklopft, und ohne Besinnen schlägt Stanislaw dem
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+Neger den Fuß ab. Drei Hiebe waren nötig. Wir schleiften Daniel zur
+Schachtluke, schleiften ihn durch den Bunker und zerrten ihn durch die
+Deckluke.
+</p>
+
+<p>
+Draußen packte der andre Neger unsrer Wache, der sich rechtzeitig in
+Sicherheit gebracht hatte, sofort zu. Wir überließen ihm Daniel und
+kümmerten uns nun um uns selbst.
+</p>
+
+<p>
+Das Quartier lag bereits im Wasser. Die Empreß ragte mit dem Stern
+hoch in die Luft. Das war beim Bootsexerzieren nicht ausprobiert worden.
+Es stand alles ganz anders, als man es gewöhnt war. Eine Weile
+hatte noch das Licht gebrannt. Der Ingenieur hatte es zu den Akkumulatoren
+durchgeschaltet. Jetzt verglimmte es langsam, weil die Akkumulatoren
+wahrscheinlich auszulaufen begannen oder die Kabel
+irgendwo Widerstände aufnahmen. Elektrische Taschenlampen und
+Notlaternen mußten helfen.
+</p>
+
+<p>
+Vom Quartier sah ich niemand. Die waren schon fertig. Die konnten
+nicht mehr raus. Gegen die Tür lehnten einige Tonnen Wasserdruck.
+</p>
+
+<p>
+Boot zwei riß sich los und war im Augenblick vom Seegang fortgeschwemmt,
+ohne daß auch nur ein Mann drin saß.
+</p>
+
+<p>
+Boot vier war nicht zu holen. Lag nicht klar.
+</p>
+
+<p>
+Boot eins war klar, und der Skipper kommandierte die Besatzung.
+Dann stand es bei und wartete auf ihn, weil er anstandshalber auf Deck
+blieb. Das Seegericht sieht so etwas gern und lobt es.
+</p>
+
+<p>
+Nun kam auch Boot drei klar. Hier flitzten Stanislaw und ich hinein,
+zwei Ingenieure, der gesunde Negerschlepp und Daniel mit dem abgehackten
+Fuß, der jetzt mit einem Hemd verbunden war; ferner kriegten
+wir den Ersten Offizier und den Steward.
+</p>
+
+<p>
+Die Kessel schienen brav zu halten und waren vielleicht durch die herausgefallenen
+Feuer beruhigt worden. Pflaumenmus gab es ja hier
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+Wir stießen ab. Der Skipper war inzwischen in Boot eins gesprungen,
+und auch dieses Boot lief klar ab.
+</p>
+
+<p>
+Aber ehe es seine Riemen gestreckt hatte, wurde es von der See heftig
+gegen den Schiffsleib geschleudert. Immer wieder versuchten sie, klar
+zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+Da plötzlich löste sich ein Etwas von dem Schiffe los und schlug mit
+brechendem und splitterndem Getöse auf das Boot. Man hörte ein
+Schreien von vielen Stimmen und dann war alles still, als wären Schrei,
+Boot und Besatzung mit einem Ruck von einem großen Maul verschluckt
+worden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+Wir waren ganz schön abgekommen und pullten lustig drauf los. Kurs
+zur Küste.
+</p>
+
+<p>
+Große Fahrt machten wir nicht mit den paar Riemen. Die Wogen gingen
+verteufelt hoch, und wir standen manchmal zwei Bootslängen hoch an
+einer steilen Wasserwand. Dann spreizten die Riemen in der Luft,
+konnten nicht einlegen, und wir wurden kreuz und quer geschleudert.
+Der Ingenieur, der mit an den Riemen saß, sagte da plötzlich: „Wir
+sitzen ziemlich flach. Kaum drei Fuß. Auf Fels.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht möglich“, erwiderte der Erste Offizier. Er tastete nach dem
+Riemen, lotete und sagte dann: „Sie haben recht. Raus, raus.“
+</p>
+
+<p>
+Er hatte den Befehl noch halb im Munde, da gingen wir steil an einer
+Wand hoch. Die Welle nahm uns wie eine kleine Untertasse und haute
+das ganze Boot mit solcher Wucht auf den Fels, daß es in tausend
+Splitter ging.
+</p>
+
+<p>
+„Stanislaw!“ schrie ich hinaus in das Toben der Wellen. „Hast du was,
+wo du kleben kannst?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht einen dürren Strohhalm“, schrie er mir zu. „Ich schwimme zurück
+zum Eimer. Der steht ein paar Tage gut so, wie er da steht. Der fällt
+dir so leicht nicht auf die Zehen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Idee war nicht schlecht. Ich versuchte, Kurs auf das schwarze Ungetüm
+zu halten, das sich gegen den Nachthimmel klar abhob.
+</p>
+
+<p>
+Und verflucht nochmal, wir kamen beide ran, obgleich wir einige
+dutzendmal immer wieder zurückgeschleudert worden waren.
+</p>
+
+<p>
+Wir kletterten rauf und suchten in Mittschiff zu kommen. Das war
+nicht so leicht. Die Achternwand bildete jetzt das Deck oder das Dach
+für das Mittschiff. Die beiden Korridore waren tiefe Schächte geworden,
+in die hinunterzukommen während der Nacht nicht gut vollführt
+werden konnte und selbst bei Tage seine Schwierigkeiten haben würde.
+Die Wogen gingen außerordentlich hoch und schienen an Wucht noch
+zuzunehmen. Offenbar waren wir bei Ebbe aufgebrummt, denn das
+Wasser begann zu steigen.
+</p>
+
+<p>
+Die Empreß stand fest wie ein Turm, eingeklemmt in einer Riffspalte.
+Wie sie in diese unschiffsmäßige Lage kommen konnte, wußte wohl
+nur sie allein. Sie zitterte kaum und bebte nicht, so fest stand sie. Nur
+manchmal, wenn ein besonders schwerer Brecher gegen ihren Panzer
+tobte, zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie ihn abschütteln. Sturm
+war gar nicht. Der Aufruhr lag nur in der schweren See. Es sah auch
+nicht danach aus, als ob Sturm aufkommen würde. Nicht in den nächsten
+sechs Stunden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+Dann graute der Himmel. Die Sonne ging auf. Frisch gewaschen stieg sie
+aus ihrem Seebade empor zu den weiten Höhen.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst lugten wir aus über die See. Es war nichts zu sehen. Kein Mann
+schien übrig zu sein. Daß irgendeiner aufgepickt worden war, glaubte
+ich nicht; auch Stanislaw bezweifelte es. Wir hatten kein Schiff passieren
+sehen. Außerdem lagen wir nicht in der Route. Der Skipper war
+herausgegangen, um nicht abermals von Patrouillen oder Passanten gesehen
+zu werden. Der Spaß war für ihn teuer geworden. Er hatte an
+eine ruhige friedliche Abwicklung des Geschäfts gedacht. Daß er vom
+Quartier keinen Mann mitbekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet.
+Wären die beiden Boote richtig bemannt gewesen, hätte das ein
+Vergnügen sein müssen, klar abzukommen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-4">
+47
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> es völlig hell geworden war, versuchten wir, den
+Korridorschacht hinabzuklettern. Mit einiger Sorgfalt
+ging es auch. Wir benutzten die Türen zu den
+einzelnen Kabinen und die Wandrippen als Sprossen,
+und so ging es viel rascher und schneller, als wir gedacht
+hatten.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Boden des Schachtes befanden sich die
+beiden Kabinen des Skippers. Ich fand einen Taschen-Schiffskompaß,
+den ich gleich mit Beschlag belegte, aber Stanislaw anvertraute,
+weil ich keine Tasche hatte, wo ich ihn aufbewahren konnte.
+Es waren auch zwei kleine Wassertanks in der Kabine, einer diente
+für Waschwasser und einer für Trinkwasser. Um Wasser waren wir
+nun für einige Tage nicht verlegen, denn ob die Pumpen in der Galley
+würden Wasser ziehen können, mußten wir erst noch ausprobieren.
+Vielleicht war der Frischwassertank überhaupt schon ausgelaufen.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Yorikke hatten wir ja jedes Plätzchen gewußt, wo was zu holen
+war. Hier mußten wir erst damit beginnen, alles zu suchen. Aber
+Stanislaw hatte eine gute Nase und hatte die Vorratskammer, die
+Pantry, im Augenblick entdeckt, sobald nur die Frage nach dem Frühstück
+auftauchte. Verhungern konnten wir zwei Mann innerhalb der
+nächsten sechs Monate nicht. Und wenn wir genügend Wasser noch
+hatten, ließ es sich für eine Weile aushalten. In der Pantry waren
+mehrere Kasten mit Mineralwasser, Bier und Wein. Ganz schlimm
+konnte es nicht werden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
+Der Kochherd wurde auch wieder aufgerichtet, und so konnten wir
+auch kochen. Wir probierten die Pumpen für Frischwasser aus. Die
+eine zog nicht an, dagegen um so besser die andre. Das Wasser war
+noch etwas trüb von dem aufgerüttelten Schlamm, der sich am Boden
+festgesetzt hatte, aber das würde sich nach einem Tage schon geben.
+</p>
+
+<p>
+Mir wurde übel zumute, und auch Stanislaw zeigte Unbehagen.
+</p>
+
+<p>
+„Mensch,“ sagte er mit einemmal, „was sagst du dazu, ich werde seekotzig.
+Verflucht nochmal, das ist mir denn doch noch nicht passiert.“
+</p>
+
+<p>
+Ich konnte mir das nicht erklären, denn mir wurde immer kläglicher zumute,
+während der Eimer doch ziemlich still stand. Das Herantoben der
+Brecher und das gelegentliche Erzittern des Eisenkolosses konnte ein so
+erbärmliches Gefühl doch nicht auslösen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun kann ich dir sagen, was los ist, Stanislaw“, gab ich nach einer
+Weile zur Antwort. „Die verrückte Lage der Kabinen ist es, was uns
+kotzig macht. Alles steht schräg und steil. Da muß man sich erst daran
+gewöhnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, du hast recht“, meinte er, und sobald wir draußen waren
+im Freien, war das üble Empfinden sofort weg, obgleich einem auch die
+ganze Lage des Schiffes, die so blödsinnig toll zum Horizont stand, auf
+das Gleichgewichtsempfinden schlug.
+</p>
+
+<p>
+„Siehst,“ sagte ich jetzt zu ihm, als wir draußen saßen und des Skippers
+gute Zigarren rauchten, „es ist nur die Einbildung, nichts weiter. Ich
+bin sicher, wenn wir einmal heraus haben, was in unserm Leben alles
+Einbildung und was Tatsache ist, werden wir noch recht sonderbare
+Dinge lernen und die ganze Welt von einem andern Gesichtswinkel aus
+betrachten. Wer weiß, welche Folgen das haben kann.“
+</p>
+
+<p>
+So sehr wir auch Ausschau hielten, ein Schiff war nicht zu sehen. Nicht
+einmal eine Rauchfahne konnten wir erblicken. Wir lagen zu weit
+außerhalb der üblichen Fahrstraßen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir können hier das schönste Leben führen, das wir je geträumt
+haben,“ philosophierte Stanislaw, „haben alles, was wir uns nur wünschen,
+können essen und trinken, was wir wollen und soviel wir wollen,
+kein Mensch stört uns, und arbeiten brauchen wir auch nicht. Trotzdem
+möchten wir fort, je rascher, je lieber, und wenn kein Eimer uns abholen
+kommt, müssen wir doch bald sehen, runter zu kommen und versuchen,
+die Küste zu machen. Immer jeden Tag dasselbe, das ist es, was
+man nicht ertragen kann. Ich denke mir manchmal, auch wenn es wirklich
+ein Paradies geben würde, was ich ja nicht glaube, weil ich mir
+nicht vorstellen kann, wo die Reichen hingehen, ich würde nach drei
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+Tagen im Paradiese eine gräßliche Gotteslästerung verüben, nur um
+wieder rauszukommen und nicht immerfort fromme Lieder singen zu
+müssen und zwischen alten Betschwestern und Pfaffen und Muckern
+zu sitzen.“
+</p>
+
+<p>
+Da mußte ich aber doch lachen: „Habe nur ja keine Bange, Stanislaw,
+wir beide kommen nicht da rein. Wir haben ja keine Papiere. Und
+kannst dich heilig drauf verlassen, die verlangen da oben auch Papiere,
+Pässe und Taufzeugnisse von dir, und wenn du die nicht beibringen
+kannst, machen sie dir die Türe vor der Nase zu. Frag’ nur den Pfaffen,
+er wird es dir sofort bestätigen. Mußt Heiratslizenz beibringen, kirchlichen
+Trauschein, Taufschein, Konfirmationsschein, Firmungsschein,
+Kommunionsstempel und Beichtzettel. Ginge das da oben so glatt ohne
+Papiere, wie du dir das zu denken scheinst, brauchten die hier unten ja
+keine ausstellen. Auf die Allwissenheit scheinen sie sich nicht zu verlassen,
+besser ist es schon, man hat es schwarz auf weiß und ordnungsmäßig
+abgestempelt. Wird dir jeder Pfaff erzählen, daß der Torwächter
+da oben ein großes Bund mit Schlüsseln hat. Wozu? Zum Abschließen
+der Türen, damit nicht doch vielleicht einer ohne Visa über die Grenze
+schleichen kann.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw saß eine Weile still und sagte dann: „Merkwürdig, daß ich
+gerade so drauf komme, aber die ganze Geschichte hier will mir nicht
+recht gefallen. Es geht uns viel zu gut. Und wenn es einem so ganz ausnahmsweise
+gut geht, so ist etwas nicht in Ordnung. Ich kann das nicht
+vertragen. Es ist immer, als ob man auf Mastkur geschickt wird, weil
+eine besonders schwierige Sache auf einen wartet, die man ohne jene
+gute Vorbereitung und Erholung sonst nicht bewältigen kann. War bei
+der K. M. auch so. Immer wenn was Besonderes bevorstand, gab es vorher
+ein paar gute Tage. War auch so, ehe wir rauf nach Skagen
+glitschten.“
+</p>
+
+<p>
+„Da redest du aber nun einmal richtigen Kohlgulasch“, sagte ich zu ihm.
+„Wenn dir ein gebratenes Hühnchen ins Maul fliegt, dann spuckst du es
+wieder aus, nur damit es dir nicht gut gehen soll. Die schwierige Sache
+kommt ganz von selbst, verlaß dich drauf. Um so besser, wenn du vorher
+in der Sommerfrische warst. Wenn du eine Mastkur hinter dir hast,
+dann kannst du die schwierige Sache unterkriegen, andernfalls kriegt
+sie vielleicht dich unter.“
+</p>
+
+<p>
+„Verflucht, du hast recht“, rief Stanislaw nun wieder gutgelaunt. „Ich
+bin ein altes Schaf. Ich habe sonst auch noch nie solche blöden Gedanken
+gehabt. Gerade heute. Es kam mir so, als ich dachte, vorn im Quartier,
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+oder ich muß ja eigentlich sagen: da unten zu unsern Füßen, da liegen
+die Burschen alle schwimmend hinter der Tür, auf demselben Kasten
+wie wir. Weißt, Pippip, man soll keine Leiche auf einem Kasten fahren,
+das bringt den Gast herbei. Ein Schiff ist lebendig, das mag keine
+Leichen in der Nähe haben. Als Fracht, meinetwegen. Das ist etwas
+andres. Aber nicht so herumliegende, so herumschwimmende Leichen.“
+</p>
+
+<p>
+„Können wir doch nicht ändern“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es gerade, was ich meine“, antwortete Stanislaw. „Wir können
+es nicht ändern. Und das ist das Schlimme. Alle die andern sind abgerasselt.
+Wir beide sind allein noch übrig. Da stimmt etwas nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun will ich dir etwas sagen, Stanislaw, wenn du mit dieser blöden
+Pinselei nicht aufhörst, dann – nein, runterschmeißen will ich dich
+nicht, wirst es dir ja auch nicht gefallen lassen. Aber dann rede ich mit
+dir keine Silbe mehr, und wenn ich dadurch meine Sprache verlernen
+sollte. Dann wohnst du im Steuerbordschacht und ich im Backbordschacht
+und jeder geht seine eignen Wege. Solange ich am Leben bin,
+will ich mir nichts vom Gast vorjaulen lassen. Da habe ich später, wenn
+es mal so weit ist, noch Zeit genug dazu. Und wenn du nun meine
+Meinung wissen willst, warum wir beide gerade übriggeblieben sind,
+so ist das ganz klar und zeigt wieder einmal, wie gerecht alles zugeht in
+der Welt. Wir gehörten nicht zu der Mannschaft. Wir waren gestohlen.
+Wir haben der Empreß von Madagaskar nie etwas getan und wollten
+ihr auch nie etwas tun. Niemand weiß das so gut wie sie. Das ist der
+Grund, warum sie uns nicht mitgenommen hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt, Pippip?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was denkst du denn von mir, ich bin doch nicht dein königlicher
+Ratgeber. So etwas weiß man doch von selbst und hat es im Gefühl.“
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt gehe ich mich besaufen“, sagte nun Stanislaw. „Ist mir ganz egal.
+Na, ich will ja nicht sagen besaufen, aber doch einen gesunden hieven.
+Wer weiß, vielleicht kommt doch bald ein Kasten vorbei und holt uns
+über. In meinem Leben könnte ich es mir dann nicht vergeben, daß ich
+hier das alles zurückgelassen habe, ohne es mal durchzukosten.“
+</p>
+
+<p>
+Warum sollte denn Stanislaw das Vergnügen allein genießen?
+</p>
+
+<p>
+Es begann jedenfalls jetzt eine Schlemmerei, die sich selbst der Skipper
+nie auf einen Sitz erlaubt haben würde.
+</p>
+
+<p>
+Es war ja alles so schön da in Büchsen. Salm von British Columbia,
+Wurst von Bologna, Hähnchen, Hühnerfrikassee, Pasteten, Zungen aller
+Art, ein Dutzend verschiedene eingemachte Früchte, zwei Dutzend verschiedene
+Sorten Jam, Biskuits, Gemüse der besten Auslesen, Liköre,
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+Schnäpse, Weine, Ales, Stouts, Pilsener. Die Kapitäne, Offiziere und
+Ingenieure wissen sich das Leben angenehm zu machen. Aber wir
+waren jetzt die Besitzer und die Esser, während die früheren Esser jetzt
+schwammen und gegessen wurden, um die Fische fett zu machen.
+</p>
+
+<p>
+Den folgenden Tag war es sehr diesig und dunstig. Wir konnten kaum
+eine halbe Meile weit sehen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir kriegen schweres Wetter“, sagte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Am Abend kam es auf. Schwerer und schwerer.
+</p>
+
+<p>
+Wir saßen in des Skippers Kabine bei einer Petroleum-Notlaterne.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw machte ein besorgtes Gesicht: „Wenn die Empreß abhaut
+oder runterbricht vom Riff, dann sind wir geliefert, Junge. Wir wollen
+uns mal schon beizeiten umsehen.“
+</p>
+
+<p>
+Er fand etwa drei Meter Tauende, das er sich um den Leib band, um es
+zur Hand zu haben. Alles, was ich finden konnte, war eine halb aufgebrauchte
+Rolle Bindfaden, kaum so stark wie ein Bleistift.
+</p>
+
+<p>
+„Wir klettern besser den Schacht hoch“, schlug Stanislaw vor. „Hier
+drinnen sitzen wir in der Falle, wenn der Rummel losgeht. Oben hat
+man immer noch eine Möglichkeit, abzukommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du oben in die Wicken gehen sollst, dann gehst du oben, und
+wenn du unten vor die Fische gehen sollst, dann unten“, sagte ich. „Eins
+wie das andre. Wenn du vom Auto überfahren werden sollst, dann
+springt es rüber zum Schaufenster, vor dem du stehst, brauchst dem
+Auto gar nicht nachzulaufen oder in den Weg zu rennen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist mir einer. Wenn du im Wasser ersaufen sollst, dann kannst du
+ruhig deinen Hals auf die Eisenbahnschienen legen und der Expreß
+springt über dich weg wie ein Luftschiff. Daran glaube ich nicht. Ich
+lege meinen Hals nicht auf die Schienen. Ich gehe rauf und sehe zu,
+was geschieht.“
+</p>
+
+<p>
+Er kletterte den Korridorschacht hinauf, und da mir einleuchtete, daß
+er recht habe, kletterte ich hinterher.
+</p>
+
+<p>
+Dann saßen wir wieder oben auf der Achternwand von Mittschiff, dicht
+nebeneinander. Wir mußten uns an den Beschlägen festhalten, sonst
+hätte uns der Sturm hinuntergeschleudert.
+</p>
+
+<p>
+Immer mehr kam das Wetter in Aufruhr. Schwere Brecher wüteten
+gegen die unter uns liegende Vorfront von Mittschiff und brandeten
+gegen die Skipperkabinen.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn das die ganze Nacht so fortgeht“, sagte Stanislaw, „dann ist
+morgen früh von der Kabine nichts mehr übrig. Ich glaube sogar stark,
+die Brecher holen das ganze Mittschiff ab. Dann bleiben uns nur noch
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+die Kammern im Stern und der Maschinenraum, wo die Rudermaschine
+steht. Dann gute Nacht Essen und Trinken. Da findet keine Maus was.“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht besser, wir klettern jetzt schon rauf“, riet ich, „denn wenn
+das Mittschiff abrasselt, haben wir keine Zeit mehr. Dann schwimmen
+wir auch schon.“
+</p>
+
+<p>
+„So mit einem Hieb haut das Mittschiff nicht ab,“ erklärte nun Stanislaw,
+„das geht in Stücken zum Teufel. Und wenn unten eine Wand
+losbricht, haben wir Zeit genug, raufzuklettern.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte recht.
+</p>
+
+<p>
+Aber das Recht ändert sich durch wechselnde Verhältnisse. Es gibt
+nichts, das nicht einmal Recht gewesen ist. Man darf das Recht nur nicht
+einpökeln wollen und erwarten, daß es in hundert Jahren noch immer
+Recht, vielleicht gar dasselbe Recht sein werde.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte ganz gewiß recht. Aber einige Minuten später hatte er
+schon nicht mehr recht.
+</p>
+
+<p>
+Drei gigantische Brecher, von denen jeder folgende immer zehnfach
+schwerer und stärker zu sein schien als der vorangegangene, wüteten
+mit donnerndem Gebrüll, als wollten sie die ganze Erde verschlingen,
+gegen die Empreß.
+</p>
+
+<p>
+Das tobende Gebrüll der Brecher und der nachziehenden Brandungswogen
+war ein drohendes Wutgeheul gegen die Empreß, die es wagte,
+ihnen auf diesem Riff so lange Trotz zu bieten.
+</p>
+
+<p>
+Der dritte Brecher brachte die steil hochgeworfene Empreß zum
+Schwanken. Aber sie stand noch. Doch wir beide hatten es im Gefühl,
+sie ist los, sie steht nicht mehr fest wie ein Turm.
+</p>
+
+<p>
+Die Brecher ebbten ab, um auszuholen für die nächsten drei.
+</p>
+
+<p>
+Der tosende Sturm jagte die schweren Wolken gleich Fetzen am Nachthimmel
+dahin. Zuweilen öffnete sich ein Loch in diesem schweren Wolkentoben,
+und man erblickte für einige Sekunden ein paar klare
+glänzende Sterne, die in diesen schwarzen, heulenden, brüllenden,
+tobenden und brandenden Aufruhr empörter Elemente herunterriefen:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wir sind Friede und Ruhe für dich, für uns aber sind wir umlodert
+von den Flammen des Schöpfens, des Gebärens und der Rastlosigkeit.
+Fliehe nicht zu den Sternen, wenn du Ruhe suchst und Frieden. Was
+du nicht in dir trägst, wir können es dir nicht geben!“
+</p>
+
+<p>
+„Stanislaw!“ schrie ich laut, obgleich er doch an meiner Seite saß, „die
+Brecher kommen zurück. Jetzt gilt’s. Die Empreß fegt ab.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah den ersten Brecher in dem schwachen Sternenlicht herankommen
+wie ein unmeßbar riesenhaftes schwarzes Ungetüm.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+Er peitschte hoch und peitschte mit seinen nassen Tatzen über uns
+hinweg.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten gut festgehalten, aber die Empreß hob sich und wand sich
+in den Krallen des Riffs, als ob sie schwere Schmerzen erdulde.
+</p>
+
+<p>
+Der zweite Brecher kam auf, nahm uns den Atem weg für eine lange
+Zeit, und ich hatte das Empfinden, ich sei ins Meer geschleudert. Aber
+ich saß noch fest.
+</p>
+
+<p>
+Die Empreß jedoch kreischte, als ob sie zu Tode verwundet würde. Sie
+drehte sich noch weiter herum in ihrem Schmerz und schwankte im
+Stern zurück, krachend, polternd und dröhnend, bis sie nicht mehr steil
+stand, sondern schräg. Außerdem legte sie sich auch noch nach Steuerbord
+über.
+</p>
+
+<p>
+Mittschiff war durch die Brecher jetzt so voll Wasser gelaufen, daß
+alles verdorben sein mußte, was nicht in Büchsen eingelötet war. Aber,
+was in Mittschiff vor sich ging, war in mir nur wie ein ganz ferner
+dünner Gedanke.
+</p>
+
+<p>
+„Stanislaw, Junge!“ brüllte ich.
+</p>
+
+<p>
+Ob er ebenfalls gebrüllt hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte auch er es
+getan. Aber zu hören war ja nichts.
+</p>
+
+<p>
+Der dritte Brecher, der schwerste dieses Zuges, war herangestürmt.
+</p>
+
+<p>
+Die Empreß war bereits verschieden, als wäre sie vor Schreck gestorben.
+Der dritte Brecher, obgleich er mit donnerndem Branden herangejagt
+kam, nahm den Leichnam der Kaiserin von Madagaskar leicht
+auf wie eine leere Seidenhülle. Er tat es trotz seines rauhen Tobens
+kosend und streichelnd. Er hob den Leichnam hoch, drehte ihn der
+ganzen Länge nach in einem Halbkreise herum und ohne ihn noch einmal
+auf den Fels krachen zu lassen und sich an dem Brechen der
+Knochen zu erfreuen, legte er ihn sanft und zärtlich auf die Seite.
+</p>
+
+<p>
+„Spring weg und schwimm, Pippip, sonst kommen wir in den
+Schlucker,“ schrie Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Schwimm mal, wenn du eben eins über die Arme gekriegt hast von
+einem herumpfeifenden Lademast oder was es sein mochte.
+</p>
+
+<p>
+Aber ob ich schwimmen konnte oder nicht wollte, kam gar nicht in
+Frage. Der Nachzieher des letzten Brechers hatte mich abgeschwemmt
+und weit genug, um nicht vom Schlucker gefaßt zu werden. Ein paar
+Minuten würde die Empreß ja noch machen, ehe sie endgültig wegschluckt
+und strudelt. Das Achterschiff hat ja noch kaum Wasser gekriegt.
+</p>
+
+<p>
+„Hoiho!“ hörte ich jetzt Stanislaw schreien. „Wo steckst du?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+„Komm, hier. Ich klebe gut. Platz genug“, brüllte ich hinaus in die
+Finsternis. „Hallo. Hier. Hoiho!“ Immer wieder rief ich es, um Stanislaw
+die Richtung zu geben.
+</p>
+
+<p>
+Er kam auch immer näher. Endlich hatte er gepackt und kletterte hoch.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-5">
+48
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">as</span> ist denn das, wo wir drauf sind?“ fragte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich selbst nicht. Mit einemmal war ich drauf,
+weiß gar nicht, wie es zuging. Ich denke, daß es eine
+Wand vom Ruderhaus ist. Hier sind die Haltegriffe
+überall.“
+</p>
+
+<p>
+„Sicher. Ist vom Ruderhaus“, bestätigte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Gut, daß die Esel noch nicht alles aus Eisen machen
+und manchmal noch ein paar Stückchen Holz übriglassen.
+In den alten Schwarten siehst du immer den Schiffsjungen an
+einen Mast angeklammert, auf dem er sich rettet und mit dem er losschwimmt.
+Das ist heute aus. Die Masten sind auch schon aus Eisen,
+und wenn du dich dran festklammerst, kannst du dir auch ebenso gut
+einen Stein an den Bauch hängen. Wenn du wieder mal so ein Bild
+siehst, dann sag ruhig, der Maler ist ein Schwindler.“
+</p>
+
+<p>
+„Du hast aber einen Redefluß unter diesen verdammten Umständen
+hier“, kritisierte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, du Esel, soll ich denn hier jammern und Trauer flöten? Wer weiß,
+ob ich dir in einer Viertelstunde noch erzählen kann, daß man sich heute
+nicht mehr auf Maste verlassen darf. Und das muß gesagt werden, denn
+das ist wichtig.“
+</p>
+
+<p>
+„Bürsten und Bimsstein, da sind wir ja nochmal glatt davongekommen“,
+rief er nun.
+</p>
+
+<p>
+„Kreuzverhagelt nochmal“, schrie ich ihn an. „Halt dein gotteslästerliches
+Maul, verflucht nochmal. Schreist ja das ganze Gesindel heran.
+Wenn du im Trocknen sitzt, dann freu’ dich im stillen, aber schrei es
+nicht raus so unverschämt. Ich gebe mir die größte Mühe, das in unauffälliger
+und höchst eleganter Form zu sagen und vornehm zu umschreiben,
+was ich meine, und du Prolet brüllst das glatt hinaus.“
+</p>
+
+<p>
+„Rede nicht so große Töne. Jetzt ist doch alles egal, ist doch alles im –.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Mit diesem Stanislaw ist nichts zu erreichen, die Redewendungen, die
+er zuweilen braucht, werden mich noch veranlassen, seine Gesellschaft
+zu meiden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+„Alles egal?“ wiederholte ich. „Ich denke ja gar nicht dran. Alles egal
+ist blöd. Es ist nie etwas egal. Jetzt geht das Vergnügen ja erst richtig
+los. Bisher haben wir uns nur um Papiere herumgeschlagen, dann mit
+dem Rattenfraß, dann wieder mit den verfluchten Rosten. Jetzt geht es
+endlich um den letzten Atemzug, mit dem wir uns herumzuschlagen
+haben. Alles übrige, was ein Mensch haben kann, ist weg. Alles, was
+wir noch haben, ist der Atem. Und so schnell und willig laß ich mir den
+nicht auch noch wegnehmen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Vergnügen denke ich mir aber anders“, sagte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Sei nicht undankbar, Lawski. Ich sage dir, es ist ein höllisches Vergnügen,
+sich mit den Fischen um den Bissen zu prügeln, wenn man der
+Bissen sein soll.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte natürlich durchaus recht. Es war kein Vergnügen. Man
+mußte sich ankrallen an den Handgriffen wie toll, um nicht runtergeschwemmt
+zu werden. Die Brecher fühlte man nicht so hart auf der
+schwimmenden Wand hier wie auf dem Schiff, weil die Brecher die
+Wand mit hoch nahmen und nicht in voller Wucht darüber hinwegbrandeten.
+Aber getaucht wurden wir doch oft genug, damit wir auch
+nicht vergessen sollten, wo wir waren.
+</p>
+
+<p>
+„Ich denke, wir müssen nun etwas tun“, sagte ich. „Meine Arme sind so
+zerknüppelt, ich kann nicht mehr lange halten.“
+</p>
+
+<p>
+„Wollen wir festlegen“, sagte Stanislaw. „Ich gebe dir hier mein Tauende,
+und ich nehme deinen Bindfaden. Ich kann schon besser halten.
+Der Bindfaden ist ja lang genug, daß man ihn dreifach nehmen kann.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw half nun, mich mit dem Tau festzuholen; ich konnte es mit
+meinen lahmen Armen nicht gut allein tun. Dann band er sich ebenfalls
+fest, und wir warteten nun auf die Geschehnisse.
+</p>
+
+<p>
+Keine Nacht ist so lang, daß sie nicht endlich doch vorübergeht und dem
+Tage weichen muß.
+</p>
+
+<p>
+Mit dem neuen Tage ließ das schwere Wetter nach, aber der hohe Seegang
+blieb.
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du was von Land?“ fragte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich wußte es ja, so leicht werde ich kein Entdecker neuer Erdteile.
+Wenn nichts vor der Nase liegt, sehe ich keins.“
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich sagte Stanislaw: „Mensch, ich habe ja den Kompaß. War gut,
+daß du ihn fandest.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ein Kompaß ist eine feine Sache, Lawski. Können wir immer sehen,
+in welcher Richtung die afrikanische Küste liegt. Aber ein Segel wäre
+mir lieber als zehn Kompasse.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+„Kannst nichts mit einem Segel machen auf dem Brett.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht? Wenn Seebrise auf Land geht, gehen wir mit.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir werden wohl woandershin mitgehen, Pippip.“
+</p>
+
+<p>
+Am Nachmittag wurde es wieder diesig und ein leichter Nebel legte sich
+über die See. Er wirkte beruhigend auf das Toben des Meeres.
+</p>
+
+<p>
+Die unermeßliche Weite der See wurde immer kleiner. Bald hatten wir
+die Täuschung, daß wir nur auf einem Binnensee seien. Dann wurde
+auch der See kleiner und kleiner und endlich glaubten wir, auf einem
+Flusse dahinzugleiten. Es schien, als ob wir die Ufer mit den Händen
+ergreifen könnten, und ehe wir einschliefen, sagte bald Stanislaw, bald
+ich: „Da ist das Ufer, laß uns runtergehen und das kleine Stückchen
+rüberschwimmen. Kannst es ganz deutlich sehen, es sind noch keine
+hundert Schritt.“
+</p>
+
+<p>
+Aber wir waren zu müde, um uns loszubinden und diese hundert
+Schritte zu schwimmen.
+</p>
+
+<p>
+Wir sprachen dann kaum noch und schliefen ein.
+</p>
+
+<p>
+Als ich erwachte, war es Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Der dunstige Nebel lag noch immer auf dem Meer. Aber hoch in den
+Lüften sah ich Sterne funkeln. Zu beiden Seiten sah ich die Ufer des
+Flusses, auf dem wir hinglitten. Zuweilen wurde an einem der Ufer
+der Nebel dünner, und ich sah die tausende funkelnden Lichter des
+nahen Hafens. Es war ein großer Hafen. Er hatte hohe Wolkenkratzer
+und Miethäuser, deren Fenster alle erleuchtet waren. Und hinter den
+Fenstern saßen die Leute traulich beisammen und wußten nichts davon,
+daß hier auf dem Flusse zwei Tote dahinglitten.
+</p>
+
+<p>
+Und die Wolkenkratzer und die hohen Wohnhäuser wuchsen und wuchsen.
+Welch ein gewaltiger Hafen war es, an dem wir vorüberglitten.
+Immer höher und höher wuchsen die Wolkenkratzer bis sie endlich den
+Himmel erreichten. Und die tausende funkelnden Lichter des Hafens,
+der Wolkenkratzer und der traulichen Wohnhäuser, wo man nichts
+wußte von den vorübergleitenden Toten, waren wie Sterne des Himmels.
+Und oben steil über meinem Haupte trafen die Wolkenkratzer
+zusammen, und ich sah ihre Fenster leuchten, und ich hoffte, die Gebäude
+möchten zusammenbrechen und mich unter sich begraben. Es
+war die große Sehnsucht des Toten, begraben zu werden und nicht mehr
+wandern zu müssen.
+</p>
+
+<p>
+Ich bekam Angst und rief: „Stanislaw. Da ist ein großer Hafen. Sieht
+aus wie New York.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+Stanislaw wurde munter, guckte sich um, sah durch den dünnen Nebel
+zu den Ufern des Flusses, rieb sich die Augen, guckte hoch über sich und
+sagte dann: „Du träumst, Pippip, die Lichter des großen Hafens sind
+Sterne. Da ist auch kein Ufer. Wir sind auf hoher See. Spürst du doch
+an den langen Wellen.“
+</p>
+
+<p>
+Er konnte mich nicht überzeugen. Ich wollte nun doch zum Ufer schwimmen
+und den großen Hafen erreichen. Aber als ich das Tau lösen wollte,
+fielen mir die Hände schlaff herunter, und ich schlief ein.
+</p>
+
+<p>
+Durst und Hunger machten mich wach. Es war Tag.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw sah mich an mit verquollenen Augen. Mein Gesicht war verkrustet
+von dem Salzwasser. Ich bemerkte, wie Stanislaw würgte, als
+wollte er seine eigne Zunge kauen oder als sei sie ihm im Wege und lege
+sich vor die Luftröhre.
+</p>
+
+<p>
+In seinen Augen glomm Wut auf, und er rief mit rauher Stimme: „Du
+hast immer gesagt, das Wasser auf der Yorikke stinkt. Das ist nicht
+wahr. Das ist Quellwasser, ganz frisches, klares Quellwasser aus dem
+Tannenwalde.“
+</p>
+
+<p>
+„Das Wasser stank nie,“ bestätigte ich, „das Wasser war Eiswasser. Und
+der Kaffee war guter Kaffee. Ich habe nie etwas gegen den Kaffee auf
+der Yorikke gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw schloß die Augen. Doch nicht lange darauf schreckte er zusammen
+und schrie: „Zwanzig vor fünf, Pippip, raus. Hol’ das Frühstück.
+Hiev die Asche. Das Frühstück zuerst. Pellkartoffeln und Rauchhering.
+Den Kaffee. Viel Kaffee. Bring Wasser mit.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann nicht aufstehen“, gab ich ihm zur Antwort. „Bin gebrochen.
+Zu müde. Mußt heute allein hieven. Wo ist denn der Kaffee?“
+</p>
+
+<p>
+Wie war das? Ich hörte Stanislaw schreien, aber er war zwei Meilen
+fort. Und meine Stimme war auch zwei Meilen weit fort von mir.
+</p>
+
+<p>
+Nun brachen auch noch drei Feuertüren auf und die Hitze war nicht zu
+ertragen. Ich lief zur Windhuze, um Atem zu schöpfen. Aber der
+spanische Heizer schrie: „Pippip, die Feuertüren zu, der Dampf fällt.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Aller Dampf fiel in den Kesselraum, und es wurde immer heißer. Ich
+lief zum Trog, wo das Schlackenlöschwasser drin war, um meinen Durst
+zu löschen, aber es schmeckte salzig und widerlich. Ich schnappte und
+schnappte und trank es wieder, und der Feuerungskanal stand ganz
+weit offen über meinem Kopfe am Himmel und war die Sonne, und ich
+trank Seewasser.
+</p>
+
+<p>
+Dann schlief ich wieder ein und die Türen der Feuerkanäle waren geschlossen
+und der Heizer goß den Trog mit dem Schlackenwasser über
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+den Kesselraum, und ich war auf dem offnen Meer und ein Wellenkamm
+war über die Wand hinweggebrochen.
+</p>
+
+<p>
+„Da ist die Yorikke!“ schrie Stanislaw viele Meilen weit fort von mir.
+„Das ist das Totenschiff. Der Hafen. Der Norweger liegt da. Er hat Eiswasser.
+Siehst du nicht, Pippip?“
+</p>
+
+<p>
+Mit beiden Armen, die Fäuste geballt, deutete Stanislaw über das weite
+Meer.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist die Yorikke?“ rief ich.
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du sie denn nicht, Mensch? Da liegt sie ja. Sechs Roste sind rausgefallen.
+Verflucht. Jetzt acht. Himmelkreuzdonnerwetter! Wo ist der
+Kaffee, Pippip? Habt ihr wieder alles weggesoffen. Das ist keine
+Schmierseife, du Hund, das ist Butter. Gib den Tee jetzt her, verflucht
+nochmal.“
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw fuhr herum, bald zeigte er in diese Richtung, bald in jene.
+Immer fragte er, ob ich denn die Yorikke und den Hafen nicht sähe.
+</p>
+
+<p>
+Aber mir war das gleichgültig. Es tat mir weh, den Kopf nach dem
+Hafen zu drehen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir kommen ab! Wir kommen ab!“ brüllte nun Stanislaw. „Ich muß
+rüber zur Yorikke. Die Roste sind alle raus. Der Heizer liegt im Kessel.
+Wo ist das Wasser? Habt ihr denn keinen Kaffee mehr für mich gelassen?
+Ich muß rüber, rüber, rüber.“
+</p>
+
+<p>
+Er zerrte nun an dem Bindfaden, um ihn zu lösen. Er konnte aber die
+Knoten nicht öffnen. Er drehte wie unsinnig an den Knoten und verknotete
+sie immer mehr.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist die Schaufel?“ rief er. „Ich muß das Tau kappen.“
+</p>
+
+<p>
+Aber der Bindfaden hielt nicht lange. Stanislaw zerrte, riß und scheuerte
+mit solcher Kraft an den dreifach gedrehten Verschnürungen, daß er
+sich immer weiter daraus hervorwinden konnte. Die letzten Stringe
+riß er durch.
+</p>
+
+<p>
+„Die Yorikke fährt weg. Schnell, Pippip. Der Norweger hat Eiswasser.
+Er winkt mit der Kanne. Ich bleibe nicht auf dem Totenschiff.“
+</p>
+
+<p>
+Immer wilder brüllte Stanislaw.
+</p>
+
+<p>
+Er hing nur noch am Fuß fest, und jetzt zerrte er auch dort die
+Stringe los.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah das alles in meilenweiter Ferne, wie auf einem Bilde oder durch
+ein Fernrohr.
+</p>
+
+<p>
+„Da ist die Yorikke. Der Skipper tippt an die Mütze.“ Stanislaw rief
+es und sah mich an mit starren Augen. „Komm rüber, Pippip. Tee und
+Rosinenstollen mit Kakao und Wasser.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+Ja, da lag die Yorikke. Ich sah sie deutlich liegen. Erkannte sie an
+ihrem bunten närrischen Kleide und an ihrer Brücke, die immer in der
+Luft hängen blieb und von irgendeinem Schiff zurückgelassen worden
+war, das sie nichts anging.
+</p>
+
+<p>
+Da war die Yorikke, und jetzt hatten sie Frühstück oder Abendessen
+oder Pflaumen in blauem Stärkeschleim. Der Tee war nicht schlecht.
+Das war Lüge und Verleumdung. Der Tee war gut auch ohne Zucker
+und Milch. Und das Trinkwasser stank nicht.
+</p>
+
+<p>
+Ich begann, an meinem Tau zu knoten. Aber ich bekam den Knoten
+nicht auf. Dann rief ich Stanislaw, er möge mir helfen, den Knoten aufzuziehen.
+Aber er hatte keine Zeit. Er wurde mit seinem Fuße nicht
+fertig und arbeitete wie toll, um den Fuß loszukriegen. Nun gehen auch
+noch die Wunden auf, die man ihm auf dem Kopfe geschlagen hatte.
+Das Blut sickert über sein Gesicht, aber er läßt sich nicht stören.
+</p>
+
+<p>
+Und ich zerrte und zerrte an meinen Banden. Aber das Tau war zu
+dick. Ich konnte es nicht durchscheuern und konnte meine Glieder nicht
+herauswinden. Ich verstrickte mich immer mehr. Dann suchte ich nach
+der Axt, nach dem Messer und endlich nach der Schaufel, die wir glatt
+geklopft hatten, um einen hölzernen Mast daraus zu machen, aber der
+Kompaß fiel immer wieder ins Wasser, und ich mußte ihn mit dem
+durchgebrannten Rost fischen. Das Tau gab nicht nach. Der Knoten zog
+sich immer fester. Das versetzte mich in namenlose Wut.
+</p>
+
+<p>
+Stanislaw hatte seinen Fuß jetzt los.
+</p>
+
+<p>
+Er drehte sich halb um nach mir und rief: „Komm rüber, Pipplaw. Sind
+nur zwanzig Schritte zu laufen. Die Roste sind alle raus, und es ist
+Wasserminute vor fünf. Aufstehen. Rasch auf. Raus. Asche hieven.“
+</p>
+
+<p>
+Aber die Aschenhieve kreischte: „Da ist keine Yorikke!“ Und ich schrie,
+so laut ich konnte: „Da ist keine Yorikke! Da ist keine Yorikke! Da ist
+keine Yorikke!“
+</p>
+
+<p>
+Ich klammerte mich an das Tau in furchtbarer Angst; denn die Yorikke
+war fort, und ich sah nur Meer, Meer, sah nichts als die gleichmäßigen
+Wogen der See.
+</p>
+
+<p>
+„Stasinkowslow, spring nicht!“ Ich schrie es in namenloser Angst; denn
+ich konnte seinen Namen nicht finden, der mir aus der Hand gerutscht
+war. „Stanislaw, nicht springen! Nicht springen! Nicht. Bleib hier!“
+</p>
+
+<p>
+„Die holt den Anker ein. Ich gehe nicht auf ein Totenschiff. Ich renne
+rüber zur Yorikke. Renne, ich renne, renne. Rüber. Komm!“
+</p>
+
+<p>
+Und er sprang. Er sprang. Da war kein Hafen. Da war kein Schiff. Da
+war kein Ufer. Alles See. Alles Wogen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+Er tat nur ein paar patschende Schläge. Dann sank er für immer weg.
+Ich starrte rüber zu dem Loch, in das er gefallen war. Ich sah es in unendlich
+weiter Ferne. Und ich rief: „Stanislaw! Lawski! Bruder! Lieber,
+lieber Kamerad, komm hierher! Hoiho! Hoiho! Hierher! Hierher!“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Er hörte nicht. Er kam nicht. Er kam nicht mehr hoch. Er tauchte nicht
+mehr auf. Da war kein Totenschiff. Da war kein Hafen. Da war keine
+Yorikke. Er tauchte nicht mehr auf, no, Sir.
+</p>
+
+<p>
+Und das war merkwürdig. Er tauchte nicht mehr auf, und ich konnte es
+nicht fassen, wie das zuging.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte angemustert für große Fahrt, für ganz große Fahrt. Aber wie
+konnte er nur mustern? Er hatte doch kein Seefahrtsbuch. Sie würden
+ihn gleich wieder runterfeuern.
+</p>
+
+<p>
+Aber er kam nicht hoch. Der große Kapitän hatte ihn gemustert. Und
+treu hatte er ihn gemustert, auch ohne Papiere.
+</p>
+
+<p>
+„Komm, Stanislaw Koslowski“, sagte der große Kapitän, „komm, ich
+mustere dich treu und ehrlich für große Fahrt. Laß nur die Papiere.
+Brauchst keine bei mir. Fährst auf treuem und ehrlichem Schiff. Geh
+zum Quartier, Stanislaw. Kannst du lesen, was über der Tür steht?“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Und Stanislaw sagte: „Ja, Käp’n. Wer hier eingeht, ist ledig aller
+Qualen!“
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p class="skip_in_txt">
+Das Cover wurde von den Bearbeitern dem ursprünglichen
+Bucheinband und Titel nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... können <span class="underline">einen</span> manchmal besser voranhelfen als die ...<br>
+... können <a href="#corr-4"><span class="underline">einem</span></a> manchmal besser voranhelfen als die ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... einem <span class="underline">Fort</span>. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt ...<br>
+... einem <a href="#corr-9"><span class="underline">fort</span></a>. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... Straße gehen kannst, <span class="underline">könntet</span> du ja vielleicht wieder lebendig werden. ...<br>
+... Straße gehen kannst, <a href="#corr-12"><span class="underline">könntest</span></a> du ja vielleicht wieder lebendig werden. ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... <span class="underline">Ein</span> weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht. ...<br>
+... <a href="#corr-13"><span class="underline">Eine</span></a> weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht. ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 ***</div>
+</body>
+</html>
+
diff --git a/75907-h/images/cover.jpg b/75907-h/images/cover.jpg
new file mode 100644
index 0000000..7dde707
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/cover.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_a.jpg b/75907-h/images/drop_a.jpg
new file mode 100644
index 0000000..dc1c562
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_a.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_d.jpg b/75907-h/images/drop_d.jpg
new file mode 100644
index 0000000..8b11bdf
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_d.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_e.jpg b/75907-h/images/drop_e.jpg
new file mode 100644
index 0000000..2fb3596
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_e.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_f.jpg b/75907-h/images/drop_f.jpg
new file mode 100644
index 0000000..e3be24e
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_f.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_i.jpg b/75907-h/images/drop_i.jpg
new file mode 100644
index 0000000..33bc742
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_i.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_l.jpg b/75907-h/images/drop_l.jpg
new file mode 100644
index 0000000..725352e
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_l.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_m.jpg b/75907-h/images/drop_m.jpg
new file mode 100644
index 0000000..9eae93c
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_m.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_n.jpg b/75907-h/images/drop_n.jpg
new file mode 100644
index 0000000..9f0a6dd
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_n.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_p.jpg b/75907-h/images/drop_p.jpg
new file mode 100644
index 0000000..eaca972
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_p.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_r.jpg b/75907-h/images/drop_r.jpg
new file mode 100644
index 0000000..0c5c641
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_r.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_s.jpg b/75907-h/images/drop_s.jpg
new file mode 100644
index 0000000..4a0556f
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_s.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_u.jpg b/75907-h/images/drop_u.jpg
new file mode 100644
index 0000000..7e7c19e
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_u.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_w.jpg b/75907-h/images/drop_w.jpg
new file mode 100644
index 0000000..c14472d
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_w.jpg
Binary files differ
diff --git a/75907-h/images/drop_z.jpg b/75907-h/images/drop_z.jpg
new file mode 100644
index 0000000..87fc441
--- /dev/null
+++ b/75907-h/images/drop_z.jpg
Binary files differ
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
new file mode 100644
index 0000000..b5dba15
--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This book, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this book outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..de7a933
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+book #75907 (https://www.gutenberg.org/ebooks/75907)