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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-04-19 08:21:02 -0700 |
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TRAVEN + + + + + ERSTES BUCH + + + SONG OF AN AMERICAN SAILOR + + NOW STOP THAT CRYING, HONEY DEAR, + THE JACKSON SQUARE REMAINS STILL HERE + IN SUNNY NEW ORLEANS + IN LOVELY LOUISIANA + + SHE THINKS ME BURIED IN THE SEA, + NO LONGER DOES SHE WAIT FOR ME + IN SUNNY NEW ORLEANS + IN LOVELY LOUISIANA + + THE DEATH-SHIP IS IT I AM IN, + ALL HAVE I LOST, NOTHING TO WIN + SO FAR OFF SUNNY NEW ORLEANS + SO FAR OFF LOVELY LOUISIANA + + + LIED EINES AMERIKANISCHEN SEEMANNS + + MÄDEL, HEUL DOCH NICHT SO SEHR, + WART’ AUF MICH AM JACKSON SQUARE + IM SONN’GEN NEW ORLEANS + IM LIEBEN LOUISIANA + + MEIN MÄDEL GLAUBT, ICH LIEG IM MEER, + SIE STEHT NICHT MEHR AM JACKSON SQUARE + IM SONN’GEN NEW ORLEANS + IM LIEBEN LOUISIANA + + DOCH ICH LIEG NICHT AN EINEM RIFF, + ICH FAHRE AUF DEM TOTENSCHIFF + SO FERN VOM SONN’GEN NEW ORLEANS + SO FERN VOM LIEBEN LOUISIANA + + + 1 + +Wir hatten eine volle Schiffsladung Baumwolle von New Orleans +’rübergebracht nach Antwerpen mit der S. S. Tuscaloosa. + +Sie war ein feines Schiff. Verflucht nochmal, das ist wahr. First rate +steamer, made in U. S. A. Heimatshafen New Orleans. Oh, du sonniges, +lachendes New Orleans, so ungleich den nüchternen Städten der vereisten +Puritaner und verkalkten Kattunhändler des Nordens! Und was für +herrliche Quartiere für die Mannschaft. Endlich einmal ein Schiffbauer, +der den revolutionären Gedanken gehabt hatte, daß die Mannschaft auch +Menschen seien und nicht nur Hände. Alles sauber und nett. Bad und viel +saubere Wäsche und alles moskitodicht. Die Kost war gut und reichlich. +Und es gab immer saubere Teller und geputzte Messer, Gabeln und Löffel. +Da waren Niggerboys, die nichts andres zu tun hatten, als die Quartiere +sauberzuhalten, damit die Mannschaft gesund bliebe und bei guter Laune. +Die Kompanie hatte endlich entdeckt, daß sich eine gutgelaunte +Mannschaft besser bezahlt macht als eine verlotterte. + +Zweiter Offizier? No, Sir. Ich war nicht Zweiter Offizier auf diesem +Eimer. Ich war einfacher Deckarbeiter, ganz schlichter Arbeiter. Sehen +Sie, Herr, Matrosen gibt es ja kaum noch, werden auch gar nicht mehr +verlangt. So ein modernes Frachtschiff ist gar kein eigentliches Schiff +mehr. Es ist eine schwimmende Maschine. Und daß eine Maschine Matrosen +zur Bedienung braucht, glauben Sie ja gewiß selbst nicht, auch wenn Sie +sonst nichts von Schiffen verstehen sollten. Arbeiter braucht diese +Maschine und Ingenieure. Sogar der Skipper, der Kapitän, ist heute nur +noch ein Ingenieur. Und selbst der A. B., der am Ruder steht und noch am +längsten als Matrose angesehen werden konnte, ist heute nur noch ein +Maschinist, nichts weiter. Er hat nur die Hebel auszulösen, die der +Rudermaschine die Drehungsrichtung angeben. Die Romantik der +Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der Meinung, daß solche +Romantik nie bestanden hat. Nicht auf den Segelschiffen und nicht auf +der See. Diese Romantik hat immer nur in der Phantasie der Schreiber +jener Seegeschichten bestanden. Jene verlogenen Seegeschichten haben +manchen braven Jungen hinweggelockt zu einem Leben und zu einer +Umgebung, wo er körperlich und seelisch zugrunde gehen mußte, weil er +nichts sonst dafür mitbrachte als seinen Kinderglauben an die +Ehrlichkeit und an die Wahrheitsliebe jener Geschichtenschreiber. +Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine Romantik einmal bestanden +hat, für die Mannschaft nie. Die Romantik der Mannschaft ist immer nur +gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und eine tierische Behandlung. +Kapitäne und Steuerleute erscheinen in Opern, Romanen und Balladen. Das +Hohelied des Helden, der die Arbeit tat, ist nie gesungen worden. Dieses +Hohelied wäre auch zu brutal gewesen, um das Entzücken derer +wachzurufen, die das Lied gesungen haben wollten. Yes, Sir. + +Ich war nur eben gerade schlichter Deckarbeiter, das war alles. Hatte +alle Arbeit zu machen, die vorkam. Richtig gesagt, war ich nur ein +Anstreicher. Die Maschine läuft von selbst. Und da die Arbeiter +beschäftigt werden müssen und andre Arbeit nur in Ausnahmefällen ist, +wenn nicht Laderäume gereinigt werden sollen oder etwas repariert werden +muß, so wird immer angestrichen. Von morgens bis abends, und das hört +nie auf. Da ist immer etwas, das angestrichen werden muß. Eines Tages +wundert man sich dann ganz ernsthaft über dieses ewigwährende +Anstreichen, und man kommt ganz nüchtern zu der Auffassung, daß alle +übrigen Menschen, die nicht zur See fahren, nichts andres tun, als Farbe +anfertigen. Dann empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegen diese +Menschen, weil, wenn sie sich eines Tages weigerten, noch weiter Farbe +zu machen, der Deckarbeiter nicht wüßte, was er tun soll, und der Erste +Offizier, unter dessen Kommando die Deckarbeiter stehen, in Verzweiflung +geriete, weil er nicht wüßte, was er nun den Deckhands kommandieren +soll. Sie können doch ihr Geld nicht umsonst bekommen. No, Sir. + +Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten. Aber +wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede Monatsheuer +sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre während der ganzen +Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig Jahre +unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht zur Ruhe setzen, +könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren Arbeitens und Sparens +mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der Mittelklasse zählen. Zu +jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, ich habe einen kleinen +Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. Und da diese Volksschicht +jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in seinen Fundamenten erhält, +so würde ich dann ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft +genannt werden können. Dieses Ziel erreichen zu können, ist fünfzig +Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das Jenseits hat man sich dann +gesichert und das Diesseits für andre. + +Ich machte mir nichts daraus, mir die Stadt anzusehen. Ich mag Antwerpen +nicht leiden. Da treiben sich so viele schlechte Seeleute und ähnliche +Elemente herum. Yes, Sir. + +Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen nur +selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind +nicht die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen, +sondern die kleinen Steinchen und Körnchen. + +Wir hatten keine Ladung bekommen, und wir sollten in Ballast heimgehen. +Die ganze Mannschaft war in die Stadt gegangen am letzten Abend vor der +Heimfahrt. Ich war ganz allein im Forecastle. Des Lesens war ich müde, +des Schlafens war ich müde, und ich wußte nicht, was ich mit mir +anfangen sollte. Wir hatten um zwölf heute schon Feierabend gemacht, +weil dann bereits die Wachen für die Fahrt verteilt wurden. Das war auch +der Grund, warum alle in die Stadt gegangen waren, um noch einen Kleinen +mitzunehmen, den wir zu Hause nicht haben konnten wegen der gesegneten +Prohibition. + +Bald lief ich zur Reeling, um ins Wasser zu spucken, bald wieder lief +ich in die Quartiere. Von dem ewigen Anstarren der leeren Quartiere und +dem ewigen Herunterglotzen auf die langweiligen Hafenanlagen, Speicher, +Stapelhäuser, auf die öden Kontorlöcher mit ihren trüben Fenstern, +hinter denen man nichts sah als Briefordner und Haufen von beschriebenen +Geschäftspapieren und Frachtbriefen, wurde mir ganz erbärmlich zumute. +Es war so unsagbar trostlos. Es ging auf den Abend zu, und es war kaum +eine Menschenseele in diesem Teil des Hafens zu sehen. + +Es überkam mich eine ganz dumme Sehnsucht nach dem Gefühl, festen Boden, +Erde unter meinen Füßen zu haben, eine Sehnsucht nach einer Straße und +nach Menschen, die schwatzend durch die Straße schlendern. Das war es: +Ich wollte eine Straße sehen, just eine Straße, nichts weiter. Eine +Straße, die nicht von Wasser umgeben ist, eine Straße, die nicht +schwankt, die ganz fest steht. Ich wollte meinen Augen ein kleines +Geschenk machen, ihnen den Anblick einer Straße gönnen. + +„Da hätten Sie früher kommen sollen,“ sagte der Offizier, „ich gebe +jetzt kein Geld.“ + +„Ich brauche aber unbedingt zwanzig Dollar Vorschuß.“ + +„Fünf können Sie haben, nicht einen Cent mehr.“ + +„Mit einem Fünfer kann ich gar nichts anfangen. Ich muß zwanzig haben, +sonst bin ich morgen krank. Wer soll denn dann vielleicht die Galley +anstreichen? Vielleicht wissen Sie das? Ich muß zwanzig haben.“ + +„Zehn. Aber das ist nun mein letztes Wort. Zehn oder überhaupt nichts. +Ich bin gar nicht verpflichtet, Ihnen auch nur einen Nickel zu geben.“ + +„Gut, geben Sie zehn. Das ist zwar ein ganz gemeiner Geiz, der hier an +mir verübt wird, aber wir müssen uns ja alles gefallen lassen, das ist +man nun schon gewöhnt.“ + +„Unterschreiben Sie die Quittung. Wir werden es morgen in die Listen +übertragen. Dazu habe ich jetzt keine Lust.“ + +Da hatte ich meinen Zehner. Ich wollte ja überhaupt nur zehn haben. +Hätte ich aber gesagt zehn, so würde er auf keinen Fall mehr als fünf +gegeben haben, und mehr als zehn konnte ich nicht gebrauchen, weil ich +nicht mehr ausgeben wollte; denn was man einmal in der Tasche hat, kehrt +nicht mehr heim, wenn man erst in die Stadt geht. + +„Betrinken Sie sich nicht. Das ist hier ein ganz böser Platz“, sagte der +Offizier, als er die Quittung an sich nahm. + +Das war eine unerhörte Beleidigung. Der Skipper, die Offiziere und die +Ingenieure betranken sich zweimal des Tages, solange wir nun schon hier +lagen, aber mir wird gepredigt, mich nicht zu betrinken. Ich dachte gar +nicht daran. Warum auch? Es ist so dumm und so unvernünftig. + +„Nein,“ gab ich zur Antwort, „ich nehme niemals einen Tropfen von diesem +Gift. Ich weiß, was ich meinem Lande selbst in der Fremde schuldig bin. +Yes, Sir. Ich bin Abstinenzler, knochentrocken. Können sich drauf +verlassen, das bin ich. Ich glaube an die heilige Prohibition.“ Raus war +ich und runter vom Eimer. + + + 2 + +Es war eine lange schöne Sommerdämmerung. Ich schlurkste zufrieden mit +der Welt durch die Straßen und konnte mir nicht denken, daß irgendjemand +auf der Welt sei, dem diese Welt nicht gefallen möchte. Ich sah mir die +Schaufenster an, und ich sah mir die Leute an, denen ich begegnete. +Hübsche Mädels, verflucht nochmal, alles, was recht ist. Manche freilich +beachteten mich gar nicht; die aber, die mich anlachten, waren gerade +die hübschesten. Und wie nett sie lachen konnten! Dann kam ich zu einem +Hause, dessen Front schön vergoldet war. Es sah so lustig aus, das ganze +Haus und die Vergoldung. Die Türen waren weit offen und sagten: „Komm +nur rein, Freund, just für eine kleine Weile, setz’ dich, mach dir’s +bequem und vergiß deine Sorgen.“ + +Ich hatte überhaupt keine Sorgen, aber es war doch drollig, daß jemand +zu einem sagte, man möge die Sorgen vergessen. Das war so lieb. Und +drinnen, in dem Hause, da waren schon eine ganze Menge Leute, und die +waren alle so lustig, hatten ihre Sorgen vergessen, sangen und lachten, +und da war so eine vergnügte Musik. Nur um zu sehen, ob das Haus drinnen +ebenso vergoldet sei wie draußen, ging ich hinein und setzte mich auf +einen Stuhl. Sofort kam ein Bursche, lachte mich an und setzte mir eine +Flasche und ein Glas gerade vor die Nase. Man mußte es mir wohl an der +Nasenspitze ansehen, denn er sagte sofort in Englisch: + +„Bedienen Sie sich, mon ami, und seien Sie vergnügt wie alle die übrigen +hier.“ + +Nur fröhliche Gesichter rundherum, und wochenlang hat man nichts weiter +vor Augen gehabt als Wasser und stinkende Farbe. Und so war ich halt +vergnügt, und von jenem Augenblick an konnte ich mich auf nichts +Bestimmtes mehr besinnen. Ich tadele nicht jenen freundlichen Burschen, +wohl aber die Prohibition, die uns so schwach gegenüber Versuchungen +macht. Gesetze machen immer schwach, weil es einem in der Natur liegt, +Gesetze zu übertreten, die andre gemacht haben. + +Die ganze Zeit hindurch war ein ganz drolliger Nebel immer um mich +herum, und spät in der Nacht fand ich mich in dem Zimmer eines hübschen +lachenden Mädchens. Endlich sagte ich zu ihr: „Well, Mademoiselly, wie +spät haben wir es denn?“ + +„Oh,“ sagte sie mit ihrem hübschen Lachen, „du hübscher Junge –“ Yes, +Gentlemen, ganz gewiß, das sagte die Mademoiselly zu mir, „hübscher +Junge, o du hübscher Junge,“ sagte sie, „nun sei kein Spaßverderber, sei +ein Kavalier, laß eine zarte junge Dame nicht allein um Mitternacht. Da +können vielleicht Einbrecher in der Nähe sein, und ich bin so +schrecklich furchtsam, die Einbrecher könnten mich vielleicht gar +ermorden.“ + +Na, ich kenne doch die Pflicht eines rotblütigen amerikanischen Jungen +unter solchen Umständen, wenn er ersucht wird, einer hilflosen schwachen +Dame beizustehen. Von meinem ersten Atemzuge an ist mir gepredigt +worden: Benimm dich anständig in Gegenwart von Damen, und wenn dich eine +Dame um etwas bittet, dann hast du zu flitzen und es zu tun, und wenn es +dich das Leben kosten sollte. + +Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war keine +Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. Sie war +heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen, ohne mich +mitzunehmen. + +Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten, und denen die Mutter +abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr Häuschen +abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und ich habe Tiere +gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen war. Das alles +war sehr traurig. Aber das traurigste aller Dinge ist ein Seemann in +fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren ist, ohne ihn +mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben ist. Der Seemann, der +übriggeblieben ist. + +Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt, und das ihn +weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er ist +oft freiwillig zurückgeblieben und hat oft abgezeichnet, abgemustert aus +Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder bedrückt. +Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt, ohne ihn +mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das tötende +Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet, es +kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter Nagel, der +irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum Verhängnis +werden, der Seemann, der sich gestern noch so wichtig dünkte für das +Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute weniger wert als jener +alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt werden, der Seemann, der +übriggebliebene, wird nicht vermißt, die Kompanie spart seinen Lohn. Ein +Seemann ohne Schiff, ein Seemann, der nicht zu einem Schiff gehört, ist +weniger als der Dreck auf der Gasse. Er gehört nirgends hin, niemand +will etwas mit ihm zu tun haben. Wenn er jetzt da ins Meer springt und +ersäuft wie eine Katze, niemand vermißt ihn, niemand wird nach ihm +suchen. „Ein Unbekannter, offenbar ein Seemann“, das ist alles, was von +ihm gesagt wird. + +Das ist ja recht lieblich, dachte ich, und jener Welle des Verzagtseins +gab ich rasch ordentlich eins auf den Kamm, so daß sie sich davonmachte. +Mache das Beste aus dem Schlechten, und das Schlechte verschwindet im +Augenblick. + +Gosh, schiet den ollen Eimer, da sind andre Schiffe in der Welt, die +Ozeane sind ja so groß und so weit. Kommt ein andres, ein besseres. +Wieviel Schiffe gibt es auf der Welt? Sicher eine halbe Million. Davon +wird doch eines einmal einen Deckarbeiter gebrauchen können. Und +Antwerpen ist ein großer Hafen, da kommen sicher alle diese halbe +Million Schiffe einmal her, irgendwann und irgendeinmal sicher. Muß man +nur Geduld haben. Ich kann doch nicht erwarten, daß gleich da drüben +schon so ein Kasten liegt und der Kapitän in Todesangst schreit: + +„Herr Deckarbeiter, kommen Sie schnell rauf zu mir, ich brauche einen +Deckarbeiter, gehen Sie nicht zum Nachbar, ich flehe Sie an.“ + +So sehr kümmerte ich mich auch wahrhaftig nicht um die treulose +Tuscaloosa. Wer hätte das von diesem schönen Weibsbild gedacht? Aber so +sind sie, alle, alle. Und sie hatte so saubere Quartiere und ein so +gutes Essen. Jetzt haben sie gerade Breakfast, diese verfluchten +Halunken, und essen meine Portion Ham and Eggs mit. Wenn sie wenigstens +nicht der Slim kriegen wollte, denn diesem Hund von einem Bob gönne ich +sie nicht. Aber der wird ja gleich der erste sein, der meine Sachen +durchstöbert und sich das Beste heraussucht, ehe sie abgeschlossen +werden. Diese Banditen werden die Sachen überhaupt nicht abschließen +lassen, sie werden sie glatt unter sich verteilen und sagen, ich hätte +nichts gehabt, diese Banditen, diese niederträchtigen. Dem Slim ist ja +auch nicht zu trauen, er hat mir so schon immer die Toilettenseife +gestohlen, weil er sich mit der Kernseife nicht waschen wollte, dieser +geschniegelte Broadwayhengst. Yes, Sir, das machte der Slim, Sie hätten +das nicht von ihm geglaubt, wenn Sie ihn gesehen hätten. + +Wahrhaftig nicht, so sehr kümmerte ich mich nicht um den davongelaufenen +Kasten. Aber was mich ernsthaft bekümmerte, war, ich hatte nicht einen +roten Cent in meiner Tasche. Jenes hübsche Mädchen hatte mir in der +Nacht erzählt, daß ihre so herzinnig geliebte Mutter schwerkrank sei, +und sie hätte kein Geld, um Arznei und kräftiges Essen zu kaufen. Ich +wollte für den Tod der Mutter nicht verantwortlich sein, deshalb gab ich +dem hübschen Mädchen alles Geld, das ich bei mir hatte. Ich wurde +reichlich belohnt durch die tausend beglückten Danksagungen des +Mädchens. Gibt es irgendetwas in der Welt, das beglückender wäre als die +tausend Danksagungen eines hübschen Mädchens, dessen geliebte Mutter man +soeben vom Tode errettet hat? No, Sir. + + + 3 + +Ich setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der +Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und wünschte, daß +sie auf einen Felsen aufbrennen möchte und so gezwungen wäre, +zurückzukommen oder wenigstens die Mannschaft auszubooten und +zurückzuschicken. Aber sie ging den Felsenriffen schön aus dem Wege, +denn ich sah sie nicht zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von +Herzen alle Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur +begegnen können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, daß +sie Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis +unten ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen +würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und +daß sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, daß ihm +sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge. + +Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem +hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter und +weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden, +daß mir ganz schwindlig wurde. + +Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: „Oh rats, lassen Sie mich in Ruh; +ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges +Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel.“ + +„Sie sind Engländer, nicht wahr?“ fragte er nun in Englisch. + +„No, Yank.“ + +„Aha, also Amerikaner.“ + +„Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, daß Sie +fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“ + +„Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.“ + +„Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten“, sagte ich +darauf. „Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig oder was haben Sie +sonst für Sorgen?“ + +„Seemann?“ fragte er weiter. + +„Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?“ + +„Von welchem Schiff?“ + +„Tuscaloosa von New Orleans.“ + +„Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.“ + +„Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Haben Sie keinen +besseren Witz auf Lager? Der ist schon sehr alt und stinkt.“ + +„Wo haben Sie Ihre Papiere?“ – „Was für Papiere?“ + +„Ihre Seemannskarte.“ + +Ei, Schokoladencreme mit Appelsauce! Meine Seemannskarte? Die steckte in +meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack und mein +Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und die +Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüßte, was +sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der Nigger sicher +wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas erzählen, wenn ich +die Galley streichen komme. + +„Na, Ihre Seemannskarte. Verstehen doch, was ich meine.“ + +„Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine +Seemannskarte. Da muß ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe +keine Seemannskarte.“ + +„Keine Seemannskarte?“ Das hätte man hören müssen, in welch einem +entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte: +„Was, Sie glauben nicht, daß es Meerwasser gibt?“ + +Ihm war das unfaßbar, daß ich keine Seemannskarte hatte, und er fragte +es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar rein +mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte hinzu: +„Keine andern Papiere? Paß oder Identitätskarte oder etwas Ähnliches?“ + +„Nein.“ Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wußte, +daß ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen bei mir +hatte. + +„Kommen Sie mit mir!“ sagte darauf der Mann. + +„Wohin kommen?“ fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der Mann +vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein Rumboot +gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen. Da kriegen +mich keine zehn Pferde mehr rauf. + +„Wohin? Das werden Sie gleich sehen.“ Daß der Mann besonders freundlich +gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die Heuerbase sind +nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten durchaus niemand +kriegen können. Das also schien hier ein ganz wackeres Bötchen zu sein, +auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht gedacht, daß ich so +schnell wieder auf einen Eimer kommen würde. Glück muß man haben und nur +nicht immer gleich verzagen. + +Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation. +Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und +durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war, fragte +mich der Mann ganz trocken: „Keine Waffe? Keine Werkzeuge?“ + +Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können. Als ob +ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches und eine +Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können! Aber so sind die +Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe es versteckt; +denn daß man das nicht besitze, wonach sie suchen, das können sie nicht +begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals wußte ich das noch +nicht. + +Dann hatte ich mich vor einem Schreibpulte aufzustellen, an dem ein Mann +saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher gestohlen. +Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Photographien waren. Der Mann, +der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer, weil wir uns +sonst nicht hätten verständigen können. Als sie unsre Jungens brauchten, +im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt ist das längst vorbei, und +da brauchen sie nichts mehr zu wissen. + +Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah +immer auf die Photographien und dann auf mich, oder genauer, auf mein +Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln wurden +nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit, und die +nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre hatten es ja zu bezahlen, +warum sollte er sich da beeilen. + +Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte +er meine Photographie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht +erinnern, daß ich mich jemals in Antwerpen hätte photographieren lassen. +Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft, und +ich sagte: „Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein +Frühstück gehabt.“ + +„Das ist recht“, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen +Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren +nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden. + +Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier +scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz +aufzubewahren. Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz +bestimmt niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher +nicht, no, Sir. + +Ich möchte wissen, ob die Leute hier das wirklich Frühstück nennen. +Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch nicht +erholt. Oder wurde der Krieg nur darum gemacht, um sich größere +Frühstücke zu verschaffen? Dann haben sie ihn sicherlich nicht gewonnen, +was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, denn ein solches Krümchen +müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt haben, weil es das +Minimum an Qualität und Quantität ist, das man gerade noch Frühstück +nennen kann, weil man das Stück früh bekommt. + +Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht. + +„Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?“ Das wurde ich gefragt. + +„Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen und +können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in Afrika +immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie können +vielleicht sehr schnell Soldaten brauchen und mich, da ich ja keine +Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für einen ihrer +Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen Fall.“ + +„Wie denken Sie über Deutschland?“ + +Was die Leute alles von mir wissen wollen! + +„Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.“ + +„Warum? Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie auch +wieder leicht ein Schiff bekommen.“ + +„Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt +werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen nicht +bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil ich doch keine +Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht auch verwechseln, +und ich müßte mit bezahlen. Soviel kann ich ja als Deckarbeiter nie +verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der Mittelklasse +erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen Gesellschaft +werden.“ + +„Was reden Sie soviel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen oder +nicht.“ + +Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint, +daß sie viel Zeit haben und froh sind, daß eine Unterhaltung im Gange +ist. + +„Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland“, sagt +der Hohepriester und der Dolmetscher erzählt es mir wieder. + +„Ich mag aber die Holländer nicht“, erwiderte ich, und ich will nun auch +gleich erzählen warum, als mir gesagt wird: „Ob Sie die Holländer mögen +oder nicht, das geht uns gar nichts an. Machen Sie das mit den +Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen. +Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie auch nicht, +das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach nach +Holland. Fertig und Schluß. Eine andre Grenze haben wir nicht. +Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbar aussuchen, der +vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins Wasser wollen wir +Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige Grenze, die uns +noch bleibt als letzte. Also es geht nach Holland und nun Schluß. Seien +Sie froh, daß Sie so billig davonkommen.“ + +„Aber meine Herren, Sie sind im Irrtum, ich will gar nicht nach Holland. +Die Holländer sitzen –“ + +„Ruhig nun. Die Frage ist entschieden. Wieviel Geld haben Sie?“ + +„Sie haben doch meine Taschen und Nähte alle durchsucht. Wieviel Geld +haben Sie denn gefunden?“ Da soll man nun nicht wütend werden. Sie +durchsuchen einen stundenlang mit Vergrößerungsgläsern, und dann fragen +sie noch ganz scheinheilig, wieviel Geld man habe. + +„Wenn Sie nichts gefunden haben, dann habe ich kein Geld“, sage ich. + +„Das ist gut. Das ist jetzt alles. Nehmen Sie ihn wieder in die Zelle.“ +Der Hohepriester hatte seine Zeremonien beendet. + + + 4 + +Am späten Nachmittag wurde ich zum Bahnhof gebracht. Zwei Mann, darunter +der Dolmetscher, begleiteten mich. Offenbar dachten sie, ich sei noch +nie in meinem Leben mit der Bahn gefahren, denn ich durfte nichts allein +tun. Einer löste die Fahrkarten, während der andre dicht bei mir stehen +blieb und aufpaßte, damit nicht etwa ein Taschendieb sich die +vergebliche Arbeit machen sollte, noch einmal meine Taschen +durchzusuchen, denn wo einmal die Polizei Taschen durchsucht hat, findet +auch der geschickteste Taschendieb keinen Cooper mehr. + +Der Mann, der die Karten gelöst hatte, gab mir aber meine Karte nicht. +Wahrscheinlich dachte er, ich würde sie sofort wieder verkaufen. Sie +begleiteten mich dann sehr höflich auf den Bahnsteig und brachten mich +zu meinem Abteil. Ich glaubte, sie würden sich hier von mir +verabschieden. Aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir in das +Abteil, und um mich vor dem Hinausfallen zu bewahren, nahmen sie mich in +ihre Mitte. Ob belgische Polizeibeamte immer so höflich mit Leuten sind, +weiß ich nicht. Ich jedenfalls konnte mich über sie nicht beklagen. Sie +gaben mir dann Zigaretten. Wir rauchten, und der Zug dampfte los. Nach +einer kurzen Fahrt verließen wir den Zug und kamen in ein kleines +Städtchen. Wieder wurde ich zu einer Polizeistation gebracht. Ich hatte +mich auf eine Bank zu setzen in jenem Raum, wo sich alle die +Polizeibeamten aufhielten, die in Reserve waren. Die beiden Leute, mit +denen ich gekommen war, erzählten eine große Geschichte über mich. Die +übrigen Cops, ich meine die übrigen Polizeibeamten, glotzten mich alle +der Reihe nach an, manche interessiert, als ob sie noch nie einen +solchen Mann gesehen hätten, und andre wieder, als hätte ich irgendwo +einen Doppelraubselbstmord verübt. + +Gerade diejenigen, die mich in so verhängnisvoller Weise anstarrten, die +mich der Verübung der gräßlichsten Verbrechen, deren Täter man noch +nicht erwischt hatte, fähig hielten, und die mir noch viel schwerere +Verbrechen in Zukunft zutrauten als ich, ihrer untrüglichen Meinung +zufolge, schon verübt habe, flößten mir plötzlich den Gedanken ein, daß +ich hier auf den Henker zu warten habe, der augenscheinlich nicht zu +Hause war und erst gesucht werden mußte. + +Da war nichts zu lachen, no, Sir. Es war eine sehr ernste Sache. Man +braucht nur ein wenig darüber nachzudenken. Ich hatte keine +Seemannskarte, ich hatte keinen Paß, ich hatte keinen Identitätsausweis, +ich hatte kein sonstiges Papier, und meine Photographie hatte der +Hohepriester in seinem dicken Buche auch nicht gefunden. Wenn da +wenigstens noch meine Photographie gewesen wäre, dann hätte er doch +gleich gewußt, wer ich bin. Von der Tuscaloosa achtern abgeblieben zu +sein, das konnte jeder erzählen, der sich da herumtrieb. Eine Wohnung +hatte ich nirgendwo auf der Welt. Entweder ein Eimer oder eine +Seemannsherberge. Mitglied irgendeiner Handelskammer war ich auch nicht. +Ich war eben ein Niemand. Na, nun frage ich, warum sollten die armen +Belgier einen Niemand durchfüttern, wo sie doch schon so viele +Niemandskinder durchzufüttern haben, die wenigstens immer noch zur +Hälfte hierher gehören. Ich aber gehörte mit keiner Hälfte hierhin. Ich +war nur eine weitere Ursache, daß sie in Amerika wieder Geld pumpen +mußten. Mich zu hängen, war der kürzeste und einfachste Weg, um mich los +zu werden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Kein Mensch +kümmerte sich um mich, kein Mensch würde nach mir fragen, meinen Namen +brauchten sie gar nicht einmal in ihre dicken Bücher zu schreiben. Und +hängen würden sie mich, ganz sicher. Sie warteten nur noch auf den +Henker, der das Geschäft versteht, sonst wäre es ja ungesetzlich und ein +Mord. + +Wie recht ich hatte. Da war der Beweis. Einer der Cops kam auf mich zu +und gab mir zwei dicke Pakete mit Zigaretten, die letzte Gabe an den +armen Sünder. Dann gab er mir auch noch Zündhölzer, setzte sich zu mir +und radebrechte mit mir, lachte und war freundlich, klopfte mir auf die +Schulter und sagte: „Ist nicht so schlimm, Junge, nehmen Sie es nicht zu +tragisch. Rauchen Sie, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Wir müssen +warten, bis es finster ist, sonst können wir es nicht gut machen.“ Nicht +tragisch nehmen, wenn man gehängt werden soll. Ist nicht so schlimm. Ich +möchte wissen, ob es mit ihm schon mal versucht worden ist, daß er so +bestimmt sagen kann: Ist nicht so schlimm. Warten, bis es finster ist. +Freilich, bei Tage trauen sie sich nicht so recht, es könnte uns ja +vielleicht jemand begegnen, der mich kennt, und dann wäre der Spaß +verdorben. Aber es hat ja keinen Zweck, den Kopf hängen zu lassen, er +wird bald genug von selber hängen. Und ich rauche erst einmal wie ein +Fabrikschlot, damit sie nicht am Ende gar noch die Zigaretten sparen. + +Die Zigaretten schmecken nach gar nichts. Das reine Stroh. Verflucht +nochmal, ich will nicht hängen. Wenn ich nur wüßte, wie ich hier heraus +komme. Aber die sind ja immerfort um mich herum. Und jeder neue, der +abgelöst ist und hereinkommt, glubscht mich an und will von den andern +wissen, wer ich bin, warum ich hier sei, und wann ich gehängt werde. Und +dann grient er übers ganze Gesicht. Ein widerliches Volk. Ich möchte +wissen, warum wir denen geholfen haben. + +Später bekam ich mein letztes Essen. Aber solche Geizhälse gibt es auf +der ganzen Erde nicht mehr. Das nennen sie nun eine Henkersmahlzeit: +Kartoffelsalat mit einer Scheibe Leberwurst und ein paar Schnitten Brot +mit Margarine. Zum Heulen ist es. Nein, die Belgier sind keine Guten, +und es fehlte nicht viel, und ich wäre beinahe verwundet worden, als wir +sie aus der Suppe ziehen mußten und unser Geld los wurden. Einer, der +mir die Zigaretten gegeben hatte und mir einzureden versuchte, es sei +nicht so schlimm, gehenkt zu werden, sagte nun: „Sie sind doch ein guter +Americain, sie trinken doch keinen Wein, nicht wahr?“ Und dabei lachte +er mich an. Teufel nochmal, wenn er nicht ein solcher Heuchler wäre mit +seinem Nicht-so-schlimm, man könnte beinahe glauben, daß es auch feine +und nette Belgier gibt. + +„Guter Amerikaner? Schiet auf Amerika. Ich trinke Wein, aber feste.“ + +„Das habe ich mir doch gleich gedacht,“ sagte der Cop schmunzelnd. „Sie +sind echt. Das ist ja alles Alterweiberhumbug mit eurer sogenannten +Prohibition. Laßt euch von Tanten und Betschwestern kommandieren. Mich +geht es ja nichts an. Aber hier bei uns, da haben wir Männer noch die +Hosen an.“ + +Gosh, da ist endlich einer, der den Pfahl im Fleische sieht. Der Mann +kann nicht verlorengehen, er kann durch dickes Wasser bis auf den Grund +sehen. Schade um den Mann, daß er Cop ist. Aber wenn er nicht Cop wäre, +würde ich wahrscheinlich dieses Riesenglas voll guten Weines, das er +jetzt vor mich hinstellte, nie gesehen haben. Prohibition ist eine +Schande und eine Sünde, Gott sei’s geklagt. Ich bin sicher, daß wir +irgendwann und irgendwo etwas Furchtbares verbrochen haben müssen, weil +uns diese köstliche Gottesgabe genommen wurde. + +Gegen zehn Uhr abends sagte der Weinspender zu mir: „So, nun ist es Zeit +für uns, Seemann, kommen Sie mit mir.“ + +Was hätte es für Sinn, zu schreien: „Ich will nicht gehenkt werden!“ +wenn da vierzehn Mann um einen herum sind, und alle vierzehn vertreten +das Gesetz. Das ist eben Schicksal. Zwei Stunden hätte die Tuscaloosa +nur zu warten brauchen. Aber zwei Stunden bin ich nicht wert, hier bin +ich noch viel weniger wert. + +Der Gedanke an diese Wertlosigkeit empörte mich aber doch, und ich +sagte: „Ich geh nicht mit. Ich bin Amerikaner, ich werde mich +beschweren.“ + +„Ha!“ schrie einer höhnisch herüber, „Sie sind kein Amerikaner. Beweisen +Sie es doch. Haben Sie eine Seemannskarte? Haben Sie einen Paß? Nichts +haben Sie. Und wer keinen Paß hat, ist niemand. Mit Ihnen können wir +machen, was uns beliebt. Und das werden wir jetzt, und Sie werden nicht +gefragt. Raus mit dem Burschen.“ + +Es war nicht nötig, daß ich mir vielleicht erst noch einen Hieb über den +Schädel holte, am Ende war ich ja nur der Dumme. So mußte ich halt +lostrotten. + +An meiner linken Seite ging der lustige Mann, der radebrechen konnte, +und an meiner rechten Seite ging ein andrer. Wir verließen das kleine +Städtchen und befanden uns bald auf offnen Feldern. + +Es war entsetzlich finster. Der Weg, auf dem wir gingen, war nur ein +holpriger, zerfahrener Landweg, wo man schlecht laufen konnte. Ich hätte +nur gern gewußt, wie lange wir so wandern wollten, bis das traurige Ziel +erreicht war. + +Nun verließen wir auch noch diese elende Straße und bogen in einen +Wiesenpfad ein. Eine gute Weile ging es über Wiesen. + +Jetzt war es Zeit, abzuhäuten. Aber diese Burschen waren augenscheinlich +Gedankenleser. Gerade als ich einen ausschwingen will, um zuerst einmal +dem einen Nachbar einen sanften Bläser an die Kinnbacken zu haken, packt +mich der Mann am Arm und sagt: „Nun sind wir da. Jetzt haben wir +einander Lebewohl zu sagen.“ + +Ein entsetzliches Gefühl, wenn man die letzte Minute so klar und trocken +heranschleichen sieht. Nicht einmal schleichen. Sie stand gleich ganz +nüchtern vor mir. Es war mir sehr trocken in der Kehle. Ich hätte gern +einen Schluck Wasser gehabt. Aber nun war ja wohl an Wasser nicht mehr +zu denken. Die paar Augenblicke würde es auch noch ohne Wasser gehen, +das hätten sie mir sicher geantwortet. Ich hätte den Weinspender nicht +für einen solchen Heuchler gehalten. Einen Henker hatte ich mir anders +vorgestellt. Es ist doch ein dreckiges, ein schäbiges Geschäft; als ob +es nicht andre Berufe gäbe. Nein, gerade Henker, Bestie sein, und das +sogar noch als Beruf. + +Nie vorher im Leben hatte ich so stark gefühlt, wie wunderschön das +Leben ist. Wunderschön und über alle Maßen köstlich ist sogar das Leben, +wenn man müde und hungrig zum Hafen kommt und erkennt, daß einem das +Schiff weggefahren ist und man zurückgelassen ist ohne Seemannskarte. +Leben ist immer schön, wenn es auch noch so trübe aussieht. Und in einer +so finstern Nacht auf freiem Felde einfach so fortgewischt zu werden, +als wäre man nur gerade ein Wurm –! Hätte ich von den Belgiern nicht +gedacht. Aber schuld daran ist die Prohibition, die einen so schwach +macht gegen Versuchungen. Wenn ich jetzt, gerade jetzt, diesen Mr. +Volstead hier zwischen meinen Fingern hätte! Was muß der Mann für eine +böse Frau gehabt haben, daß er so etwas ausdenken und ausstinken konnte! +Froh bin ich aber doch, daß auf mich diese Millionen Flüche nicht +herabgedonnert werden, die das Leben dieses Mannes belasten. + +„Oui, Mister, wir haben Lebewohl zu sagen. Sie mögen ja ein ganz netter +Mensch sein. Augenblicklich haben wir aber gar keine Verwendung für +Sie.“ + +Deshalb brauchen Sie einen doch aber nicht gleich zu henken. + +Er hob seinen Arm. Offenbar, um mir die Schlinge über den Kopf zu werfen +und mich zu erdrosseln; denn die Mühe, einen Galgen aufzubauen, hatten +sie sich nicht gemacht. Das hätte zuviel Ausgaben verursacht. + +„Da drüben,“ sagte er nun und zeigte mit ausgestrecktem Arme in die +Richtung, „da drüben, geradenwegs, wo ich hinweise, da ist Holland. +Netherland. Haben Sie doch sicher schon davon gehört?“ + +„Ja.“ + +„Jetzt gehen Sie geradenwegs in jene Richtung, die ich Ihnen hier mit +meinem Arme andeute. Ich glaube nicht, daß Sie da jetzt einen +Kontrollbeamten treffen werden. Wir haben uns erkundigt. Sollten Sie +aber jemand sehen, dann gehen Sie ihm sorgfältig aus dem Wege. Nach +einer Stunde Gehens immer in dieser Richtung kommen Sie an die +Eisenbahnlinie. Folgen Sie der Linie noch eine kurze Strecke in +derselben Richtung, dann kommen Sie zur Station. Halten Sie sich da in +der Nähe auf, aber lassen Sie sich nicht sehen. Gegen vier Uhr morgens +kommen dann eine Menge Arbeiter, und dann gehen Sie zum Schalter und +sagen nur ‚Rotterdam derde klasse‘, aber sagen Sie kein einziges Wort +mehr. Hier haben Sie fünf Gulden.“ + +Er gab mir fünf Geldscheine. + +„Und da ist noch ein Happen zu essen für die Nacht. Kaufen Sie nichts +auf der Station. Sie sind bald in Rotterdam. So lange halten Sie es dann +schon aus.“ + +Nun gab er mir ein kleines Paketchen, in dem allem Anschein nach +Butterbrote waren. Dann bekam ich noch ein Paket Zigaretten und eine +Schachtel Zündhölzer. + +Was soll man von diesen Leuten sagen? Sie sind hinausgeschickt, um mich +zu henken, und geben mir noch Geld und Butterbrote, damit ich mich aus +dem Staube machen kann. Sie haben ein zu gutes Herz, mich so kalt +umzubringen. Da soll man nun die Menschen nicht lieben, wenn man so gute +Kerle selbst unter den Polizisten findet, deren Herz durch das ewige +Menschenjagen durch und durch verhärtet ist. Ich schüttelte den beiden +so sehr die Hände, daß sie Angst bekamen, ich wollte die Hände +mitnehmen. + +„Machen Sie nicht solchen Spektakel, einer von drüben kann Sie +vielleicht gar hören, und dann ist alles im Dreck. Und das wäre nicht +gut, dann könnten wir wieder von vorn anfangen.“ Der Mann hatte recht. +„Und nun hören Sie gut zu, was ich Ihnen jetzt sage.“ Er sprach +halblaut, bemühte sich aber, mir alles deutlich zu machen dadurch, daß +er das Gesagte mehrfach wiederholte. „Kommen Sie ja nicht nochmal nach +Belgien zurück, das kann ich Ihnen nur sagen. Wenn wir Sie nochmal +innerhalb unsrer Grenzen finden, Sie können sich darauf verlassen, wir +sperren Sie ein auf Lebenszeit. Auf Lebenszeit im Gefängnis. Lieber +Freund, das ist allerlei. Also ich warne Sie ausdrücklich. Wir wissen ja +nicht, wohin mit Ihnen. Sie haben ja keine Seemannskarte.“ + +„Aber vielleicht hätte ich zum Konsul –“ + +„Gehen Sie mir mit Ihrem Konsul. Haben Sie eine Seemannskarte? Nein. Na +also. Da pfeffert Sie Ihr Konsul raus, vierkant, und wir haben Sie auf +dem Halse. Sie wissen jetzt Bescheid. Auf Lebenszeit Gefängnis.“ + +„Ganz bestimmt, meine Herren, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht +mehr Ihr Land betreten.“ Warum sollte ich auch? Ich hatte ja in Belgien +nichts verloren. Ich war eigentlich froh, daß ich raus kam. Holland ist +viel besser. Die versteht man schon zur Hälfte, während man hier kein +Wort versteht, was die Leute reden, und was sie wollen. + +„Gut also. Sie sind nun verwarnt. Nun hüpfen Sie los und seien Sie +vorsichtig. Wenn Sie Tritte hören, legen Sie sich hin bis die Schritte +vorübergegangen sind. Lassen Sie sich nur nicht kriegen, sonst kriegen +wir Sie, und dann geht es Ihnen schlecht. Viel Glück auf die Reise.“ + +Die schoben ab und ließen mich allein. + +Dann, kreuzvergnügt, wanderte ich los. Immer in jener Richtung, die mir +gezeigt worden war. + + + 5 + +Rotterdam ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat. Ich hatte keins, +nicht einmal eine Börse, wo ich es hätte hineinstecken können, wenn ich +welches gehabt hätte. + +Da war auch nicht ein einziges Schiff im Hafen, das einen Deckarbeiter +oder einen Ersten Ingenieur gebraucht hätte. Zu jener Zeit war mir das +ganz gleich. Wenn auf einem Schiff ein Erster Ingenieur verlangt worden +wäre, ich hätte den Posten angenommen. Glatt. Ohne mit der Wimper zu +zucken. Der Krach kommt ja erst, wenn das Schiff draußen ist, auf hoher +Fahrt. Und dann können sie einen doch nicht so einfach über Bord feuern. +Anzustreichen gibt es immer etwas, da findet sich dann also schon die +rechte Arbeit. Man ist ja schließlich auch nicht so, daß man nun mit +Mord und Tod auf das Gehalt des Ersten Ingenieurs pocht. Man kann ja +etwas nachlassen. Gosh, in welchem Laden wird nicht auch einmal vom +Preise heruntergehandelt, wenn das Plakat „Feste Preise“ auch noch so +groß gemalt ist? + +Krach hätte es sicher gegeben; denn damals konnte ich eine Kurbel nicht +von einem Ventil und eine Bleuelstange nicht von einer Welle +unterscheiden. Das wäre ja beim ersten Signal herausgekommen, wenn der +Skipper hinuntergeklingelt hätte „Totlangsam“, und gleich darauf wäre +der Eimer losgeschossen, als ob er auf Tod und Leben verpflichtet sei, +das „Blue Ribbon“, das Blaue Band, zu gewinnen. Ein Spaß wäre es ja +doch. Aber es lag nicht an mir, daß ich den Spaß nicht ausprobieren +konnte, denn niemand suchte einen Ersten Ingenieur. Es wurde überhaupt +niemand gesucht, auf keinem Schiff. Ich hätte alles angenommen, was +zwischen Kapitän und Küchenjunge ist. Aber nicht einmal ein Kapitän +wurde vermißt. + +Nun trieben sich auch schon so viele Seeleute dort herum, die alle auf +ein Schiff warteten. Und nun gar noch eins erwischen, das ’rüber geht +nach den States, das ist schon ganz hoffnungslos. Alle wollen sie auf +einen Kasten, der rüber geht, weil sie dort alle absacken wollen, +achtern raussegeln. Denn alle denken, drüben werden die Leute mit +Rosinen gefüttert, sie brauchen den Schnabel nur hinzuhalten. Schiet. +Und dann liegen sie dort zu Zehntausenden in den Häfen rum und warten +auf ein Schiff, das sie wieder heimbringt, weil eben alles ganz anders +ist, als sie sich gedacht haben. Die goldnen Zeiten sind vorüber, sonst +würde mich niemand als Deckarbeiter auf der Tuscaloosa gefunden haben. + +Aber die beiden netten belgischen Cops haben mir einen Tip gegeben: Mein +Konsul. Mein! Die beiden Cops schienen meinen Konsul besser zu kennen +als ich. Merkwürdig. Es ist doch meine Pflicht, ihn besser zu kennen, +denn er ist doch meiner. Er ist ja meinetwegen in der Welt. Er wird ja +meinetwegen bezahlt. + +Der Konsul klariert Dutzende von Schiffen aus, da wird er ja auch etwas +wissen über verlangte Deckarbeiter, besonders wenn ich kein Geld habe. + +„Wo haben Sie Ihre Seemannskarte?“ + +„Die habe ich verloren.“ + +„Haben Sie einen Paß?“ + +„Nein.“ + +„Bürgerpapier?“ + +„Nie gehabt.“ + +„Ja, was wollen Sie denn dann hier?“ + +„Ich habe gedacht, daß Sie mein Konsul seien, daß Sie mir helfen +würden.“ + +Er griente. Sonderbar, daß die Menschen immer grienen, wenn sie einen +den Hieb versetzen wollen. + +Und mit diesem Grienen auf den Lippen sagte er: „Ihr Konsul? Das müssen +Sie mir beweisen, lieber Mann, daß ich Ihr Konsul bin.“ + +„Ich bin doch aber Amerikaner, und Sie sind amerikanischer Konsul.“ Das +war doch ganz richtig. + +Aber es schien nicht richtig zu sein, denn er sagte: „Amerikanischer +Konsul, wenn auch augenblicklich noch nicht Erster, bin ich allerdings. +Aber ob Sie Amerikaner sind, das müssen Sie mir erst beweisen. Wo haben +Sie denn Ihre Papiere?“ + +„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, die habe ich verloren.“ + +„Verloren. Wie kann man seine Papiere verlieren? Die trägt man doch +stets bei sich, besonders wenn man in einem fremden Lande ist. Sie +können ja nicht einmal beweisen, ob Sie überhaupt auf der Tuscaloosa +waren. Können Sie das beweisen?“ + +„Nein.“ + +„Also. Was wollen Sie da hier? Wenn Sie auch auf der Tuscaloosa waren, +selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß Sie wirklich drauf waren, so +wäre das noch nicht der geringste Beweis, daß Sie Bürger sind. Auf einem +amerikanischen Schiffe können auch Hottentotten arbeiten. Also, was +wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt von Antwerpen ohne Papiere +hierher nach Rotterdam? Das ist doch merkwürdig.“ + +„Die Polizei hat mich doch –“ + +„Kommen Sie mir gefälligst nicht noch mal mit einer solchen Erzählung. +Wo ist denn das erhört, daß Staatsbeamte jemand auf diesem +ungesetzlichen Wege über die Grenze in ein fremdes Land schicken? Ohne +Papiere. Sie können mich nicht damit aufziehen, lieber Mann.“ + +Und das alles sagte er grienend und ewig lächelnd; denn der +amerikanische Beamte hat immer zu lächeln, selbst wenn er ein +Todesurteil verkündet. Das ist seine republikanische Pflicht. Was mich +aber am meisten ärgerte, war, daß er während seiner Rede immer mit dem +Bleistift spielte. Bald kritzelte er damit auf der Tischplatte herum, +bald kratzte er sich damit im Haar, bald trommelte er damit „My Old +Kentucky Home“, und bald tippte er mit dem Bleistift so auf den Tisch, +als ob er mit jedem Tippen ein Wort festnageln wollte. + +Ich hätte ihm am liebsten das Tintenfaß ins Gesicht geworfen. Aber ich +mußte Geduld üben, und so sagte ich: „Vielleicht können Sie mir wieder +ein Schiff verschaffen, damit ich heimkomme. Es kann ja sein, daß ein +Skipper um einen Mann zu kurz ist, oder daß einer erkrankt.“ + +„Ein Schiff? Ohne Papiere ein Schiff? Von mir nicht, da brauchen Sie gar +nicht erst wiederzukommen.“ + +„Aber wo soll ich denn Papiere herbekommen, wenn Sie mir keine geben?“ +fragte ich. + +„Was geht mich denn das an, wo Sie Ihre Papiere herkriegen. Ich habe sie +Ihnen doch nicht abgenommen. Oder? Da könnte ja jeder Herumtreiber, der +auf seine Papiere nicht besser acht gibt, kommen und von mir Papiere +verlangen.“ + +„Well, Sir,“ sagte ich darauf, „ich glaube, es haben auch schon andre +Leute, die nicht Arbeiter sind, ihre Papiere verloren.“ + +„Richtig. Aber diese Leute haben Geld.“ + +„Ach so!“ schrie ich laut, „jetzt verstehe ich.“ + +„Nichts verstehen Sie,“ griente er, „ich meine, dann sind das Leute, die +noch andre Ausweise haben, Leute, bei denen kein Zweifel zulässig ist, +Leute, die ein Zuhause haben, die eine Adresse haben.“ + +„Was kann ich denn dafür, daß ich keine Villa habe, kein Zuhause und +keine andre Adresse als meinen Arbeitsplatz.“ + +„Das geht mich nichts an. Sie haben die Papiere verloren. Sehen Sie zu, +wo Sie andre herbekommen. Ich habe mich an meine Bestimmungen zu halten. +Nicht meine Schuld. Haben Sie schon gegessen?“ + +„Ich habe doch kein Geld, und gebettelt habe ich noch nicht.“ + +„Warten Sie einen Augenblick.“ + +Er stand auf und ging in ein andres Zimmer. Nach einigen Minuten kam er +zurück und brachte mir eine Karte. + +„Hier haben Sie eine Verpflegungskarte für drei volle Tage im +Seemannshause. Wenn sie abgelaufen ist, können Sie ruhig nochmal +wiederkommen. Versuchen Sie nochmal, vielleicht bekommen Sie ein andres +Schiff, von einer andern Nationalität. Manche nehmen es nicht so genau. +Ich darf Ihnen keine Andeutungen machen. Sie müssen das selbst +herausfinden. Ich bin hier ganz machtlos. Ich bin lediglich ein Diener +des Staates. ’m sorry, old fellow, can’t help it. Good-bye and g’d +luck!“ Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein +Biest. Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der +Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie +den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie der +Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war +auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine +Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf jede +meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort das Maul +stopfte. Aber als er fragte: „Haben Sie Hunger? Haben Sie schon +gegessen?“ da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener zu +sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist etwas +Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied. Und das ist +die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen zu sein, und +anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das Biest kann keine +Menschen brauchen; die machen zu viel Arbeit. Figuren aus Papiermaché +lassen sich besser in Reih’ und Glied stellen und uniformieren, damit +die Diener des Biestes ein bequemeres Leben führen können. Yesser, yes, +Sir. + + + 6 + +Drei Tage sind nicht immer drei Tage. Es gibt sehr lange drei Tage und +es gibt sehr kurze. Daß drei Tage so kurz sein könnten, wie die drei +Tage, wo ich gut zu essen hatte und ein Bett, würde ich nicht geglaubt +haben. Ich wollte mich gerade das erstemal zum Frühstück hinsetzen, da +waren die drei Tage schon um. Aber selbst wenn sie zehnmal länger +gedauert hätten, zum Konsul gehe ich nicht mehr. Sollte ich mir +vielleicht wieder seine auswendig gelernten Prüfungsantworten anhören? +Etwas Besseres würde er jetzt auch nicht wissen. Ein Schiff konnte er +mir nicht besorgen. Also was hätte es für Zweck gehabt, seine Reden über +mich ergehen zu lassen? Möglich, daß er mir wieder eine Karte gegeben +hätte. Diesmal aber sicher schon mit einer Geste und einer Miene, die +mir das Essen in der Kehle hätte festwürgen lassen, ehe ich überhaupt +den Löffel in die Suppe steckte. Die drei Tage wären noch viel kürzer +geworden als die vorigen. + +Der wichtigste Grund war, ich wollte die Kleinigkeit Mensch, die er bei +meinem ersten Besuche gewesen war in dem Augenblick, als er sich um mein +Wohlergehen kümmerte, nicht aus meiner Erinnerung verlieren. Bestimmt +hätte er mir nun die Karte in seiner vollen Überlegenheit als +Biestdiener verabreicht und mit moralverbrämten Reden, daß es diesmal +das letzte Mal sein müsse, daß zu viele kämen, und daß man sich nicht +darauf ausruhen könne, sondern daß man auch selbst etwas dazu tun müsse, +um weiterzukommen. Lieber verrecken, als nochmal dahin gehen. + +Oh, du geliebte Schneiderseele, was war ich hungrig! So gottserbärmlich +hungrig. Und so müde durch das Schlafen in Torwegen und Winkeln, immer +gejagt im Halbschlaf von der Nachtpolizei, die in die Torwege und Winkel +hineinleuchtete mit den Taschenlampen. Immer auf der Hut sein, im +Schlafe die Patrouille auf fünfzig Schritte hören müssen, um sich noch +rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Denn wenn sie einen erwischen, das +heißt Arbeitshaus. + +Und kein Schiff im Hafen, das jemand brauchen könnte. Da sind soviele +hundert Seeleute des eignen Landes auf den Beinen, die ein Schiff +suchen, und die gute Papiere haben. Und keine Arbeit in den Fabriken, +keine Arbeit in irgendeinem Geschäft. Selbst wenn da Arbeit wäre, der +Mann dürfte sie einem gar nicht geben. Haben Sie Papiere? Nein? Schade, +dürfen wir Sie nicht einstellen. Sie sind Ausländer. + +Gegen wen sind die Pässe und die Einreisevisen gerichtet? Gegen die +Arbeiter. Gegen wen ist die Beschränkung der Einwanderung in Amerika und +in andern Ländern gerichtet? Gegen die Arbeiter. Und auf wessen +Veranlassung und mit wessen machtvoller Unterstützung sind oft diese +Gesetze, die die Freiheit des Menschen vernichten, ihn zwingen, dort zu +leben, wo er nicht leben will, ihn verhindern, nach jenem Teil der Erde +zu gehen, wo er gern leben möchte, geschaffen worden? Auf Veranlassung +und mit Unterstützung der Arbeiterverbände. Ein Biest im Bieste: Ich +schütze meine Sippe; wer nicht zu meiner Sippe gehört, der mag zugrunde +gehen; geht er zugrunde, um so besser, dann bin ich einen Konkurrenten +los. Yes, Sir. + +So hungrig und so müde! Dann kommt die Zeit, wo man nicht mehr darüber +nachdenkt, ob es einen Unterschied macht, die Börse eines andern, der +nicht hungert, mit der eignen Börse, die man nicht hat, zu verwechseln. +Man braucht sie nicht verwechseln, man fängt damit an, ohne es zu +wollen, an die Börse eines Nichthungernden zu denken. + +Ein Herr und eine Dame standen vor einem Schaufenster, als ich +vorüberging. + +Die Dame sagte: „Sag’ doch bloß mal, Fibby, sind denn diese hübschen +Handtäschchen nicht wirklich ganz reizend?“ + +Fibby nuschelte etwas, das ebensogut eine Zustimmung wie eine +gegenteilige Meinung sein konnte, es konnte aber auch ganz gut bedeuten: +Laß mich doch in Ruh’ mit deinem Quark! + +Die Dame: „Nein, wirklich, die sind zu entzückend, echte altholländische +Kleinkunst.“ + +„Stimmt,“ sagte Fibby nun trocken, „echt altholländisch, copyright +neunzehnhundertsechsundzwanzig.“ + +Das war Sphärenmusik für mich. Jetzt war ich überzeugt. + +Ich war nun sehr rasch und verlor keine Sekunde weiter. Da lag ja das +blanke Gold vor mir mitten auf der Straße. + +Es schien mir, daß Fibby sich über das, was ich ihm erzählte, viel mehr +amüsierte, als was ihm seine Frau oder seine Freundin oder seine – well, +Sir, das geht mich nichts an, in welchem Verwandtschaftsverhältnis die +beiden zueinander standen – ja, jedenfalls amüsierte er sich köstlich +über meine Geschichte. Er lächelte, dann lachte er, und endlich brüllte +er, daß die Leute stehenblieben. Wenn ich es nicht an seinem „Zat so!“ +gleich beim ersten Tonfall gehört hätte, wo er herkam, dann hätte es mir +sein unbändiges Lachen verraten. So kann eben nur ein Amerikaner lachen, +jawoll, die können lachen. + +„Also, Boy, Sie haben Ihre Geschichte großartig erzählt.“ Da lachte er +auch schon wieder. Ich hatte gedacht, er würde zu weinen anfangen über +meine traurige Geschichte. Na ja, er steckte ja nicht in meiner Haut. Er +sah das alles von der komischen Seite. + +„Nun sag’ doch, Flory,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „hat denn +das Vöglein, das da aus dem Nest gefallen ist, seine Geschichte nicht +ganz großartig erzählt?“ + +„Wirklich sehr nett. Wo sind Sie her? Von New Orleans? Das ist ja ganz +entzückend. Da habe ich sogar noch eine Tante wohnen, Fibby. Habe ich +dir nicht von Tante Kitty aus New Orleans schon erzählt, Fibby? Ich +glaube doch. Du weißt doch, die immer jeden Satz anfängt: Als Gra’pa +noch in South Carolina wohnte ...“ + +Fibby hörte gar nicht hin, was seine Flory sagte; er ließ sie reden, als +ob sie ein Wasserfall sei, an den er sich gewöhnt hatte. Er kramte in +seinen Taschen herum und brachte einen Dollarschein hervor: „Es ist +nicht für Ihre Geschichte selbst, Freundchen, sondern es ist dafür, daß +Sie die Geschichte so meisterhaft erzählt haben. Eine Geschichte, die +nicht wahr ist, gut erzählen zu können, ist eine Gabe, mein Junge. Sie +sind ein Künstler, wissen Sie das? Es ist eigentlich schade um Sie, daß +Sie sich so in der Welt herumtreiben. Sie könnten viel Geld machen, +lieber Freund. Wissen Sie das? Ist er nicht in der Tat ein Künstler, +Flory?“ wandte er sich nun wieder an seine – na, meinetwegen Frau, was +geht’s mich an, die werden ihren Paß schon so haben, wie sie ihn +brauchen. „Aber ja, freilich, Fibby,“ antwortete Flory in Ekstase, +„freilich ist er ein großer Künstler. Weißt du, Fibby, frage ihn doch +gleich mal, ob wir ihn nicht für unsern Gesellschaftsabend haben +könnten. Sicher, da könnten wir die Penningtons übertrumpfen, diese +schäbige Bande.“ + +Also es ist doch seine Frau. + +Fibby zeigte dem Wasserfall nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er +lächelte und lachte weiter. Kramte wieder in seinen Taschen herum und +brachte abermals einen Dollarschein ans Tageslicht. + +Nun gab er mir beide Scheine und sagte: „Y’see, der eine ist dafür, weil +Sie Ihre Geschichte so meisterhaft erzählt haben, der andre ist dafür, +weil Sie mir eine glänzende Idee für mein Blatt gegeben haben. Ist +fünftausend wert, in meinen Händen; in Ihren nicht einen Nickel. Aber +ich bezahle Ihnen hier einen Nickel mit Gewinnanteil. Vielen Dank für +Ihre Mühe, good-bye und viel Glück.“ + +Das war das erste Geld, das ich je für das Erzählen einer Geschichte +bekommen hatte. Yes, Sir. + +Ich klatterte los zu einer Wechselbank. Für den Dollar ungefähr +zweiundeinenhalben Gulden, für die beiden Dollarnoten also rund fünf +Gulden. Ganz hübsches Sümmchen. Als ich die Noten dort hingegeben hatte, +häufte der Wechsler so ungefähr fünfzig Gulden vor mich hin. Das war +eine Überraschung. Fibby hatte mir zwei Zehner gegeben, und ich hatte – +weil ich ja in seiner Gegenwart die zusammengeknitterten Scheine nicht +neugierig aufmachen wollte – die Scheine für Eindollarnoten gehalten. +Fibby ist eine noble Seele. Wall-Street möge ihn segnen. Es ist ganz +natürlich, daß zwanzig Dollar sehr viel Geld sind. Wenn man sie besitzt. +Wenn man genötigt ist, sie auszugeben, dann lernt man plötzlich, daß +zwanzig Dollar gar nichts sind. Besonders noch, wenn man eine Reihe von +hungrigen Tagen und bettlosen Nächten hinter sich hat. Ehe ich dazu kam, +den Wert des Geldes zu schätzen, war es schon alle. Nur die Leute, die +recht viel Geld haben, kennen den Wert des Geldes, weil sie Zeit haben, +den Wert abzuschätzen. Wie kann man den Wert eines Dinges erkennen +lernen, wenn es einem immer gleich wieder abgenommen wird? Gepredigt +aber wird, daß nur der, der nichts hat, weiß, was ein Cent wert ist. +Daher die Klassengegensätze. + + + 7 + +Früher als ich geglaubt hatte, kam ein Morgen, der allem Anschein nach +zu urteilen vorläufig der letzte Morgen sein würde, der mich in einem +Bett sah. Ich suchte meine Taschen durch und fand, daß ich gerade noch +genügend Cents hatte, um ein kurzgehaltenes Frühstück möglich zu machen. +Kurzgehaltene Frühstücke finden nicht meinen Beifall. Sie sind immer das +Vorspiel von Mittagessen und Abendmahlzeiten, die nicht erscheinen +werden. Einen Fibby findet man auch nicht jeden Tag. Sollte ich aber +wieder einen antreffen, dann erzähle ich diesmal meine Geschichte so +komisch wie nur möglich, vielleicht weint er dann herzzerbrechend und +bekommt die Gegenidee zu Fibbys Fünftausend-Dollar-Idee. Aus einer Idee +läßt sich immer Geld herausquetschen, ob sie nun zum Weinen ist oder zum +Lachen. Es gibt ebenso viele Menschen, die gern weinen und für die +Möglichkeit, weinen zu können, ein paar Dollar bezahlen, wie es Menschen +gibt, die lieber ihren Lachmuskeln ein Vergnügen gönnen. + +– – ein Vergnügen gönn–. Na, was ist denn das nun wieder? Kann man denn +für seinen letzten Gulden Schlafgeld, den man bezahlt hat, nicht einmal +in Ruhe im Bett noch ein wenig dösen, ehe man es für längere Zeit +aufzugeben hat? + +„Lassen Sie mich schlafen, verflucht nochmal. Ich habe bezahlt, gestern +abend, ehe ich ’raufging.“ Da soll man nicht wütend werden. In einem +fort wird an die Tür gebumst. + +Und gleich klopft es wieder. + +„Kreuzdonnerwetter nochmal, haben Sie nicht gehört, wegscheren sollen +Sie sich! Ich will schlafen.“ Wenn die nur die Tür aufmachen möchten, +ich würde ihnen den Stiefel mitten in die Fratze feuern. So ein +nichtswürdiges und impertinentes Gesindel. + +„Machen Sie auf. Polizei ist hier. Wir möchten Sie für einen Augenblick +sprechen.“ + +Ich zweifle ganz ernsthaft daran, daß es überhaupt auf der Welt noch +Menschen gibt, die nicht Polizei sind. Die Polizei ist dafür da, um für +Ruhe zu sorgen, und niemand macht mehr Ruhestörung, niemand belästigt +die Menschen mehr, niemand bringt mehr Leute zum Wahnsinn als die +Polizei. Ganz sicher, niemand hat mehr Unheil auf der Welt angestiftet +als die Polizei, denn die Soldaten sind ja auch nur Polizisten. + +„Was wollen Sie denn von mir?“ + +„Wir möchten Sie nur einmal sprechen.“ + +„Das könnten Sie auch durch die Tür tun.“ + +„Wir möchten Sie persönlich sehen. Machen Sie auf, oder wir brechen die +Tür auf.“ + +Brechen die Tür auf! Und die sollen gegen Einbrecher schützen. + +Gut, ich mache auf. Aber kaum habe ich die Tür auch nur einen Ritz auf, +da preßt der eine Bursche schon seinen Fuß dazwischen. Der alte Trick, +auf den sie sich immer wieder etwas einbilden. Das scheint der erste +Trick zu sein, den sie zu lernen haben. + +Sie kommen rein. Zwei Mann in Zivilkleidung. Ich sitze auf dem Bettrand +und fange an, mich anzuziehen. + +Mit Holländisch werde ich ganz gut fertig. Ich bin auf holländischen +Schiffen gefahren und habe hier nun wieder etwas dazu gelernt. Die +beiden Vögel können aber auch etwas Englisch. + +„Sie sind Amerikaner?“ + +„Ja, ich denke.“ + +„Zeigen Sie Ihre Seemannskarte.“ + +Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein. Ich +bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem Lande +nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden kann. Vor +dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte oder nach dem Paß, und +die Menschen waren recht glücklich. Aber Kriege, die für die Freiheit, +für die Unabhängigkeit und für die Demokratie geführt werden, sind immer +verdächtig. Verdächtig seit jenem Tage, wo die Preußen ihre +Freiheitskriege gegen Napoleon führten. Wenn Freiheitskriege gewonnen +werden, dann sind die Menschen nach dem Kriege alle Freiheit los, weil +der Krieg die Freiheit gewonnen hat. Yes, Sir. + +„Ich habe keine Seemannskarte.“ + +„Sie ha–a–a–a–ben keine Seemannskarte?“ + +Diesen entgeisterten Ton habe ich schon einmal gehört, und auch gerade +zu einer Zeit, als ich so hübsch an einem frühen Morgen einduseln +wollte. + +„Nein, ich ha–a–a–a–a–be keine, keine, keine Seemannskarte.“ + +„Dann zeigen Sie Ihren Paß.“ + +„Ich habe keinen Paß.“ + +„Keinen Paß?“ + +„Nein, keinen Paß.“ + +„Auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde?“ + +„Nein, auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde.“ + +„Sie wissen doch, daß Sie sich hier in Holland ohne Papiere, die von +unsern Behörden visiert sein müssen, nicht aufhalten dürfen?“ + +„Das weiß ich nicht.“ + +„So? Das wissen Sie nicht? Sie haben wohl die letzten Monate und Jahre +auf dem Monde gelebt?“ + +Die beiden Vögel halten das für einen so guten Witz, daß sie laut +auflachen. + +„Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit!“ + +Wissen möchte ich, ob man hier auch gehenkt wird, wenn man keine +Seemannskarte vorzeigen kann. + +„Hat jemand von den Herren nicht vielleicht eine Zigarette?“ frage ich. + +„Eine Zigarre können Sie haben, eine Zigarette habe ich nicht. Wir +können unterwegs welche kaufen. Wollen Sie die Zigarre haben?“ + +„Die Zigarre nehme ich lieber als die Zigarette.“ + +Während ich mich ankleide und wasche, rauche ich an der Zigarre. Die +beiden setzen sich hin, aber dicht an die Tür. Ich beeile mich nicht +sehr. Aber wenn man auch noch so langsam macht, einmal ist man dann +schließlich doch angekleidet. + +Wir zogen ab und landeten wo? Richtig geraten. In einer Polizeistation. +Nun wurde ich erst wieder einmal gründlich durchsucht. Diesmal hatten +sie mehr Glück als ihre Brüder in Antwerpen gehabt hatten. Sie fanden +fünfundvierzig holländische Cents in meinen Taschen. Das Frühstücksgeld. +Das konnte ich ja nun sparen. + +„Was? Mehr Geld haben Sie nicht?“ + +„Nein, mehr Geld habe ich nicht.“ + +„Wovon haben Sie denn die ganzen Tage hier gelebt?“ + +„Von dem, was ich jetzt nicht mehr habe.“ + +„Da hatten Sie also Geld, als Sie hier nach Antwerpen kamen?“ + +„Ja.“ + +„Wieviel?“ + +„Das weiß ich so genau nicht mehr. Hundert Dollar oder so, es können +auch zweihundert gewesen sein.“ + +„Wo hatten Sie denn das Geld her?“ + +„Das Geld hatte ich einfach gespart.“ + +Das war offenbar wieder ein guter Witz; denn die ganze Bande, die da im +Vernehmungszimmer um mich herum versammelt war, platzte heraus vor +Lachen. Aber alle paßten auf, ob der Hohepriester auch lachte. Und als +der anfing, da fingen sie auch an zu lachen, und als der aufhörte, da +hörten sie so plötzlich auf, als wären sie vom Schlage getroffen worden. + +„Wie sind Sie denn überhaupt nach Holland gekommen? So ganz ohne Paß. Wo +sind Sie denn da durchgekommen?“ + +„Ich bin halt so ’reingekommen.“ + +„Wie, ’reingekommen?“ + +Der Konsul hat es mir nicht geglaubt, wie ich hereingekommen bin. Die +würden es mir erst recht nicht glauben. Ich kann auch diesen netten +Burschen da aus Belgien nicht den Spaß verderben. + +Also da sage ich: „Mit einem Schiff bin ich gekommen.“ + +„Mit welchem Schiff?“ + +„Mit – mit – mit der George Washington.“ + +„Wann?“ + +„Das weiß ich so genau nicht mehr.“ + +„So? Also mit der George Washington sind Sie gekommen. Das ist eine +recht mysteriöse George Washington. Die ist unsers Wissens nie in +Rotterdam gewesen.“ + +„Dafür kann ich nichts. Ich bin für das Schiff nicht verantwortlich.“ + +„Sie haben also gar kein Papier, gar keinen Ausweis. Nichts. Rein gar +nichts, womit Sie beweisen können, daß Sie Amerikaner sind?“ + +„Nein. Aber mein Konsul ...“ + +Ich schien gute Witze zu machen. Wieder setzte ein Höllengelächter ein. + +„I–h–r Konsul.“ + +Das Ihr zog er so lang, als ob es für ein halbes Jahr reichen sollte. + +„Sie haben doch keine Papiere. Was soll denn da I–h–r Konsul mit Ihnen +anfangen?“ + +„Er wird mir doch Papiere geben!“ + +„Ihr Konsul? Der amerikanische Konsul? Ein amerikanischer Konsul? In +unserm Jahrhundert nicht. Nicht ohne Papiere. Nicht ohne, daß Sie, sagen +wir mal, in guten Verhältnissen leben. Nicht so einem ’rumtreiber.“ + +„Aber ich bin doch Amerikaner.“ + +„Möglich. Aber das müssen Sie I–h–rem Konsul beweisen. Und ohne Papiere +glaubt er es Ihnen nicht. Ohne Papiere glaubt er Ihnen nicht, daß Sie +überhaupt geboren sind. Ich will Ihnen etwas sagen, zu Ihrer Belehrung, +Beamte sind immer Bureaukraten. Auch wir sind Bureaukraten. Die +schlimmsten Bureaukraten aber sind die Bureaukraten, die es erst seit +gestern sind. Und die allerschlimmsten Bureaukraten sind die, die den +Bureaukratismus von den Preußen geerbt haben. Haben Sie verstanden, was +ich meine?“ + +„Ich glaube ja, mein Herr.“ + +„Und wenn wir Sie nun dahin bringen, nämlich zu Ihrem Konsul, und Sie +haben keine Papiere, dann übergibt er Sie uns offiziell, und wir werden +Sie nie wieder los. Haben Sie das auch verstanden?“ + +„Ich denke ja, mein Herr.“ + +„Was sollen wir denn mit Ihnen machen? Wer ohne Paß aufgegriffen wird, +bekommt sechs Monate Gefängnis und Deportation nach seinem Heimatlande. +Ihr Heimatland wird bestritten, und wir müssen Sie in das +Internierungslager schicken. Wir können Sie doch nicht totschlagen wie +einen Hund. Aber vielleicht kommen solche Gesetze noch heraus. Warum +sollen wir Sie durchfüttern? Wollen Sie nach Deutschland?“ + +„Ich mag nicht nach Deutschland. Wenn den Deutschen die Rechnung +vorgelegt ...“ + +„Also nicht nach Deutschland. Das kann ich begreifen. Gut für jetzt.“ + +Das war ein Beamter, der offenbar viel gedacht oder viel gute Sachen +gelesen hatte. + +Er rief jetzt einen Cop herbei und sagte: „Bringen Sie ihn in die Zelle, +geben Sie ihm Frühstück, und gehen Sie eine englische Zeitung und eine +Zeitschrift für ihn kaufen, damit er sich nicht langweilt. Auch ein paar +Zigarren.“ + + + 8 + +Am Spätnachmittag wurde ich wieder vorgeführt, und mir wurde gesagt, ich +möge den beiden Beamten in Zivil folgen. Wir gingen auf den Bahnhof und +fuhren ab. Auf der Station einer kleinen Stadt stiegen wir aus und +gingen in die Polizeiwache der Stadt. Dort saß ich auf der Bank und +wurde von allen Cops, die von Ablösung kamen, betrachtet wie ein Tier im +Zoologischen Garten. Ab und zu sprach man auch mit mir. Als es gegen +zehn Uhr war, sagten zwei Männer zu mir: „Es ist jetzt Zeit. Wir wollen +gehen.“ + +Wir gingen über Felder und gingen auf Wiesenpfaden. Endlich blieben die +beiden stehen und einer sprach mit verhaltener Stimme: „Gehen Sie dort +in jener Richtung, die ich Ihnen zeige, immer gerade aus. Sie werden +niemand treffen. Wenn Sie aber jemand sehen sollten, so gehen Sie ihm +aus dem Wege oder legen Sie sich hin, bis er vorüber ist. Wenn Sie eine +Zeit gegangen sind, dann kommen Sie zu einer Bahnlinie. Folgen Sie der +Bahnlinie, bis Sie zu der Station kommen. Halten Sie sich dort in der +Nähe auf bis gegen Morgen. Sobald Sie sehen, daß ein Zug zur Abfahrt +fertiggemacht wird, gehen Sie zum Schalter und sagen: ‚Un troisième à +Anvers.‘ Können Sie das behalten?“ + +„Ja, das kann ich. Es ist sehr leicht.“ + +„Aber reden Sie sonst kein Wort weiter. Sie bekommen dann Ihre Fahrkarte +und fahren nach Antwerpen. Dort kriegen Sie leicht wieder ein Schiff, wo +man immer Seeleute braucht. Hier haben Sie etwas zum Beißen und auch +noch etwas zum Rauchen. Kaufen Sie nichts, bevor Sie in Antwerpen sind. +Hier sind dreißig belgische Franken.“ + +Er händigte mir ein Paket Butterbrote ein, einen Papierbeutel mit +Zigarren und eine Schachtel Zündhölzer, damit ich niemand um Feuer +anbetteln brauchte. + +„Kommen Sie nie wieder zurück nach Holland. Sie bekommen sechs Monate +Gefängnis und Internierungskamp. Sie sind also hiermit ausdrücklich +verwarnt, vor einem Zeugen. Good-bye und viel Glück.“ + +Da stand ich in der Nacht auf offnem Felde. Viel Glück! + +Eine Strecke ging ich nun in jener Richtung, bis ich überzeugt war, daß +die beiden mich nicht mehr sehen konnten, oder daß sie nun fort waren. +Dann blieb ich stehen und begann zu überlegen. + +Nach Belgien? Da gab es lebenslänglich Gefängnis. Zurück nach Holland? +Da gab es nur sechs Monate Gefängnis. Das war schon billiger. Dann kam +noch das Internierungskamp für Paßlose. Hätte ich doch nur gefragt, wie +lange das Internierungskamp dauert. Wahrscheinlich war das +lebenslänglich. Denn aus welchem Grunde sollte es Holland billiger +machen als Belgien? + +Ich kam zu dem Entschluß, daß Holland auf alle Fälle billiger war. Es +war auch darum besser, weil ich dort mit der Sprache zurechtkommen +konnte, während ich in Belgien gar nichts reden konnte und noch viel +weniger verstehen. + +Nun ging ich erst einmal eine Strecke seitlich fort, ungefähr eine halbe +Stunde lang. Und dann querfeldein zurück nach Holland. Das +Lebenslänglich war doch zu bitter. + +Es ging ganz gut. Nur immer tapfer drauf los. + +„Halt! Stehen bleiben! Oder es wird geschossen!“ Recht angenehm, wenn +plötzlich aus der Finsternis heraus gerufen wird: „Es wird geschossen.“ + +Zielen kann der Mann ja nicht und sehen kann er mich auch nicht. Aber +eine nichtgezielte Kugel kann auch treffen. Und das ist schließlich doch +noch schlimmer als lebenslänglich. + +„Was machen Sie denn hier?“ Zwei Männer kamen aus der Dunkelheit heraus +und auf mich zu. Einer fragte mich das. + +„Ich gehe ein wenig spazieren. Ich kann nicht schlafen.“ + +„Warum gehen Sie denn gerade hier auf der Grenze spazieren?“ + +„Die Grenze habe ich nicht gesehen, es ist ja kein Zaun da.“ + +Zwei grelle Taschenlampen waren auf mich gerichtet, und ich wurde +durchsucht. Was die Menschen nur immer zu durchsuchen haben. Ich glaube, +die suchen überall nach den verlorengegangenen vierzehn Punkten Wilsons. +Ich habe sie jedenfalls nicht in der Tasche. + +Als sie nun nichts weiter fanden als die Butterbrote, die dreißig +Franken und die Zigarren, blieb einer bei mir stehen, während der andre +ein Stück des Weges, auf dem ich gekommen war, ableuchten ging. +Wahrscheinlich hoffte er, dort den Weltfrieden zu finden, der in der +ganzen Welt gesucht wird, seitdem unsre Jungens dafür gekämpft und +geblutet haben, daß dieser Krieg der letzte Krieg sei. + +„Wo wollen Sie denn hin?“ + +„Ich will zurück nach Rotterdam.“ + +„Jetzt? Warum denn gerade um Mitternacht und gerade hier über die Wiese? +Warum gehen Sie denn nicht auf der Straße?“ + +Als ob man nicht nachts über eine Wiese gehen könnte! Die Leute haben +merkwürdige Ansichten. Und immer haben sie gleich einen Verdacht, daß +man irgendein Verbrechen begangen haben könnte. Ich erzählte nun, daß +ich von Rotterdam käme, und wie ich hierher gekommen sei. Da wurden sie +aber wütend und sagten, ich solle sie nicht zum Narren halten, es sei +ganz klar, daß ich von Belgien käme und mich nach Holland reinschleichen +wolle. Als ich ihnen nun sagte, aber die dreißig Franken bewiesen doch, +daß ich die Wahrheit gesagt hätte, wurden sie noch wütender und sagten, +das sei eben gerade ein Beweis, daß ich sie anlügen wollte. Die Franken +seien ein Beweis, daß ich von Belgien komme, denn in Holland habe man +keine Franken. Nun gar noch zu sagen, daß mir holländische Beamte dieses +Geld gegeben hätten und mich mitten in der Nacht auf ungesetzlichem Wege +abgeschoben hätten, das zwänge sie, mich zu arretieren und mich unter +Anklage der Beamtenbeschimpfung zu stellen. Sie wollten aber noch einmal +Gnade mit mir haben, weil ich offenbar ein armer Schlucker sei, der +nicht die Absicht gehabt habe, zu schmuggeln, und würden mich auf den +richtigen Weg führen, auf den ich wieder zurück nach Antwerpen kommen +könne. + +So gut waren diese Leute zu mir. + +Jetzt mußte ich doch nach Belgien gehen, da half nichts. Wenn nur das +Lebenslänglich nicht wäre. + +Eine Stunde wanderte ich nun in der Richtung nach Belgien. + +Ich wurde müde und stolperte vor mich hin. Am liebsten hätte ich mich +hier hingelegt und geschlafen. Ich hielt es aber doch für besser, +weiterzugehen, um aus dem gefährlichen Bereich, wo geschossen werden +darf auf den, der nicht schießen darf, herauszukommen. + +Da plötzlich packt mich etwas am Bein. Ich denke, es ist ein Hund. Als +ich aber zufasse, ist es eine Hand. Und da flammt auch schon eine +Taschenlaterne auf. Dieses Ding ist auch eine Erfindung des Satans, man +sieht sie immer erst, wenn sie einem dicht vor Augen ist. + +Zwei Mann stehen jetzt auf. Sie haben da in der Wiese gelegen, und ich +bin ihnen so schön richtig mitten in die Arme gelaufen. + +„Wo wollen Sie denn hin?“ + +„Nach Antwerpen.“ + +Sie sprechen Holländisch oder mehr Flämisch. + +„Nach Antwerpen wollen Sie? Jetzt zur Nachtzeit? Warum gehen Sie denn +nicht auf der ordentlichen Straße, wie es anständigen Menschen gebührt?“ + +Ich erzähle ihnen nun, daß ich nicht aus freiem Willen käme, und sage +ihnen, wie es zugegangen sei, daß ich mich hier herumzudrücken habe. + +„Solchen Schwindel können Sie andern erzählen. Nicht uns. So etwas tun +Beamte nicht. Sie haben da in Holland etwas ausgefressen und wollen nun +hier ’rüber. Aber das gibt es nicht. Wollen wir erst einmal die Taschen +durchsuchen, um zu erfahren, warum Sie hier mitten in der Nacht über die +Wiesen gehen und immer auf der Grenze.“ + +Sie fanden in meinen Taschen und zwischen den Nähten meiner Sachen +nicht, was sie suchten. Ich wollte gern wissen, was die Leute eigentlich +immer suchen und warum sie einem immer die Taschen durchwühlen müssen. +Eine üble Angewohnheit dieser Leute. + +„Wir wissen schon, was wir suchen. Da brauchen Sie sich gar keine Sorge +machen.“ + +Nun bin ich auch nicht klüger. Aber finden tun sie nichts. Ich bin +überzeugt, daß es bis an das Weltende eine Hälfte Menschen geben wird, +die immer die Taschen durchsuchen muß und eine andre Hälfte, die sich +das Durchsuchen der Taschen gefallen lassen muß. Vielleicht geht der +ganze Streit der Menschheit nur darum, wer das Recht hat, die Taschen zu +durchsuchen, und wer die Pflicht hat, sich das gefallen zu lassen und +noch dafür zu bezahlen. + +Nachdem das Amtsgeschäft vorüber ist, sagt der eine zu mir: „So, da +drüben ist die Richtung nach Rotterdam, da gehen Sie jetzt immer drauf +los und lassen Sie sich hier ja nicht wieder sehen. Und wenn Sie wieder +einmal Grenzpolizei treffen, dann halten Sie sie nicht für so dumm, wie +Sie uns gehalten haben. Habt ihr denn da drüben in eurem blödsinnigen +Amerika nichts mehr zu essen, daß ihr alle hier herüber kommen müßt, um +uns das bißchen Essen, das wir für unsre Leute brauchen, auch noch +wegzufressen?“ + +„Ich bin doch aber gar nicht freiwillig hier“, widerspreche ich, und ich +weiß am besten, wie recht ich habe. + +„Merkwürdig, das sagt jeder von euch, den wir hier aufgreifen.“ + +Das ist ja ganz etwas Neues. Da bin ich vielleicht noch nicht einmal der +einzige, der sich hier auf einem fremden Erdteil herumtreiben muß. + +„Nun ziehen Sie ab. Und machen Sie keine überflüssigen Umwege mehr. Es +wird bald hell, und dann werden wir Sie gut beobachten. Rotterdam ist +ein guter Platz. Da sind viele Schiffe, die immer jemand brauchen.“ Wie +oft mir das nun schon erzählt worden ist. Es müßte eigentlich durch das +häufige Erzählen nun schon eine wissenschaftliche Wahrheit geworden +sein. + +Mit den dreißig Franken konnte ich hier in dem kleinen Städtchen nichts +anfangen, das wäre sicher gleich aufgefallen. + +Aber da kam ein Milchwagen, und der nahm mich eine Strecke mit. Und dann +kam ein Lastauto, und das nahm mich eine Strecke mit. Dann kam wieder +ein Bauer, der Schweine zu einer Stadt brachte. So kam ich Meile um +Meile näher nach Rotterdam. Sobald die Menschen nicht zur Polizei +gehören, und sobald sie nicht zur Polizei gerechnet werden wollen, +fangen sie an, sehr liebe Geschöpfe zu werden, die ganz vernünftig +denken und ganz normal fühlen können. Ich erzählte den Leuten ganz treu, +wie es mir ergangen sei, und daß ich keine Papiere hätte. Und sie waren +alle so nett, gaben mir zu essen, gaben mir einen warmen, trockenen +Winkel, um zu schlafen, und gaben mir gute Ratschläge, wie ich der +Polizei am besten aus dem Wege gehen könnte. + +Es ist recht sonderbar. Keiner liebt die Polizei. Und man ruft bei einem +Einbruch die Polizei auch nur darum, weil einem nicht erlaubt ist, dem +Einbrecher das Leder selbst zu versohlen und ihm den Raub wieder +abzunehmen. + + + 9 + +Die dreißig Franken umgewechselt in holländische Gulden gaben nicht viel +her. Aber auf Geld kann man sich ja überhaupt nicht verlassen, wenn man +sonst nichts nebenbei hat. + +Das Nebenbei kam an einem Nachmittag, gleich darauf. + +Ich strollte am Hafen entlang, und da sah ich zwei Mann daherkommen. Als +sie nahe bei mir waren, schnappte ich etwas von ihrem Geschwätz auf. Es +ist ja so urkomisch, wenn man einen Engländer reden hört. Die Engländer +behaupten immer, wir könnten nicht richtig Englisch sprechen; aber was +die Leute reden, das ist sicher kein Englisch. Das ist überhaupt keine +Sprache. Na, ganz egal. Ich kann sie ja nicht riechen, die Rotköppe. +Aber uns können sie ja auch nicht verdauen. Da gleicht sich das wieder +aus. Das geht nun schon so seit hundertfünfzig und ich weiß nicht +wieviel Jahren. + +Nun ist natürlich die ganze Suppe erst recht wieder übergekocht, seit +die große Schweinerei im Gange war. + +Da kommt man nun in einen Hafen, wo sie dicke sitzen wie die Brombeeren. +In Australien, oder vielleicht in China oder Japan. Wie es gerade +trifft. Man will einen heben gehen und rutscht in eine Hafenschenke. Da +sitzen sie und stehen sie nun, und kaum hat man ein Wort ’raus, gleich +geht das Vergnügen los: „Eh, Yank.“ + +Man kümmert sich gar nicht um die Bullköppe, man trinkt seinen Kleinen +und will gehen. + +Mit einem Male rasselt es aus einer Ecke: „Who won the war? Wer hat den +Krieg gewonnen, Yank?“ + +Möchte wissen, was mich das angeht. Ich habe ihn nicht gewonnen, das +weiß ich einmal ganz genau. Und die ihn wirklich gewonnen zu haben +meinen, die haben auch nichts zu lachen und wären froh, wenn niemand +davon überhaupt sprechen möchte. + +„He, Yank, who won the war?“ + +Was soll man nun sagen, wenn man ganz allein ist, und da sind zwei +Dutzend Rotköppe drin? Sagt man: „Wir!“, dann gibt es Senge. Sagt man: +„Die Franzosen!“, dann gibt es Senge. Sagt man: „Ich!“, dann lachen sie, +aber Senge gibt es trotzdem. Sagt man: „The Dominians, Kanada, +Australien, Neuseeland, Südafrika!“ dann gibt es Senge. Sagt man gar +nichts, so heißt das: „Wir Amerikaner!“, und es gibt Senge. Zu sagen: +„Ihr habt ihn gewonnen!“, das wäre eine unverschämte Lüge, und lügen +möchte man nicht. Also gibt es Senge, und da kann man nicht dran vorbei. +So sind die Bullen, und dann heißt es immer noch: die „Vettern von +drüben“. Meine nicht. Da wundern sie sich noch, wenn man sie nicht +riechen kann. + +Aber was wollte ich denn machen? + +„Auf welchem Eimer seid ihr denn?“ frage ich. + +„Na, Yankchen, was machst du denn hier? Wir haben doch gar keinen Yank +hier gesehen.“ Sie fühlen sich, weil sie schon Zimt riechen. + +„Ich bin achtern abgekantet und kann jetzt nicht Anker hieven.“ + +„Keine Versicherungspolice, hä?“ + +„Erraten.“ + +„Willst du jetzt wegstauen?“ + +„Muß. Kiel sitzt auf. Brennt.“ + +„Wir sind auf einem Schotten.“ + +„Wo geht ihr denn ’raus jetzt?“ fragte ich. + +„Boulogne. Bis dahin können wir dich stauen. Weiter geht’s aber nicht. +Der Bos’n, der Bootsmann, ist ein Hund.“ + +„Gut, dann mache ich nach Boulogne. Wann ebbt ihr ab?“ + +„Am besten, du kommst ’rauf um acht. Da ist der Bos’n saufen. Wir stehen +an der Schanze. Wenn ich die Mütze in den Nacken schiebe, ist alles +klar; wenn ich nichts mache, wartest du noch eine Weile. Lauf nicht +soviel gerade vor der Nase herum. Wenn du aber gewischt wirst, läßt du +dir eher das Maul breitschlagen, ehe du sagst, wer dich gelotst hat. +Ehrensache, verstanden?“ + +Um acht war ich da. Die Mütze wurde in den Nacken geschoben. Der Bos’n +war besoffen und wurde vor Boulogne nicht nüchtern, und da stieg ich aus +und war in Frankreich. + +Ich wechselte mein Geld in französische Franken um. Dann ging ich zum +Bahnhof, und da stand der Expreß für Paris. Ich nahm eine Karte für die +erste Station und setzte mich in den Zug. + +Die Franzosen sind zu höflich, als daß sie einen während der Fahrt +belästigen würden. + +Und da war ich mit einem Male in Paris. Aber da wurden die Karten +kontrolliert, und ich hatte keine für Paris. + +Wieder Polizei. Natürlich, wie könnte es auch ohne Polizei gehen? Es +wurde ein grausames Radebrechen. Ich ein paar Brocken Französisch, die +Leute jeder einen Brocken Englisch. Das meiste hatte ich zu erraten. Wo +ich herkäme? Von Boulogne. Wie ich nach Boulogne gekommen sei? Mit einem +Schiff. Wo meine Seemannskarte sei? Habe keine. + +„Was, Sie haben keine Seemannskarte?“ + +Diese Frage würde ich jetzt sogar verstehen, wenn man sie zu mir +Hindostanisch sagte. Denn die Geste und der Tonfall sind so genau die +gleichen, daß man sich nie irren könnte. + +„Paß habe ich auch nicht. Ich habe auch keine Identitätskarte. Ich habe +überhaupt keine Papiere. Nie Papiere gehabt.“ + +Das sage ich gleich in einem Atemzuge. Nun können sie wenigstens diese +Fragen nicht stellen und sich damit die Zeit vertreiben. In der Tat +werden Sie ein wenig verblüfft, weil sie nun ganz aus der Reihe gekommen +sind. Für eine Weile weiß keiner, was er fragen oder sagen soll. +Glücklicherweise bleibt ihnen ja die Fahrkarte, die ich nicht hatte. Und +am nächsten Tage ist wieder ein Verhör. Ich lasse sie ruhig verhören und +reden und fragen. Ich verstehe nichts. Am Schluß wird mir aber klar, daß +ich zehn Tage Gefängnis weghabe wegen Eisenbahnbetrugs oder so etwas +Ähnlichen. Was weiß ich. Es ist mir auch gleichgültig. Aber das war +meine Ankunft in Paris. + +Diese Gefängnislaufbahn war recht drollig. + +Erster Tag: Einlieferung, Baden, Untersuchung, Wäscheausteilung, +Zellenverteilung. Der erste Tag war vorbei. + +Zweiter Tag: Quittieren kommen beim Kassenverwalter über die Summe, +die ich bei meiner Verhaftung im Besitz hatte. Abermalige +Personenfeststellung und Eintragung in dicke Bücher. Nachmittag: Empfang +beim Gefängnisgeistlichen. Er sprach gut Englisch. Behauptete er. Das +muß aber das Englisch gewesen sein, als William der Eroberer noch nicht +in England gelandet war, denn ich verstand von diesem guten Englisch +nicht ein einziges Wort, ließ es mir aber nicht anmerken. Wenn er von +Gott sprach, sagte er immer „Goat“, und ich war der Meinung, er rede von +einer Ziege. Damit ging auch der zweite Tag herum. + +Dritter Tag: Vormittags werde ich gefragt, ob ich schon mal +Schürzenbänder angenäht hätte. Ich sagte nein. Nachmittags wurde mir +mitgeteilt, daß ich in die Schürzenabteilung eingereiht würde. Damit +ging der dritte Tag zu Ende. + +Vierter Tag: Vormittags wurde mir Schere, Nadel, eine ganze Nähnadel, +Zwirn und ein Fingerhut gegeben. Der Fingerhut paßte nicht. Aber mir +wurde gesagt, einen andern hätten sie nicht. Nachmittags wurde mir +gezeigt, wie ich die Schere, die Nähnadel und den Fingerhut immer +sichtbar auf den Schemel zu legen und den Schemel in die Mitte der Zelle +zu stellen habe, wenn ich die Zelle für den Rundgang verlasse. Außen +neben der Tür wurde ein Plakat angeschlagen mit der Aufschrift: „Besitzt +eine Schere, eine Nähnadel und einen Fingerhut.“ Damit war der vierte +Tag herum. + +Fünfter Tag: Sonntag. + +Sechster Tag: Vormittags werde ich in die Arbeitshalle geführt. +Nachmittags wird mir ein Platz in der Arbeitshalle angewiesen. Der +sechste Tag ist ’rum. + +Siebenter Tag: Vormittags wird mir der Gefangene gezeigt, der mich +lehren soll, wie Schürzenbänder angenäht werden sollen. Nachmittags sagt +mir der Gefangene, ich solle meine Nähnadel schon mal einfädeln. Der +siebente Tag ist ’rum. + +Achter Tag: Der Lehrmeister zeigt mir, wie er die Schürzenbänder annäht. +Nachmittags ist Baden und Wiegen. Der achte Tag ist rum. + +Neunter Tag: Vormittags muß ich zum Direktor kommen. Mir wird +mitgeteilt, daß morgen meine Zeit um sei, und ich werde gefragt, ob ich +Beschwerden vorzubringen hätte. Dann muß ich meinen Namen ins +Fremdenbuch schreiben. Nachmittags wird mir gezeigt, wie ich ein +Schürzenband anzunähen habe. Der neunte Tag ist ’rum. + +Zehnter Tag: Vormittags nähe ich ein Schürzenband an. Mein Lehrmeister +betrachtet sich das angenähte Band einundeinehalbe Stunde und sagt dann, +es sei nicht gut angenäht, er müsse es wieder abtrennen. Nachmittags +nähe ich wieder ein Schürzenband an. Als ich das eine Ende gerade +angenäht habe, werde ich zur Abfertigung gerufen. Ich werde gewogen, +untersucht, bekomme meine Zivilsachen, die ich anziehen darf, und kann +dann im Hof spazierengehen. Der zehnte Tag ist ’rum. + +Am nächsten Morgen um sechs werde ich gefragt, ob ich noch Frühstück +haben wolle. Ich sage nein, werde zum Kassenverwalter geführt, wo ich +eine Weile warten muß, weil er noch nicht da ist. Dann kriege ich doch +Frühstück, und endlich kommt der Kassenverwalter, der mir mein Geld +zurückgibt, was ich wieder zu quittieren habe. Dann erhalte ich fünfzehn +Centimes für Arbeitsleistung, war entlassen und konnte gehen. Verdient +hat der französische Staat nicht viel an mir, und ob die Eisenbahn sich +nun einbilden darf, bezahlt zu sein, ist auch noch die Frage. Draußen +wurde ich aber gleich wieder von der Polizei in Empfang genommen. + +Ich wurde verwarnt. Innerhalb fünfzehn Tagen hätte ich das Land zu +verlassen, auf demselben Wege, auf dem ich hereingekommen sei. Würde ich +nach Ablauf von fünfzehn Tagen noch innerhalb der Landesgrenzen +gefunden, so würde nach Maßgabe der Gesetze mit mir verfahren werden. +Also mit mir verfahren werden. Was das bedeutete, war mir nicht klar. +Vielleicht hängen oder auf dem Scheiterhaufen schmoren. Warum nicht. In +dieser Zeit der vollendeten Demokratien ist ein Paßloser und damit also +auch ein Nichtwahlberechtigter ein Ketzer. Jede Zeit hat ihre Ketzer, +und jede Zeit hat ihre Inquisition. Heute sind der Paß, das Visum, der +Einwanderungsbann die Dogmen, auf die sich die Unfehlbarkeit des Papstes +stützt, an die man zu glauben hat, oder man muß die verschiedenen Grade +der Folterungen über sich ergehen lassen. Früher waren die Fürsten die +Tyrannen, heute ist der Staat der Tyrann. Das Ende der Tyrannen ist +immer Entthronung und Revolution, ganz gleich, wer der Tyrann ist. Die +Freiheit des Menschen ist zu urwüchsig mit seinem ganzen Dasein und +Wollen verknüpft, als daß der Mensch irgendeine Tyrannei lange ertragen +könnte, selbst wenn die Tyrannei in dem sammetweichen Lügenmantel des +Mitbestimmungsrechtes erscheinen sollte. + +„Sie müssen doch aber irgendein Papier haben, lieber Freund“, sagte der +Offizier, der mich verwarnte. „Ohne Papier können Sie gewiß nicht immer +herumlaufen.“ + +„Ich könnte vielleicht einmal zu meinem Konsul gehen.“ + +„Zu Ihrem Konsul?“ + +Der Ton war mir bekannt. Es scheint, daß mein Konsul in der ganzen Welt +bekannt ist. + +„Was wollen Sie denn bei Ihrem Konsul? Sie haben doch keine Papiere. Der +glaubt Ihnen keine Silbe, wenn Sie keine Papiere haben. Er gibt nur auf +Papiere etwas. Besser, Sie gehen gar nicht hin, sonst werden wir Sie nie +wieder los und haben Sie für das ganze Leben auf dem Halse.“ + +Wie sagten die Römer? Die Konsuln sollen darauf bedacht sein, daß der +Republik nichts Übles widerfahre. Und es könnte der Republik sicher sehr +viel Übles widerfahren, wenn die Konsuln nicht verhindern würden, daß +jemand, der keine Papiere hat, sein Heimatland wiedersieht. + +„Aber irgendein Papier müßten Sie doch haben. Sie können doch nicht gut +den Rest Ihres Lebens ohne Papiere herumlaufen.“ + +„Ja, das glaube ich auch, daß ich ein Papier haben müßte.“ + +„Ich kann Ihnen kein Papier geben. Worauf denn? Alles, was ich Ihnen +geben kann, ist ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis. Mit dem Schein +ist nicht viel los. Dann schon besser gar nichts. Und bei jedem andern +Papier kann ich nur einsetzen, der Vorzeiger behauptet, der und der zu +sein und von da und da herzukommen. Ein solches Papier ist aber wertlos, +denn es ist kein Beweis; es sagt nur das aus, was Sie aussagen. Und Sie +können natürlich erzählen, was Sie wollen, ob es wahr ist oder nicht. +Selbst wenn es wahr ist, es muß bewiesen werden können. Es tut mir sehr +leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Sie amtlich verwarnt, und +Sie müssen das Land verlassen. Gehen Sie doch nach Deutschland. Das ist +auch ein sehr schönes Land.“ + +Warum sie mich alle nach Deutschland schicken, das möchte ich wissen. + + + 10 + +Nun blieb ich erst einmal einige Tage in Paris, um abzuwarten, was +geschehen würde. Geschehnisse können einem manchmal besser voranhelfen +als die schönsten Pläne. Ich hatte ja jetzt ein gutes Recht, mir Paris +anzusehen. Meine Fahrkarte war bezahlt, meine Verpflegung im Gefängnis +hatte ich abverdient, so war ich dem französischen Staat nichts mehr +schuldig, und ich durfte sein Pflaster ablaufen. + +Wenn man nun so gar nichts zu tun hat, kommt man auf allerlei +überflüssige Gedanken. Einen so überflüssigen Gedanken bekam ich eines +guten Tages, und er führte mich zu meinem Konsul. Daß es ganz +hoffnungslos war, wußte ich im voraus. Aber ich dachte, es schadet doch +nie etwas, wenn man Erfahrungen über Menschen sammelt. Alle Konsuln sind +in dieselbe Form gegossen wie fast alle Beamten. Sie gebrauchen wörtlich +denselben Redeschatz, den sie bei ihren Prüfungen vorweisen mußten, sie +werden würdevoll, ernst, befehlshaberisch, devot, gleichgültig, +gelangweilt, interessiert und tieftraurig bei denselben Gelegenheiten, +und sie werden heiter, lustig, freundlich und geschwätzig bei denselben +Gelegenheiten, ob sie im Dienste Amerikas, Frankreichs, Englands oder +Argentiniens stehen. Zu wissen, genau zu wissen, wann sie eine dieser +Gefühlsäußerungen zu zeigen haben, ist die ganze Weisheit, die ein +solcher Beamter benötigt. Ab und zu vergißt aber jeder Beamte einmal +seine Weisheit und wird für eine halbe Minute Mensch. Dann kennt man ihn +gar nicht wieder, dann fängt er an, die innere Haut nach außen zu +kehren. Der interessanteste Moment aber ist, wenn er plötzlich +empfindet, daß die innere Haut bloßliegt und er sie rasch wieder +verkrustet. Um diesen Moment zu erleben, und um eine Erfahrung reicher +zu werden, ging ich zum Konsul. Die Gefahr bestand, daß er mich +verleugnete, mich der französischen Polizei offiziell übergab und mir +dann die Möglichkeit genommen wurde, frei meiner Wege zu gehen, weil ich +dann unter Polizeiaufsicht geriet und ich über jeden meiner Schritte, +den ich tat oder zu tun gedachte, Rechenschaft abzulegen hatte. + +Zuerst konnte ich einmal den ganzen Vormittag warten. Dann wurde +geschlossen. Am Nachmittag kam ich auch nicht an die Reihe. Unsereiner +muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld besitzt, +von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel Zeit hat. Wer +Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld zum Hinlegen hat, +muß mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. Denn wird man gar +aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer Weise, die unbeliebt +ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, daß man viermal mehr an +Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der Zeitstrafe, die einem +auferlegt wird. + +Es saßen da eine ganze Reihe solcher, die ihre Zeit zu opfern hatten. +Einige saßen schon Tage. Andre waren bereits sechsmal hin und her +geschickt worden, weil dies fehlte und jenes nicht die vorschriftsmäßige +Form oder richtiger Uniform trug. + +Da kam eine kleine, unglaublich dicke Dame hereingeschossen. So +unglaublich fett. Es war nicht auszudenken, wie fett sie war. In diesem +Raume, wo die dürren Gestalten wartend auf den Bänken saßen, mit ihren +Hinterköpfen beinahe das an die Wand geheftete Sternenbanner berührend, +dessen Dimension so riesenhaft war, daß es die ganze Wand ausfüllte, in +diesem Raume, wo unschuldige, willige und arbeitsgewohnte Menschen +wartend saßen mit einem Ausdruck auf den Gesichtern, als würden hinter +jenen zahlreichen Türen in diesem Augenblick ihre Todesurteile +unterschrieben, wirkte die fette Dame wie eine niederträchtige +Beleidigung. Sie hatte pechschwarze, ölige, lockige Haare, eine +auffallend krumme Nase und sehr krumme Beine. Ihre braunen Augen standen +so glotzend in dem fetten Teiggesicht, als ob sie im selben Augenblick +aus den Höhlen quellen wollten. Sie war gekleidet in dem Besten, was +Reichtum nur kaufen kann. Sie keuchte und schwitzte, und unter der Last +ihrer Perlenketten, Goldbehänge und Brillantvorstecknadeln schien sie +beinahe zusammenzubrechen. Wenn sie nicht so viele schwere +Platinringe an den Fingern gehabt hätte, wären die Finger sicher +auseinandergeplatzt. + +Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, da schrie sie schon: „Ich habe meinen +Paß verloren. Wo ist der Mister Konsul? Ich muß gleich einen neuen Paß +haben.“ + +Ei, sieh da, auch andre Leute können ihren Paß verlieren. Wer hätte das +gedacht? Ich hatte geglaubt, das kann nur einem Seemann zustoßen. Well, +Fanny, du kannst dich freuen, der Mister Konsul wird dir gleich was +erzählen, von wegen neuen Paß. Vielleicht nähst du das andre Ende des +Schürzenbandes an. So unangenehm mir die Dame war, ihres aufdringlichen +Wesens wegen, ich empfand für sie Sympathie, die Sympathie derer, die in +derselben Galeere angeschmiedet sind. + +Der Empfangssekretär sprang gleich auf: „Aber gewiß, M’me, nur einen +Augenblick. Bitte!“ + +Er nahm einen Stuhl und bat unter Verbeugung die Dame, sie möge Platz +nehmen. Er brachte drei Formulare, sprach leise mit der Dame und schrieb +in den Formularen. Die dürren Gestalten hatten die Formulare alle selbst +ausfüllen müssen, manche vier- oder fünfmal, weil sie nicht gut +ausgefüllt waren. Aber die Dame konnte offenbar nicht schreiben, und so +war es nur ein Zeichen von Hilfsbereitschaft, daß der Sekretär ihr diese +kleine Mühe abnahm. + +Als die Formulare ausgefüllt waren, sprang er auf und trug sie durch +eine der Türen, hinter denen die Todesurteile unterzeichnet werden. + +Er kam sehr rasch zurück und sagte halblaut und sehr höflich zu der +Fetten: „Mr. Grgrgrgs wünscht Sie zu sehen, M’me. Haben Sie drei +Photographien zur Hand?“ + +Die fette Schwarzhaarige hatte die Photographien zur Hand und gab sie +dem hilfsbereiten Sekretär. Dann verschwand sie hinter der Tür, wo die +Schicksale der Welt entschieden werden. + +Nur ganz altmodische Leute glauben heute noch daran, daß die Schicksale +der Menschen im Himmel entschieden werden. Das ist ein beklagenswerter +Irrtum. Die Schicksale der Menschen, die Schicksale von Millionen von +Menschen werden von den amerikanischen Konsuln entschieden, die Sorge +dafür zu tragen haben, daß der Republik kein Schaden widerfahre. Yes, +Sir. + +Die Dame war nicht lange in jenem Zimmer der Geheimnisse. Als sie +herauskam, schloß sie ihr Handtäschchen. Sie schloß es mit einem starken +energischen Knipsen. Und das Knipsen schrie gellend: „Gott, wir haben’s +ja dazu, leben und leben lassen.“ + +Der Sekretär stand sofort auf, kam halb hinter seinem Tisch hervor und +rückte an jenem Stuhl, auf dem die Dame gesessen hatte. Die Dame setzte +sich nur mit einer Kante auf den Stuhl, öffnete ihre Handtasche, kramte +eine Weile herum, nahm ein Puderdöschen hervor und ließ die geöffnete +Tasche auf dem Tisch liegen, während sie sich puderte. Warum sie sich +schon wieder pudern mußte, obgleich sie sich eine Minute vorher gepudert +haben mußte, war nicht ganz klar. + +Der Sekretär tastete nun mit seinen Händen auf dem ganzen Tisch herum, +um irgendein Blatt Papier zu suchen, das er weit verlegt haben mußte. +Endlich hatte er das Blatt gefunden, und da die Dame inzwischen auch +wieder aufgepudert war, nahm sie die Tasche an sich, steckte das +Puderdöschen hinein und knipste die Tasche abermals so zu, daß die +Tasche denselben gellenden Schrei ausstieß wie kurz vorher. + +Die Dürren auf den Bänken hatten den gellenden Schrei nicht gehört. Sie +alle schienen Auswanderungslustige zu sein, die die Weltsprache des +Knipsens noch nicht verstanden, weil sie nichts zum Knipsen hatten. +Deshalb mußten sie ja auch auf den Bänken sitzen. Deshalb wurde ihnen ja +auch kein Stuhl angeboten unter Verbeugungen. Deshalb mußten sie ja auch +warten, bis sie an die Reihe kamen, genau nach der Nummerfolge. + +„Können Sie in einer halben Stunde noch mal hier vorsprechen, M’me oder +sollen wir den Paß zu Ihrem Hotel schicken?“ + +Höflich ist man auf einem amerikanischen Konsulat. + +„Ich komme vorgefahren in einer Stunde. Unterschrieben habe ich den Paß +ja schon drin.“ + +Die Dame stand auf. Als sie nach einer Stunde wiederkam, saß ich immer +noch da. Aber die fette Dame hatte ihren Paß. + +Hier endlich bekam ich meinen Paß. Das wußte ich. Der Sekretär brauchte +ihn mir nicht in mein Hotel schicken, ich würde ihn gleich selber +mitnehmen. Und hatte ich erst wieder einen Paß, so bekam ich auch wieder +ein Schiff, wenn kein heimatliches Schiff, dann sicher ein englisches +oder holländisches oder dänisches. Wenigstens bekam ich wieder Arbeit +und hatte die Aussicht, doch mal ein heimatliches Schiff in irgendeinem +Hafen anzutreffen, wo ein Deckarbeiter gebraucht wurde. Ich konnte ja +nicht nur anstreichen, ich verstand auch Messing zu putzen; denn wenn +man nichts anstreichen kann, dann wird immer Messing geputzt. + +Ich war wirklich zu voreilig in meinem Urteil. Die amerikanischen +Konsuln sind besser als ihr Ruf, und was mir die belgische, die +holländische und die französische Polizei über die Konsuln gesagt hatte, +war nichts als nationale Eifersucht. + +Endlich kam dann doch der Tag und die Minute, wo meine Nummer fällig war +und ich gerufen wurde. Meine dürren Bankgenossen hatten alle durch eine +andre Tür zu gehen, um den Todesstreich zu empfangen. Ich machte eine +Ausnahme. Ich wurde zu Mr. Grgrgrgs oder wie der Mann heißen mochte, +gerufen. Das war der Mann, den ich in meinem Herzen zu sehen gewünscht +hatte; denn er war der, der die Nöte eines Menschen, dessen Paß +verlorenging, zu würdigen weiß. Wenn mir niemand auf der ganzen weiten +Welt helfen würde, er wird es tun. Er hat der Goldbehangenen geholfen, +um wieviel mehr und rascher wird er mir helfen. Es war ein guter +Gedanke, der mich verleitet hatte, mein Glück doch noch einmal zu +versuchen. + + + 11 + +Der Konsul ist ein kleiner, hagerer Mann, ausgetrocknet im Dienst. + +„Setzen Sie sich“, sagt er und deutet auf einen Stuhl vor seinem +Schreibtisch. „Womit kann ich dienen?“ + +„Ich möchte einen Paß haben.“ + +„Haben Sie Ihren Paß verloren?“ + +„Nicht meinen Paß, aber meine Seemannskarte.“ + +„Ah so, Sie sind ein Seemann?“ + +Mit diesem Satz hat er seinen Ton geändert. Und dieser neue Ton, der mit +einem so merkwürdigen Mißtrauen gemischt ist, hält nun eine Weile an und +bestimmt den Charakter unsrer Unterhaltung. + +„Ich habe mein Schiff verloren.“ + +„Wohl betrunken gewesen?“ + +„Nein. Ich trinke nie einen Tropfen von diesem Gift. Ich bin +knochentrocken.“ + +„Sie sagten doch, Sie seien Seemann?“ + +„Das bin ich auch. Mein Schiff ist drei Stunden früher abgefahren als +angesagt war. Sie sollte mit der Flut rausgehen, aber weil sie keine +Ladung hatte, so brauchte sie auf die Flut keine Rücksicht nehmen.“ + +„Nun sind Ihre Papiere also an Bord geblieben?“ + +„Ja.“ + +„Das konnte ich mir denken. Welche Nummer hatte Ihre Karte?“ + +„Das weiß ich nicht.“ + +„Wo war sie denn ausgestellt?“ + +„Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe Küstenschiffe gefahren, +Bostoner, N’Yorker, Balter, Philier, Golfer und sogar Wester. Ich kann +mich nicht mehr erinnern, wo die Karte ausgestellt war.“ + +„Das konnte ich mir denken.“ + +„Man guckt sich doch seine Karte nicht jeden Tag an. Ich habe sie nie +angeguckt, solange ich sie hatte.“ + +„Ja.“ + +„Sie hat immer in meiner Tasche gesteckt.“ + +„Naturalisiert?“ + +„Nein. Im Lande geboren.“ + +„Registriert worden, die Geburt?“ + +„Weiß ich nicht, da war ich noch zu klein, als ich geboren wurde.“ + +„Also nicht registriert.“ + +„Das weiß ich nicht, habe ich gesagt.“ + +„Aber ich weiß es.“ + +„Dann brauchen Sie mich doch nicht fragen, wenn Sie alles wissen.“ + +„Will ich vielleicht einen Paß haben?“ fragt er darauf. + +„Das weiß ich nicht, Sir, ob Sie einen Paß haben wollen.“ + +„Sie wollen doch einen haben, nicht ich. Und wenn ich Ihnen einen geben +soll, so werden Sie mir doch wohl erlauben müssen, daß ich Fragen an Sie +stelle. Nicht wahr?“ + +Der Mann hat recht. Die Leute haben immer recht. Das ist auch ganz +leicht für sie. Zuerst machen sie die Gesetze, und dann werden sie +hingestellt, um den Gesetzen das Leben einzuflößen. + +„Haben Sie eine feste Adresse drüben?“ + +„Nein. Ich wohne auf meinen Schiffen oder, wenn ich keine habe, wohne +ich in den Seemannsheimen und Herbergen.“ + +„Also keine feste Wohnung. Mitglied eines eingetragenen Klubs?“ + +„Wer, ich? Nein.“ + +„Eltern?“ + +„Nein. Gestorben.“ + +„Verwandte?“ + +„Dank dem Himmel, nein. Wenn ich welche hätte, würde ich sie +abschwören.“ + +„Haben Sie gewählt?“ + +„Nein. Nie.“ + +„Stehen Sie also auch nicht in den Wähler-Registern.“ + +„Sicher nicht. Ich würde auch nicht wählen, wenn ich an Land wäre.“ + +Er sieht mich nun eine ganze Weile an, ziemlich dumm und sehr +ausdruckslos. Die ganze Zeit hat er gelächelt und, wie sein Kollege in +Rotterdam, mit einem Bleistift gespielt. Was würden die Leute nur +machen, wenn es keine Bleistifte mehr gäbe? Aber dann gibt es sicher ein +Lineal, oder einen Löscher, oder die Telephonstrippe, oder die Brille, +oder ein paar Blätter Papier oder Formulare, die man auf- und zufaltet. +Eine Amtsstube hat ja so gut vorgesorgt, daß der Insasse sich nie +langweilt. Gedanken, mit denen er sich beschäftigen kann, hat er nicht; +und wenn er welche bekommt, hört er für gewöhnlich auf, Beamter zu sein +und wird ein umgänglicher Mensch. Könnten die Finger eines Tages nicht +mehr mit den Utensilien spielen, die auf der Inventarliste stehen, +würden sie vielleicht an den Fundamenten spielen und bohren und das +möchte den Fundamenten nicht bekommen. + +„Also ich kann Ihnen keinen Paß geben.“ + +„Warum nicht?“ + +„Auf was denn? Auf Ihre bloßen Aussagen hin? Das kann ich nicht. Das +darf ich nicht einmal. Ich muß doch Unterlagen vorweisen können. Ich muß +doch Rechenschaft ablegen, auf Grund welcher Beweise ich den Paß +ausgestellt habe. Wie können Sie denn beweisen, daß Sie Amerikaner sind, +daß ich überhaupt verpflichtet bin, mich mit Ihnen hier zu befassen?“ + +„Aber das können Sie doch hören?“ + +„Woran? An der Sprache?“ + +„Natürlich.“ + +„Das ist kein Beweis. Nehmen Sie hier den Fall Frankreich. Hier leben +Tausende, die Französisch sprechen und keine Franzosen sind. Hier gibt +es Russen, Rumänen, Deutsche, die ein besseres und reineres Französisch +sprechen als der Franzose selbst. Hier sind Tausende, die hier geboren +sind und keine Staatsbürger sind. Anderseits sind drüben +Hunderttausende, die kaum Englisch sprechen können und über deren +amerikanische Staatsbürgerschaft auch nicht der geringste Zweifel +besteht.“ + +„Aber ich bin doch im Lande geboren.“ + +„Dann freilich können Sie Bürger sein. Aber auch dann müßten Sie erst +noch beweisen, ob nicht Ihr Vater für Sie eine andre Staatsbürgerschaft +vorbehalten hat, die Sie nicht abgeändert haben, als Sie volljährig +wurden.“ + +„Meine Urgroßeltern waren schon Amerikaner und deren Eltern auch schon.“ + +„Beweisen Sie mir das, und ich bin verpflichtet, Ihnen einen Paß +auszustellen, ob ich will oder nicht. Bringen Sie die Urgroßeltern oder +nur die Eltern her. Ich will aber viel näher kommen, beweisen Sie mir, +daß Sie drüben geboren sind.“ + +„Wie soll ich denn das beweisen, wenn die Geburt nicht registriert +worden ist.“ + +„Das ist sicher nicht meine Schuld.“ + +„Vielleicht bestreiten Sie mir gar, daß ich überhaupt geboren bin?“ + +„Richtig. Das bestreite ich. Die Tatsache, daß Sie hier vor mir stehen, +ist kein Beweis für mich, daß Sie geboren sind. Ich habe es zu glauben. +Wie ich zu glauben habe, daß Sie Amerikaner sind, daß Sie Bürger sind.“ + +„Also Sie glauben nicht einmal, daß ich geboren bin? Das ist aber doch +die Grenze alles Möglichen.“ + +Der Konsul lächelte sein schönstes Amtslächeln: „Daß Sie geboren sind, +muß ich ja wohl glauben; denn ich sehe Sie hier mit meinen Augen. Wenn +ich Ihnen nun einen Paß ausstelle und ihn der Regierung daheim damit +rechtfertige, daß ich in meinen Bericht schreibe: Ich habe den Mann +gesehen und glaube, daß er Bürger ist! so kann es leicht geschehen, daß +ich gesackt werde. Denn was ich glaube, will die Regierung daheim nicht +wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und was ich bestimmt +weiß, muß ich immer beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft und Ihre +Geburt kann ich nicht beweisen.“ + +Man möchte manchmal bedauern, daß wir noch nicht aus Papiermaché gemacht +sind; denn dann könnte man an dem Stempel sehen, ob man in der Fabrik U. +S. A. oder in der Fabrik Frankreich oder in der Fabrik Spanien +angefertigt worden ist, und den Konsuln wäre die Mühe erspart, ihre +wertvolle Zeit mit so törichten Dingen zu vertrödeln. + +Der Konsul hat den Bleistift hingeworfen, ist aufgestanden, geht zur Tür +und ruft einen Namen hinaus. Ein Sekretär kommt herein, und der Konsul +sagt zu ihm: „Sehen Sie mal nach. Wie ist der Name?“ Er wendet sich mir +zu. „Ach ja, es fällt mir schon wieder ein, Gale, richtig. Ja, sehen Sie +also nach, sofort.“ + +Der Mann läßt die Tür halb offen, und ich sehe, daß er an einem +Schranke, wo Tausende von gelben Karten aufgestapelt sind, das G +heraussucht und nach meinem Namen forscht. Die Karten der Deportierten, +der Unerwünschten, der Pazifisten und der bekannten Anarchisten. + +Der Sekretär kommt wieder zurück. Der Konsul, der während der Zeit am +Fenster gestanden hat und hinuntergesehen hat, dreht sich um: + +„Na?“ + +„Ist nicht drin.“ + +Das wußte ich vorher. Jetzt kriege ich meinen Paß. So schnell nicht. Der +Sekretär ist wieder gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht. Der +Konsul sagt nichts, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch, sieht mich +eine Weile an und weiß nicht mehr, was er fragen soll. Seine +Prüfungsaufgaben scheinen nur bis hierher gereicht zu haben. Nun steht +er auf und verläßt das Zimmer. Jedenfalls holt er sich Rat aus einem der +andern heiligen Räume. + +Ich habe nichts weiter zu tun und sehe mir die Bilder an der Wand an. +Alles bekannte Gesichter, mein eigner Vater ist mir nicht so vertraut in +seinem Gesicht als diese Gesichter. Washington, Franklin, Grant, +Lincoln. Männer, denen Bureaukratismus so verhaßt war wie einem Hunde +die Katzen. „Das Land soll für immer sein das Land der Freiheit, wo der +Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet, sofern er guten Willens +ist.“ „Dieses Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ + +Aber freilich, das kann ja nicht so fort gehen bis in alle Ewigkeit. +„Das Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ Das puritanische +Gewissen ließ nicht zu, daß kurz und bündig gesagt wurde: „Das Land +gehört uns, den Amerikanern.“ Denn da waren die Indianer, denen das Land +von Gott gegeben war, und Gottes Gesetz hat der Puritaner zu beachten. +„Wo der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet.“ Ganz gut, wenn +alle, die da wohnen, Verfolgte und Gehetzte sind aus allen möglichen +Ländern. Und die Nachfahren jener Verfolgten und Gehetzten sperren das +Land ab, das allen Menschen gegeben wurde. Und um die Absperrung ganz +vollkommen zu machen, damit auch nicht eine Maus durchschlüpfen kann, +sperren sie die eignen Söhne ab. Denn es könnte ja unter der Verkleidung +des eignen Sohnes sich der Sohn eines Nachbars einschleichen. + +Der Konsul kommt zurück und setzt sich wieder. Er hat eine neue Frage +gefunden. + +„Sie können ja vielleicht ein entwichener Sträfling sein oder jemand, +der eines schweren Verbrechens wegen gesucht wird. Und ich würde Ihnen +einen Paß ausstellen auf den von Ihnen genannten Namen und würde Sie +durch den Paß vor der gerechten Verfolgung schützen.“ + +„Ja, das würden Sie. Ich sehe nun ein, daß mein Kommen ganz und gar +zwecklos war.“ + +„Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht helfen zu können. Meine +Machtbefugnisse sind nicht weitreichend genug, um Ihnen den Paß oder +irgendein Papier, das Ihnen zur Legitimation dienen könnte, +auszustellen. Sie hätten mit Ihrer Seemannskarte vorsichtiger sein +müssen. Solche Dinge verliert man nicht in dieser Zeit, wo der Paß +notwendiger ist als sonst irgend etwas.“ + +„Nun möchte ich aber doch gern eins wissen.“ + +„Ja?“ + +„Da war hier eine sehr dicke Dame mit vielen Brillantringen, die sie +kaum noch schleppen konnte, die hatte ihren Paß doch auch verloren und +Sie haben ihr sofort einen gegeben. Das hat nur eine halbe Stunde +gedauert.“ + +„Aber das war doch die Frau Sally Marcus aus New York, werden Sie doch +schon gehört haben den Namen. Das große Bankgeschäft,“ sagte er mit +einer Geste und einer Betonung, als ob er gesagt hätte: Das war doch der +Prince of Wales und nicht ein Seemann, dem das Schiff fortgefahren ist. + +Er mußte wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennen, daß ich das nicht so +schnell fassen konnte, denn er fügte hinzu: „Sie werden den Namen doch +schon gehört haben? Das große Bankgeschäft in New York?“ + +Ich zweifelte noch immer und sagte: „Ich glaube aber kaum, daß die Dame +Amerikanerin ist, ich würde viel eher glauben, daß sie in Bukarest +geboren ist.“ + +„Woher wissen Sie das? Die Frau Marcus ist allerdings in Bukarest +geboren worden. Aber sie ist amerikanischer Bürger.“ + +„Hatte sie denn ihren Bürgerbrief bei sich?“ + +„Natürlich nicht. Warum?“ + +„Woher haben Sie denn dann gewußt, daß sie Bürger ist? Richtig sprechen +hat sie noch nicht gelernt.“ + +„Da brauche ich keinen Beweis. Der Bankier Marcus ist doch bekannt. Sie +ist doch Luxuskabine auf der Majestic herübergekommen.“ + +„Jetzt endlich verstehe ich. Ich bin nur in einer Forecastle-Bunk, auf +einem Frachteimer herübergekommen als Deckarbeiter. Und das beweist gar +nichts. Großes Bankgeschäft und Luxuskabine beweist alles.“ + +„Der Fall liegt eben ganz anders, Mr. Gale. Ich habe Ihnen gesagt, ich +kann nichts für Sie tun. Ich darf nicht einmal etwas für Sie tun. +Papiere darf ich Ihnen nicht geben. Ich persönlich glaube Ihnen, was Sie +mir gesagt haben. Aber wenn die Polizei Sie hierher bringen sollte, +damit wir Sie anerkennen und aufnehmen sollen, leugne ich Sie glatt ab +und bestreite Ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nichts andres tun.“ + +„Dann kann ich hier einfach untergehen in fremdem Lande.“ + +„Ich habe nicht die Machtvollkommenheit, Ihnen beizustehen, selbst wenn +ich persönlich gern möchte. Ich werde Ihnen eine Karte für ein Hotel +geben für drei Tage mit voller Verpflegung. Sie dürfen sich nach Ablauf +eine zweite und auch eine dritte holen.“ + +„Nein, ich danke sehr. Bemühen Sie sich nicht.“ + +„Vielleicht ist Ihnen besser gedient mit einer Fahrkarte nach der +nächsten größeren Hafenstadt, wo Sie vielleicht ein Schiff bekommen +können, das unter andrer Flagge fährt.“ + +„Nein, danke. Ich hoffe, meinen Weg allein zu finden.“ + +„Ja dann –. Good-bye und viel Glück!“ + +Aber da sind wieder die großen Gegensätze zwischen den amerikanischen +Beamten und den Beamten andrer Länder. Als ich auf der Straße war und +nach einer Uhr blickte, sah ich, daß es fünf Uhr vorbei war. Die +Geschäftsstunden des Konsuls waren um vier Uhr zu Ende; jedoch er hatte +nicht ein einziges Mal irgendein Zeichen von Ungeduld geäußert oder +fühlen lassen, daß seine Zeit längst vorüber war. + +Nun erst hatte ich mein Schiff wirklich verloren. + +Ade, mein sonniges New Orleans. Good-bye and good luck to ye! + +Mädel, mein liebes Mädel in New Orleans, jetzt kannst du warten auf +deinen Jungen; auf dem Jackson Square kannst du sitzen und heulen. Dein +Junge kommt nicht mehr heim. Das Meer hat ihn verschluckt. Gegen Sturm +und Wellen konnte ich kämpfen, mit Farbe und mit harten Fäusten; gegen +Paragraphen, Bleistifte und Papier nicht. Nimm dir beizeiten einen +andern, Liebchen. Verplempere deine rosige Jugend nicht mit Warten auf +den Vaterlandslosen und Nichtgeborenen. Leb’ wohl! Süß waren deine Küsse +und glühend, weil wir keine Heiratslizenz geholt hatten. + +Schiet das Mädel. Hoiho! Wind kommt auf. Boys, get all the canvas set. +Alles, was Leinwandfetzen heißt, raus damit und hoch. + + + 12 + +Express Paris-Limoges. Ich sitze drin und habe keine Karte. Diesmal +wurde kontrolliert. Aber ich verschwand spurlos. Limoges-Toulouse. Ich +sitze drin und habe auch keine Karte. + +Was die nur immerfort zu kontrollieren haben. Es muß doch in der Tat zu +viele Eisenbahnschwindler geben, daß so oft kontrolliert wird. Aber die +haben ganz recht, wenn jeder ohne Karte fahren wollte, wer sollte denn +dann die Dividenden bezahlen. Das geht doch nicht. Ich verschwinde +spurlos. Als die Kontrolle vorbei ist, setze ich mich wieder auf meinen +Platz. Plötzlich kommt der Kontrolleur zurück, geht entlang und sieht +mich an. Ich sehe ihn auch an. Ganz dreist. Er geht weiter. Man muß nur +wissen, wie man Kontrolleure anzusehen hat, dann hat man auch schon +gewonnen. Er dreht sich um und kommt auf mich zu. + +„Bitte, wo wollten Sie umsteigen?“ + +Ein ganz gerissener Bursche, dieser Kontrolleur. + +Ich verstehe nur das Umsteigen in diesem Augenblick, weil ich die +übrigen Worte erst in Gedanken übersetzen muß. Aber dazu komme ich gar +nicht, denn er sagt gleich darauf: „Bitte, lassen Sie doch mal Ihre +Karte sehen, wenn ich sehr bitten darf.“ + +Na, Freund, wenn du noch so höflich bist und noch so höflich bittest, es +tut mir sehr leid, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. + +„Ich habe es gewußt“, sagt er ganz ruhig und unauffällig. Ich bin +überzeugt, die übrigen Fahrgäste haben gar nicht beachtet, was für eine +Tragödie sich hier abspielt. + +Der Mann nimmt sein Notizbuch, schreibt etwas und geht dann weiter. +Vielleicht hat er ein gutes Herz und vergißt mich. Aber in Toulouse auf +dem Bahnhof werde ich schon erwartet. Ohne Blechmusik, aber mit einem +Auto. + +Es ist ein sehr gutes Automobil, feuer- und einbruchsicher, und ich kann +während der Fahrt nicht hinausfallen und sehe von meinem Fenster nur +einen Teil der obersten Stockwerke der Häuser, an denen wir +vorübersausen. Es ist ein Spezialauto für Gäste, die man hier +bewillkommnen möchte, denn aller Verkehr hat meinem Auto Platz zu +machen, so daß es unbehindert durchfahren kann. Auf jeden Fall sind die +Autos in Toulouse eine Marke, die ich noch nicht kenne. Weder Ford noch +Dodge Brothers werden hier auf Absatz rechnen können, oder sie müßten +sich den hiesigen Ansprüchen besser anpassen. + +Aber ich weiß schon, wo ich landen werde. Wenn mir irgendetwas +merkwürdig vorkommt an den Sitten und Gebräuchen in europäischen +Ländern, dann bin ich immer auf dem Wege zu einer Polizeistation oder +unter den Fittichen von Cops. Ich habe daheim nie in meinem Leben je +etwas mit der Polizei oder mit dem Gericht zu tun gehabt. Hier kann ich +ruhig auf einer Kiste sitzen oder unschuldig im Bett liegen oder über +eine Wiese spazierengehen oder in einem Eisenbahnzuge fahren, immer +lande ich auf einer Polizeistation. Kein Wunder, daß Europa vor die +Hunde geht. Die Leute haben ja gar keine Zeit zu arbeiten, sieben Achtel +ihres Lebens haben sie auf Polizeistationen oder mit Polizisten zu +vergeuden. Darum sind die Leute auch immer so gereizt und machen so gern +Krieg, weil sie sich ewig mit der Polizei herumzanken müssen und die +Polizei sich mit ihnen herumzankt. Wir sollten den europäischen Ländern +keinen Nickel mehr pumpen, sie geben es ja doch bloß aus, um ihre +Polizei noch weiter zu vermehren. Keinen Nickel mehr, no, Sir. + +„Von wo kommen Sie?“ + +Der Hohepriester sitzt wieder vor mir. Sie sind alle gleich. In Belgien, +in Holland, in Paris, in Toulouse. Immer müssen sie fragen, und immer +wollen sie alles wissen. Und selber begeht man immer wieder den großen +Fehler, daß man überhaupt antwortet. Man sollte ganz still sein, gar +nichts sagen und die raten lassen. Dann kämen sie alle bald ins +Irrenhaus, oder sie würden die Folter wieder einführen. Aber würde man +nie antworten, dann würden die Cops ja noch dümmer werden, als sie schon +sind. + +Das soll man aber auch erst aushalten, da zu sitzen oder zu stehen und +immerfort gefragt werden und nichts antworten. Das verfluchte Maul redet +ganz von selbst, sobald einem eine Frage entgegengeschleudert wird. Das +macht die lange Gewohnheit. Es ist unerträglich, einen Fragesatz +schwebend in der Luft hängen zu lassen, ohne ihn durch eine Antwort +wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine unbeantwortete Frage läßt +einem keine Ruhe, läuft immer hinter einem her, drängt sich in die +Träume und raubt einem die Ruhe zum Arbeiten und zum Denken. Das eine +Wort „Warum?“ mit einem Fragezeichen dahinter ist der Zentralpunkt aller +Kultur, Zivilisation und Entwicklung. Ohne dieses eine Wort sind die +Menschen nichts weiter als Affen, und wenn man den Affen dieses +Zauberwort gibt, werden sie sofort Menschen. Yes, Sir. + +„Von wo Sie kommen, will ich wissen!“ + +Da habe ich nun mal den Versuch gemacht, nicht zu antworten, aber jetzt +halte ich es schon nicht mehr aus. Ich muß ihm etwas erzählen. Soll ich +nun sagen, daß ich von Paris käme? Oder soll ich lieber sagen, ich käme +von Limoges. Wenn ich Limoges sage, machen sie es vielleicht acht Tage +billiger, weil Limoges ja nicht so weit ist wie Paris. + +„Ich bin in Limoges eingestiegen.“ + +„Das ist nicht richtig, Mann, Sie sind in Paris eingestiegen.“ + +Sieh mal an, wie gut die raten können. + +„Nein, ich bin nicht in Paris eingestiegen, sondern nur in Limoges.“ + +„Aber Sie haben doch hier eine Bahnsteigkarte von Paris in der Tasche.“ + +Da haben sie also schon wieder meine Taschen durchsucht. Ich habe das +gar nicht gemerkt, weil ich schon so daran gewöhnt bin, daß es mir gar +nicht mehr auffällt. + +„Oh, die Bahnsteigkarte habe ich schon lange.“ + +„Wie lange?“ + +„Sechs Wochen wenigstens.“ + +„Das ist aber merkwürdig. Die Karte hat das Datum von gestern +vormittag.“ + +„Dann ist sie irrtümlicherweise vordatiert worden“, sage ich. + +„Offenbar. Also Sie sind in Paris eingestiegen.“ + +„Aber von Paris bis Limoges habe ich bezahlt.“ + +„Jedenfalls. Und Sie sind ein so guter Bezahler, daß Sie außer Ihrer +Fahrkarte auch noch die Bahnsteigkarte gekauft haben, die Sie gar nicht +brauchten, wenn Sie eine Fahrkarte hatten. Wenn Sie aber eine Karte bis +Limoges hatten, wo ist dann diese Karte.“ + +„Die habe ich in Limoges abgegeben,“ antworte ich. + +„Dann hätten Sie aber doch eine Bahnsteigkarte von Limoges haben müssen. +Aber lassen wir das. Wollen wir erst einmal die Personalien festhalten.“ + +Gut, wenn sie nur die Personalien festhalten, das ist mir lieber, als +wenn sie mich mit festhalten. + +„Nationalität?“ + +Eine heikle Frage jetzt. Ich habe so ein Ding nicht mehr, seitdem ich +nicht beweisen kann, daß ich geboren bin. Ich könnte es eigentlich mit +Franzose versuchen. Der Konsul hat mir ja erzählt, daß es Tausende von +Franzosen gäbe, die nicht französisch sprechen können und doch Franzosen +sind, soweit ihre Staatsangehörigkeit in Frage kommt. Glauben wird er es +mir ja sicher nicht. Er wird ja auch Beweise sehen wollen. Wissen möchte +ich nur, für wen es billiger ist, ohne Fahrkarte auf der Eisenbahn zu +fahren, für Franzosen oder für Ausländer? Aber der Ausländer kann ja +denken, in Frankreich brauche man keine Fahrkarten und er habe in gutem +Glauben gehandelt. Geld haben sie in meinen Taschen aber nicht gefunden, +und das ist dann schon verdächtig. + +„Ich bin ein Deutscher“, platze ich nun raus; denn mir kam ganz +plötzlich die Idee, daß ich doch mal sehen möchte, was sie mit einem +Boche machen, wenn sie ihn ohne Paß und ohne Fahrkarte in ihrem Lande +finden. + +„Also ein Deutscher. Sieh an. Wohl auch noch von Potsdam?“ + +„Nein, nur von Wien.“ + +„Das ist Österreich. Aber das ist ja alles dasselbe. Also Deutscher. +Warum haben Sie denn keinen Paß?“ + +„Den habe ich verloren.“ + +Nun ging die ganze Reihe wieder herunter. In jedem Lande haben sie genau +dieselben Fragen. Hat einer vom andern abgeschrieben. Erfunden wurden +sie wahrscheinlich in Preußen oder in Rußland, denn alles, was sich um +Einmischung in die Privatverhältnisse eines Menschen handelt, kommt aus +einem der beiden Länder. Da sind die Leute am geduldigsten und lassen +sich alles gefallen, und vor einem blanken Knopf nehmen sie die Mütze +ab. Denn in jenen Ländern ist der blanke Knopf der böse Gott, den man +verehren und anbeten muß, damit er sich nicht rächt. + +Zwei Tage später bekam ich vierzehn Tage Gefängnis wegen +Eisenbahnbetrugs. Hätte ich gesagt Amerikaner, so würden sie vielleicht +herausgekriegt haben, daß ich bereits vorbestraft war wegen +Eisenbahnbetrugs, und dann wäre es teurer geworden. Aber meinen Namen +erzählte ich ihnen ja auch nicht. Es hat seine Vorteile, wenn man keinen +Paß und keine Seemannskarte hat, die jemand in den Taschen finden +könnte. + +Als die Tage der Vorbereitungen abgelaufen waren, wurde ich der +Arbeitskolonne zugewiesen. Da waren kleine merkwürdige Dinger, die aus +Weißblech gestanzt waren. Wozu die gebraucht wurden, wußte kein Mensch, +nicht einmal die Aufsichtsbeamten wußten es. Manche behaupteten, es sei +ein Teil eines Kinderspielzeugs, andre sagten, es sei ein Teil eines +Panzerschiffes, wieder andre waren überzeugt, daß es zu einem Auto +gehöre, und einige schworen und verwetteten hereingeschmuggelten Tabak, +daß dieser Blechschnipsel ein wichtiges Stück von einem lenkbaren +Luftschiff sei. Ich war der festen Meinung, daß es zu einer +Taucherausrüstung gehören müsse. Wie ich zu dieser Auffassung kam, weiß +ich nicht. Aber die Idee hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte +auch irgendwo einmal gelesen, daß an Taucherausrüstungen eine ganze +Anzahl von Dingen gebraucht würde, die man sonst nirgends gebrauchen +könne. + +Von diesen merkwürdigen Blechschnipseln hatte ich immer +hundertvierundvierzig abzuzählen und auf einen Haufen zu legen. Wenn ich +einen Haufen fertig abgezählt und neben mir liegen hatte und einen +andern Haufen anfangen wollte, kam der Aufsichtsbeamte und fragte mich, +ob ich auch ganz genau wüßte, daß dies hundertvierundvierzig +Schnipselchen seien, und ob ich mich auch ja nicht etwa verzählt hätte. + +„Ich habe ganz genau gezählt, es sind genau hundertvierundvierzig.“ + +„Ist das auch ganz bestimmt, kann ich mich ganz bestimmt darauf +verlassen?“ + +Er sah mich so sorgenvoll an, als er diese Frage an mich stellte, daß +ich aufrichtig zu zweifeln begann, ob das auch wirklich und wahrhaftig +hundertvierundvierzig Schnipselchen seien, und ich sagte, es sei +vielleicht doch besser, ich zähle sie nochmal nach. Darauf sagte der +Beamte, das sollte ich nur tun, es sei auf jeden Fall besser, damit auch +ja kein Irrtum vorkomme; denn wenn sie nicht ganz genau gezählt seien, +so gäbe das eine Mordsschweinerei, und er könnte vielleicht gar seinen +Posten hier verlieren, was ihm sehr unangenehm wäre, weil er drei Kinder +und eine alte Mutter zu versorgen hätte. + +Als ich nun das Häufchen das zweite Mal durchgezählt hatte und gefunden +hatte, daß die Summe stimmte, kam gerade wieder der Beamte heran. Ich +sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und um ihm den +Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an seinen Sorgen +teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun: „Ich glaube, +ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht doch um einen +oder gar zwei verzählt haben.“ + +Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als +ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft von +fünfzigtausend Franken ausgezahlt. + +„Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber nochmal genau +nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und +der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß nicht, +was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren, und da +sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz wohlauf, und +da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz genau +hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen Sie die +Schnipselchen überhaupt Dutzendweise, da können Sie sich nicht so leicht +verzählen.“ + +An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte, +hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß +heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt +haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und +brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei Wochen +lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung zu +tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport kommandiert wird. + +Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausbezahlt. Eins ist sicher, wenn +ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen Bahn fahre und +erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich bankrott machen. +Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger dastände als +Frankreich. + +Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch +nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der +französische Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann. + +Darum mußte ich raus aus diesem Lande. + +Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um +das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen +Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu +denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden. +Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen nicht raus aus +dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation nach Deutschland. +Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet, und ich bekam +aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande. + + + 13 + +Ich wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte der +europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner neuen Nationalität. Und +wenn mich jemand fragte, sagte ich ganz trocken: „Boche.“ Es nahm mir +niemand übel, ich bekam überall zu essen und überall ein gutes +Nachtquartier, bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das +Richtige getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden. Jeder +schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber, die aus dem Blute +französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten, und sie seien die +Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den Sorgen und Tränen der +übriggebliebenen Väter und Mütter abermals Dollar herausmünzen wollen, +weil sie nie den Rachen vollkriegen könnten, obgleich sie im Golde schon +erstickten. Wenn wir nur einen hier hätten, einen von diesen +amerikanischen Wucherern, wir schlügen ihn mit dem Dreschflegel tot wie +einen alten Hund, weil er wahrhaftig nichts Besseres verdient. + +Verflucht nochmal, da habe ich aber Glück gehabt. + +„Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen +ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen. +Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen. Nun +aber geht es den armen Teufeln genau so dreckig wie uns. Auch die hat +der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch den letzten +abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die armen Boches. Wir +würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben ja selber nur noch +das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner uns schon das Hemd vom +Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt rübergekommen nach Europa? Uns +zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns den letzten Faden noch vom Leibe zu +ziehen. Denn wir müssen ja alles bezahlen. Wir und die armen Boches.“ + +„Sieht man ja an Ihnen, wie dreckig es den armen Boches geht. Ganz +verhungert sehen Sie aus. Essen Sie nur tüchtig, langen Sie zu. Nehmen +Sie sich das beste Stück. Wenn es Ihnen nur schmeckt. Wenn sie drüben +alle so verhungert sind wie Sie, dann gute Nacht. Aber wir haben ja +selber nicht viel. Wo wollen Sie denn nun hin? Nach Spanien? Das ist +recht. Das ist vernünftig. Die haben noch etwas mehr als wir. Die haben +keinen Krieg gehabt. Aber die hat ja der Amerikaner auch so reingelegt +mit Kuba und mit den Philippinen. Da sehen Sie es ja schon wieder. Immer +stiehlt er uns arme Europäer aus. Als ob er drüben nicht genug hätte. +Nein, er muß hier stehlen und wuchern kommen. Langen Sie nur tüchtig zu. +Lassen Sie sich durch uns nicht stören, daß wir schon aufhören. Wir +haben ja noch ein bißchen was und können uns wenigstens hin und wieder +mal satt essen. Aber, ihr armen Boches da drüben, euch verhungern ja die +kleinen Würmchen in der Wiege.“ + +„Und wenn nun gar hier ein armer Teufel sich das Geld zusammengespart +hat und will rüber zu den Amerikanern, um sich ein paar Dollar zu +verdienen, die er seinen Eltern schicken will, da machen sie die Türe +zu, diese Banditen. Erst stehlen sie das Land von den armen Indianern, +und wenn sie es haben, dann lassen sie keinen mehr rein, nur damit sie +ja ganz im Fett ersticken können, die verfluchten Hunde. Als ob sie dem, +der überfährt, was schenken würden. Arbeiten muß er, aber feste. Die +schlechteste Arbeit, die kein Amerikaner anfassen will, die können dann +unsre Jungens machen.“ + +„Wissen Sie was, Sie könnten eigentlich hier ein paar Wochen ganz gut +arbeiten. Da können Sie sich ordentlich herausfüttern, daß Sie wieder zu +Kräften kommen, denn Spanien ist noch weit. Mon dieu, viel bezahlen +können wir ja nicht, dreißig Franken den Monat, acht Franken die Woche +und die Kost und das Schlafen. Vor dem Kriege war der Lohn nur drei +Franken die Woche, aber es ist ja jetzt alles so sündhaft teuer. Wir +haben auch während des Krieges einen Boche hier gehabt. Einen +Kriegsgefangenen. Er war ein so fleißiger Mann, wir waren alle recht +traurig, als er wieder heim mußte. Sag, Antoine, der Wil’em, der Boche, +der war doch ein sehr fleißiger Mann. Der hat tüchtig gearbeitet. Wir +haben ihn auch alle sehr gern gehabt, und die andern Leute haben auch +immer geredet, daß wir ihn zu gut behandeln, aber wir haben ihm doch +alles gegeben, was wir konnten. Er hat dasselbe Essen gehabt wie wir, da +haben wir keinen Unterschied gemacht ...“ + +Da arbeitete ich also nun, und ich lernte bald erfahren, daß der Wil’em +wirklich ein tüchtiger Arbeiter gewesen sein muß. Denn ich hörte jeden +Tag ein halbes dutzendmal: „Ich weiß nicht, der Wil’em muß aus einer +ganz andern Gegend gewesen sein als Sie. So können Sie nicht arbeiten +wie der Wil’em. Habe ich nicht recht, Antoine?“ + +Und Antoine bestätigte: „Ja, er ist sicher aus einer ganz andern Gegend, +denn so kann er nicht arbeiten, wie der Wil’em es konnte. Aber es gibt +wohl auch unter den Boches Unterschiede, genau so wie bei uns.“ + +Der ewige Vergleich mit dem tüchtigen Wil’em, der sicher mehr von der +Landwirtschaft verstand als ich, und der gewiß auch darum so „tüchtig“ +arbeitete, weil er lieber hier bei den Bauersleuten blieb als in das +Internierungslager zurückgeschickt werden oder in Algier Straßen +pflastern wollte, fiel mir bald auf die Nerven. Selbst wenn ich nur halb +soviel gearbeitet hätte, wäre es noch um das Dreifache zuviel gewesen. +So billig bekam der Bauer nie wieder einen Arbeiter. Acht Franken in der +Woche. Andre Bauern hatten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Franken die +Woche zu zahlen. Ich bekam acht. Ich war ja auch der verhungerte Boche, +der herausgefüttert werden sollte. + +Als ich dann abzog, weil ich erklärte, ich müßte nun unbedingt nach +Spanien, ich könne auf keinen Fall mehr länger warten, und vielleicht +käme gar noch die Polizei, die es mir verbieten würde, hier zu arbeiten, +da bekam ich für meine Arbeit von sechs Wochen im ganzen zehn Franken. +Der Bauer sagte mir, daß er nicht mehr Geld habe. Wenn ich vielleicht +nach Neujahr zurückkommen wolle, dann könne er mir den Rest zahlen, weil +er dann das Geld bekäme für die Ernte, aber jetzt habe er weiter kein +Geld. Ich sähe jetzt auch wieder ganz gesund aus, es habe mir doch gut +getan, dieses kräftige Essen, das ich hier bekommen habe, und +totgearbeitet hätte ich mich ja auch nicht, der Wil’em –. + +„Ja,“ sagte ich darauf, „der Wil’em war auch aus Westfalen, ich bin aber +aus Südfalen und da braucht man nicht so hart arbeiten, weil alles von +selbst wächst, da ist man so schwere Arbeit nicht gewöhnt.“ + +„Das ist ja dann ganz verständlich“, sagte der Bauer. „Von Südfalen habe +ich auch schon viel gehört. Das ist doch das Großherzogtum, wo die +vielen Bernsteinbergwerke sind?“ + +„Richtig,“ sagte ich, „das ist der Landesteil, wo die vielen Hochöfen +sind, in denen der Königsberger Klops geschmolzen wird.“ + +„Was? Der Königsberger Klops wird aus Eisen gemacht? Ich habe immer +geglaubt, der wird aus gemahlener Steinkohle hergestellt.“ + +„Das ist der gefälschte. Der wird allerdings aus gemahlener Steinkohle +gemacht“, erwiderte ich. „Da haben Sie durchaus recht, aus gemahlener +Steinkohle mit eingedicktem Schwefelteer. Aber der richtige, der echte +Königsberger Klops, der wird in Hochöfen geschmolzen, der ist viel +härter als der härteste Stahl. Damit haben ja unsre Generale die +Torpedos gefüllt, mit denen sie die Panzerschiffe versenkten. Ich habe +selbst an einem solchen Hochofen gearbeitet.“ + +„Ihr seid doch schlaue Leute, das muß ich schon sagen“, erwiderte der +Bauer. „Wir haben ja nun den Krieg gewonnen, und das nehmen wir euch +nicht übel. Und der Krieg ist ja jetzt auch vorbei. Warum sollen wir da +noch böse miteinander sein. Dann lassen Sie es sich nur recht gut gehen +in Spanien.“ + +Gelegentlich will ich doch einen Deutschen fragen, was eigentlich +Königsberger Klops ist. Jeder, den ich gefragt habe, hat mir immer etwas +andres erzählt, aber freilich keiner war ein Deutscher. + + + 14 + +Die Gegend wurde ziemlich einsam, alles Gebirgsland. Klettern und +Klettern. Die Bauern wurden immer geringer und die Hütten immer +ärmlicher. Wasser reichlich und das Essen knapp und dürftig. Nachts +recht hübsch kalt und selten eine Decke und oft nicht einmal einen Sack. +Der Einmarsch in Sonnenländer ist immer mühselig, das haben nicht nur +einzelne Menschen, sondern ganze Völker erfahren. „Die Grenze ist jetzt +nicht mehr weit“, war mir am Morgen gesagt worden, als ich den Hirten +verließ, in dessen elender Hütte ich geschlafen hatte, und der sein +bißchen Käse, Zwiebeln, Brot und dünnen Wein mit mir geteilt hatte. + +Dann war ich auf einer Straße, die an den Bergen hochklomm und wieder +hinunterging in die Täler, nur um abermals hochzuklimmen und wieder +hinunterzuführen. + +Und auf dieser Straße kam ich endlich an ein großes hochgewölbtes Tor, +das sehr altertümlich aussah. Zu beiden Seiten des Tores zog sich eine +Mauer hin, die ebenso graugelb und alt aussah wie das Tor. Es schien, +daß diese Mauer ein großes Gut einschlösse. Die Straße führte direkt +unter dem Torbogen her. + +Um auf der Straße weiterzukommen, gab es gar keinen andern Weg, als +durch das Tor zu gehen. Ich hoffte, daß die Straße über den Gutshof +führe, an der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Tor sein werde, +durch das man dann wieder auf die Straße komme. + +Ich ging drauf los, ging durch das Tor und wanderte geradeaus weiter, +ohne jemand zu sehen. + +Plötzlich aber kommen zwei französische Soldaten mit Gewehr und +aufgepflanztem Bajonett aus irgendeinem Winkel hervor, kommen auf mich +zu und fragen mich nach einem Paß. Hier scheinen also sogar die Soldaten +nach der Seemannskarte zu fragen. + +Ich erkläre ihnen, daß ich keinen Paß hätte. Dann sagen sie aber, daß +sie nicht meinen Reisepaß sehen wollten, der kümmere sie nicht, sie +möchten lediglich meinen Paß sehen, der vom französischen +Kriegsministerium in Paris ausgefertigt sei und mir das Recht gebe, hier +in den Festungswerken ohne Begleitung herumzulaufen. + +„Das habe ich nicht gewußt, daß dies hier Festungswerke sind“, sage ich, +„ich bin immer auf der Straße geblieben und habe geglaubt, das sei der +Weg zur Grenze.“ + +„Die Straße zur Grenze biegt eine Stunde vorher rechts ab. Da war ein +Schild. Haben Sie das nicht gesehen?“ + +„Nein. Das Schild habe ich nicht gesehen.“ + +Ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Straße rechts abbiegen sah. Ich +erinnere mich aber auch, daß ich eine ganze Anzahl von Straßen in den +letzten Tagen rechts und links abbiegen sah. Aber ich hielt es für +besser, immer in der geraden Richtung fortzugehen, die nach Süden führt. +Das war für mich die Zielrichtung. Ich habe so viele Schilder gesehen. +Aber was gingen mich denn die Schilder alle an? Wenn sie die Namen eines +Ortes nannten, so wußte ich ja nicht, ob der Ort näher zur Grenze lag +oder weiter. Am Ende wäre ich immer im Kreise herumgelaufen und nie nach +Spanien gekommen, wenn ich allen Schildern nachgelaufen wäre. Eine +Karte, auf der ich die Ortsnamen hätte ablesen können, besaß ich ja +nicht. + +„Wir müssen Sie zum wachthabenden Offizier bringen.“ Die beiden Soldaten +nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ab. + +Der wachthabende Offizier war ein noch junger Mann. Er wurde sehr ernst, +als er hörte, was los sei. + +Dann sagte er: „Sie müssen erschossen werden. Innerhalb vierundzwanzig +Stunden. Laut Kriegsgrenzgesetz. Artikel –“, hier nannte er eine Nummer, +die mich nicht interessierte. + +Als der junge Offizier das sagte, wurde er ganz bleich und konnte kaum +die Worte hervorbringen. Er mußte sie hervorwürgen. + +Ich durfte mich setzen, aber die beiden Soldaten mit aufgepflanztem +Bajonett blieben neben mir stehen. Der junge Offizier nahm einen Bogen +Papier her und versuchte zu schreiben. Aber er war zu aufgeregt und +mußte es sein lassen. Endlich nahm er sich aus seinem silbernen Etui +eine Zigarette. Er wollte sie in den Mund stecken, aber sie fiel ihm +herunter, und ich sah, wie seine Hände zitterten. Um es zu verbergen, +nahm er abermals eine Zigarette heraus und brachte sie nun mit einer +ganz steifen langsamen Armbewegung in den Mund. Das Zündholz ging ihm +dreimal aus. Ehe er das vierte anstrich, fragte er mich: „Rauchen Sie?“ +Dann drückte er auf einen Knopf, und es kam eine Ordonnanz, der er den +Befehl gab, zwei Pakete Zigaretten aus der Kantine zu holen, auf seinen +Namen. Ich bekam dann die Zigaretten und durfte rauchen, während die +beiden Soldaten neben mir standen wie Götzenbilder und sich nicht +rührten. + +Als sich der Offizier beruhigt hatte, nahm er ein Buch, suchte darin +herum und las einzelne Stellen. Dann nahm er wieder ein andres Buch und +las auch in diesem, verschiedene Stellen aufsuchend und sie mit andern +vergleichend. + +Es war merkwürdig. Ich, der ich doch das Opfer war, empfand nicht eine +Spur von Aufregung. Als der Offizier mir sagte, daß ich innerhalb +vierundzwanzig Stunden erschossen werden müsse, machte das auf mich +keinen tieferen Eindruck, als ob er gesagt hätte: „Machen Sie, daß Sie +hier herauskommen, aber schleunigst.“ + +Es ließ mich kalt wie Pflasterstein. + +Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange tot. +Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im Leben +einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er wollte, denn +ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf der Welt, +konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich jemand +erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte nirgends. Ein +Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht ermordet. + +Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja +sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bureaukratismus, +keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind noch ganz +andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus dem Universum +ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten, die +ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und abgeleugnet +werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und vertiefen will +auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament des Universums +ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen, nicht aus Herden. +Es besteht durch das Gegeneinanderwirken von Individuen. Und es bricht +zusammen, wenn die freie Beweglichkeit der einzelnen Individuen +beschränkt wird. Die Individuen sind die Atome des Menschengeschlechts. + +Vielleicht auch blieb die angekündigte Erschießung darum ohne jeden +Eindruck auf mich, weil ich das schon einmal durchgekostet hatte und +damals mit allen Grauen, die damit verknüpft sind. Aber Wiederholungen +schwächen ab, selbst wenn es sich um wiederholte Todesurteile handelt. +Einmal davongekommen, kommst du immer davon. + +Was auch das Motiv meiner schwachen Empfindung gegenüber der angedrohten +Todesstrafe sein mochte, jedenfalls war es mir ganz ausgelaugter +Kaffeesatz. + +„Haben Sie Hunger?“ fragte jetzt der Offizier. + +„Aber tüchtig, das können Sie mir glauben“, sagte ich. + +Der Offizier wurde über und über rot und fing laut an zu lachen. + +„Sie haben Nerven!“ sagte er unter Lachen. „Haben Sie geglaubt, ich +scherze?“ + +„Womit?“ fragte ich. „Doch nicht etwa mit dem angebotenen Essen? Das +wäre mir gar nicht lieb.“ + +„Nein,“ antwortete der Leutnant, und er wurde ein wenig ernster, „mit +dem Erschießen.“ + +„Das habe ich so ernst genommen, wie Sie es meinten. Wortwörtlich. Wenn +das in Ihrem Gesetz steht, dann müssen Sie das auch tun. Aber Sie haben +doch auch gesagt, laut Gesetz innerhalb vierundzwanzig Stunden. Jetzt +ist doch erst eine Viertelstunde um, und Sie denken doch nicht etwa, daß +ich die übrigen dreiundzwanzig und dreiviertel Stunden hungere, nur des +Erschießens wegen. Wenn Sie mich erschießen wollen, können Sie mir auch +etwas Gutes zu essen geben. Das will ich Ihrem Staat denn doch nicht +schenken.“ + +„Sie sollen was Gutes zu essen haben. Werde ich anordnen. Sonntagsessen +für Offiziere, Doppelportion.“ + +Da will ich doch sehen, was französische Offiziere Sonntags essen. Mich +zu vernehmen oder mich nach meiner Seemannskarte zu fragen, hielt der +Offizier für nicht nötig. Endlich hatte ich einmal einen Menschen +getroffen, der nichts über meine Privatverhältnisse wissen wollte. Nicht +einmal meine Taschen wurden durchsucht. Aber der Leutnant hatte recht, +wenn das Erschießen feststand, so lohnte es nicht die Mühe, Vernehmungen +zu machen und Taschen durchzuwühlen. Das Resultat war ja immer dasselbe. + +Es dauerte eine gute Weile, ehe ich mein Essen bekam. Dann wurde ich in +einen andern Raum geführt, wo ein Tisch stand, der mit einer Tischdecke +bedeckt war, auf der die Gerätschaften in verlockender Weise aufgestellt +waren, die mir das Essen erleichtern und verschönern sollten. Es war nur +für eine Person gedeckt, aber Teller, Gläser, Messer, Gabeln und Löffel +waren in einer solchen Menge vorhanden, daß sie gut für sechs Personen +reichen konnten. + +Meine Wachtposten waren inzwischen abgelöst worden; ich hatte zwei neue +bekommen. Einer stand jetzt an der Tür und einer hinter meinem Stuhl. +Beide mit aufgepflanztem Bajonett, Gewehr bei Fuß. Draußen vor den +Fenstern sah ich aber auch noch zwei auf und ab patrouillieren mit +geschultertem Gewehr. Ehrenwachen. + +Sie brauchten keine Angst zu haben, sie hätten ruhig Karten spielen +gehen können in die Kantine; denn solange ich nicht das Sonntagsessen +für Offiziere, Doppelportion, innerhalb meines Leders hatte, wäre ich +nicht einen Schritt fortgegangen. + +Nach den vielen verschiedenen Messern, Gabeln, Löffelchen, großen +Tellern, kleinen Tellern, Glastellerchen und großen und kleinen Wein- +und Likörgläsern zu urteilen, die vor mir standen, mußte ich ja etwas +erwarten, wovon mich auch eine dreifache Todesstrafe nicht hätte +verscheuchen können. Verglichen mit jenem Napf, in dem ich meine +belgische Henkersmahlzeit vorgesetzt bekommen hatte, stand mir hier kein +Kartoffelsalat mit Leberwurst bevor. Ich hatte nur eine einzige Sorge, +und das war die, ob ich auch alles werde essen können, ob ich nicht etwa +werde irgend etwas liegen lassen müssen, das mir die letzte Stunde +meines Daseins mit den Folterqualen bitterer Reue anfüllen könnte, weil +ich unausgesetzt daran denken müßte, wie es nur möglich war, daß ich +gerade das liegen ließ. + +Endlich wurde es ein Uhr und endlich auch einundeinhalb Uhr. Und da tat +sich die Tür auf und das Fest begann. + +Zum ersten Male in meinem Leben lernte ich erfahren, was für Barbaren +wir sind, und was für kultivierte Leute die Franzosen sind, und ich +lernte ferner erfahren, daß die Nahrungsmittel des Menschen nicht +gekocht, gebraten, geschmort, geröstet oder gebacken werden dürfen, +sondern daß sie zubereitet werden müssen, und daß dieses Zubereiten eine +Kunst ist, ach nein, keine Kunst, es ist eine Gabe, die einem Begnadeten +und Auserlesenen in die Wiege gelegt wird, wodurch er Genie wird. + +Auf der Tuscaloosa war das Essen gut, vorzüglich. Aber nach dem Essen +konnte ich immer sagen, was es gegeben hatte. Das konnte ich hier nicht. +Was es hier gab, und wie es schmeckte, das war wie ein Gedicht, bei dem +man träumt, und bei dem man in Seligkeiten versinkt, und wenn man später +gefragt wird: „Wovon handelte es denn?“ man zu seinem größten Erstaunen +bekennen muß, daß man darauf nicht geachtet habe. + +Der Künstler, der dieses Gedicht geschaffen hatte, war fürwahr ein +großer Künstler. Er ließ kein Gefühl der Reue übriggebliebener +Verszeilen wegen in mir zurück. Jedes Gericht war so sorgfältig +abgewogen und abgeschätzt in allen seinen Nähr- und Genußwerten, daß man +kein Gabelspitzchen voll übrigließ, den nächsten Gang mit erhöhtem Genuß +erwartete, und wenn er kam, mit Fanfaren zu begrüßen gedachte. Dieses +Fest dauerte etwa einundeineviertel Stunde oder mehr, es hätte dauern +können vier Stunden lang, und ich hätte nichts übriggelassen. Immer +wieder kam noch ein solcher Bissen, dann noch ein solcher Happen, dann +wieder eine solche kandierte Frucht, dann wieder eine Creme, und nach +jedem Gang wollte man einen weiteren sehen. Als aber dann endlich alles +vorüber war – Schönes geht ja viel schneller zu Ende als Trübes – als +auch alle die Liköre, Weine, Weinchen und Tröpfchen den Weg aller guten +Tropfen gegangen waren, als endlich der Kaffee, süß wie ein Mädel am +ersten Abend, heiß wie sie am siebenten und schwarz wie die Flüche der +Mutter, wenn sie es erfährt, vorüber war, fühlte ich mich aufgefüllt wie +ein Sack, aber ich fühlte mich wohlig und paradiesisch satt mit einer +leisen, zart angedeuteten Sehnsucht auf das Abendessen. Meine Herren! +Das war ein Essen, das nenne ich Kunstwerk. Dafür lasse ich mich jeden +Tag zweimal mit Freuden erschießen. + +Ich rauchte eine Importe, aus der ich alle Düfte und Sonnentänze +Westindiens sog. Dann legte ich mich auf das Feldbett, das in dem Raume +stand, und sah den blauen Wolken nach. + +Oh, was ist das Leben schön! Wunderschön! So schön, daß man sich mit +einem dankbaren Lächeln auf den Lippen erschießen läßt, ohne durch +Murren oder Wimmern die Harmonie des Lebens zu stören. + + + 15 + +Einige Stunden waren vergangen, als der Leutnant hereinkam. Ich stand +auf, aber er sagte mir, daß ich nur ruhig liegen bleiben möge, er wolle +mir nur mitteilen, daß der Kommandant nicht erst morgen abend +zurückkommen werde, wie er angesagt hätte, sondern schon morgen früh, +also vor Ablauf meiner vierundzwanzig Stunden. Er habe dadurch die +Möglichkeit, die Angelegenheit dem Kommandeur selbst zu übertragen. – +„Freilich“, fügte er hinzu, „an Ihrem Schicksal ändert das nichts. Das +Kriegsgesetz ist hier sehr eindeutig und läßt keine Lücke offen.“ + +„Der Krieg ist doch aber vorbei, Mr. Leutnant“, sagte ich. + +„Gewiß. Aber wir befinden uns noch im Kriegszustande, und wahrscheinlich +solange, bis alle Verträge endgültig geregelt sind. Unsre Grenzforts +haben ihre Reglements noch nicht um einen Punkt geändert, sie sind zur +Stunde genau noch so, wie sie während der Dauer des Krieges waren. Die +spanische Grenze wird wegen der bedrohlichen Verhältnisse in unsrer +nordafrikanischen Kolonie augenblicklich vom Kriegsministerium als +größere Gefahrzone bezeichnet als unsre östliche Grenze.“ + +Mich interessierte das sehr wenig, was er mir über Gefahrzonen und +Reglements erzählte. Was kümmerte mich denn die französische Politik. +Mich interessierte nach meinem gesunden Mittagsschlaf ganz etwas andres, +und das wollte ich ihn auch gleich wissen lassen. + +Er wollte gehen, sah mich aber noch an und fragte dann lächelnd: „Ich +hoffe, Sie fühlen sich den Umständen angemessen entsprechend wohl. Ist +Ihnen das Essen bekommen?“ + +„Ja, danke.“ + +Nein, ich konnte es nicht ungesagt lassen: + +„Verzeihen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich auch wieder Abendessen?“ + +„Natürlich. Glauben Sie denn, wir lassen Sie verhungern. Selbst wenn Sie +auch ein Boche sind, verhungern lassen wir Sie doch nicht. In wenigen +Minuten bekommen Sie Ihren Kaffee.“ + +Ich druckste ein wenig, man möchte doch gegen seinen Gastgeber nicht +unhöflich sein. Aber schiet, was braucht ein zum Tode Verurteilter noch +länger höflich sein. + +„Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich wieder Offiziersessen. +Doppelportion?“ + +„Selbstverständlich. Was dachten Sie denn? Das ist in der Verordnung. Es +ist Ihr letzter Tag. Wir werden Sie doch nicht mit einem schlechten +Andenken an unser Fort zu – zum – also hinwegschicken.“ + +„Seien Sie unbesorgt, Herr Leutnant, ich behalte das Fort in gutem +Andenken. Sie können mich ruhig erschießen. Nur nicht gerade in dem +Augenblick, wo das Offiziersessen, Doppelportion, auf dem Tisch steht. +Das wäre eine barbarische Handlung, die ich Ihnen nie vergessen würde, +und die ich oben auch gleich bei meiner Ankunft melden müßte.“ + +Eine Weile sah mich der Offizier an, als hätte er mich nicht richtig +verstanden. Es war ja auch nicht so leicht, sich aus meinen Brocken +klarzumachen, was ich meinte. Aber plötzlich begriff er und verstand er. +Und da lachte er so, daß er zum Tisch kommen mußte, um sich +festzuhalten. Die beiden Soldaten hatten wohl etwas verstanden, jedoch +den wahren Sinn nicht begriffen. Sie standen ganz starr da wie Puppen. +Aber von dem Lachen ihres Leutnants wurden sie schließlich doch +angesteckt und lachten mit, ohne zu wissen, worum es ging, und wer die +Kosten dieses Lachens trug. – + +Der Kommandeur war sehr früh zurückgekommen, und um sieben Uhr morgens +wurde ich ihm vorgeführt. + +„Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen?“ + +„Was für Schilder?“ + +„Nun, jene Schilder, auf denen geschrieben steht, daß dies hier +militärisches Gebiet ist, und daß, wer innerhalb dieses Gebietes +angetroffen wird, nach Kriegsrecht behandelt wird. Das bedeutet, daß Sie +ohne Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt sind und erschossen +werden.“ + +„Das weißt ich bereits.“ + +„Also die Schilder haben Sie nicht gesehen?“ + +„Nein. Und wenn ich sie gesehen habe, so habe ich nicht darauf geachtet. +Ich kann auch gar nicht lesen, was darauf steht. Lesen kann ich es zwar, +aber nicht verstehen.“ + +„Sie sind Holländer, nicht wahr?“ + +„Nein, ich bin ein Boche.“ + +Wenn ich gesagt hätte, ich bin der Teufel und komme soeben auf direktem +Wege aus der Hölle, um den Kommandanten persönlich abzuholen, er hätte +kein erstaunteres Gesicht machen können. + +„Ich habe geglaubt, Sie seien Holländer. Sie sind Offizier in der +deutschen Armee oder sind es wenigstens gewesen, nicht wahr?“ + +„Nein, ich war nie Soldat in der deutschen Armee.“ + +„Warum nicht?“ + +„Ich bin ein C. O., ein Mann, der die ganze Zeit, während der Krieg +dauerte, im Gefängnis saß.“ + +„Wegen Spionage?“ + +„Nein, weil die Deutschen glaubten, ich würde den Krieg nicht erlauben. +Und da hatten sie solche Angst, daß sie mich und noch ein halbes Dutzend +Leute, die den Krieg auch nicht erlauben wollten, ins Gefängnis +steckten.“ + +„Da hätten Sie und das halbe Dutzend Ihrer Mitgefangenen den Krieg also +verhindern können?“ + +„Wenigstens die Boches glaubten das von mir. Vorher hatte ich nicht +gewußt, daß ich ein so starker Mann bin. Aber dann erfuhr ich es, weil +sie mich ja sonst nicht hätten einsperren brauchen.“ + +„In welchem Festungsgefängnis haben Sie denn da gesessen?“ + +„In – in – in Südfalen.“ + +„In welcher Stadt?“ + +„In Deutschenburg.“ + +„Den Ort habe ich nie gehört.“ + +„Ja, da wird nur wenig davon gesprochen. Das ist eine ganz geheime +Festung, die sogar die Boches selber nicht kennen.“ + +Der Kommandant wandte sich nun an den Leutnant: „Wußten Sie, daß der +Mann ein Deutscher ist?“ + +„Jawohl, er hat es mir sofort gesagt.“ + +„Sofort gesagt, ohne erst Ausflüchte zu machen?“ + +„Jawohl.“ + +„Hat er einen photographischen Apparat gehabt, Karten, Bilder, +Zeichnungen, Pläne oder etwas derart?“ + +„Nein, offen nicht. Ich habe ihn nicht durchsuchen lassen, er war immer +unter Aufsicht und konnte nichts verbergen.“ + +„Das war richtig. Wir werden sehen, was er hat.“ + +Nun kamen zwei Korporale, und die durchsuchten mich. Aber sie hatten +kein Glück. Alles, was sie fanden, waren ein paar Franken, ein +zerrissenes Taschentuch, ein kleines Kämmchen und ein Stück Seife. Die +Seife trug ich bei mir als Legitimation, daß ich einer zivilisierten +Rasse angehöre, denn an meinem Äußern hätte man das nicht immer erkennen +können. Und eine Legitimation mußte ich ja schließlich doch wohl haben. + +„Schneiden Sie die Seife auf,“ wurde dem Korporal angeordnet. Aber auch +inwendig war nichts andres als Seife. Der Kommandant hatte offenbar +geglaubt, daß innen Schokolade wäre. + +Dann mußte ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, und die Sohlen meiner +Stiefel wurden durchsucht. + +Aber wenn schon alle die vielen Polizisten das nicht gefunden hatten, +was die Leute alle gern von mir haben wollten, und die hatten doch auch +gut verstanden, wie durchsucht werden muß, so fanden es die Korporale +noch viel weniger. Wenn die Leute doch nur sagen wollten, was sie immer +suchen, dann würde ich ihnen ja gern sagen, ob ich es habe oder nicht. +Dann könnten sie sich die Mühe sparen. Freilich dann hätten sie wieder +keine Arbeit. + +Es muß ein sehr wertvolles Ding sein, was die in allen Ländern in meinen +Taschen suchen. Vielleicht die Pläne einer verschütteten Goldmine oder +eines versandeten Diamantenfeldes. Der Kommandant hätte sich beinahe +verraten, denn er sprach schon von Plänen; aber rasch fiel ihm ein, daß +er das große tiefe Geheimnis, das nur Cops und Soldaten wissen dürfen, +nicht verraten darf. + +„Ich verstehe nur eins nicht,“ wandte sich der Kommandant wieder an den +Leutnant, „wie es möglich war, daß er die Posten an den Außenwerken +passieren konnte, ohne gesehen zu werden und ohne aufgehalten zu +werden?“ + +„Um diese Stunde ist nur wenig Verkehr auf den zuführenden Straßen. Ich +hatte, dem Befehl des Herrn Kommandanten Folge leistend, für die Zeit +Exerzieren in einem gegenüberliegenden Werk angeordnet, und es blieben +hier nur Patrouillen zurück, die an den Straßen die Zugänge zu +beobachten haben. Er ist dann sicher zwischen zwei Patrouillen +durchgeschlüpft. Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich aus dieser +Erfahrung heraus dem Herrn Kommandanten den Vorschlag unterbreiten, die +Übungen nur in drittel Formationsstärke abzuhalten, um die Wachen nicht +zu schwächen.“ + +„Wir hatten geglaubt, es sei keine Annäherung möglich. Ich hatte mich an +die gegebenen Vorschriften zu halten, deren Lücken ich, wie Sie sich +wohl erinnern, rapportiert habe. Ich habe nun eine starke Stellung, +unsern Entwurf durchzudrücken. Das ist etwas wert. Meinen Sie nicht?“ + +Was mich das eigentlich anging, welchen Entwurf sie für besser hielten. +Warum sie nur das alles in meiner Gegenwart ausmachten? Aber warum +sollten sie auch ein Blatt vor den Mund nehmen, vor einem Toten? + +„Wo kommen Sie denn her?“ fragte mich nun der Kommandant. + +„Von Limoges.“ + +„Wo sind Sie denn über die Grenze gegangen?“ + +„In Straßburg.“ + +„In Straßburg? Das liegt doch gar nicht an der Grenze.“ + +„Ich meine da, wo die amerikanischen Truppen liegen.“ + +„Sie meinen im Moselgebiet? Dann sind Sie also im Saargebiet +herübergekommen?“ + +„Ja, das wollte ich sagen. Ich habe Straßburg mit Saarsburg +verwechselt.“ + +„Was haben Sie denn hier die ganze Zeit in Frankreich gemacht? +Herumgebettelt?“ + +„Nein. Ich habe gearbeitet. Bei Bauern. Und wenn ich wieder ein wenig +Geld hatte, habe ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin wieder ein Stück +weitergefahren, bis ich wieder bei einem Bauern gearbeitet habe und +wieder eine Fahrkarte kaufen konnte.“ + +„Wo wollten Sie denn jetzt hin?“ + +„Nach Spanien.“ + +„Was wollen Sie denn in Spanien?“ + +„Sehen Sie, Herr Kommandeur, nun kommt bald der Winter, und ich habe +kein Feuerungsmaterial angespart. Da habe ich denn gedacht, ich gehe +besser beizeiten nach Spanien, da ist es auch im Winter schön warm, und +da braucht man kein Feuerungsmaterial, da kann man sich ruhig in die +Sonne setzen und den ganzen Tag Apfelsinen und Weintrauben essen. Die +wachsen da ja wild im Chausseegraben, man braucht sie nur abzupflücken, +und die Leute sind froh, wenn man sie abpflückt, weil das für die +Spanier nur Unkraut ist, das sie nicht haben wollen.“ + +„Also nach Spanien wollen Sie?“ + +„Wollte ich. Jetzt geht es ja nicht mehr.“ + +„Warum?“ + +„Weil ich doch erschossen werde.“ + +„Wenn ich Sie jetzt nicht erschießen lasse und Ihnen sage, Sie gehen auf +dem schnellsten Wege zurück nach Deutschland, und Sie können frei gehen +unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Deutschland zurückkehren, +würden Sie mir das versprechen?“ + +„Nein.“ + +„Nein?“ Er sah den Leutnant merkwürdig an. + +„Lieber erschießen. Nach Deutschland gehe ich nicht. Ich bezahle keine +Schulden mit. Aber davon abgesehen. Ich habe mir vorgenommen, daß ich +nach Spanien gehen will, und ich gehe nach Spanien und nirgendwo anders +hin. Wenn ich wohin gehen will, gehe ich da hin. Wenn ich erschossen +werde, kann ich nicht hingehen. Spanien oder den Tod. Nun können Sie mit +mir machen, was Sie wollen.“ + +Nun lachte der Kommandant, und auch der Leutnant lachte. Und der +Kommandant sagte lachend: „Lieber Junge, das hat Sie gerettet. Ich will +Ihnen nicht sagen, warum, damit es nicht mißbraucht wird. Aber Sie haben +mich davon überzeugt, daß ich Sie frei gehen lassen darf, ohne daß ich +meine Pflicht verletze. Was sagen Sie, Leutnant?“ + +„Ich halte die Auffassung des Herrn Kommandanten für die allein +richtige, und ich finde nichts, was mein Gewissen oder meine Ehre +belasten könnte.“ + +Der Kommandant sagte nun: „Sie werden jetzt sofort unter Bedeckung zur +Grenze gebracht und der spanischen Grenzwache übergeben. Ich brauche Sie +wohl nicht noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, daß, wenn Sie +je wieder hier in der Nähe, auch wenn es nicht auf rein militärischem +Gebiete ist, gesehen werden sollten, daß dann keine Frage mehr besteht, +in welcher Form sich Ihr Schicksal innerhalb der nächsten zwei Stunden +nach dem Ergreifen gestaltet. Haben Sie genau verstanden, was ich damit +meine?“ + +„Jawohl, Herr Kommandant.“ + +„Gut, das ist alles. Sie gehen sofort.“ + +Ich blieb aber stehen und trat von einem Fuß auf den andern. + +„Noch was?“ fragte der Kommandant. + +„Darf ich eine Frage an den Herrn Leutnant richten?“ + +Nicht nur der Kommandant schien zu erstarren, sondern erst recht der +Leutnant. Der Kommandant warf einen Blick auf den Leutnant, als ob er +ihn schon vor dem Kriegsgericht sähe. Er vermutete richtig: der Leutnant +war in der Tat im Bunde mit mir. + +„Bitte, richten Sie Ihre Frage an den Herrn Leutnant.“ + +„Verzeihen der Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt.“ + +Der Kommandant und der Leutnant platzten in ein schallendes Gelächter +aus, und der Kommandant brüllte rüber zum Leutnant: „Nun ist wohl kein +Zweifel mehr, daß der Mann unverdächtig ist.“ + +„Der Zweifel war mir gestern schon geschwunden,“ sagte der Leutnant, +„als ich ihn fragte, ob er Hunger habe.“ + +„Gut, Sie sollen auch ein Frühstück haben“, sagte der Kommandant noch +immer lachend. + +Aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen. + +„Herr Leutnant, da es doch schon mein letztes Essen, mein Abschiedsessen +ist, darf ich um Offiziersfrühstück, Doppelportion, bitten? Ich möchte +doch das Fort so gern in einem recht guten Andenken behalten.“ + +Der Kommandant und der Leutnant brüllten vor Lachen, daß das ganze Fort +zu erzittern schien. + +Und unter seinem bärenhaften Lachen schrie der Kommandant die Worte +hervor, die er nur mühselig in Reihe halten konnte, weil sie immer +wieder von seinem schreienden, brüllenden Lachen abgehackt wurde: „Das +ist der echte verhungerte Boche, wenn er schon am Ersaufen ist, wenn ihm +schon der Strick um den Hals gelegt ist, will er erst noch essen und +essen und nochmal essen. Diese verfressene Teufelsbrut kriegen wir nie +unter.“ + +Ich hoffe, daß die Boches für diese gute Meinung, die ich zwei +französischen Offizieren über sie eingeflößt habe, mir ein anständiges +Denkmal errichten werden. Nur nicht in der Siegesallee, dann lieber +nicht. Da würde ich den schlechten Geschmack im Munde nie los, und +unzulängliche Revolutionen würden mir als Gespenster erscheinen. + + + 16 + +Zwei Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr begleiteten mich. So wanderte +ich in das sonnige Spanien ein. Mit allen militärischen Ehren. Die +Soldaten brachten mich zur Grenzwache, und dort wurde ich den spanischen +Grenzbeamten übergeben. + +„Papiere hat er keine“, sagte der mich begleitende Korporal. – „Es +aleman?“ fragte der Spanier. + +„Si, Senjor,“ sagte ich. „Seien Sie willkommen!“ antwortete darauf der +Spanier, und zu dem Korporal sagte er, es sei gut, er würde mich +hierbehalten. Der Korporal sah nach seiner Uhr und schrieb dann etwas +auf einen Rapportzettel. Dann machten die beiden Soldaten kehrt und +zogen ab. – „Good-bye, France!“ + +Die Grenze Frankreichs entschwand meinen Blicken. + +Der spanische Beamte schleifte mich nun gleich in die Wachtstube, wo ich +von allen Beamten sofort umringt wurde, die mir alle die Hand +schüttelten und mich umarmten. Einer wollte mich sogar auf die Backen +küssen. „Mach Krieg mit dem Amerikaner, und du findest keinen bessern +Freund auf der ganzen Erde als den Spanier!“ Hätten sie gewußt, wer ich +bin, daß ich ihnen Kuba und die Philippinen abgenommen und manches andre +zugefügt habe, würden sie mich zwar nicht erschlagen, und sie würden +mich auch nicht zurückgeschickt haben in jenes Fleckchen, wo ich mich +nie wieder sehen lassen durfte, aber sie wären kühl gewesen wie nasse +Jacken und gleichgültig wie altes Bettstroh. + +Erst kriegte ich einmal Wein eingeschenkt, dann gab es Eier und feinen +Käse. Dann gab es zu rauchen und wieder Wein zu trinken und wieder Eier +und feinen Käse, und dann wurde mir gesagt, nun gäbe es bald +Mittagessen. Die Beamten, die draußen im Dienst waren, kamen nach und +nach herein. Und nun ging keiner mehr hinaus. Ganze Schmugglerzüge +hätten jetzt kommen können, das wäre ihnen ganz gleichgültig gewesen. +Hier war ein Deutscher, und dem hatte man zu zeigen, was man von +Deutschland und den Deutschen dachte. Und um das auch ganz genau zu +zeigen, wurde ihm zu Ehren aller Dienst eingestellt. + +Äußerlich betrachtet, war ich kein glorreiches Beispiel des so sauberen +und adretten deutschen Landes und seiner so frischgewaschenen und +adretten Bewohner. Seit meine Tuscaloosa abgesegelt war, hatte ich weder +meinen Anzug, noch meine Stiefel, noch meinen Hut gewechselt, und meine +Wäsche sah so aus, wie sie eben aussehen kann, wenn man sie an Bächen +und Flüssen, an denen man vorüberkommt, mit mehr oder weniger Seife mehr +oder weniger sorgfältig wäscht, dann auf einen Strauch hängt, selbst ein +Bad nimmt und endlich so lange wartet, bis die Wäsche wieder trocken +ist, oder bis man sie noch naß anziehen muß, weil es zu regnen anfängt. + +Mein Aussehen schien aber der beste Beweis für sie zu sein, daß ich +direkt ohne Aufenthalt von Deutschland kam. So hatten sie sich +vorgestellt, wie ein Deutscher, der den Krieg verloren hat, den die +Amerikaner bis aufs Hemd ausgeplündert und die Engländer ausgehungert +haben, aussehen müsse. Und meine Erscheinung deckte sich mit ihren +Vorstellungen so vollkommen, daß, wenn ich gesagt hätte, ich bin +Amerikaner, sie mich für einen unverschämten Lügner angesehen hätten, +der sie zum Narren halten wolle. + +Daß jemand, der direkt ohne Aufenthalt aus Deutschland kommt, einen +entsetzlichen Hunger haben muß, der sich nicht innerhalb fünf Jahre +stillen läßt, war ihnen klar. Beim Mittagessen bekam ich so viel +aufgehäuft, daß ich die fünf Jahre Hungerns ohne Mühe einholen konnte. + +Dann brachte einer ein Hemd, einer Stiefel, einer einen Hut, einer ein +halbes Dutzend Strümpfe, einer Taschentücher, einer Kragen, einer +seidene Schlipse, einer eine Hose, einer eine Jacke, und so ging das in +einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt +besessen hatte, fortwerfen. + +Nachmittags wurden Karten gespielt. Diese Karten kannte ich nicht, aber +sie lehrten es mich, und ich spielte bald so gut, daß ich ihnen ein +hübsches Sümmchen abgewann, was sie sehr erfreute und sie veranlaßte, +immer weiterzuspielen. + +Durch diese Station war noch nie ein Deutscher gekommen, und deshalb +wurde ich als der Vertreter, als der erste echte Vertreter jenes hier so +sehr beliebten Volkes entsprechend gefeiert. + +O sonniges Spanien! Das erste Land, das ich traf, wo man nicht nach +meiner Seemannskarte fragte, wo man nicht meinen Namen, mein Alter, +meine Körperlänge, meine Fingerabdrücke wissen wollte. Wo man nicht +meine Taschen durchsuchte, wo man mich nicht bei Nacht zu einer Grenze +schleppte und mich hinausjagte wie einen ausgedienten Hund, wo man nicht +wissen wollte, wieviel Geld ich habe, und wovon ich die letzten Monate +gelebt hätte. + +Nein, sie steckten mir die Taschen noch voll, damit endlich einmal +jemand in meinen Taschen etwas finden möge. Den ersten Tag war ich in +der Wache, die erste Nacht mußte ich im Hause des einen Beamten +schlafen, den darauffolgenden Tag wurde ich in seinem Hause verpflegt. +Am Abend wurde ich von einem andern abgeholt. Und nie wollte mich einer +herausgeben, bei jedem sollte ich eine Woche bleiben. Das gab aber der, +der jetzt an der Reihe war, nicht zu. Und als die Reihe herum war und +wieder von vorn anfangen sollte, kamen die Bewohner des ganzen +Grenzörtchens der Reihe nach an und erhoben Anspruch auf mich, und ich +hatte jeden Tag bei einem andern Bürger zuzubringen. Die Konkurrenz, daß +ich von jedem fortgehen sollte mit dem Gefühl, er habe mich bei weitem +besser bewirtet als der Nachbar, zwang mich, eines Nachts die Flucht zu +ergreifen. Ich bin fest davon überzeugt, die Leute alle behaupten heute, +eine solche Undankbarkeit hätten sie nicht von mir erwartet. Aber der +Tod durch Erschießen oder Erhängen war ja ein Lustspiel gegenüber dem +qualvollen Tode, der mich hier erwartete, und dem ich durch nichts +andres als durch eine nächtliche Flucht entgehen konnte. Durch solche +Mißverständnisse werden Menschen verdorben. Ich lebe in ihrer Erinnerung +als jemand, der sicher ein entlaufener Zuchthaussträfling gewesen sein +müsse, weil er sich so heimlich zur Nachtzeit aus dem Staube machte. Es +ist durchaus möglich, wenn wieder ein fremder Mann dorthin kommt, +diesmal vielleicht ein echter Deutscher, daß ihm kaum eine warme Suppe +vorgesetzt wird, oder wenn sie ihm gegeben wird, dann mit hochgezogenen +Augenbrauen und mit einer Miene, die deutlich sagt: Verhungern lassen +wir keinen, und wenn es der Satan selber wäre. Aus Liebe kann nicht nur +Haß werden, sondern, was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei +werden. Hier war sie Sklaverei mit Totschlag. Nicht einmal auf den Hof +konnte ich gehen, ohne daß mir sofort ein Familienmitglied nachgelaufen +kam mit der besorgten Frage, ob ich auch weiches Papier hätte. Yes, Sir. + +Das kann kein Mensch ertragen oder nur ein Paralytiker. Hätte ich eine +Andeutung gemacht, daß ich abreisen wolle, die Leute hätten mich in +Ketten gelegt. Ich denke, daß ein Vernünftiger unter jenen Leuten lebt, +der meine Untat in einem milderen Lichte sehen wird. + + + 17 + +Sobald es mir in Sevilla zu langweilig wurde, zog ich ab nach Cadiz, und +sobald mir in Cadiz die Luft nicht mehr bekam, wanderte ich wieder nach +Sevilla, und wenn mir in Sevilla die Nächte wieder nicht gefielen, +machte ich mich auf nach Cadiz. Dabei verging der Winter, und meine +Sehnsucht nach New Orleans konnte ich glatt für einen Quarter verkaufen, +ohne daß ich Gewissensbisse empfunden hätte. Warum muß es denn gerade +New Orleans sein? + +Ich hatte auch nicht ein winziges Papier mehr in der Tasche als an jenem +weit zurückliegenden Tage, an dem ich in dieses Land eingezogen kam. Und +nie interessierte sich jemals ein Cop um meine Papiere oder um mein +Woher, Wohin oder Wozu. Die hatten andre Sorgen. Paßlose arme Teufel +waren ihre geringste Sorge. Wenn ich kein Schlafgeld für die Herberge +hatte und mich in irgendeine Ecke legte, so lag ich am andern Morgen +genau noch so ruhig und unschuldig da, wie ich mich am Abend hingelegt +hatte. Und hundertmal war der Cop vorbeigewandert, und hundertmal hatte +er gut aufgepaßt, daß mich auch niemand etwa aus Versehen stehlen +möchte. Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus andern Ländern wohl +werden würde, wenn ein armer Bursche oder gar eine ganze Familie in +einem Torweg schliefe oder auf einer Bank die Nacht verbrächte, ohne +verhaftet zu werden und wegen Herumtreibens und Obdachlosigkeit im +Gefängnis oder im Arbeitshaus zu verschwinden. Deutschland würde sicher +sofort von einem Erdbeben und England von einer Sintflut vernichtet +werden, wenn der Mann, der es wagt, obdachlos zu sein, nicht verhaftet +und ordentlich verknackst wird. Denn es gibt eine ganze Anzahl von +Ländern, wo obdachlos und mittellos zu sein ein Verbrechen ist; und es +sind zufällig dieselben Länder, wo ein tüchtiger Raubzug, bei dem man +nicht erwischt wird, kein Verbrechen ist, sondern die erste Stufe, um +ein geachteter Bürger zu werden. + +Es kam vor, daß ich auf einer Bank lag und ein Cop mich aufweckte, um +mir zu sagen, daß es gleich regnen würde, und daß ich besser täte, unter +jenen Torweg da drüben zu gehen oder in den Schuppen am andern Ende der +Straße, wo Stroh sei, wo ich besser schlafen könnte, und wo es nicht +hineinregne. + +Wenn ich hungrig war, ging ich in einen Bäckerladen und sagte dem Manne +oder der Frau, daß ich kein Geld hätte, dafür aber um so mehr Hunger, +und ich bekam Brot. Niemand verekelte mir das Dasein mit der +langweiligen Frage: „Warum arbeiten Sie nicht, Sie sind doch ein starker +gesunder Bursche!“ + +Das hätten sie als grobe Unhöflichkeit angesehen. Denn wenn ich nicht +arbeitete, so mußte ich wohl meine guten Gründe dafür haben; und diese +Gründe aus mir herauszuforschen, hielten sie für unanständig. + +Was gingen da für Schiffe raus! Manchen Tag gleich ein halbes Dutzend. +Sicher war da Arbeit auf dem einen oder dem andern. Aber ich sorgte mich +nicht darum. Ich lief der Arbeit nicht nach. Warum auch? Der spanische +Frühling war da. + +Um Arbeit sollte ich mich sorgen? Ich war auf der Welt, ich lebte, ich +war lebendig, ich atmete die Luft. Das Leben war so wundervoll schön, +die Sonne war so golden und so warm, das Land so märchenhaft lieblich, +alle Menschen so freundlich, auch wenn sie in Lumpen gingen, alle Leute +so höflich, und über alles das war so viel echte Freiheit. Kein Wunder, +das Land hatte ja an dem Kriege für die Freiheit und die Demokratie der +Welt nicht teilgenommen. Deshalb hatte der Krieg hier die Freiheit nicht +gewonnen und die Menschen hatten sie nicht verloren. + +Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich +behaupten, sie seien die freisten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern +die geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter +Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit +geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden sei. Und +wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes eine +Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, was +hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind ein +Volk von freien Menschen! da will man nur die Tatsache verdecken, daß +die Freiheit vor die Hunde gegangen ist, oder daß sie von +Hunderttausenden von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, +Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch das +Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen +übriggeblieben sind. In Spanien spricht kein Mensch von Freiheit, und in +einem andern Lande, wo man auch nicht von Freiheit spricht, habe ich +einmal das Wort Unfreiheit erwähnen hören. Dieses Wort fiel bei einer +Riesendemonstration. Die Demonstration, an der die ganze Bevölkerung +teilnahm, wo ehrsame Bürger sich nicht fürchteten, hinter den Flaggen +der Kommunisten und Anarchisten zu gehen, und die Kommunisten sich nicht +für zu vornehm hielten, hinter den Flaggen des Heimatlandes zu +marschieren, war ein Protest gegen die Polizei, die versuchte, nach +preußischem Muster eine Art Meldepflicht der Bewohner einzuführen. Das +heißt, sie hatte nur vorgeschlagen, daß jeder Bürger einmal im Jahre +seine Adresse auf der Polizei angeben sollte, seinen Namen, sein Alter +und seinen Beruf. Aber die Bevölkerung witterte sofort den Pferdefuß und +wußte beim ersten Wort, daß dies nur der Anfang der Meldepflicht sei. + +Es gibt heute keinen Menschen auf der Erde, der nicht wüßte, was +Deutschland bedeutet. Der Krieg mit England und Amerika war die beste +Reklame für Deutschland und für deutsche Arbeit. Daß Preußen ein Land +ist, wissen nur wenige Menschen auf Erden. Wenn man in Amerika und in +vielen andern Ländern das Wort „Preußen“ hört, ist es nie mit dem Lande +Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, sondern es ist ein Synonym +für eine Abwürgung der Freiheit und für polizeiliche Bevormundung. + +Als ich in Barcelona war, kam ich eines Tages an einem großen Gebäude +vorbei, und ich hörte Schreien, Heulen und Wimmern von Menschen aus +jenem Gebäude dringen. + +„Was ist denn da los?“ fragte ich einen Mann, der gerade vorüberging. + +„Das ist das Militärgefängnis“, sagte er mir. + +„Aber warum schreien denn die Leute da so herzzerreißend?“ + +„Die Leute? Aber das sind doch die Kommunisten.“ + +„Die brauchen doch nicht zu schreien, wenn sie Kommunisten sind.“ + +„Ja, verstehen Sie denn nicht? Die werden jetzt geprügelt und +gefoltert.“ + +„Warum denn aber?“ + +„Das sind doch Kommunisten.“ + +„Das haben Sie mir nun schon dreimal erzählt.“ + +„Darum werden sie doch totgeschlagen. Abends werden sie dann +rausgeschafft und vergraben.“ + +„Sind denn das Verbrecher?“ + +„Nein, aber Kommunisten.“ + +„Darum werden sie gefoltert und totgeschlagen?“ + +„Ja, die wollen alles anders machen. Denen ist das alles nicht gut +genug. Die wollen uns zu Sklaven machen, daß wir nicht mehr tun dürfen, +was wir wollen. Der Staat soll alles allein machen, und wir sollen nur +noch alle Arbeiter des Staates sein. Das wollen wir aber nicht. Wir +wollen arbeiten, wann wir wollen, wie wir wollen, wo wir wollen, und was +wir wollen. Und wenn wir nicht arbeiten, sondern verhungern wollen, so +wollen wir auch nicht, daß sich da jemand hereinmischt. Aber die +Kommunisten wollen sich in unser ganzes Leben hineinmischen, und der +Staat soll alles kommandieren. Ganz recht, daß man sie totschlägt.“ + +Soll ich darum Spanien verdammen? Ich denke nicht daran. Jedes Zeitalter +und jedes Land, mag es noch so zivilisiert sein, hat seine +Christenverfolgungen, seine Ketzerverbrennungen und Hexenfolterungen. In +Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das +Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen, +die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten +Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern sind heute auch +schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger werden immer +verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika eingewandert ist und +gestern sein zweites Bürgerpapier erhalten hat, ist heute der Mann, der +am wildesten schreit: „Macht die Grenzen fest zu, laßt niemand mehr +herein.“ Und doch sind sie alle nur Einwanderer und Söhne von +Einwanderern, der Präsident nicht ausgeschlossen ... + +Warum soll ich der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die +Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher +Bettler. „Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.“ Wenn der +Arbeiter aber einmal sagt: „Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust, +für Sie zu arbeiten“, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den +Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt und ganze Regimenter +von Miliz rücken an und stellen die Maschinengewehre auf. Fürwahr, es +ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln als um Arbeit zu +fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren, ohne den +Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen, ohne den +Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand um Arbeit zu +betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden soll, muß auf +den blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht, lachen, obgleich ihm +gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den Skipper oder den Ingenieur, +oder den Meister, oder den Vorarbeiter oder wer immer das Machtwort „Sie +werden eingestellt!“ zu sagen die Befugnis hat, bei guter Laune zu +halten. + +Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann +ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln. Der +Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon Leute +behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte. + +Also wozu der Arbeit nachrennen, wenn die Sonne so golden scheint, +überall ein Platz zum Schlafen ist und alle Menschen freundlich und +höflich sind, kein Polizist etwas von mir erfahren will, und kein Cop +meine Taschen durchsucht nach dem verlorengegangenen Rezept, wie man +biegsames Glas machen könne. + +Ich bekam Appetit auf Fisch, und ich dachte, die einfachste Art, Fisch +zu essen, ist, ihn zu haben; und um ihn zu haben, mußte ich ihn fangen. +Brot, Suppe und ein Hemd konnte man sich schon leicht verschaffen; aber +um Angelgerätschaften betteln zu gehen, das schien mir doch zu modern zu +sein. Ich paßte deshalb auf, als ein Passagierschiff ankam und die +Reisenden das Zollhaus verließen. Da bekam ich einen Koffer in die Hand +gedrückt, und als ich diesen Koffer seinem Besitzer im Hotel wieder +ablieferte, bekam ich drei Peseta in die Hand ausbezahlt. + +Mit diesem Geld ging ich in einen Laden und kaufte eine Angelschnur und +Haken. Das machte so ziemlich einen Peseta aus. So nebenbei erzählte ich +dem Verkäufer, daß ich ein Seemann sei, der sein Schiff verloren habe. +Da lachte der Verkäufer, wickelte meine Sachen recht sorgfältig in +Papier und überreichte sie mir mit einem „Favor!“ Ich wollte nach meinem +Zahlzettel greifen, aber der Verkäufer lächelte, zerriß mit einer +eleganten Geste den Zettel, warf ihn mit einer andern eleganten Geste +über seine Schulter hinweg, verbeugte sich höflich und sagte: „Ist +bezahlt, danke sehr! Viel Vergnügen beim Fischen, mein Herr.“ + +Und in diesem Lande sollte ich hinter der Arbeit herlaufen? Dieses Land +sollte ich verlassen? Ich wäre ja nicht wert, daß mich die spanische +Sonne bescheint. + + + 18 + +Ich saß auf der Kaimauer und hielt meine Schnur ins Wasser. Kein Fisch +biß an, obgleich ich sie so gut mit Blutwurst fütterte, die ich von +einem holländischen Schiff mitgebracht hatte, wo ich zum Abkochen, zum +Essen mit der Mannschaft, gewesen war. Dieses „Abkochen gehen“ auf die +Schiffe, das Mitessen mit der Mannschaft eines Schiffes, das im Hafen +liegt, ist auch nicht immer eine sehr würdige Sache. Der Arbeiter, der +gute Arbeit hat oder wenigstens glaubt, in guter Stellung zu sein, fühlt +sich gegenüber dem Arbeiter, der keine Arbeit hat, zuweilen sehr +überlegen. Und diese Überlegenheit läßt er den Arbeitslosen auch fühlen. +Der Arbeiter ist des Arbeiters größter Teufel. + +„Na, ihr Beachcombers, ihr Herumtreiber, habt ihr wieder nischt zu +fressen? Da wollt ihr wohl wieder hier raufkommen auf unsern Kasten, und +da sollen wir euch wohl wieder was zu fressen geben, hä? Aber bloß zwei +dürfen rauf. Ihr macht uns zu viel Schweinerei.“ + +Da durften wir dann nicht in das Quartier kommen, oft genug. Nein, wir +mußten vor der Tür stehenbleiben. Dann schütteten die Mitproletarier +alles, was sie auf den Tellern übrighatten, und was sie manchmal schon +im Munde gehabt hatten, in die große Blechschüssel, in der die Suppe +geholt worden war, dann schoben sie uns die Schüssel raus, und wir +mußten auf dem Verdeck essen, wo wir auf dem Boden zu hocken hatten. +Wenn wir dann um einen Löffel bitten mußten – ich hatte, durch lange +Erfahrung gewitzigt, immer meinen eignen in der Tasche –, dann sagten +sie, Löffel bekämen wir nicht. Wir fischten dann mit den Fingern in dem +Brei herum. Oder aber sie warfen uns ein paar Löffel zu und warfen sie +so geschickt, daß sie in den Brei fielen, so daß wir sie mit unsern +dreckigen Fingern herausfischen mußten, was den Leuten ein höllisches +Vergnügen zu bereiten schien. + +Und diese Mannschaften waren noch nicht die schlimmsten. Da waren +welche, die uns hinunterjagten vom Schiff, weil wir Spitzbubengesindel +seien. Oder andre, die vor unsern Augen die schönsten Schüsseln voll +Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ins Meer schütteten und ganze Brote +hinterher warfen, nur um uns zu ärgern. Es war dann zuweilen ganz +lieblich zu erleben, wenn einer oder der andre durch irgendeinen Umstand +entweder entlassen wurde oder achtern abgekantet war, dann mit uns an +der Beach, am Ufer lag, mit uns dann zum Abkochen gehen mußte und dabei +lernte, wie gut es tut, in der Weise von seinen eignen Klassengenossen +behandelt zu werden. + +Nicht alle waren so. Ich habe manchen Peseta freiwillig von +Schiffsproleten bekommen, habe ganze Büchsen voll Corned Beef oder +Leberwurst oder Blutwurst bekommen, Büchsen voll Gemüse, ganze Kilo +Kaffee von den Köchen, ganze Brote, Kuchen und Puddings. Einmal zwölf, +sage und wiederhole zwölf gebratene Hühnchen, von denen ich zehn selber +wegwerfen mußte, weil ich sie nicht essen und nicht verwahren konnte, +denn ich hatte ja keinen Eisschrank in meiner Hosentasche. Alles, was +man besitzt auf der Welt, hat man bei sich und hat man an sich. + +Wenn man in spanischen, afrikanischen, ägyptischen, indischen, +chinesischen, australischen und südamerikanischen Häfen an der Beach +liegt, lernt man allerlei Menschen kennen und allerlei Methoden, mit +deren Hilfe man sich am Leben erhält. Aber niemand läßt einen mit +solcher Kaltblütigkeit verhungern wie in vielen Fällen der Arbeiter. Und +der Arbeiter der eignen Nationalität ist der schlimmste aller Teufel. +Während ich als Amerikaner von den amerikanischen Schiffen +heruntergejagt wurde von der Mannschaft, habe ich als Deutscher auf +französischen Schiffen wie ein Fürst gelebt. Die Mannschaft lud mich +ausdrücklich ein, zu jedem Frühstück, zu jedem Mittagessen und zu jedem +Abendessen auf dem Schiff zu erscheinen, solange es im Hafen, es war in +Barcelona, läge. Und ich bekam das Beste, was nur ins Quartier kam, +während mir auf deutschen Schiffen Mannschaften gleich auf der +Falltreppe mit einem großen Schild entgegensprangen „Zutritt verboten!“ +Die deutschen Schiffe sind die einzigen Schiffe, die ich kenne, die +zuweilen ein großes Schild im Hafen aushängen mit der Inschrift „Zutritt +verboten!“ in deutscher Sprache und in der Sprache des Landes, in dessen +Hafen sie liegen. Yes, Sir. + +Als ich in Barcelona lag, wurde mir erzählt, in Marseille lägen viele +amerikanische Schiffe, die keine Mannschaft bekommen könnten, weil zu +viele ausgerückt seien. Die Mannschaft eines Kohlendampfers nahm mich +mit nach Marseille. Aber es war falscher Alarm. Es lag auch nicht ein +einziges amerikanisches Schiff im Hafen, und auf den paar andern, die +dort lagen, war auch nichts zu machen. + +Ganz verzweifelt schlich ich durch die Gassen im Hafenviertel. Ich ging +in eine Hafenkneipe, wo viele Seeleute verkehren, um zu sehen, ob ich +nicht vielleicht einen Bekannten treffen möchte, der mir aushelfen +könnte; denn ich hatte keinen Copper in meiner Tasche. + +Als ich hineinkam und mich umsah nach einem Stuhl, näherte sich mir die +Kellnerin, ein nettes junges Mädchen, und fragte, was ich trinken wolle. +Ich sagte ihr, ich hätte kein Geld und wolle nur sehen, ob nicht ein +Bekannter drin sei, von dem ich vielleicht etwas bekommen könne. Sie +fragte mich, was ich sei. Ich sagte: „Deutscher Seemann.“ + +Da sagte sie: „Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen zu essen!“ + +Ich erwiderte: „Ich habe aber doch kein Geld.“ + +„Das macht nichts“, sagte sie. „Sie werden gleich genug Geld haben.“ + +Ich verstand das nicht und wollte mich aus dem Staube machen, weil ich +glaubte, es sei irgendeine Falle. + +Nachdem ich gegessen und eine Flasche Wein vor mir stehen hatte, rief +das Mädchen plötzlich ganz laut durch die Schenke: „Meine Herren, hier +ist ein armer deutscher Seemann, der kein Schiff hat. Möchten Sie ihm +denn nicht etwas geben?“ + +Ich fühlte, daß ich totenbleich wurde, denn ich dachte jetzt, das sei +die Falle, und man wolle einen Spaß haben dadurch, daß man mir hier eine +Abreibung geben würde, die nicht von schlechten Eltern sei. Aber nichts +dieser Art geschah. Die Leute hörten nur alle auf zu reden und drehten +sich nach mir um. Einer stand auf, kam mit seinem Glas und stieß mit mir +an: „Auf Ihr Wohl, Deutscher!“ Er sagte nicht einmal „Boche“ dabei. Dann +nahm das Mädchen einen Teller und ging rund, und als sie den Teller dann +vor mir ausschüttete, zählte ich siebzehn Franken und einige sechzig +Centimes. Nun konnte ich mein Essen und meinen Wein gut bezahlen, und +als ich mit dem Kohler zwei Tage später wieder nach Barcelona fuhr, +hatte ich sogar noch etwas übrig von den Franken. + +Ich glaube nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern +gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde. +Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als Hunde. +Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal aber +auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander hetzen und +das „Ksch-ksch“ braucht gar nicht einmal geschickt gemacht zu werden. Es +braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie auch schon +aufeinander los wie blödsinnig geworden ... + +Verflucht nochmal, es beißt auch nicht ein einziges Luder an und die +Büchse Blutwurst ist gleich alle. Das kommt davon, wenn man döst und +seine Gedanken woanders hat, statt auf das Geschäft zu achten. Sobald +ich eine Portion beieinander habe, gehe ich raus, mache mir ein Feuer an +und brate die Fische an einem Stock. Es ist einmal etwas andres als die +immer in Öl gebackenen Fische. + +Wieder nichts dran und die Wurst abgebissen. Wie lange sitze ich hier? +Sicher schon drei Stunden. Aber Fischen beruhigt die Nerven. Man hat +nicht das Gefühl, daß man seine Zeit verplempert. Es ist nützliche +Arbeit, die man verrichtet: man trägt seinen Teil zur Volksernährung +bei, denn wenn ich die Fische esse, die ich hier jetzt fange, brauche +ich nicht woanders die Nudelsuppe aufessen. Die kann dann gespart +werden, und am Ende des Jahres findet man die gesparte Nudelsuppe in +irgendeiner Statistik wieder, wo die Zeile, in der die gesparte +Nudelsuppe erwähnt ist, mehr kostet als alle weggeschütteten Suppen des +ganzen Landes zusammengenommen. + +Ich könnte die Fische aber auch verkaufen gehen. Vielleicht kriege ich +soviel zusammen, daß ich zwei Peseta machen kann. Dann könnte ich wieder +einmal zwei Nächte in einem Bett schlafen. + +Siehst du, mein Freundchen, da habe ich dich doch endlich erwischt. Du +bist es, der mir die ganze Blutwurst abgefressen hat. Schwer ist er ja +nicht. Ein halbes Kilo. Ich glaube, nicht ganz. Dreihundertfünfzig +Gramm. Da zappelst du aber schön. Ich kann das nachfühlen. Ich habe auch +schon verschiedene Male so gezappelt, wenn mich ein Cop am Kragen hatte. +Aber es hilft nichts, ich habe Appetit auf Fische. + +Ja, das Wasser ist so schön kühl und die Sonne so schön warm. Hier hat +mich auch noch kein Cop am Kragen gehabt. Und ich weiß, wie es tut. Die +dreihundertfünfzig Gramm tun es auch nicht. Wenn du wenigstens ein Kilo +hättest. Und weil du doch angebissen hast und mir die Freude machtest, +mich hier nicht so vergeblich sitzen zu lassen, und weil ich liebe, frei +zu sein, viel mehr liebe, als satt zu essen zu haben, und weil die Sonne +lacht und das Wasser blaut, und weil du ein spanisches Fischlein bist: +Hoppla, wirst nicht erschossen, schwimm wieder lustig los und freue dich +deines munteren Lebens. Lauf nicht gleich einem andern ins Netz. Zieh ab +und grüß dein Mädel. + +Da plätschert er und schwimmt er und lacht, daß ich es bis auf die Mauer +höre. Grüß’ dein Mädel! ... Ach schiet ... + +„Sie sind mir aber auch ein Fischersmann“, sagt da jemand hinter mir. +Ich drehe mich um und sehe einen Zollbeamten stehen, der mir die ganze +Zeit zugesehen hat und jetzt laut lacht. + +„Aber da sind doch mehr Fische drin, das Wasser ist ja nicht so klein“, +sage ich, während ich wieder Blutwurst an den Haken spieße. + +„Sicher sind da mehr drin. Das war doch aber ein ganz guter dicker +Fisch.“ + +„Sicher war er das, er hatte ja meine ganze Büchse Blutwurst im Magen, +da soll er nicht dick sein.“ + +„Warum fischen Sie denn da überhaupt, wenn Sie so gute Fische wieder +hineinwerfen?“ + +„Damit, wenn mich heute abend jemand fragen sollte, was ich den ganzen +Tag getan habe, ich sagen kann, ich hätte gefischt.“ + +„Dann fischen Sie nur weiter“, sagt der Zollbeamte und geht. + +Daß Fischen betätigte Philosophie ist, verstehen die wenigsten Menschen. +Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des Wünschens, +des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt. + +Da schon wieder einer. Hätte ich nur den vorigen nicht gehen lassen, +dann wäre nun schon bald eine Portion zusammen. Aber ich werde doch +keine Klassenunterschiede einführen. Den andern habe ich frei gelassen, +nun kann ich doch diesen nicht seiner Dummheit wegen zum Tode +verurteilen. Das heißt, Dummheit verdient eigentlich immer und überall +die Todesstrafe, vorläufig wird sie nur mit Sklaverei bestraft. Wenn ich +wüßte, ich bekäme noch drei solche wie du einer bist, dann müßtest du +hier dran glauben. Ich habe Appetit auf Fische. Aber du bist ein +köstliches kleines lebendiges Wunder, na, gehe schon wieder rein in das +weite Meer. Hoppla, Freiheit ist doch das Größte und Beste am Leben. Ja, +Teufel nochmal, soll ich euch denn allen hier die Hand geben? Schon habe +ich abermals einen in der Hand. Ich weiß genau, wenn ich dich jetzt hier +behalte, beißt kein einziger mehr an, weil sie dann alle wissen, sie +können sich auf mich nicht verlassen. Und mit dir allein kann ich nichts +anfangen. Es würde sich gar nicht lohnen, rauszugehen und ein Feuer +deinetwegen anzuzünden. Wie lange hat das liebe Leben an dir gebaut, um +dich zu dieser unwichtigen Größe zu bringen? Sechs Jahre, vielleicht +sieben. Nun soll ich dich in einer Sekunde mit einem Hieb töten und dein +Leben beenden? Zieh ab, freue dich des blauen Meeres und deiner +Gefährten. Da schwänzelt er lustig vondannen. Gelt, Bürschchen, du +weißt, was Freiheit wert ist, freue dich ihrer, schätze sie und sei +glücklich. + +Das ist aber ein recht merkwürdiger Eimer, der da angeschwommen kommt +... Sie macht gerade los und kommt nicht gut ab. Sie schleppt und +schlittert und kratzt am Kai entlang. Offenbar will sie nicht raus, sie +ist wasserscheu. Aber ganz gewiß, man kann sich drauf verlassen, es gibt +auch wasserscheue Schiffe, yes, Sir. Das ist überhaupt der Fehler, der +so oft gemacht wird, daß man den Schiffen die Persönlichkeit abstreitet. +Die haben ihre Persönlichkeit, ihre Launen genau so gut wie ein Mensch. +Diese alte Tante hier hatte eine Persönlichkeit. Das sah ich auf den +ersten Hieb. Mit der war nicht gut Salz lecken. + + + 19 + +Manches Schiff habe ich gefahren, das wissen die Götter. Und tausend +Schiffe habe ich gesehen, das glaubt mir Thomas. Aber nie vorher habe +ich ein Schiff gesehen, das diesem gleich gewesen wäre. Der ganze +Rahmen, um damit gleich zu beginnen, war nicht nur ein guter Spaß, nein, +der war eine Unmöglichkeit. Wenn man diesen Eimer ansah, zweifelte man, +daß sie je auf dem Wasser schwimmen könnte. Viel eher schon glaubte man, +daß sie ein gutes Transportmittel durch die Wüste Sahara sein müsse und +mit Leichtigkeit die besten Kamele schlagen könnte. Ihre Form war weder +modern noch mittelalterlich. Es wäre ein ganz vergebliches Bemühen +gewesen, sie in irgendeine Periode der Schiffsbaukunst einzureihen. Am +Bug trug sie den Namen „Yorikke“. Aber der Name war so dünn und so +verwaschen, als ob sie sich schämte, so zu heißen. Achtern sollte der +Seevorschrift gemäß ihr Heimatsort zu lesen sein. Aber wo sie her war, +das wollte sie niemand verraten, wahrscheinlich schämte sie sich auch +ihres Wohnortes. Auch ihre Nationalität hielt sie streng geheim, +offenbar war ihr Paß nicht ganz in Ordnung. Jedenfalls war die +Nationalitätsflagge, die auf dem Flaggenstock am Stern auswehte, so +bleich, daß sie für jede Farbe aufnahmefähig war. Außerdem war die +Flagge ganz ausgefranst, als ob sie in allen Seeschlachten der letzten +viertausend Jahre den kämpfenden Flotten vorangeweht hätte. + +Welche Farbe ihr Kleid hatte, konnte ich nicht ergründen, obgleich das +ja in mein Spezialfach schlug. Allem Anschein nach zu urteilen, war das +Röckchen einmal, in einer fern zurückliegenden Zeit, schneeweiß gewesen, +weiß wie die Unschuld eines neugeborenen Kindleins. Aber das muß sehr +lange her sein, das muß gewesen sein in dem Jahr, als sich Abraham mit +der Sarah verlobte in Ur in Chaldäa. Die Kanten der Reeling waren einmal +grün gewesen. Auch das war lange, lange her. Seit jenen fernen Tagen +hatte die Yorikke einige hundert neue Anstriche erlebt, wie es ja dem +Laufe der Zeiten entsprach. Aber die Deckarbeiter hatten sich nie die +Mühe gemacht, die alte Farbe abzuklopfen. Wahrscheinlich war ihnen das +untersagt worden. Jedenfalls war der neue Anstrich immer wieder auf den +alten gekommen, dadurch hatte die Yorikke nun einen Umfang erhalten, der +sie doppelt so groß erscheinen ließ, als sie in Wirklichkeit war. Hätte +man sich die Arbeit gemacht, die einzelnen Anstriche sorgfältig +abzupellen, dann hätte man genau feststellen können, welche Art von +Farbe jedes einzelne Jahrhundert verwandte. + +Selbstverständlich, um nicht der Übertreibung angeschuldigt zu werden, +hätte man die Farbe nicht nur an dem Außenkleid abpellen dürfen, wo die +Yorikke verhältnismäßig noch am jüngsten war, weil man sie ab und zu in +ein Verschönerungsinstitut geschickt hatte. Nein, man hätte die Farbe an +allen Teilen des Schiffes, insbesondere also an den Inneneinrichtungen +abziehen müssen, um zu erfahren, in welchen Farben die große Festhalle +Nebukadnezars gehalten war, worüber wir ja heute noch im unklaren sind, +was uns sehr viele Sorgen bereitet. + +Das Kleid sah zum Höllenerbarmen niederträchtig aus. Da waren große +Flächen, wo die Deckarbeiter es mit einem schönen saftigen +Bolschewistenrot versucht hatten. Dann aber schien der Eigentümer oder +der Kapitän diese Farbe nicht zu lieben, und man malte weiter mit +Adelsblau. Das Rot hatte Geld gekostet, und man ließ es ruhig stehen, +Anstrich war Anstrich, und dem fressenden Salzwasser ist es +gleichgültig, ob es Bolschewistenrot oder Freiheitsgrün zu fressen hat, +die Hauptsache ist, daß Wind und Wogen etwas zu fressen kriegen, sonst +fressen sie das Schiff. Der nächste Besitzer wieder dachte, daß ein +schwarzes Schiff schöner sei und ein fettes Schwarz die mißtrauischen +Augen der Versicherungsgesellschaften besser verkleistern möchte als +irgendeine andre Farbe. Aber nie wagte jemand sich so hoch in die Kosten +zu versteigen, daß er das, was einmal gestrichen war, mit der neuen +Farbe überstrichen hätte, um dem ganzen Kleid eine einheitliche Nuance +zu geben. Nur keine überflüssigen Ausgaben, es war ja ein – halt, das +will ich noch nicht sagen, denn ich weiß es noch nicht. Aber ein alter +Salzwasserfisch riecht frühzeitig, und ich bin ein alter +Salzwasserfisch, wenn es aufs Riechen ankommt. + +Wenn nun Yorikke auf Fahrt war oder in einem Hafen lag, reichte die +Farbe nicht mehr, und es wurde mit den Farben weitergemalt, die gerade +noch da waren. Der Skipper schrieb nur immer an: „Farbe gekauft. Farbe +gekauft. Farbe gekauft.“ Niemand kann von seinem Lohn allein leben. Aber +die Farbe wurde nicht gekauft, sondern alles, was da war, wurde +aufgebraucht, ob es braun, grün, violett, zinnober, gelb oder orange +war. + +Also so sah die Yorikke von draußen aus. Mir wäre vor Schreck bald die +Angelschnur aus der Hand geflitscht, als ich dieses Meerungeheuer zum +ersten Male sah. + +Das kommt aber davon, wenn man den Deckarbeitern im Hafen keinen +Tagesurlaub gibt, aus lauter Geiz. Der Erste Offizier weiß nicht, was er +mit ihnen machen soll, und dann müssen sie anstreichen von morgens um +sieben bis nachmittags um fünf, streichen, streichen, streichen, solange +noch ein Pinselstiel auf der Welt ist und noch eine alte Blechbüchse an +den Rändern eine Schicht verdickter und verkrusteter Farbe hat. + +Nun müssen die Deckarbeiter beim Streichen draußen an der Bordwand +hängen an Tauen, oder sie sitzen auf schmalen Brettern, die an Tauen +heruntergelassen werden. Kommt es nun vor, daß der ganze Kasten +plötzlich einen gehörigen Schubs kriegt, sei es durch eine unerwartete +große Welle oder durch das Aufrühren eines großen vorbeifahrenden +Rieseneimers, oder weil beim Gezeitwechsel den Fangtauen nicht richtig +nachgegeben wurde, dann fliegt der Anstreicher mit seiner Todesschaukel +los von der Bordwand. Weil er nun lieber sein Leben retten will als den +Farbeimer, so geht natürlich der Farbeimer über Stag und die bunte Tunke +läuft an der Bordwand herunter. Der Eimer ist zwar gerettet und der Mann +auch, der Eimer hing an einem Tau und der Mann angelte noch rechtzeitig +ein Tau. Aber die Farbe! Aber die Farbe! An der Yorikke konnte man außer +den verschiedenen Farbversuchen noch ganz genau alle Püffe nachzählen, +die das gute Schifflein während des Anstreichens in den letzten zehn +Jahren erlebt hatte. Diese Farbenergüsse zu überstreichen, wäre +Verschwendung gewesen. Es war Farbe, und der Zweck, mit Farbe die +mancherlei Schönheitsfehler der Yorikke zartfühlend zu verdecken, war ja +durch den Puff erfüllt worden. An und für sich war es schon teuer genug, +weil ja nicht alle Farbe bei dieser Gelegenheit auf der Yorikke blieb, +sondern ein Teil im Meer verschwand und der andre Teil auf den Hosen des +Deckarbeiters hängen blieb, wo er ganz überflüssig war. Mit diesen +angestrichenen Hosen, die man jetzt hinstellen kann, ohne daß sie +umfallen, ist das Ereignis keineswegs beendet. Nun kommt erst noch die +Auseinandersetzung mit dem Ersten Offizier, der die Meinung vertritt, +daß die Farbe wertvoller sei als der Mann, und statt an sein unwichtiges +Leben zu denken, hätte er zuerst an die wertvolle Farbe denken sollen. +Deckarbeiter kann er auf dem Straßenpflaster auflesen oder unter dem +Galgen wegholen, aber Farbe kostet Geld, und der Skipper wird ihm einen +Mordsspektakel machen, weil er nun wieder nicht mit dem Farbenbuch und +mit der Rubrik „Farbe gekauft“ zurechtkommt. Häufig endet dieses +Gespräch, nachdem die üblichen Fluchkanonaden alle Munition verschossen +haben, damit, daß der gerettete Deckarbeiter sich seinen Lohn geben +läßt, den Sack vollpfropft, über die Planke geht und dem Schiff +Großfeuer in den Kohlenbunkern wünscht, wenn es fünfzehnhundert Meilen +„off the coast“ ist. Einen verrückten Menschen erkennt man oft schon am +Äußern, am Aussehen seines Gesichts, an der Zusammenstellung seiner +Kleidung. Je verrückter er ist, um so auffallender wird sein Aussehen +sein. Man konnte nicht gut sagen, daß die Yorikke einem vernünftigen +Schiffe, einem geistig normalen Schiffe gleich oder auch nur ähnlich +gesehen hätte. Das wäre eine Beleidigung für alle andern Schiffe der +sieben Meere gewesen. Ihr Aussehen stimmte so vortrefflich mit ihrem +Geist, mit ihrer Seele, mit ihrem Wesen und mit ihrem Betragen überein, +daß man an der geistigen Gesundheit der Yorikke mit Recht zweifeln +mußte. Es war ja nicht nur das äußere Kleid, nicht nur die Farbe. Alles, +was man von dem Boote sehen konnte, stand in vollem, ungetrübtem +Gleichklang mit der Haut und dem Gesicht. Die Lademasten standen wie +dürre Äste fuchtelnd in der Luft. Wenn durch den Schornstein der Länge +nach eine Kugel geschossen worden wäre, auch wenn es nur eine +Revolverkugel gewesen wäre, sie wäre nie am andern Ende herausgekommen. +Aber Rauch geht je auch um Ecken, andernfalls hätte die Yorikke nie +rauchen können. Aus dem Schornstein jedenfalls nicht. Wie die Brücke mit +dem übrigen Schiff in Verbindung stand, konnte ich nicht herausfinden. +Es sah so aus, daß, wenn das Schiff abfuhr, es nach einer Stunde wieder +umkehren mußte, um die Kommandobrücke abzuholen, die im Hafen +zurückgeblieben war; denn der Skipper hätte es von seinem Standort aus +nicht bemerken können, daß das Schiff schon eine Stunde unterwegs war, +und nur wenn der Steward auf die Brücke gegangen wäre, um dem Skipper zu +sagen, daß sein Essen in der Messe sei, hätte man herausgefunden, daß +die Brücke mit dem Skipper drauf nicht mitgekommen war, sondern irgendwo +im letzten Hafen schwebte oder festgeklemmt war. + +Als ich nun da auf der Mauer saß, so emsig mit Fischefangen beschäftigt, +und ich sah die Yorikke, da lachte ich, da lachte ich so laut und so +ungeheuerlich, daß die gute Yorikke einen Schreck bekam und um eine +halbe Schiffslänge zurückglitt. Sie wollte nicht raus ins Wasser und +wollte nicht. Sie kratzte und schrammte am Kai, daß es einen Hund +jammern konnte und man Mitleid bekam mit dem beklagenswerten Tantchen, +das da wieder hinausgetrieben werden sollte in die grausame Welt wilder +Mächte und Elemente. + +Aber niemand empfand Mitleid mit ihr. + +Ich hörte das Knarren und Quietschen der Wintschen und das Hin- und +Herlaufen und wußte, die werden jetzt das Tantchen gründlich vermöbeln +und bös einheizen, und dann muß sie eben doch hopsen. Was kann +schließlich ein alleinstehendes Mädchen gegen so viele rauhe Fäuste auf +die Dauer machen? Sie kann kratzen und beißen, aber sie muß hervor +hinter dem Zaun und muß mit zum Tanz gehen, ob ihr danach zumute ist +oder nicht. Wenn so ein sprödes Dämchen erst einmal die Musik hört, dann +ist sie die Tollste von allen. So war es sicher auch mit der Yorikke. +Erst mal glücklich drin im Wasser, dann würde sie rennen wie ein junger +Teufel, um nur schnell wieder in einem andern Hafen zu sein, wo sie sich +ausruhen kann und von vergangenen Zeiten träumen, als man sie nicht so +herumjagte wie in diesen hastigen Tagen. Sie ist doch schließlich keine +Junge mehr und schon ein wenig schwer auf den Beinen. Wäre sie nicht so +dick angezogen, würde sie sicher auch noch frieren in dem kalten Wasser, +denn das Blut rennt nicht mehr so frisch durch die Adern wie damals als +sie den Begrüßungsfestlichkeiten zusah, die von Cleopatra zu Ehren +Antonius’ veranstaltet wurden. + + + 20 + +Nach dem Aussehen eines Schiffes kann man genau die Beköstigung und die +Behandlung der Mannschaft beurteilen, sobald man erst einmal eine Weile +Salzwasser gerochen hat. Da bildet sich manch einer ernsthaft ein, daß +er vom Meere, von Schiffen und Seeleuten etwas verstünde, wenn er ein +dutzendmal auf einem Passagierschiff, vielleicht sogar Staatskabine, +über Ozeane gefahren ist. Aber ein Fahrgast lernt weder etwas vom Meer, +noch etwas von einem Schiff und noch viel weniger etwas vom Leben der +Mannschaft. Die Stewards sind keine Mannschaft, und die Offiziere sind +auch keine Mannschaft. Die einen sind nur Kellner und Hausdiener, und +die andern sind nur Beamte mit Pensionsberechtigung. + +Der Skipper kommandiert das Schiff, aber er kennt es nicht. Wer auf dem +Kamel reitet und den Ort angibt, wo er hinreiten will, weiß nichts von +dem Kamel. Der Kameltreiber allein kennt das Kamel, zu ihm spricht das +Kamel, und er spricht zu dem Kamel. Er allein kennt seine Sorgen und +seine Schwächen und seine Wünsche. + +So ist es auch mit einem Schiff. Der Skipper ist der Kommandant, der +Vorgesetzte, der immer anders will, als das Schiff will. Ihn haßt das +Schiff, wie alle Vorgesetzte und Kommandanten gehaßt werden. Wenn +Kommandanten wirklich einmal geliebt werden, oder es wird gesagt, daß +sie geliebt seien, so werden sie nur darum geliebt, weil man so am +besten mit ihnen und mit ihren Schrullen zurechtkommt. + +Aber die Mannschaft ist es, die das Schiff liebt. Die Mannschaft sind +die echten und wahren Kameraden des Schiffes. Sie putzen an dem Schiff +herum, sie streicheln es, sie kosen es, sie küssen es. Die Mannschaft +hat häufig kein andres Heim als das Schiff; der Kommandant hat ein +schönes Haus irgendwo auf dem Lande, er hat seine Frau, er hat seine +Kinder. Es haben auch manche Seeleute eine Frau oder Kinder, aber ihre +Arbeit mit dem Schiff und auf dem Schiff ist so hart und ermüdend, daß +sie nur an das Schiff denken können und die Familie daheim ganz +vergessen, weil sie keine Zeit haben, an Hause zu denken. Denn wenn sie +anfangen wollen, an das Zuhause zu denken, dann beginnen sie gleich zu +schlafen, weil sie zu müde sind. + +Das Schiff weiß ganz genau, daß es keinen Schritt gehen könnte, wenn die +Mannschaft nicht wäre. Ohne Skipper kann ein Schiff laufen, ohne +Mannschaft nicht. Der Skipper könnte nicht mal dem Schiff etwas zu essen +geben, weil er nicht versteht, wie er aufschmeißen muß, damit die Feuer +nicht ausgehen und doch die meiste Hitze geben, ohne Verdauungsstörungen +zu erzeugen. + +Mit der Mannschaft spricht das Schiff, mit dem Skipper und den +Offizieren nie. Der Mannschaft erzählt das Schiff Märchen und +wunderschöne Geschichten. Alle meine Seegeschichten haben mir die +Schiffe erzählt und keine Menschen. Das Schiff läßt sich auch gern etwas +erzählen von der Mannschaft. Ich habe gehört, daß Schiffe lachten und +kicherten, wenn die Mannschaft Sonntag nachmittags auf Deck saß und sich +Witze erzählte. Ich habe Schiffe weinen sehen, wenn traurige Geschichten +erzählt wurden. Und ich habe ein Schiff bitterlich schluchzen hören, +weil es wußte, daß es auf der nächsten Fahrt untergehen würde. Es kam +auch nie wieder und stand später bei Lloyds auf der Liste „Verschollen“. + +Das Schiff ist immer auf seiten der Mannschaft, nie auf seiten des +Skippers. Der Skipper arbeitet nicht für das Schiff, er arbeitet für die +Kompanie. Die Mannschaft weiß häufig gar nicht, zu welcher Kompanie das +Schiff gehört; sie macht sich keine Gedanken darüber. Sie kümmert sich +nur darum, was das Schiff selbst angeht. Wenn die Mannschaft unzufrieden +ist oder rebelliert, rebelliert das Schiff sofort mit. Streikbrecher +haßt das Schiff mehr als den Boden des Meeres; und ich habe ein Schiff +gekannt, das mit einer ganzen Horde von Streikbrechern auf der ersten +Ausfahrt, beinahe noch in Sicht der Küste, glatt auf den Boden ging. +Keiner kam mehr zurück. Es ging lieber selber unter, als von +Streikbrechern begrapscht zu werden. Yes, Sir. + +Wird die Mannschaft schlecht beköstigt oder schlecht behandelt, das +Schiff nimmt sofort Partei für die Mannschaft und schreit in jedem Hafen +die Wahrheit so laut hinaus, daß sich der Skipper die Ohren zuhalten muß +und oft genug eine Hafenkommission aus dem Schlafe gescheucht wird und +nicht eher Ruhe findet, bis sie eine Untersuchung angestellt hat. Ich +glaube sicher, daß man mich für ein ganz verfressenes Subjekt hält. Aber +für den Seemann ist ja das einzige, womit er sich außer seiner +Beschäftigung mit dem Schiff befassen kann, das Essen. Andre Freuden hat +er nicht, und hart arbeiten verursacht einen gesunden Hunger. Das Essen +ist ein wichtiger Bestandteil seines Lohnes. + +Auf der Yorikke aber, wie sie auch laut genug hinausschrie, wurde der +elendeste Fraß für die Mannschaft gegeben, den eine geizige Kompanie und +ein Skipper, der auf Nebenverdienste sehen mußte, nur herstellen konnte, +um die Mannschaft eben gerade noch am Leben zu erhalten. Wie der Skipper +selbst beschaffen war, verriet Yorikke jedem, der die Sprache eines +Schiffes verstand. Er trank gern, aber nur gute Tropfen; er aß gern, +aber nur gute Dinge; er stahl, wo er nur stehlen konnte; er machte +Nebengeschäfte, mit wem er nur konnte und auf wessen Kosten er nur +konnte. Im übrigen war ihm alles sehr gleichgültig, und er belästigte +die Mannschaft persönlich nur wenig. Er belästigte sie auf dem Umwege +über die Offiziere und die Ingenieure. Die Ingenieure hätten auf +Schiffen, die nicht verrückt waren, sondern normal, nicht einmal als +Öler arbeiten können. + +Wie war es nur möglich, daß Yorikke eine Mannschaft bekam und eine +Mannschaft halten konnte? Wie war es möglich, daß sie aus einem +spanischen Hafen, aus diesem gesegneten Lande des Sonnenscheins und der +Freiheit, ausfahren konnte mit voller Mannschaft? Da war ein Geheimnis +verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein –? + +Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da +ist es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht nochmal, o +Sperlingsschwänze und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff. + +Aber daß ich das nicht gleich auf den ersten Hieb gemerkt habe. Ich habe +eben gedöst. + +Richtig, da ist kein Zweifel mehr. + +Aber da war wieder etwas andres herum, daß sie es auch nicht sein +mochte. Da ist ein Geheimnis dahinter. Mich soll doch gleich ein Eisbär +am Hintern kratzen, wenn ich das nicht rauskriege, was mit dem Eimer los +ist. + +Sie hatte sich nun doch endlich entschlossen zu gehen, freiwillig und +gutwillig zu gehen. Ich hatte sie unterschätzt. Sie war wasserscheu aus +guten Gründen. Der Skipper war ein Esel, yes, Sir. Yorikke war viel +klüger als ihr Kapitän. Sie brauchte überhaupt keinen Kapitän, das sah +ich jetzt. Sie war wie ein gutes altes Rassepferd, das man allein gehen +lassen muß, wenn es den richtigen Weg gehen soll. Ein Kapitän braucht +nur ein unterstempeltes und unterschriebenes Zeugnis vorzulegen, daß er +ein Examen bestanden hat, und gleich wird ihm ein Eimer anvertraut und +noch dazu ein so delikater wie die Yorikke einer ist. Gebt einem +erfahrenen Deckarbeiter den Lohn, den der Skipper bekommt, und er wird +einen Eimer wie die Yorikke besser über den Froschteich bringen als ein +konzessionierter Kapitän, der nichts weiter tut, als den ganzen Tag +herumzulaufen und darüber nachzudenken, wie und wo er die Kost für die +Mannschaft noch etwas mehr beschneiden könnte, um für die Kompanie und +für seine Tasche noch einen Nickel mehr herauszuschinden. + +Strömung und Wind waren gegen Yorikke auf dem Wege, den zu gehen der +Skipper sie zu zwingen suchte. Ein so delikates Weibchen darf man nicht +zwingen, wie und wohin sie gehen soll, dabei kann sie nur auf Abwege +geraten. Der Lotse war nicht zu tadeln. Der Lotse kennt seinen Hafen +gut, aber er kennt nicht das Schiff. Dieser Skipper aber kannte das +Schiff noch viel weniger. + +Sie kroch quietschend an dem Kai entlang, und ich mußte jetzt die Beine +hochziehen, sonst hätte sie die mitgenommen. Und so sehr versessen +darauf, meine Beine nach Marokko zu schicken, während ich in Cadiz +blieb, war ich denn doch nicht. + +Achtern strampelte sie mit der Quirlflosse, und hier an den Seiten +spuckte und pißte sie wie besessen, als ob sie wer weiß wieviel gesoffen +hätte, und als ob sie es wer weiß wie schwer hätte, auf den Weg zu +kommen, ohne die Laternenpfähle mitzunehmen. + +Endlich glückte es dem Skipper, vom Kai klarzukommen. Aber ich war +überzeugt, daß es Yorikke war, die einsah, daß sie sich nun um sich +selber zu bekümmern habe, wenn sie mit heiler Haut davonkommen wollte. +Vielleicht auch wollte sie ihrem Eigentümer ein paar Eimer Farbe sparen. + +Je näher sie kam, desto unerträglicher wurde ihr Aussehen. Und es kam +mir der Gedanke, wenn jetzt der Henker hinter mir her wäre mit der +offnen Schlinge, und ich könnte ihm entwischen allein nur dadurch, daß +ich auf der Yorikke anmustere, ich würde die Schlinge vorziehen und zu +dem Henker sagen: „Lieber Freund, nehmen Sie mich und machen Sie ja +recht rasch, damit ich vor dieser Nagelkiste bewahrt bleibe.“ Denn jetzt +sah ich etwas, das schlimmer war als alles, was ich je in dieser +Hinsicht erblickt habe. + + + 21 + +Auf dem Vordeck standen die Mannschaften, die auf Freiwache waren, und +guckten über die Reeling hinunter auf den Kai, um ja noch mit ihren +Augen alles an fester Erde auf die lange Fahrt mitzunehmen, was sie in +diesen letzten Momenten erhaschen konnten. Ich habe verlumpte, +abgerissene, verkommene, verdreckte, verlauste und verschwärte Seeleute +genug in meinem Leben und in asiatischen und südamerikanischen Häfen in +überreicher Vollkommenheit gesehen, aber solche Mannschaft und noch dazu +eine, die nicht von einem Schiffbruch nach tagelangem Herumirren auf +eine Küste geworfen wird, sondern die sich auf einem hinausfahrenden +Dampfer befindet, je gesehen zu haben, konnte ich mich nicht erinnern. +Daß so etwas denkbar wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah +gewiß nicht elegant aus, und wenn ich ehrlich sein soll, ich war dem +Abgerissensein viel näher als dem Nichtzerlumptsein. Doch dieser +Mannschaft gegenüber sah ich aus wie der Scheik eines Chormädchens der +Ziegfeld-Follies in New York. Das war kein Totenschiff. Gott mag mir die +Sünde vergeben. Das waren ja Seeräuber vor ihrer ersten Beute; Piraten, +die seit sechs Monaten von den Kriegsschiffen aller Nationen verfolgt +werden; Buccaneers, die so tief gesunken sind, daß sie keinen andern +Ausweg mehr sehen, als chinesische Gemüse-Dschunken auf dem Meer zu +überfallen und auszurauben. + +Heilige Seeschlange, waren die zerlumpt, waren die dreckig! Einer hatte +keine Mütze auf, weil er weder Hut noch Mütze besaß, sondern hatte ein +Stück von einem grünen Unterrock wie einen Turban um den Kopf gewickelt. +Ein andrer hatte, meine Herren! nein, Sie werden es nicht glauben, aber +ich will doch gleich auf einem Auslegerboot als Kesselheizer angemustert +werden, wenn es nicht wahr ist, einer hatte sogar einen Zylinderhut auf. +Stellen Sie sich das vor, ein Seemann mit einem Zylinderhut. Hat die +Welt so etwas je erlebt? Vielleicht war er die letzte halbe Stunde vor +der Ausfahrt noch Schornsteinfeger gewesen. Oder er hatte hier auf dem +Eimer den Schornstein gefegt. Vielleicht war das eine besondere +Anordnung auf der Yorikke, daß der Schornstein nur im Zylinderhut gefegt +werden darf. Ähnliche merkwürdige Anordnungen habe ich auf Schiffen +erlebt. Aber die Yorikke gehörte nicht zu jenen Schiffen, wo man +merkwürdige Anordnungen einführte; die Yorikke war ein Schiff, wo man +mit den Anordnungen, die tausend Jahre alt sind, genug zu tun hat, um +den Eimer in Gang zu halten. Nein, dieser Zylinder war nur darum im +Gebrauch, weil der Mann keine andre Kopfbedeckung hatte, und wenn er sie +gehabt hätte, offenbar Geschmack genug besaß, daß er zu der Frackweste, +die er auf dem Leibe trug, nicht gut eine Tellermütze aufsetzen konnte. +Es schien gar nicht so unmöglich zu sein, daß er von seiner eignen +Hochzeit entsprungen war in jenem verhängnisvollen Augenblick, als es +anfing, ernst zu werden. Und weil er keinen andern Zufluchtsort vor den +Megären fand, er in seiner letzten Not die Yorikke erwischte, wo man ihn +mit offnen Armen willkommen hieß. Hier suchte ihn keine der Megären, +sicher nicht einen, der in Frack und Zylinder der Braut die Hacken +zeigte. + +Hätte ich gewußt, daß sie wirklich Seeräuber wären, ich hätte sie +angefleht, mich mitzunehmen zu Ruhm und Gold. Aber wenn man kein +Unterseeboot hat, ist Seeräuberei heute nicht mehr lohnend genug. + +Nein, da es keine Seeräuber sind, dann schon lieber den Henker, als hier +gezwungen sein, die Yorikke zu fahren. Das Schiff, das mich von dem +sonnigen Spanien fortlocken kann, das muß schon eins sein, doppelt so +gut wie die Tuscaloosa. Ach, wie lang ist das her. Ob sie noch in New +Orleans zu Hause ist? New Orleans, Jackson Square, Levee und ach – na, +wollen wir mal wieder Blutwurst aufspießen; sobald der bunte Eimer +vorüber ist, werden wir ja vielleicht noch einen Zweipfünder machen. +Wenn nicht, ist es auch gut; dann wollen wir mal sehen, was die +Nudelsuppe macht, oder was es drüben auf dem Holländer zum Abendessen +gibt. + +Wie eine Schnecke, die sich überfressen hat, sich aber gleichzeitig +trainieren muß für das nächste Schneckenwettlaufen, so zog Yorikke +vorüber. + +Als die Köpfe der Buschräuber gerade über mir waren, rief einer von +ihnen herunter zu mir: „Hey, ain’t ye sailor?“ + +„Yesser.“ + +„Want a dschop?“ Auf sein Englisch braucht er sich nichts einzubilden, +aber für enge Familienverhältnisse reicht es aus. + +Ob ich Arbeit haben will. + +Ei, orgelspielender Grizzlybär, der wird das doch nicht etwa ernst +meinen? + +Ob ich Arbeit haben will? + +Nun bin ich verloren. Da ist diese Frage, die ich mehr gefürchtet hatte +als die Posaune des Erzengels Michael am Auferstehungstage. Es ist doch +üblich, daß man selbst um Arbeit nachfragen gehen muß. Das ist doch +ewiges unveränderliches Gesetz, solange es nun schon Arbeiter gibt. Und +ich bin nie fragen gegangen, immer aus Angst, es hätte einmal jemand ja +sagen können. + +Wie alle Seeleute bin ich abergläubisch. Auf dem Schiff und auf dem Meer +ist man auf Zufälle und also auch auf Aberglauben angewiesen, sonst +hielte man es nicht aus und würde verrückt. Und dieser Aberglaube ist +es, der mich zwingt, ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob ich Arbeit +haben will. Denn würde ich nein sagen, so würde ich mein Glück +verschwören, würde nie wieder im Leben ein Schiff bekommen und am +allerwenigsten bekommen, wenn ich es so bitter notwendig brauchte. +Manchmal glückt das Erzählen einer Geschichte, aber manchmal glückt es +nicht, und der Mann brüllt „Polizei! Betrüger!“ Wenn man dann nicht +schnell ein Schiff zur Hand hat, glaubt die Polizei jenem Manne, der +keinen Spaß versteht und keine Ideen hat. + +Dieser Aberglaube hat mir schon manchen bösen Streich gespielt und mir +Beschäftigungen auf den Hals gebracht, von denen ich nie geglaubt hätte, +daß solche überhaupt in der Welt vorhanden seien. Er war die Ursache, +daß ich Totengräbergehilfe in Guayaquil in Ecuador wurde, und daß ich +auf einem Jahrmarkte in Irland mit meinen eignen Händen helfen mußte, +das Kreuz, an dem unser Herr und Heiland Jesus Christus seinen letzten +irdischen Seufzer aushauchte, splitterweise zu verkaufen. Jeder Splitter +kostete eine halbe Krone, und das Vergrößerungsglas, das die Leute dazu +kaufen mußten, um den Splitter auch zu sehen, kostete eine andre halbe +Krone. Zu solcher Beschäftigung, die mir zweifellos nicht gut +angeschrieben werden wird, kommt man aber, wenn man abergläubisch ist. +Seitdem mir das in Irland zugestoßen ist, habe ich auch nichts mehr drum +gegeben, ein braver und guter Mensch zu bleiben, denn ich wußte, daß ich +nun alles Zukünftige verspielt hatte. Es war ja nicht, daß ich die +Splitter hatte verkaufen helfen. Nein, das war nicht so schlimm, das +wäre mir vielleicht gar als ein Verdienst angerechnet worden. Viel +schlimmer war, daß ich auch geholfen hatte, mit dem Geschäftsinhaber in +einem Hotelzimmer die Splitter aus einem alten Kistendeckel +anzufertigen. Aber auch das wäre noch nicht so unverzeihlich gewesen, +wenn ich nur nicht vor den Leuten meine Seele verschworen hätte, daß ich +die Splitter selbst aus Palästina mitgebracht hätte, wo sie mir ein +alter, zum Christentum bekehrter Araber, in dessen Familienbesitz die +Splitter seit achtzehnhundert Jahren gewesen waren, anvertraut hätte mit +der feierlichen Versicherung, daß ihm Gott im Traume erschienen sei und +ihm anbefohlen habe, diese Splitter nur nach Irland und sonst nirgend +woanders hin gelangen zu lassen. Die in arabischen Zeichen geschriebenen +Dokumente konnten wir vorweisen und auch eine Übersetzung in Englisch, +aus der hervorging, daß in dem Dokumente wirklich das drin stünde, was +wir auf dem Jahrmarkte erzählten. Solche Streiche kann einem der +Aberglaube spielen, yes, Sir. + +Hätten wir das eingenommene Geld wenigstens an ein Kloster oder an den +Papst abgeschickt, dann wäre es ja auch nicht so schlimm gewesen und ich +hätte Hoffnung, daß mir vergeben würde. Aber wir verbrauchten das Geld +für uns, und ich war sehr bedacht darauf, daß ich auch meine richtigen +Prozente und Tantiemen bekam. Aber ich war keineswegs ein Betrüger, ich +war nur ein Opfer des Aberglaubens, meines Aberglaubens. Denn die guten +Leute glaubten mir, die waren nicht abergläubisch. + + + 22 + +So war es ganz natürlich, daß, als ich gefragt wurde, ob ich Arbeit +haben wollte, ich ja sagte. Ich war innerlich gezwungen, ja zu sagen, +und ich konnte diesem Zwange nicht entweichen. Ich bin sicher, daß ich +bleich wurde vor Todesangst, auf diesen Eimer zu müssen. + +„A. B.?“ fragte der Mann. + +Glück zu, da war die Rettung. Die brauchten einen A. B., und ich war +kein A. B. Ich hütete mich weislich, nun zu sagen: „Plain“, denn im +Notfalle kann ein Deckarbeiter auch am Rade stehen, besonders wenn das +Wetter ruhig ist und keine großen Kursveränderungen sind. + +Deshalb antwortete ich: „Nosser, no A. B. Black gang. Schwarze Bande.“ + +„Fein!“ schrie der Mann herunter. „Das ist ja, was wir brauchen. Mach +hurtig voran. Hopp auf.“ + +Nun wurde mir alles klar. Sie nahmen, was sie kriegten, und woher sie es +kriegten, weil sie um soundsoviele Mann zu kurz waren. Ich hätte sagen +können: Koch, oder ich hätte rufen können: Zimmermann oder Boss’n, sie +würden immer gerufen haben: „Hopp auf!“ Da war etwas nicht in Ordnung. +Verflucht, sollte sie doch ein –, nein, trotz aller verdächtigen +Begleitumstände, die Yorikke schien doch kein Totenschiff zu sein. + +Ich mußte die letzten Karten spielen. + +„Where ’re ye bound? Wohin geht ihr raus?“ + +„Wo wollen Sie hin?“ + +Die sind geeicht. Da ist kein Entrinnen. Ich kann rufen Südpol, ja, ich +kann rufen Genf, sie werden mir, ohne zu zucken, entgegenrufen: „Da +gehen wir hin.“ + +Aber ich wußte ein Land, wo der Eimer nicht wagen dürfte, hinzugehen, +das war England. Deshalb sagte ich: „England.“ + +„Mann, was für ein Glück haben Sie!“ schrie die Stimme. „Wir haben +Ladung, Stückgut für Liverpool. Sie können da abmustern.“ + +Da hatten sie sich verraten. Das einzige Land, wo ich nicht abmustern +konnte und auch kein andrer Seemann, der nicht auf einem englischen Boot +fuhr, das war England. Aber dieser Antwort Liverpool konnte ich nicht +ausweichen. Ich konnte ihnen doch nicht beweisen, daß sie schwindeln. + +Es scheint so lächerlich zu sein. Es konnte mich natürlich niemand +zwingen, anzuzeichnen für irgendein Boot, auf keinen Fall, solange ich +hier auf festem Boden stand und nicht unter der Gerichtsbarkeit und +Gesetzesgewalt des Skippers. Aber das ist ja immer so: wenn man sich zu +wohl und zu glücklich fühlt, dann möchte man es noch besser haben, läge +dieses Besser-haben-Wollen auch nur darin versteckt, daß man sich nach +einem Landschaftswechsel sehnt und eine stille ewige Hoffnung pflegt und +nährt, daß jeder Wechsel zu Besserem führen müsse. Ich glaube, seit Adam +sich im Paradiese langweilte, ist es der Fluch der Menschen, sich nie +vollkommen glücklich zu fühlen und immer auf der Jagd nach einem größern +Glück zu sein. Wenn ich an England denke mit seinem ewigen Nebel, seiner +ewigen naßkalten Witterung, seiner Fremdenhetzerei, seines ewig stupid +lächelnden Kronprinzen, dem die Maske angefroren ist, und es vergleiche +mit diesem freien, sonnigen Lande und seinen freundlichen Bewohnern und +mir nun vorstelle, daß ich alles dies zurücklassen soll, so ist mir aber +doch in der Tat zum Sterben zumute. + +Aber da war das Schicksal. Ich hatte ja gesagt, ich hatte nun als guter +Seemann, der zu seinem Wort steht, anzuzeichnen für den Eimer, und wenn +er direkt auf den Meeresboden führe; mit diesem Boot, das ich +ausgelacht, laut und heulend ausgelacht hatte, als ich es zum ersten +Male gesehen, und das zu fahren ich nicht gedacht hatte, auch wenn ich +den letzten Atemzug dadurch hätte aufhalten können. Nicht mit diesem +Schiff und nicht mit dieser Mannschaft. Yorikke rächte sich dafür, daß +ich sie ausgelacht hatte. Aber es geschah mir im Grunde ganz recht, +warum war ich hier hinuntergegangen und hatte mich von ausfahrenden +Schiffen sehen lassen. Da soll man mit der Nase wegbleiben, ausfahrende +Eimer gehen einen gar nichts an, wenn es nicht der eigne ist, man soll +sie in Ruhe lassen und nicht hinter ihnen herspucken wollen. Das ist +immer Pech. Das können die nicht vertragen. + +Ein Seemann soll nicht von Fischen träumen, und er soll nicht an Fische +denken, das ist nicht gut. Und ich war hierhergegangen und wollte sogar +welche fangen. Jeder Fisch oder seine Mutter hat schon an einem +ertrunkenen Seemann genascht, darum soll sich ein Seemann vor Fischen +hüten. Wenn ein Seemann Fische essen will, soll er sie sich von einem +ordentlichen Fischersmann kaufen. Fische fangen ist dessen Geschäft, dem +tun sie nichts; wenn der von Fischen träumt, bedeutet es Geld. + +Ich schoß die letzte Frage, die möglich war: „Was wird gezahlt?“ + +„Englisch Geld.“ + +„Wie ist das Essen?“ + +„Reichlich.“ + +Nun war ich umzingelt. Nicht eine schmale Ritze blieb offen. Es gab für +mein Gewissen auch nicht eine einzige Entschuldigung, mein Yes +zurückzunehmen. + +Sie warfen ein Tau rüber, ich fing das Tau auf, schwang mich mit voran +gestreckten Füßen gegen die Bordwand, und während sie von Deck aus das +Tau einholten, stieg ich an der Wand empor und sprang oben über die +Verschanzung. + +Als ich nun auf dem Deck stand, kam Yorikke merkwürdig rasch in volle +Fahrt, und während ich das versinkende Spanien mit meinen Augen +liebkoste, hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt durch jenes große Tor +geschritten war, über dem die schicksalsschweren Worte stehen: + + Wer hier eingeht, + Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht, + Er ist verweht! + + + + + ZWEITES BUCH + + + INSCHRIFT ÜBER DEM MANNSCHAFTSQUARTIER DES TOTENSCHIFFES + + WER HIER EINGEHT, + DESS’ NAM’ UND SEIN IST AUSGELÖSCHT. + ER IST VERWEHT + VON IHM IST NICHT EIN HAUCH ERHALTEN + IN DER WEITEN, WEITEN WELT. + ER KANN ZURÜCK NICHT GEHN, + NICHT VORWÄRTSSCHREITEN, + DA, WO ER STEHT, IST ER GEBANNT. + IHN KENNT NICHT GOTT UND KEINE HÖLLE. + ER IST NICHT TAG, ER IST NICHT NACHT. + ER IST DAS NICHTS, DAS NIE, DAS NIMMER. + ER IST ZU GROSS FÜR DIE UNENDLICHKEIT + UND IST ZU WINZIG FÜR DAS SANDKÖRNLEIN, + DAS SEINE ZIELE HAT IM WELTENALL. + ER IST DAS NIEGEWESEN + UND DAS NIEGEDACHT! + + + 23 + +Nun betrachtete ich mir die Haifischjäger in der Nähe. Der Eindruck, den +ich von draußen gewonnen hatte, wurde keineswegs besser. Er wurde nicht +einmal schlimmer, sondern er wurde einfach vernichtend. Ich hatte +ursprünglich geglaubt, daß einige der Leute Neger und einige Araber +wären. Aber jetzt erkannte ich, daß sie nur unter Kohlenstaub und Dreck +so aussahen. Der Deckarbeiter steht ja nun auf keinem Schiff, die +russischen Bolschewistenschiffe vielleicht ausgenommen, in der gleichen +menschlichen Rangstufe mit dem Skipper. Wo sollte das aber auch +hinführen? Man könnte die beiden ja eines schönen Tages miteinander +verwechseln und herausfinden, daß der Deckarbeiter ein ebenso +intelligenter Mensch ist wie der Skipper. Zuweilen wäre das sogar noch +nicht einmal ein Beweis, daß der Deckarbeiter überhaupt Intelligenz +besitzt. + +Hier gab es zweifellos sogar noch unter den Deckarbeitern Rangstufen. Da +waren Deckarbeiter ersten Grades, Deckarbeiter zweiter, dritter und +vierter Ordnung. Jene beiden Taschendiebe, die da standen, schienen +Deckarbeiter fünften Grades zu sein. Ich weiß nicht, welches +augenblicklich die unzivilisierteste Menschenrasse ist. Das wechselt ja +mit jedem Jahre, je nachdem, wie wertvoll oder wie wertlos, für andre, +das Land ist, wo diese Menschenrasse lebt. Aber diese beiden +Deckarbeiter würden bei jener unzivilisierten Rasse wohl noch nicht +einmal gebraucht werden können, um Kokosnüsse aufzuschlagen. So viele +Deckarbeiter, daß jeder Grad seinen rechtmäßigen Vertreter hier haben +konnte, hatte man für die Yorikke nicht auftreiben können. Infolgedessen +waren die Deckarbeiter des ersten, des zweiten, des dritten und des +vierten Grades nicht vertreten, nur zwei des fünften und drei des +sechsten Grades. Die Vertreter des fünften Grades habe ich geschildert, +die des sechsten kann ich nicht beschreiben, da ich sie mit nichts +vergleichen kann, was sich sonst auf Erden findet. Sie waren durchaus +Original, und ich muß mich damit begnügen, zu sagen, sie waren würdig +vertreten, und man glaubte es ihnen ohne Legitimation, daß sie der +sechsten Ordnung angehörten. + +„Gauten Tahk!“ Der Anführer der Taschendiebe und der Jahrmarktsbetrüger +– halt, ich wollte sagen: der Anführer der Taschendiebe und der +Roßtäuscher kam auf mich zu. „Ich bing da zwiehte Inkscheneer. Disser +hier, was miehn Nachtbur ist, disser iehst da Dunkymänn.“ Das war ein +Englisch! – Ich muß es wohl zukünftig mehr in eine besser lesbare +Sprache übersetzen, um es verständlich zu machen. Er wollte mir +mitteilen, daß er der Zweite Ingenieur und damit mein direkter +Vorgesetzter sei, seit ich zur Schwarzen Bande gehörte, und daß sein +Nachbar, der an seiner Seite stand, der Donkeyman sei, also mein +Unteroffizier. + +„Und ich,“ stellte ich mich nun selbst vor, „ich bin der Generaldirektor +der Kompanie, die diesen Eimer besitzt, und ich bin an Bord gekommen, um +euch Burschen ordentlich Beine zu machen.“ + +Denn wenn die beiden glaubten, sie könnten mich aufziehen, dann müssen +sie sich schon einen andern suchen, nicht gerade einen, der schon als +Küchenjunge fuhr, als seine Altersgenossen noch das Abc lernten. Mit +solcher Vanille müßt ihr mir nun nicht kommen, dann haben wir den +rechten Ton gleich von der ersten Wache an und werden nicht viel +gewürzte Schokolade miteinander trinken. + +Aber er hatte nicht begriffen, was ich gesagt hatte; denn er sprach +weiter: „Gehen Sie zum Quartier und suchen Sie sich Ihre Bunk.“ + +Ja, da fallen mir aber doch die Holzschindeln vom Dach, der wird doch +nicht etwa im Ernst geredet haben und ist tatsächlich der Zweite +Ingenieur und mein Vorgesetzter, dieser ausgebrochene Galeerensträfling? +Als hätte mich jemand mit einer Keule über den Schädel gehauen, so +torkelte ich nun zum Forecastle, zum Quartier. + +Ein paar Mann lagen faul in ihrer Bunk. Als ich hereinkam, sahen sie +mich schläfrig an, ohne irgendein Interesse oder irgendein Erstaunen zu +zeigen. Solche unerwarteten Auffrischungen der Mannschaft schienen zu +oft vorzukommen, als daß sie wert gewesen wären, sie zu beachten. Ich +habe später einmal gehört, daß in einem Dutzend Häfen, die Yorikke +gelegentlich anzulaufen pflegte, immer zwei oder drei Mann am Ufer +lagen, die aus diesem oder jenem Grunde kein andres Schiff kriegen +konnten oder unbedingt fort mußten, weil die Kaie zu heiß wurden, und +nun täglich beteten: „O Herr der Schiffe und Heerscharen, laß’ die gute +alte Yorikke hereinkommen!“ Denn auf der Yorikke fehlten immer zwei oder +drei Mann, und ich bin sicher, daß die Yorikke noch nie in ihrem +urlangen Leben jemals mit voller Mannschaft gefahren ist. Man sagte der +Yorikke auch sonst noch etwas Häßliches nach. Es wurde behauptet, ihr +Skipper sei schon viele, viele Male zu den Galgen gegangen und habe die +Gehenkten untersucht, ob nicht noch ein Fünkchen Leben in ihnen +zurückgeblieben sei und sie noch so viel Atem hätten, um ein Ja zu +flüstern und angemustert zu werden für die Yorikke. Diese Nachrede ist +häßlich, das weiß ich, aber sie ist nicht aus der Luft gegriffen und +keiner Katze aus dem Ohrläppchen gesaugt. Ich fragte nach einer leeren +Bunk. Einer der Leute deutete mit dem Kopfe nach einer oberen Schachtel. +Ich fragte, ob auch niemand drin verreckt sei. Der Mann nickte und sagte +dann: „Die untere Kommode ist auch frei.“ + +So nahm ich die untere. Der Mann verlor jegliches Interesse an mir und +meinem Tun. + +In der Bunk war keine Matratze, kein Strohsack, kein Kissen, keine +Decke, kein Bettuch. Nichts. Nur das nackte wurmstichige Holz. Und sogar +an dem Holze hatte man jeden Millimeter gespart, der nur gerade noch +abzusparen war, damit man den Koffer für menschliche Gebeine noch Bunk +nennen könne und nicht etwa einen Schirmkoffer. In jedem der beiden +Bunks, die meinem gegenüber lagen, der eine oben der andre unten, lagen +Lumpen und zerrissene alte Säcke. Das waren die Matratzen für die +Mannschaften, die jetzt auf Wache waren oder auf dem Deck +herumlungerten. Als Kissen hatten sie altes Tauwerk. Daß man auf altem +Tauwerk schlafen könnte, mußte also doch keine Sage aus fernen Zeiten +sein. In der Bunk, die über der meinen lag, in der also einer kürzlich +verreckt war, vielleicht gestern erst, lagen keine Lumpen. Wenn ich auf +meiner Bunk saß, so konnte ich die gegenüberliegende Bunk erreichen, +ohne daß ich die Beine hätte lang ausstrecken brauchen. Ich stieß +bereits mit den Knien an, während ich hier saß. Der Schiffsbauer war ein +guter Rechner gewesen. Er hatte ausgerechnet, daß auf einem Schiff immer +ein Drittel oder manchmal gar die Hälfte der Mannschaft auf Wache ist in +der Zeit, wo die Bunks im Gebrauch sind. Aber es traf sich, daß wir drei +Mann, die wir in diesem Abteil wohnten, alle dieselbe Wache hatten, so +daß wir alle zu gleicher Zeit uns hier in diesem Raum, der zwischen den +Bunks kaum einen halben Meter breit war, aus- und ankleiden mußten. +Dieses Gewimmel von sich bewegenden Armen, Beinen, Köpfen und Schultern +wurde noch unübersichtlicher, als in einem Nachbarquartier ein Mann mit +seiner Bunk herunterbrach und die gebrauchen mußte, wo der eine verreckt +war. Wie sich das ja immer so fügt, so war es auch hier; der neue +Quartierbewohner gehörte mit zu unsrer Wache, und nun waren die +Einzelheiten des Gewimmels beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr +zu unterscheiden. Wenn es gar zu arg durcheinanderging, so daß die +Schiffsglocke schon die Wache ausrief, dann schrie der eine oder der +andre plötzlich ein brüllendes Halt! aus, bei dem nach stillem +Übereinkommen jeder von uns still hielt für die Dauer einer Sekunde. +Dieses Halt! durfte nicht unnützlich geführt werden, sondern nur dann, +wenn einer in höchster Not war, daß er seinen linken Arm verloren hatte +oder sein rechtes Bein sich mit dem linken Bein eines der andern +Insassen so vertauscht hatte, daß man ohne dieses Halt! nie +herausgefunden hätte, daß der Martin mit dem rechten Bein des Bertrand +auf Wache ging, während Bertrand erst bei Tagesanbruch merkte, daß er +die ganze Wache hindurch mit der rechten Hand des Martin und mit der +linken des Henrik das Ruderrad gequirlt hatte, während ich die Hände +Bertrands verdreckte und überhaupt nicht wußte, wer meine abnutzt. + +Ernstere Folgen hatte es schon, wenn im trüben Halbschlummer der +rußenden Quartierlampe Bertrand mit seinem rechten Bein in das linke +Bein seiner eignen Hose stieg, während er mit seinem linken Bein voll +angezogen im rechten Bein der Hose Henriks steckte. Manchmal kostete es +zwei halbe Hosen, manchmal kostete es nach allen Seiten herumfliegende +Püffe, manchmal eine eingebrochene Bunk oder eine durchstoßene Tür. +Immer aber kostete es eine ganze Freiwache Streitens und Zankens, um +festzustellen, wer zuerst in das falsche Hosenbein gestiegen sei, +wodurch der Unschuldige gezwungen wurde, sich rasch nach einem freien +Hosenbein umzusehen, damit er nicht etwa mit einem unbekleideten Beine +auf die Wache zu gehen gezwungen war. Es ist in der Tat zweimal +vorgekommen, daß ein Hosenbein im Quartier zurückblieb, das beidemal von +seinem rechtmäßigen Besitzer erst vermißt wurde als der Morgen aufkam. +Es wäre ja vielleicht gegangen, wenn man sich geeinigt hätte. Aber wer +sollte denn der Ausgestoßene sein, der eine Minute früher aufzustehen +verdammt wurde? Beim Aufstehen begann ja gleich der wütende Streit +darüber, daß eine halbe Stunde zu früh geweckt worden sei, wodurch +gleich alle in die nötige Stimmung versetzt wurden, um jede +Einigungsverhandlung auszuschließen und im Keime zu ersticken. Dieses +Streiten und Wüten und Androhen, daß man der Wache das Zufrühwecken +schon anstreichen wolle, erreichte seinen Höhepunkt gerade immer dann, +wenn die Schiffsglocke die Wache aufrief. Dann paarte sich die Wut mit +Nervosität, daß man nicht fertig würde, und gleich mit einem Anranzer +die Wache beginnen müsse, weil der Hund wieder einmal zu spät geweckt +habe, was er aus reinem Schabernack täte, wenn man an und für sich schon +mit dem Zweiten nicht gut steht. + + + 24 + +Elektrisches Licht hatte die Yorikke nicht; sie wußte offenbar in ihrer +Unschuld auch gar nicht einmal, daß es so etwas gäbe. Das Quartier war +erleuchtet von einer Petroleumlampe. Man muß diesen Leuchtapparat schon +so nennen. Es war ein verbeulter Blechbehälter mit einer +Kranzverschraubung, die aus Eisenblech war, die man aber durch +betrügerische Mittel so behandelt hatte, daß man glauben sollte, sie sei +aus reinem Messing. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, wo dieser +Betrug aufrechterhalten werden konnte. Aber weil jedes Kind weiß, daß +Messing nicht rostet und von jenem Messingkranz nur noch Rost +übriggeblieben war, der durch eine lange Gewohnheit in der Form eines +Zylinderkranzes zusammenhielt, so war der Betrug herausgekommen, +freilich zu einer Zeit, als die Lampe nicht mehr umgetauscht werden +konnte, weil die Garantie abgelaufen war. Die Lampe hatte auch einmal +einen Zylinder gehabt. Der winzige Rest dieses Zylinders konnte allein +nur dadurch als Überbleibsel eines brauchbaren Lampenzylinders +zweifelsfrei festgestellt werden, weil zuweilen die Frage durch das +Quartier schwirrte: „Wer ist denn heute dran, den Zylinder zu putzen?“ +Es war nie jemand dran, und es ging auch nie jemand dran. Diese Frage +wurde auch nur aus alter Gewohnheit gestellt, um uns in dem Glauben zu +lassen, wir besäßen einen Lampenzylinder. Ich habe nie jemand gesehen, +der so viel Mut besessen hätte, „dran“ zu gehen. Er wäre nicht mehr +davongekommen. Eine leise direkte Berührung des Zylinders hätte ihn in +Staub zerfallen lassen, der Missetäter wäre dafür verantwortlich +gewesen, man hätte ihm den Zylinder von der Heuer abgezogen, und auf +diesem Wege hätte die Kompanie einen neuen Zylinder bekommen. Das Schiff +noch lange nicht. Irgendwo hätte sich schon ein Glasscherben gefunden, +der durch die Frage: „Wer ist denn heute dran?“ die Form eines Zylinders +bekommen hätte. Die Lampe selbst war eine der Lampen, die jene sieben +Jungfrauen getragen hatten, als sie auf der Hut waren. Unter solchen +Umständen durfte man nicht gut erwarten, daß sie ein Seemannsquartier +auch nur notdürftig erleuchten konnte. Der Docht war auch noch derselbe, +den eine Jungfrau aus ihrem wollenen Unterrock geschnitten hatte. Das +Öl, das wir für die Lampe faßten, und das aus betrügerischen Gründen +Petroleum, manchmal sogar Diamantöl genannt wurde, war schon ranzig, als +die Jungfrauen Öl auf ihre Lampen gossen. In der Zwischenzeit war es +nicht besser geworden. Bei dem traulichen, zu traulichen Schein dieser +Lampe, die laut Vorschrift die ganze Nacht hindurch im Quartier zu +brennen hatte und die erstickend schlechte Luft noch mehr verdickte, +weil sie nie brannte, sondern stets nur schmökte, sich an- und +auszukleiden, entweder müde zum Zusammenbrechen oder völlig +schlaftrunken durch ein handfestes Aufgerissenwerden, hätte in diesem +engen Raum zu größeren Katastrophen geführt als ich zu erzählen für gut +befunden habe, wenn nicht in den meisten Fällen abschwächende Umstände +vorhanden gewesen wären. Es werden ja selten Dinge auf die äußerste +Spitze getrieben. Um die Wahrheit zu gestehen, in den meisten Fällen +wurde weder ausgekleidet, noch angekleidet. Nicht etwa, daß wir nichts +zum An- und Auskleiden gehabt hätten. Das war es nicht. Etwas war schon +immer noch vorhanden, daß wir wenigstens den guten Willen zeigen +konnten. Aber was dann, wenn man weder eine Matratze, noch eine Decke, +noch sonst etwa etwas Ähnliches hat? + +Als ich ankam, hatte ich in der Erinnerung an normale Boote gefragt: + +„Wo ist denn die Matratze für meine Bunk?“ + +„Wird hier nicht geliefert.“ + +„Kissen?“ + +„Wird hier nicht geliefert.“ + +„Decke?“ + +„Wird hier nicht geliefert.“ + +Mich wunderte nur, daß die Kompanie überhaupt das Schiff lieferte, das +wir zu fahren hatten; und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man mir +gesagt hätte, das Schiff muß jeder selber mitbringen. Ich war an Bord +gekommen mit einem Hut, einer Jacke, einer Hose, einem Hemd und einem +Paar – als sie noch neu waren, hatten sie Stiefel geheißen. Heute konnte +man sie nicht gut so nennen, man würde es mir nicht geglaubt haben. Da +waren aber andre an Bord, die nicht so reich waren. Einer hatte +überhaupt keine Jacke, ein andrer überhaupt kein Hemd und ein Dritter +hatte keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die er sich aus alten +Säcken, Kistendeckeln und Tauwerk gemacht hatte. Später erfuhr ich, daß +die, die am wenigsten hatten, beim Skipper am höchsten angesehen wurden. +Sonst ist es gewöhnlich andersherum. Aber hier, je weniger jemand hatte, +desto weniger unternahm er das Wagnis, auszusteigen und die gute Yorikke +ihrem Schicksal zu überlassen. + +Meine Bunk war an der Korridorwand befestigt. Die gegenüberliegenden +Bunks waren an einer Holzwand befestigt, die das Quartier in zwei +Kammern teilte. An der andern Seite dieser Holzwand waren gleichfalls +zwei Bunks und diesen beiden Bunks gegenüber an der äußeren Bordwand +waren abermals zwei Bunks. Dadurch war es möglich gemacht worden, daß +dieses Quartier, das für vier ausgewachsene Menschen schon reichlich +knapp war, nun acht Leuten zum ständigen Wohnaufenthalt zu dienen hatte. +Jene Holzwand, die das Quartier in zwei Kammern teilte, war aber nicht +durch das ganze Quartier gezogen, weil sonst die Leute, die in der +äußeren, der Bordwandkammer lagen, zur Seitenluke hätten herauskriechen +müssen, die aber auch nicht groß genug war, daß sich jemand hätte +hindurchzwängen können. Diese Wand war also nur in zwei Drittel Länge +mitten durch den Raum gezogen, und da, wo diese Wand aufhörte, begann +der Meßraum, der Speisesalon. Laut Vorschrift muß der Meßraum von den +Schlafkammern getrennt sein. Das war hier vollkommen geglückt. Alle drei +Räume waren derselbe Raum, durch die Wand aber war dieser Raum in drei +Räume geteilt, wo eben nur die Türen immer offen waren. So hatte man +sich das zu denken, denn die Kammern hatten keine besondere Tür, das +Quartier hatte eine gemeinschaftliche Tür, die in den Korridor führte. +In jenem Meßraum stand der rohe Eßtisch, und an jeder Längsseite des +Tisches war eine rohe Bank. In einer Ecke, neben dem Eßtisch, stand ein +alter verbeulter Blecheimer, der immer leckte. Er war Wascheimer, +Badewanne, Scheuereimer alles in einer Gestalt. Außerdem diente er noch +andern Zwecken, darunter auch solchen, um schwerbesoffene Seeleute um +einige Kilo zu erleichtern, in den Fällen, wo der Eimer rechtzeitig +erreicht wurde. Wurde er zu spät erreicht, wachte gewöhnlich ein +Unbeteiligter in seiner Bunk auf, weil er von einem Wolkenbruch +heimgesucht worden war, der alles mögliche in die Bunk gebracht hatte, +das auf und unter der Erde erzeugt wird, mit der einzigen Ausnahme: +Wasser. Wasser war nicht dabei, bei diesem Wolkenbruch, no, Sir. + +Da waren vier Kleiderspinde in diesem Quartier. Wäre es nicht der +verrotteten Lumpen und alten Säcke wegen gewesen, die darin hingen, so +hätte man die Spinde leer nennen können. Acht Mann lagen in diesem +Quartier, aber es waren nur vier Spinde drin. Vier Spinde zuviel, denn +wenn man nichts zum Reinhängen hat, braucht man auch kein Spind. Das war +ja auch der Grund, weshalb nur vier vorhanden waren. Es war von +vornherein ausgemacht, daß fünfzig Prozent der Mannschaft, die auf der +Yorikke fahren, nichts haben, das sich lohnen möchte, in einem Spinde +aufbewahrt zu werden. Türen hatten die vier Spinde nicht mehr, woraus zu +schließen war, daß hundert Prozent der Mannschaft keine Spinde +benötigten. + +Die Bullaugen waren auffallend klein und trübe. Die Frage, wer sie zu +putzen hatte, tauchte zuweilen auf, aber niemand beantwortete sie mit +„ich“, und wenn sie einer mit „Sie“ oder mit „du“ beantwortete, so wurde +das unter Wutausbrüchen bestritten, bis man sich auf „er“ einigte. Wer +immer auch dieser Er sein mochte: wenn er genannt wurde, war er auf +Wache, konnte also an der Abstimmung dieser Frage nicht teilnehmen und +hätte jetzt übrigens auch gar keine Zeit gehabt, sich um ungeputzte +Bullaugen zu kümmern. Das Putzen des einen kam ja sowieso nicht in +Frage, weil das Glas ausgebrochen und die leere Stelle mit +Zeitungspapier verklebt worden war. + +Das war der Grund, weshalb selbst bei hellem Sonnenschein das Quartier +in mysteriöse Dämmerung gehüllt war. Die beiden Bullaugen, die zum Deck +hinausführten, durften bei Nacht nicht geöffnet werden, weil das +Lampenlicht des Quartiers die Wache auf der Brücke störte. Deshalb stand +in dem Quartier die Luft still wie festgerammt, weil kein Durchzug war. + +Jeden Tag wurde das Quartier gefegt von einem, der im Dreck stecken +blieb und seine Füße nicht mehr herausziehen konnte oder eine Nähnadel +oder einen Knopf verloren hatte. Einmal in der Woche wurde das Quartier +mit Salzwasser überflutet, was wir scheuern und schrubben nannten. Es +gab weder Seife, noch Soda, noch Bürsten. Wer sollte sie liefern? Die +Kompanie nicht. Und die Mannschaft hatte nicht einmal Seife, um sich ein +Hemd zu waschen. Man war schon selig, wenn man eine Krume Seife in der +Tasche trug, um sich das Gesicht zuweilen waschen zu können. Liegen +lassen durfte man die Krume nicht. Wenn sie wie ein Stecknadelknopf groß +gewesen wäre, irgend jemand hätte sie gefunden, behalten und nie +zurückgegeben. + +Der Dreck war so dick und so hübsch festgetrocknet, daß man eine Axt +gebraucht hätte, ihn loszukriegen. Hätte ich je die Kraft gefunden, das +zu tun, ich würde mich darüber hergemacht haben. Nicht aus übertriebenen +Reinlichkeitsgefühlen, die gingen auf der Yorikke bald verloren, sondern +aus wissenschaftlichen Gründen. Ich trug in mir die feste Überzeugung, +und diese Überzeugung habe ich heute noch, daß, wenn ich nicht zu müde +gewesen wäre und den Dreck schichtweise abgemeißelt hätte, dann hätte +ich in den tieferen Schichten Geldmünzen der Phönizier gefunden. Was für +Schätze ich gefunden hätte, wenn ich noch einige Schichten tiefer +gedrungen wäre, wage ich gar nicht auszudenken. Vielleicht lagen da die +abgeschnittenen Fingernägel des Urgroßvaters des Neandertalmenschen, die +solange schon und so vergebens gesucht werden, und die so ungemein +wichtig sind, um festzustellen, ob der Höhlenmensch schon etwas von Mr. +Henry Ford aus Detroit gehört hätte, oder ob er imstande gewesen wäre, +auszurechnen, wieviel Dollar Mr. Rockefeller jede Sekunde verdient, wenn +er seine blaue Brille putzt, denn die Universitäten können nur dann auf +einen Privatzuschuß rechnen, wenn sie einen Teil der Reklame zu +übernehmen gewillt sind. Wenn man das Quartier verlassen wollte, so +hatte man einen dunklen lächerlich schmalen Korridor zu durchwandern. An +der gegenüberliegenden Seite unsers Quartiers lag ein ähnliches +Quartier, nicht genau so, nur ähnlich, weil es noch verdreckter, noch +muffiger und noch dunkler war als unsres. Das eine Ende des Korridors +führte auf das Deck, das andre zu einer Fallgrube. Ehe man diese +Fallgrube erreichte, waren zu beiden Seiten noch je eine winzig kleine +Kammer, die für den Zimmermann, den Bootsmann, den Donkeyman und noch +einen -mann bestimmt waren, die alle im Unteroffiziersrange standen, und +die deshalb ihre eignen Quartiere hatten, damit sie nicht dieselbe Luft +wie die gewöhnliche Mannschaft zu atmen verpflichtet waren, was der +Autorität hätte schaden können. + +Die Fallgrube führte zu zwei Kammern, die eine war die Ketten- und +Rüstkammer, während die andre die Schreckenskammer genannt wurde. Es war +niemand auf der Yorikke, der behaupten konnte, er sei je in der +Schreckenskammer gewesen oder habe je einen Blick hineingeworfen. Sie +war immer fest verschlossen. Als einmal aus irgendeinem Grunde, ich weiß +nicht mehr zu sagen, welches dieser unerhörte Grund war, nach dem +Schlüssel für die Schreckenskammer gefragt wurde, stellte es sich +heraus, daß niemand wußte, wo der Schlüssel sei, und daß die Offiziere +behaupteten, der Skipper habe den Schlüssel. Der Skipper aber verschwor +seine Seele und seine noch ungeborenen Kinder, daß er den Schlüssel +nicht habe, und daß er strengstens verbiete, daß jemand die Kammer öffne +oder gar hineingehe. Jeder Skipper hat seine Schrullen. Er hatte viele, +unter andern jene, nie die Quartiere der Mannschaft zu inspizieren, was +er jede Woche einmal zu tun, laut Vorschrift, verpflichtet war. Er +begründete die Schrulle damit, daß er es nächste Woche ja tun könne, daß +er sich gerade heute nicht den Appetit verderben wolle und auch das +Besteck noch nicht gesetzt habe, was er jetzt zuerst einmal tun müsse. + + + 25 + +Es waren aber doch einmal Leute in jener Schreckenskammer gewesen und +hatten sich alles angesehen, was drin war. Diese Leute waren jetzt nicht +mehr auf der Yorikke, sie waren sofort runtergefeuert worden, als es +herauskam, daß sie es gewagt hatten, in jene Kammer einzudringen. Aber +ihre Erzählung hatte sich doch auf der Yorikke erhalten. Solche +Erzählungen erhalten sich immer, auch wenn die gesamte Mannschaft +entlassen wird auf einen Ruck, besonders in jenen Fällen, wenn der Eimer +auf einige Monate ins Trockendock muß. + +Die Mannschaft mag das Schiff verlassen. Die Erzählungen verlassen ein +Schiff nie. Wenn das Schiff die Erzählung gehört hat, bleibt die +Erzählung auch drauf. Sie dringt in das Eisen, in das Holz, in die +Bunks, in die Ladeschächte, in die Kohlenbunker, in den Kesselraum. Und +dort erzählt das Schiff in den Nachtstunden seinen Kameraden, den +Mannschaften, die Geschichten wieder, Wort für Wort, genauer als wenn +die Geschichten gedruckt wären. + +Auch diese Geschichten über die Schreckenskammer waren erhalten +geblieben. In der Kammer hatten die beiden Eindringlinge mehrere +menschliche Skelette gesehen. Wieviele es waren, hatten sie in ihrem +grausigen Schreck nicht zählen können. Es wäre auch nur schwer +möglich gewesen, weil die Skelette auseinandergefallen und +durcheinandergeschüttelt worden waren. Es war aber eine ganze Anzahl. Es +wurde auch bald festgestellt, wer die Skelette waren, oder richtiger, +wem sie ursprünglich gehörten. Die Skelette waren die Überreste +ehemaliger Mitglieder der Yorikke-Mannschaft, die von Ratten +aufgefressen worden waren, die die Größe sehr großer Katzen hatten. +Diese überlebensgroßen Ratten waren wiederholt gesehen worden, wenn sie +aus irgendwelchen Löchern der Schreckenskammer herauswischten. + +Warum diese bedauernswerten Opfer den Ratten zum Fraße vorgeworfen +worden waren, stand zuerst nicht zweifelsfrei fest. Es kamen Gerüchte in +Umlauf, die sich schließlich aber auf eines kristallisierten. Diese +armen Männer waren geopfert worden, um die Fahrtkosten für die Yorikke +niedrigzuhalten und die Dividenden der Kompanie oder des Einzelbesitzers +der Yorikke hochzuhalten. Wenn nämlich in einem Hafen ein Mann +abmusterte und er wagte es, die Bezahlung der Überstunden zu verlangen, +wie es laut Vereinbarung getan werden soll, so wurde er kurzerhand in +die Schreckenskammer gebracht. + +Dem Skipper blieb ja kein andrer Ausweg. Die Bezahlung der Heuer und die +Abmusterung wurden im Hafen vorgenommen. Dort konnte der Skipper den +Mann, der seine Überstunden bezahlt haben wollte, nicht gut über Bord +werfen; denn das hätten die Hafenbehörden sehen können und den Skipper +wegen Hafenverunreinigung mit Geldstrafe belegt. Was er mit seinem Manne +tat, darum hatten sich die Behörden nicht zu kümmern, nur was er mit dem +Hafen und dem Hafenwasser tat. Hätte der Skipper nun den Mann einfach +vom Boot gehen lassen, so wäre der Mann zur Polizei gegangen oder zum +Konsul oder zu einer Seemannsgewerkschaft, und der Skipper hätte die +Überstunden bezahlen müssen. Um das zu vermeiden, wurde der Mann kurz +entschlossen in die Schreckenskammer eingeschlossen. + +Wenn das Schiff nun auf hoher See war, so ging der Skipper runter, um +den Mann wieder rauszulassen, denn nun war er ja nicht mehr gefährlich. +Aber die Ratten wollten den Mann jetzt nicht mehr hergeben, sie hatten +schon angefangen, an ihm zu essen, und eine Anzahl von Paaren wartete +bereits mit Heiratslizenzen, weil die Gelegenheit so günstig war, ein +ganz ausgezeichnetes Hochzeitsessen geben zu können. Der Skipper +brauchte den Mann bitter notwendig zum Arbeiten, und er mußte sich in +einen Kampf mit den Ratten einlassen. Bei diesem Kampfe aber zog der +Skipper jedesmal den Kürzeren und mußte endlich, um sein eignes Leben zu +retten, die Kammer verlassen, ohne den Mann mitzukriegen. Hilfe konnte +der Skipper ja nicht herbeirufen, dann wäre das alles herausgekommen, +und er hätte von nun an die Überstunden bezahlen müssen. + +Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube +ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der +Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie +gepackt worden. So hart, wie wir arbeiten mußten, haben Sklaven nie +arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind +Sklaven nie gewesen. Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden +war, und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware mußte +sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und +übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur die Transportkosten, +geschweige denn einen Preis, daß der Händler noch tüchtig daran +verdienen konnte. + +Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die +als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie +Menschen. Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und +darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten, +bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie das +Futter nicht mehr wert sind. Da gibt es zu dieser Stunde noch Schiffe +zivilisierter Völker, auf denen die Seeleute gepeitscht werden dürfen, +wenn sie sich weigern, die Arbeit von zwei Wachen dauernd zu übernehmen +und von der dritten Wache noch die Hälfte, weil der Schiffsbesitzer so +schlechte Löhne zahlt, daß die Mannschaft immer um ein Drittel zu kurz +ist. + +Und der Seemann hat zu essen, was ihm vorgesetzt wird, ob der Koch +gestern noch Schneider war, weil ein richtiger Koch für die Heuer nicht +zu haben war, oder ob der Skipper an der Mannschaftskost so viel zu +ersparen trachtet, daß die Mannschaft nie satt wird. + +Die Seegeschichten erzählen viel über Schiffe und über Matrosen. Wenn +man diese Schiffe aber ein wenig aufmerksam betrachtet, dann sieht man, +daß es Sonntag-Nachmittags-Schiffe sind, und die Matrosen in jenen +Seegeschichten sind immer lustige Operettensänger, die sich die Hände +maniküren und ihren Liebeskummer hätscheln. + + + 26 + +Mit den schläfrigen Leuten im Quartier hatte ich alles in allem kaum +zehn Worte gewechselt. Als ich meine Bunk hatte und mir gesagt war, daß +es hier weder Decken noch Matratzen gäbe, war der Gesprächsstoff +erschöpft. + +Über mir hörte ich das übliche Rattern und Knattern der Ketten, das +dröhnende Hämmern des Ankers, der gegen die Bordwand schlug, ehe er zur +Ruhe kam, das Rasseln der Wintschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln, das +Kommandieren, das Fluchen, das alles notwendig ist, damit ein Schiff +rausgehen kann. Dasselbe Geräusch hört man, wenn das Schiff reinkommt. + +Mich ärgert dieses Geräusch immer und macht mich mißmutig. Ich fühle +mich nur wohl, wenn der Eimer draußen auf hoher See schwimmt. Ganz +gleich, ob er heim geht oder raus. Aber ich will draußen sein mit dem +Schiff. Ein Schiff im Hafen ist kein Schiff, sondern eine Kiste, die +gepackt wird, in die eingepackt oder aus der ausgepackt wird. Im Hafen +ist man auch gar kein Seemann auf dem Schiff; man ist eben gerade +Tagelöhner. Die dreckigste Arbeit wird im Hafen gemacht, und man +arbeitet, als ob man in einer Fabrik wäre, aber nicht auf einem Schiff. +Solange ich das Rasseln und Kommandieren hörte, verließ ich das Quartier +nicht. Wo gearbeitet wird, da soll man nicht nahe gehen. Denn steht man +erst einmal in der Nähe, dann kann leicht etwas für einen dabei +abfallen: „He, langen Sie doch da rasch mal zu.“ Ich denke ja gar nicht +daran. Wozu denn? Ich kriege es ja nicht bezahlt. Da hängen sie in jedes +Bureau und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung: „Do +more!“ oder „Tu mehr!“ Die Erklärung wird einem kostenfrei gegeben auf +einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz gelegt wird: „Tu mehr! +Denn wenn du heute mehr tust, als man von dir fordert, wenn du heute +mehr arbeitest, als wofür du bezahlt wirst, dann wird man dir auch eines +Tages das bezahlen, was du mehr tust.“ + +Mich hat noch nie jemand damit fangen können, darum bin ich ja auch +nicht Generaldirektor der Pacific Railway and Steamship Co. Inc. +geworden. Man kann es immer wieder in den Sonntagsblättern lesen und in +den Zeitschriften und in den Bekenntnissen erfolgreicher Männer, daß +allein durch dieses freiwillige Mehrarbeiten, das Ehrgeiz, Strebsamkeit +und den Wunsch, kommandieren zu dürfen, verrät, schon manch einfacher +schlichter Arbeitsmann Generaldirektor oder Milliardär geworden sei, und +daß jedem, der diesen Spruch gewissenhaft befolgt, der gleiche Weg zum +Generaldirektorposten offenstehe. Aber soviel Generaldirektorstellen und +soviel Milliardärposten sind in ganz Amerika nicht frei. Da kann ich +erst mal dreißig Jahre lang immer mehr und immer noch mehr arbeiten, +ohne mehr bezahlt zu bekommen, weil ich ja doch Generaldirektor werden +soll. Wenn ich dann gelegentlich einmal nachfrage: „Na, wie ist es denn +nun mit dem Generaldirektorposten, ist noch nichts frei?“ so wird mir +gesagt: „Bedaure sehr, momentan noch nicht, wir haben Sie aber +vorgemerkt, arbeiten Sie noch eine Weile tüchtig so weiter, wir werden +Sie nicht aus dem Auge verlieren.“ Früher hieß es: „Jeder meiner +Soldaten trägt den Marschallstab in seinem Tornister“, heute heißt es: +„Jeder unsrer Arbeiter und Angestellten kann Generaldirektor werden.“ +Ich habe als Junge ja auch Zeitungen ausgeschrien und Stiefel geputzt +und mir mit elf Jahren schon meinen Lebensunterhalt verdienen müssen, +aber ich bin bis heute weder Generaldirektor noch Milliardär geworden. +Die Zeitungen, die jene Milliardäre als Jungen ausgerufen haben, und die +Stiefel, die sie geputzt haben, müssen ganz andre Zeitungen und Stiefel +gewesen sein, als die, mit denen ich in Berührung gekommen bin. + +Wenn man des Nachts so auf dem Ausguck steht, und es ist alles ruhig, +kommen einem allerlei schnurrige Gedanken. So habe ich mir schon +ausgemalt, was geschehen wäre, wenn die Soldaten Napoleons plötzlich +alle ihren Marschallstab aus ihren Tornistern genommen hätten. Wer macht +denn dann die Nieten warm in der Kesselschmiede? Die frischgeadelten +Generaldirektoren natürlich. Wer sonst? Es ist ja niemand sonst +übriggeblieben, der es machen könnte, und der Kessel soll doch fertig +werden, und die Schlacht soll geschlagen werden, weil man sonst weder +Generaldirektoren noch Marschälle braucht. Der Glaube füllt leere Säcke +mit Gold, macht Zimmermannssöhne zu Göttern und Artillerieleutnants zu +Kaisern, deren Namen Jahrtausende überstrahlt. Mach’ die Menschen +gläubig, und sie prügeln ihren lieben Gott zum Himmel hinaus und setzen +dich auf seinen Thron. Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube +zerbricht alle Sklavenketten. + +Als das Gerassel endlich einschlief und ich bereits Deckarbeiter müßig +herumstehen sah, verließ ich das Quartier und ging hinaus aufs Deck. +Gleich hoppte der Taschendieb, der sich mir als Zweiten Ingenieur +vorgestellt hatte, auf mich zu und sagte in seinem unsagbar komischen +Englisch zu mir: „Der Skipper will mit Ihnen sprechen, kommen Sie mit.“ + +Die Redewendung „Kommen Sie mit“ bereitet in neunzehn von zwanzig Fällen +nur den Satz vor: „Wir werden Sie für eine gute Weile hierbehalten.“ + +Auch wenn in diesem Ausnahmefalle der zweite Satz nicht gesprochen +worden wäre, so war seine Folge doch schon entschieden. Yorikke lief +bereits wie das leibhaftige Donnerwetter auf hoher See. Der Lotse hatte +das Boot verlassen, und der Erste Offizier hatte die Wache übernommen. + +Der Skipper war ein noch junger Mann, sehr gut genährt, mit einem +gesunden, roten und glattrasierten Gesicht. Er hatte wässerig blaue +Augen, und in seinem gelbbraunen Haar waren brandrote Farbtöne. Er war +außerordentlich gut gekleidet, beinahe überelegant. Die Zusammenstellung +der Farben des Anzuges, der Krawatte, der Strümpfe und der eleganten +Halbschuhe waren gut gewählt. Nach seinem Aussehen würde man ihn nicht +für den Kapitän eines kleinen Frachtdampfers, nicht einmal für den eines +großen Passagierschiffes gehalten haben. Er sah nicht aus, als ob er +einen Eimer auch nur von einer offnen Reede zu einer andern offnen Reede +bringen könnte, ohne dabei auf der andern Seite der Erdoberfläche zu +landen. Er sprach ein gutes reines Englisch, wie man es in einer sehr +guten Schule in einem nicht englisch sprechenden Lande lernen mag. Die +Worte wählte er sehr sorgfältig aus, es machte den Eindruck, als ob er +sehr geschickt, aber sehr rasch während des Sprechens nur solche Worte +auswählte, die er fehlerfrei aussprechen konnte. Um dies mit Erfolg tun +zu können, machte er im Sprechen Pausen, wodurch er die Vorstellung +erweckte, daß er ein Denker sei. Der Kontrast zwischen dem Skipper und +dem Zweiten Ingenieur, der ja ebenfalls Offizier war, hatte nichts +Komisches an sich, sondern war so erschütternd, daß, wenn ich je im +Zweifel gewesen wäre, wo ich war, ich es aus diesem Kontrast sofort +gewußt hätte. + +„So, Sie sind der neue Kohlenzieher?“ grüßte er mich, als ich in seine +Kabine trat. + +„Ich? Kohlenzieher? No, Sir, I am fireman, ich bin Heizer.“ Mir kam +schon der Leuchtturm in Sicht. + +„Von Heizer habe ich nichts gesagt“, mischte sich jetzt der Taschendieb +ein. „Ich habe gefragt Heizpersonal, nicht wahr, das habe ich doch +gefragt?“ + +„Das ist richtig,“ erwiderte ich, „das haben Sie gefragt, und das habe +ich mit ja beantwortet. Aber nie in meinem Leben habe ich dabei an +Kohlenzieher gedacht.“ + +Der Skipper machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte zu dem +Roßtäuscher: „Das ist nun Ihre Sache, Mr. Dils. Ich habe geglaubt, das +sei in Ordnung.“ + +„Ich will sofort das Boot verlassen, Skipper. Ich denke mit keiner Idee +daran, als Kohlenzieher zu zeichnen. Sofort ausbooten. Ich protestiere, +und ich werde mich beim Hafenamt beschweren wegen versuchten +Shanghaiing.“ + +„Wer hat Sie shanghaied?“ fuhr jetzt der Roßtäuscher auf. „Ich? Das ist +eine unverschämte Lüge.“ + +„Dils,“ sagte der Kapitän jetzt sehr ernst, „damit will ich nichts zu +tun haben. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Das haben Sie auszubaden, +das erkläre ich gleich hier. Machen Sie das draußen miteinander ab.“ + +Der Taschendieb ließ sich aber nicht verwirren. „Was habe ich gefragt? +Habe ich nicht gefragt: Kesselgang?“ + +„Richtig, das haben Sie gefragt, aber Sie haben nicht gesagt –“ + +„Gehört der Kohlenzieher zur Schwarzen Bande oder nicht?“ fragte der +Ingenieur nun lauernd. + +„Allerdings gehört der Kohlenzieher dazu,“ bestätigte ich der Wahrheit +gemäß, „aber ich habe –“ + +„Dann ist es ganz in Ordnung“, sagte nun der Skipper. „Wenn Sie Heizer +meinten, so hätten Sie das ausdrücklich sagen müssen, dann hätte Mr. +Dils Ihnen schon gesagt, daß wir keinen Heizer zu kurz sind. Also gut, +dann können wir ja nun schreiben.“ + +Er nahm die Mannschaftslisten und fragte nach meinem Namen. + +Unter meinem guten Seemannsnamen auf einem Totenschiff? Niemals. So tief +bin ich noch nicht gesunken. Ich kriege ja nie wieder in meinem Leben +einen ehrenhaften Eimer. Lieber das Entlassungszeugnis aus einem +anständigen Gefängnis, das ist besser als das Quittungsbuch eines +Totenschiffes. + +So gab ich meinen guten Namen auf und sagte mich von meinen +Familienbanden los. Ich hatte keinen Namen mehr. + +„Geboren in und wann?“ + +Der Name war weg, aber ich hatte meine Heimat noch. + +„Geboren in und wann?“ + +„In – in –“ + +„In wo?“ + +„Alexandria.“ + +„In U. S.?“ + +„Nein in Ägypten.“ + +Nun war auch die Heimat weg; denn von nun hatte ich das Quittungsbuch +der Yorikke als einzigen Ausweis für den Rest meines Lebens. + +„Nationalität? Britisch?“ + +„No. Ohne Nationalität.“ + +Ich sollte meinen Namen und meine Nationalität in den Listen der Yorikke +für ewige Zeiten registriert wissen? Ein gutgewaschener Amerikaner, +zivilisiert, ausgerüstet mit dem Evangelium der Zahnbürste und der +Wissenschaft des täglichen Füßewaschens, sollte je eine Yorikke +gefahren, je eine Yorikke bedient, gescheuert, angestrichen haben? Meine +Heimat, nein, nicht meine Heimat, aber die Vertreter meiner Heimat +hatten mich zwar ausgestoßen und verleugnet. Aber kann ich die Erde +verleugnen, deren Hauch ich mit meinem ersten Atemzuge trank? Nicht der +Vertreter wegen und nicht seiner Flagge wegen, aber der Liebe zur Heimat +wegen, ihr zuliebe, ihr zu Ehren, habe ich sie abzuschwören. Auf der +Yorikke fährt kein ehrlicher amerikanischer Junge, selbst wenn er dem +Henker entlaufen sein sollte. + +„No, Sir, keine Nationalität.“ + +Nach Seemannskarte, Heuerbuch, Paß oder sonst etwas Ähnlichem fragte er +nicht. Er wußte, daß Leute, die zur Yorikke kommen, nicht nach solchen +Dingen gefragt werden dürfen. Sie könnten ja sagen: „Ich habe keine +Papiere.“ Was dann? Dann dürfte er sie nicht zeichnen lassen, und +Yorikke würde keine Mannschaft haben. Beim nächsten Konsul mußte die +Liste ja amtlich bestätigt werden. Aber dann war nichts mehr zu ändern, +der Mann war bereits angemustert, hatte bereits gefahren, da war es +nicht mehr möglich, ihm die konsulare Bestätigung zu verweigern. Der +Konsul kennt amtlich keine Totenschiffe und nichtamtlich glaubt er nicht +daran. Konsul zu sein, erfordert Talente. Die Konsuln glauben auch nicht +an das Geborensein von Menschen, wenn der Geburtsschein das Geborensein +nicht schwarz auf weiß beurkundet. + +Was blieb von mir noch übrig, nachdem Name und Heimat verspielt waren? +Die Arbeitskraft. Das allein war es, das zählte. Das allein wurde +bezahlt. Nicht zum vollen Werte. Aber etwas, damit nicht die +Erschlaffung den Spaß verdirbt. + +„Die Heuer für die Kohlenzieher ist siebzig Peseta“, sagte der Skipper +so wie nebenbei, während er in die Liste schreibt. + +„Wa–a–a–s?“ schreie ich. „Siebzig Peseta?“ + +„Ja, haben Sie das nicht gewußt?“ fragt er mit einer müden Geste. + +„Ich habe angemustert für englische Heuer“, verteidige ich nun meinen +Lohn. + +„Mr. Dils?“ fragt der Skipper. „Was ist das, Mr. Dils?“ + +„Habe ich Ihnen englische Heuer versprochen?“ sagt der Roßtäuscher +grinsend zu mir. + +Ich könnte diesem Hund gleich so eine in die Fresse hauen, aber hier +will ich doch nicht in Eisen liegen. Nicht auf der Yorikke, wo mich die +Ratten lebendig anfressen würden, wenn man sich nicht wehren kann. +„Jawohl, Sie haben mir englische Heuer versprochen“, schrie ich nun in +Wut auf den Gauner ein. Es ist ja das Letzte, was ich zu verteidigen +habe, meinen Arbeitslohn. Den Hundelohn. Je schwerer die Arbeit, desto +geringer der Lohn. Der Kohlenzieher hat die schwerste und teuflischste +Arbeit auf dem Eimer und meist den schäbigsten Lohn. Englische Heuer ist +ja auch nicht berühmt, aber wo in der Welt bekommt denn der Arbeiter +seinen vollen Lohn? Wer den Arbeiter seinen Lohn nicht zahlt, ist ein +Bluthund. Aber man braucht den Lohn mit dem Arbeiter, der die Arbeit so +bitter benötigt, nur vorher ausmachen, dann ist es sein Lohn. Sein Lohn, +und man ist kein Bluthund mehr. Gäbe es keine Gesetze, dann würde es +auch keine Milliardäre geben. Worte kann man kneten, darum werden +Gesetze in Worten niedergeschrieben. Dem Hungernden ist das Kneten bei +Todesstrafe verboten; bei etwa mildernden Umständen ist Freiheitsstrafe +vorgesehen, um Gnade üben zu können und die Menschlichkeit der Gesetze +zu beweisen. + +„Jawohl, das haben Sie, Sie haben mir englische Heuer zugesagt“, schreie +ich noch einmal. + +„Schreien Sie nicht so“, sagt der Kapitän und sieht von der Liste auf. +„Wie ist das nun, Dils? Ich bin das endlich leid. Wenn Sie Leute +annehmen, will ich doch, daß alles in Ordnung ist.“ + +Der Skipper spielt fein. Yorikke darf stolz sein auf ihren Meister. + +„Von englischer Heuer habe ich gar nicht gesprochen“, sagt der +Roßtäuscher. + +„Doch haben Sie das. Das kann ich beschwören.“ Das winzige Eckchen +Recht, das mir noch geblieben ist, will ich verteidigen bis zum +Äußersten. + +„Beschwören? Begehen Sie nur ja keinen Meineid, Mann. Ich weiß genau, +was ich alles zu Ihnen gesagt habe, und ich weiß ganz genau, was Sie +geantwortet haben. Ich habe hier genug Zeugen an Bord, die bei mir +standen, als ich Sie anmusterte. Ich habe gesagt ‚englisches Geld‘, aber +von englischer Heuer habe ich kein Wort gesagt.“ + +Der Hund hat recht. Er hat in der Tat englisches Geld gesagt und das +Wort Heuer gar nicht erwähnt. Ich hatte natürlich darunter englische +Heuer verstanden. + +„Dann ist das ja wohl nun auch in Ordnung“, sagte der Skipper ruhig. +„Sie bekommen natürlich ihre Heuer in englischen Pfunden und Schillings +ausgezahlt. Für Überstunden werden fünf Pence bezahlt. Und wo wollen Sie +abmustern?“ + +„Im nächsten Hafen, den wir anlaufen.“ + +„Das können Sie nicht“, sagt der Roßtäuscher grienend. + +„Jawohl, das kann ich.“ + +„Können Sie nicht“, wiederholte er. „Sie haben gemustert für Liverpool.“ + +„Das meine ich ja auch“, sage ich. „Liverpool ist ja der nächste Hafen, +den wir anlaufen.“ + +„Nein,“ antwortet der Skipper, „wir haben deklariert Griechenland, aber +ich habe meine Absichten geändert und mache Nordafrika.“ + +Deklariert und während der Fahrt Kurswechsel. Ei, lieber Freund, du bist +deutlich. Marokko und Syrien bezahlen gute Preise für – –. Und wenn du +das Geld noch schnell glücklich drin hast, dann wird angemustert auf +große lange Fahrt. He? Einen Salzwasserfisch, der in so vielen Meeren +geschwommen ist, dem kannst du nichts verstecken. Das wäre nicht der +erste Blender, den ich fahre. + +„Sie haben mir gesagt Liverpool, und Sie haben ausdrücklich erwähnt, daß +ich in Liverpool abmustern darf“, rufe ich erregt dem Taschendieb zu. + +„Kein Wort wahr, Skipper“, sagt der gerissene Bursche. „Ich habe gesagt, +wir haben Stückgut für Liverpool, und er könne dort abmustern, wenn wir +Liverpool machen.“ + +„Das ist ja dann alles in Ordnung“, bestätigt nun der Kapitän. „Wir +haben acht Kisten Ölsardinen für Liverpool, Stückgut, weit unter +Frachtsatz. Lieferungsgrenze achtzehn Monate. Ich werde doch nicht +dieser acht Kisten wegen, die als Nebengut gehen, Liverpool machen. Die +sind Gelegenheitsgut, die keine Fracht kosten sollen. Wenn ich mehr +aufnehme, daß es sich lohnt, gehe ich natürlich schon innerhalb der +nächsten sechs Monate rauf.“ + +„Das konnten Sie doch aber gleich sagen, daß es nicht Stückgut sei, +sondern Schnappgut, das Sie für Liverpool haben.“ + +„Das haben Sie ja nicht gefragt“, widerspricht der Roßtäuscher. + +Eine feine Gesellschaft. Schmuggeln, Deklarierungen fälschen, Häfen +täuschen, Kurse schwindeln und Totenschiffe fahren. Denen gegenüber ist +ein zünftiger Seeräuber ein Edelmann. Einen Seeräuber fahren, ist keine +Schande, da würde ich weder Namen noch Nationalität abschwören. +Seeräuber fahren, ist Ehrensache. Diesen Eimer fahren, ist eine Schmach, +an der ich lange zu würgen haben werde, bis sie geschluckt und verdaut +sein wird. + +„Wollen Sie hier Ihren Namen untersetzen.“ + +Der Skipper reicht mir einen Federhalter. + +„Darunter? Nie! nie!“ Ich rufe es in Empörung. + +„Wie Sie wollen. Mr. Dils, bitte, schreiben Sie hier als Zeuge hin.“ + +Dieser Taschendieb, dieser Roßtäuscher, dieser Gauner, dieser Betrüger, +dieser Shanghaier, dieser Mann, für den der Strick, mit dem zwei Dutzend +Raubmörder gehenkt worden sind, zu anständig und zu ehrenhaft wäre, soll +da für mich unterschreiben. Dieses Aas soll nicht einmal unter meinem +ausgedachten Namen seine aussätzige Hand hinlegen dürfen. + +„Geben Sie her, Skipper, ich unterschreibe selbst, es ist ja nun doch +alles schon Schiet mit Rotz.“ + +„Helmont Rigbay, Alexandria (Ägypten).“ + +Da steht es. Fest und sicher. Nun, Yorikke, hoiho! Geh’ zur Hölle +meinetwegen. Jetzt ist alles, alles egal. Ausgelöscht aus den Lebenden. +Verweht. Kein Hauch von mir ist mehr in der Welt. + + Holla–he! Holla–he! Hoiho! + Ich liege nicht an einem Riff, + Ich fahre auf dem Totenschiff + So fern vom sonn’gen New Orleans, + So fern vom lieben Louisiana. + +Holla–he! Morituri salutant! Die modernen Gladiatoren grüßen dich, o +Cäsar Augustus Capitalismus. Morituri salutant! Die Totgeweihten grüßen +dich, o Cäsar Augustus Imperator, wir sind bereit zu sterben für dich, +für die heilige und glorreiche Versicherung. + +O Zeiten, o Sitten! Die Gladiatoren zogen in glänzenden Rüstungen in die +Arena. Fanfaren schmetterten und Zimbeln klangen. Schöne Frauen winkten +ihnen zu von den Brüstungen und ließen ihre goldgestickten Tüchelchen +fallen; die Gladiatoren hoben sie auf, preßten sie an ihre Lippen, +atmeten den berückenden Hauch, und ein süßes Lächeln dankte ihnen und +grüßte sie. Unter dem begeisterten Beifallsgeschrei einer erregten +Menge, unter den Klängen rauschender Kriegsmusik, hauchten sie ihren +letzten Atem aus. + +Wir aber, die Gladiatoren von heute, wir verkommen im Dreck. Wir sind zu +müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern, weil wir vor +der Schüssel einschlafen. Wir verhungern, weil die Kompanie sparen muß, +um die Konkurrenz auszuhalten. Wir sterben in Lumpen, schweigend, auf +einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum. Wir sehen das Wasser kommen, +und wir können nicht mehr rauf. Wir hoffen, daß der Kessel explodiert, +um es kurz zu machen, weil die Hände eingeklemmt sind, die Feuertüren +aufgerissen sind und die glühende Kohle an unsern Füßen und Schenkeln +langsam frißt. Der Kesselbums? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das +Verbrennen und Verbrühen nichts aus. + +Wir sterben ohne Fanfarenmusik, ohne das Lächeln schöner Frauen, ohne +das Beifallsrauschen einer erregten, festlich gestimmten Menge. Wir +sterben schweigend und in Lumpen, für dich, o Cäsar Augustus! Heil dir, +Imperator, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität. Wir +sind niemand, wir sind nichts. + +Heil dir, Cäsar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und Waisen +Pension zu zahlen. Wir, o Cäsar, sind die getreuesten deiner Diener. Die +Totgeweihten grüßen dich! + + + 27 + +Es war halb sechs, als ein Neger das Abendbrot in das Quartier brachte. +Das Abendbrot war in zwei verbeulten und fettigen Blechkumpen. Eine +dünne Erbsensuppe, Pellkartoffeln und heißes braunes Wasser in einer +zerhämmerten Emaillekanne. Das braune Wasser hieß: Der Tee. + +„Wo ist denn das Fleisch?“ fragte ich den Neger. + +„Nichts von Fleisch heute“, sagte er. + +Ich sah ihn an und bemerkte, daß er kein Nigger war, sondern ein Weißer. +Er war der Kohlenzieher einer andern Wache. + +„Abendessen holen ist deine Sache“, wandte sich der Mann mir zu. + +„Ich bin hier nicht als Meßboy, als Moses, damit du das nur gleich +weißt“, sagte ich darauf. + +„Hier gibt es keine Meßboy.“ + +„Na?“ + +„Das müssen hier die Kohlenzieher machen.“ + +Die Hiebe setzen schon. Das kann ja nett werden. Ich sehe schon, warum +und wozu. Das Schicksal will seinen Lauf haben. + +„Abendessen holt der Kohlenzieher der Rattenwache.“ + +Der zweite Hieb. Jetzt zähle ich nicht mehr die Hiebe. Laß sie kommen +und fallen. Mach das Fell dick. + +Also Rattenwache. Das war ja vorauszusehen. Wache von zwölf bis vier, +die niederträchtigste Wache, die erfunden wurde, um Seeleute zu martern. +Um vier kommt man von Wache. Man wäscht sich. Dann holt man Abendessen +für die ganze Bande. Dann wäscht man das Geschirr für die ganze Bande, +weil ja kein Meßboy da ist und die Kohlenzieher alles mitzumachen haben. +Dann legt man sich in die Bunk. Da es bis zum nächsten Morgen um acht +nichts mehr zu essen gibt, man aber in der Nacht auf Wache zu gehen hat +und nicht nur zu gehen, sondern zu arbeiten und wie, so muß man tüchtig +Abendbrot reinhauen, weil man sonst in der Nacht klappt. Mit dem vollen +Magen kann man aber nicht schlafen. Bis um zehn manchmal sitzen auch +noch die Freiwachen auf und spielen Karten oder erzählen sich etwas. Da +sie keinen andern Raum haben, wo sie hingehen können, so sitzen sie +hier. Man kann ihnen das Geplauder doch nicht verbieten, sie verlernen +ja sonst die Sprache, und sie reden doch schon leise, um den schlafenden +Mitarbeiter nicht zu stören. Aber das leise Reden stört noch mehr als +das laute. Um elf fängt man an, einzuschlafen. Zwanzig vor zwölf kommt +die Wecke. Raus und runter. Um vier kommt man von Wache. Wäscht sich. +Vielleicht. Man fällt in die Bunk. Um halb sechs geht der Tageslärm auf +dem Boot schon los. Um acht wird man aus dem Schlaf gerissen: „Frühstück +ist da!“ Den ganzen Vormittag wird auf dem Boot gehämmert, genagelt, +gesägt, kommandiert. Um zwanzig vor zwölf kommt keine Wecke, weil ja +nicht angenommen wird, daß jemand um diese Zeit schlafen könne. Man ist +schon auf und fällt in seine Wache. Und so fort, um vier – ja und immer +so weiter. + +„Wer wäscht denn das Geschirr, wenn kein Meßboy da ist?“ + +„Die Kohlenzieher.“ + +„Wer scheuert denn die Aborte?“ + +„Der Kohlenzieher.“ + +Das ist ja eine durchaus ehrenwerte Beschäftigung, wenn man sonst nichts +weiter zu tun hat. In diesem Falle ist es Schweinerei. Und wer die +Aborte gesehen hätte, der würde gesagt haben: „Das ist die größte +Schweinerei, die ich je in meinem Leben oder in einem Schützengraben +gesehen habe.“ Aber ich habe erfahren gelernt, daß die Schweine saubere +Tiere sind, die dem Pferde an Sauberkeit nichts nachgeben. Wenn ich den +Bauer oder den Schweinezüchter in einen finstern Stall stecke, der zwei +Schritte lang und zwei Schritte breit ist, ihn überfüttere, nie +hinauslasse, nur ab und zu ein paar Hälmchen Stroh hinwerfe und die +alten vermanschten nicht oder nur selten herausnehme, weil er sich ja in +dem Mist so wohl fühlt, dann möchte ich einmal sehen, wie der Bauer in +diesem Stall nach zwei Wochen aussieht, und wer das größere Dreckschwein +ist, der Bauer oder sein Dickerchen. Unbesorgt, alles wird an den +Menschen heimgezahlt werden, alles, was er Pferden, Hunden, Schweinen, +Fröschen und Vögeln angetan hat. Dafür wird er einmal mehr büßen müssen, +als was er seinen eignen Mitmenschen tat. Man kann keinen Abort +scheuern, wenn man zu müde ist, um den Löffel mit Reis in den Mund zu +bringen, no, Sir. + +Sonniges Spanien, das ist die Strafe, weil ich dich, du freundliche +Wirtin, verließ! + +Auf einem guten Schifflein ist ein Nauke; ein Tagarbeiter, der so als +Knochenbeilage mitgenommen wird, sich nie überarbeitet, immer überall da +sein soll, um zuzufassen, seinen Deckarbeiterlohn bekommt und im großen +und ganzen ein ganz angenehmes Leben führt. Nauke ist der Mann für +alles. Und alles, was verkehrt geht, wird stets auf Nauke zurückgeführt. +Er ist an allem schuld. Wenn in den Bunkern Feuer ausbricht, Nauke ist +schuld, obgleich er nie in die Bunker darf, aber er hat die Luken nicht +regelmäßig gehoben. Wenn dem Koch das Essen anbrennt, Nauke kriegt den +Krach, obgleich er nie in die Küche darf, aber er hat an den +Wasserkränen geschraubt, als er sie putzte. Wenn das Schiff untergeht, +Nauke ist schuld, weil er, weil er – nun ja, weil er Nauke ist. + +Auf der Yorikke waren die Kohlenzieher die Nauken, und der Nauke der +Nauken war – richtig geraten: der Kohlenzieher der Rattenwache. Wenn +irgend etwas Dreckiges, Unangenehmes, Lebensgefährliches zu tun war, +sagte es der Erste Ingenieur dem Zweiten, daß er es tun solle. Der sagte +es dem Donkeyman, der dem Putzer und Öler, der dem Heizer und der Heizer +sagte: „Das ist keine Heizerarbeit, das ist Kohlenziehers Sache.“ Und +der Kohlenzieher der Rattenwache tat es, weil er es tun mußte. + +Kam der Kohlenzieher dann heraus mit blutenden und aufgeschlagenen und +zerschrammten Knochen und mit zwanzig Brandwunden bedeckt, und hatte er +an den Beinen hervorgezogen werden müssen, weil er sonst verbrüht worden +wäre, dann ging der Heizer zum Öler und sagte: „Ich habe es getan.“ Der +Öler zum Donkeyman: „Ich.“ Der Donkeyman zum Zweiten Ingenieur: „Ich.“ +Und der Zweite zum Ersten, und der Erste Ingenieur ging zum Alten und +sagte: „Ich möchte das im Journal rapportiert haben: ‚Der Erste +Ingenieur hat, während die Kessel über vollen Feuern lagen, um die Fahrt +nicht nachzubüßen, unter Lebensgefahr einen Rohrbruch ersten Grades +ausgeheilt. Schiff konnte ungeschwächte Fahrt beibehalten‘.“ Die +Kompanie liest das Journal, und der Direktor sagt: „Wir müssen dem +Ersten Ingenieur der Yorikke ein größeres Schiff geben, der Mann ist +Besseres wert.“ Der Kohlenzieher hat die Narben, die er nie wieder los +wird, und ist gekrüppelt. Aber warum mußte es denn der Kohlenzieher tun? +Er konnte doch auch sagen wie die andern: „Das tu ich nicht, da komme +ich nicht mehr lebendig heraus.“ Aber das konnte er eben nicht sagen. Er +mußte, mußte es tun. „Ja, Mann, wollen Sie denn das ganze Schiff +untergehen lassen und alle Ihre Kameraden dabei ertrinken lassen? Können +Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“ Die Deckarbeiter konnten es ja +nicht tun, die verstanden ja nichts von Kesseln. Der Kohlenzieher +verstand auch nichts von Kesseln, er verstand nur Kohle zu schleppen. +Der Ingenieur verstand etwas von den Kesseln, er wurde dafür ja als +Erster Ingenieur bezahlt, weil er etwas von Kesseln verstand und bei +seinen Prüfungen solche Dinge machen mußte. Aber der Kohlenzieher +arbeitete vor den Kesseln und neben den Kesseln und hinter den Kesseln, +und er war der Kohlenzieher, und er war der Mann, der die Verantwortung +für den Tod so vieler Menschen nicht tragen wollte, auch wenn sein Leben +dabei in die Kehrichttonne ging. Das Leben eines dreckigen Kohlenziehers +ist kein Leben, niemand zählt es. Es ist weg und Schluß, reden wir nicht +mehr davon. Eine Fliege kann man ja schließlich aus der Milch fischen +und ihr das kleine Leben schenken, aber ein Kohlenzieher ist nicht einer +Fliege gleich. Der Kohlenzieher ist Dreck, Staub, Scheuerlappen; er ist +eben gerade gut genug, die Kohle zu ziehen. + +„Kohlenzieher, he!“ ruft der Erste Ingenieur, „wollen Sie einen Rum +trinken?“ + +„Ja, Chef.“ + +Aber das Schnapsglas fällt ihm aus der Hand, der Rum ist weg. Die Hand +ist verbrüht, yes, Sir. + +Das Abendessen stand auf dem Tisch. Hungrig war ich inzwischen auch +geworden, und ich dachte, daß ich ganz gut etwas essen könnte. Das war +meine Absicht. Aber die Absicht haben und die Absicht ausführen, sind +zwei Dinge. Ich sah mich nach einem Teller und nach einem Löffel um. + +„Laß den Teller stehen, das ist meiner.“ + +„Ja, wo kriege ich denn da einen Teller her?“ + +„Wenn du dir keinen mitgebracht hast, dann wirst du wohl ohne Teller +hier leben müssen.“ + +„Wird denn hier kein Geschirr geliefert?“ + +„Nur was du selber hast, das kannst du dir liefern.“ + +„Wie soll ich denn da essen, ohne Teller, ohne Gabel und Löffel?“ + +„Deine Sache.“ + +„Höre, du Neuer,“ rief einer aus seiner Bunk heraus, „du kannst meinen +Teller, meine Tasse und mein Geschirr haben. Hast es aber immer zu +putzen dafür.“ + +Da war einer, der hatte nur einen zerbrochenen Teller, aber keine Tasse; +ein andrer eine Gabel, aber keinen Löffel. Wenn nun das Essen ins +Quartier kam, entstand zuerst immer ein Streit darüber, wer zuerst den +Löffel oder die Tasse oder den Teller gebrauchen dürfe; denn wer zuerst +in den Besitz des Tellers oder des Löffels gelangte, fischte sich +natürlich das Beste heraus. Niemand kann es ihm übelnehmen. + +Das, was Tee genannt wurde, war heißes braunes Wasser. Oft war es nicht +heiß, sondern lauwarm. Das, was Kaffee genannt wurde, gab es zum +Frühstück und um drei Uhr. Diesen Drei-Uhr-Kaffee habe ich nie gesehen. +Grund: Rattenwache. Von zwölf bis vier war ich auf Wache. Um drei gab es +den Kaffee. Um vier, wenn ich abgelöst wurde, war auch nicht ein Tropfen +mehr von diesem Kaffee vorhanden. Manchmal war noch heißes Wasser in der +Galley, aber wenn man keine eignen Kaffeebohnen hatte, so konnte man +sich keinen Kaffee bereiten. + +Je weiter Kaffee oder Tee von wahrem Kaffee oder Tee entfernt sind, +desto mehr hat man das Bedürfnis, ihn mit Zucker und Milch zu +verschönern, um die Phantasie anzuregen. Alle drei Wochen erhielt jeder +Mann eine kleine Büchse kondensierte und gezuckerte Milch und jede Woche +ein halbes Kilo Zucker; denn Kaffee und Tee wurden von der Galley +schlicht geliefert, also ohne Milch und Zucker. + +Hatte man die Milch gefaßt, so öffnete man die Büchse und nahm als +sparsamer Mensch ein Löffelchen voll heraus, um dem Tee ein Wölkchen zu +geben. Dann stellte man seine Büchse sorgfältig fort, um sie erst wieder +beim nächsten Kaffee zu gebrauchen. Aber während man sich auf Wache +befand, wurde die Büchse nicht gestohlen, aber von andern aufgebraucht +bis auf den letzten Rest. Da die sichersten Verstecke am leichtesten +gefunden werden, passierte mir das nur beim erstenmal, daß meine Milch +verschwand. Als ich das zweitemal Milch faßte, löffelte ich sie auf +einem Sitz völlig aus, das einzige Mittel, meine Ration zu retten, ein +Mittel, das alle anwandten. + +Mit dem halben Kilo Zucker machte man es genau ebenso, er wurde sofort +nach dem Fassen auf einen Ruck aufgegessen. Wir kamen einmal zu einer +Einigung. Der Zucker des ganzen Quartiers wurde in eine gemeinsame +Büchse geschüttet, und jeder sollte sich einen Löffel herausnehmen, wenn +der Kaffee oder Tee kam. Die Folge dieser Einigung war, daß der ganze +Zucker am zweiten Tage verschwunden war und mich nur die leere Büchse +angähnte. + +Frisches Brot gab es jeden Tag. Und jede Woche bekam das Quartier eine +Büchse Margarine, die gut reichen konnte. Aber niemand konnte sie essen, +weil Schmierseife besser schmeckte. + +An Tagen, wo wir das Maul zu halten und die Augen zuzumachen hatten, gab +es für jeden Mann zwei Glas Rum und eine halbe Tasse Marmelade. Das +waren die Tage, an denen geblendet wurde. + +Zum Frühstück gab es Graupen mit Pflaumen oder Reis mit Blutwurst oder +Kartoffeln und Hering oder schwarze Bohnen und Salzfisch. Alle vier Tage +fing das wieder mit Graupen und Pflaumen an. + +Sonntag gab es zum Mittag Rindfleisch mit Mostrichsoße oder Cornedbeef +mit Wasserbrühe, Montag Salzfleisch, das nie jemand aß, weil es nur Salz +und Schwarte war, Dienstag getrockneten Salzfisch, Mittwoch +Trockengemüse und Backpflaumen in einer blauwäßrigen Schleimerei aus +Kartoffelstärke. Die Schleimerei hieß: Der Pudding. Donnerstag begann es +wieder mit Salzfleisch, das nie jemand aß. + +Das Abendessen war eines der genannten Frühstücke oder Mittagessen. Zu +jeder Mahlzeit gab es Pellkartoffeln, von denen nur die Hälfte gebraucht +werden konnten. Der Skipper kaufte nie Kartoffeln. Sie wurden aus der +Ladung genommen, wenn wir Südkartoffeln fuhren. Solange sie neu und jung +waren, machten diese Kartoffeln einem Spaß und waren Leckerbissen, aber +wenn wir lange keine Kartoffeln gefahren hatten, dann kamen die an die +Reihe, von denen ich sprach. + +Als Blendladung fuhren wir manchmal nicht nur Kartoffeln, sondern auch +Tomaten, Bananen, Ananas, Datteln, Kokosnüsse. Diese Ladungen allein +machten es möglich, daß wir bei dem Essen bestehen konnten und nicht an +Eßekel verreckten. Wer einen Weltkrieg mitgemacht hat, der hat +vielleicht gelernt, was ein Mensch ertragen kann, ohne zu krepieren, wer +aber auf einem echten Totenschiff oder auf einer echten Blendlaterne +gefahren ist, der weiß es ganz sicher, wieviel ein Mensch aushalten +kann. Das Ekeln gewöhnt man sich bald ganz ab. + +Das Geschirr, das mir so opferwillig zum Gebrauch angeboten wurde, war +nicht ganz komplett, es bestand nur aus einem Teller. Als ich das +notwendige Geschirr beisammen hatte, gebrauchte ich die Gabel von +Stanislaw, die Tasse von Fernando, das Messer von Ruben, und den Löffel +hätte ich von Hermann haben können, aber einen Löffel besaß ich selbst. +Für diese Opferwilligkeit hatte ich das Geschirr aller hübsch sauber zu +putzen, zweimal für jede Mahlzeit. Zuerst, wenn ich es übernahm, und +dann, nachdem ich es gebraucht hatte. + +Als das Abendessen vorüber war, hatte ich die Kumpen zu waschen, also +die verbeulten Blechwaschbecken, in denen das Essen aus der Galley +geholt wurde. Zu diesem Waschen brauchte weder ich noch sonst jemand +Seife, Soda oder Bürste, weil solche Dinge nicht vorhanden waren. Wie +die Kumpen dann aussahen, wenn wieder das frische Essen hineingeschüttet +wurde, braucht nicht erzählt zu werden. + +In diesem Dreck konnte ich nicht leben. Ich ging daran, das Quartier zu +scheuern. Die Burschen waren nach dem Essen sofort in ihre Bunks +gefallen wie tot. Während des Essens war kaum gesprochen worden. Es ging +zu, als ob Schweine an einem Trog stehen. Drei Tage später erkannte ich +diesen Vergleich nicht mehr. Die Fähigkeit, Vergleiche zu ziehen oder +deutliche Erinnerungen aus einem früheren Leben zu erwecken, war +erloschen. + +„Seife wird nicht geliefert“, wurde mir brummend aus einer Bunk +zugerufen. „Schrubber oder Bürsten auch nicht. Und nun halte Ruhe mit +deinem Herumwirtschaften, wir wollen schlafen.“ + +Ich sofort mittschiffs und zur Ingenieurskabine, wo ich anklopfte. + +„Ich will das Quartier scheuern und verlange Seife und eine kräftige +Schrubberbürste.“ + +„Was denken Sie denn von mir? Sie wollen doch nicht damit sagen, daß ich +Ihnen Seife oder Bürsten zu kaufen habe? Nichts zu machen.“ + +„Ja, aber nun ich selbst. Ich habe keine Seife für mich selbst. Und ich +soll doch vor den Kesseln arbeiten.“ Das wollte ich doch sehen, ob ich +keine Seife bekäme. + +„Das ist Ihre eigne Sache, wenn Sie sich waschen wollen, müssen Sie auch +Seife haben. Seife gehört zu einer anständigen Seemannsausrüstung.“ + +„Kann sein, mir ist das neu. Toiletteseife ja, aber nicht Arbeitsseife, +und für Kesselbande hat der Ingenieur die Seife zu stellen oder der +Skipper oder die Kompanie. Das ist mir gleichgültig, wer die Seife zu +stellen hat. Ich will aber Seife haben. Was ist das überhaupt für eine +Sauerei? Auf jedem anständigen Eimer wird alles gestellt, Matratze, +Kissen, Bettuch, Decke, Handtuch, Arbeitsseife und vor allem Eßgeschirr. +Das gehört zur Ausrüstung des Schiffes und nicht zur Ausrüstung des +Mannes.“ + +„Nicht bei uns. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja gehen.“ + +„Sie unverschämter Patron, Sie.“ + +„Raus aus meiner Kabine oder ich rapportiere zum Skipper und laß Sie +festlegen.“ + +„Das wäre mir ganz recht.“ + +„Nicht wie Sie denken, Mann. So besoffen sind wir nicht. Ich brauche den +Kohlenschlepper. Nein, ich lasse Sie festlegen mit einer vollen +Monatsheuer, wenn Sie mir noch mal so kommen.“ + +„Feine Leute, das muß ich sagen. Auch noch die paar Groschen abtricken.“ + +Der Gauner saß da und grinste. Bei Klopperei kommt nie etwas heraus, und +er trickt mir zwei Monatsheuern ab. + +„Erzählen Sie doch das alles Ihrer Urgroßmutter“, sagte er. „Sie wird +sich das ruhig mit anhören. Aber ich nicht. Raus jetzt, aber flott. +Vorwärts ins Bett, um elf haben Sie auf Wache zu gehen.“ + +„Meine Wache fängt um zwölf an. Zwölf bis vier.“ + +„Nicht bei uns und nicht mit den Kohlschleppern. Die Kohlschlepper +fangen um elf an und ziehen von elf bis zwölf Asche, und um zwölf fängt +die Arbeitswache an.“ + +„So. Von elf bis zwölf ist wohl keine Arbeitswache?“ + +„Asche ziehen, das haben die Kohlschlepper bei uns nebenbei zu machen.“ + +„Aber Überstunden werden angeschrieben.“ + +„Nicht bei uns. Und nicht für Ascheheben.“ + +In welchem Jahrhundert lebte ich denn? Unter welche Menschenrasse war +ich geraten? Halb im Dusel torkelte ich zum Quartier. + +Da war das Meer, das blaue herrliche Meer, das ich so sehr liebte, und +in dem als anständiger Seemann zu versinken ich nie mit Grauen angesehen +hatte. War es doch die große festliche Vermählung mit dem Weibe, das so +launenhaft war, das so wütend rasen konnte, so viel herrliches +Temperament hatte, das so berückend lächeln, so bezaubernde Schlaflieder +singen konnte und so wunderschön, ach, so über alle Maßen schön war. + +Es war dasselbe Meer, auf dem tausende und tausende ehrlicher, gesunder +Schiffe fuhren. Und nun hatte mich das Schicksal ausersehen, mich ein +Schiff fahren zu lassen, das an Lepra erkrankt war, und das nur noch +fuhr mit der Hoffnung, daß das Meer Erbarmen mit ihm haben möge. Aber es +sah ganz so aus, ich hatte es im Gefühl, daß die See das mit Lepra +behaftete Schiff nicht aufnehmen wollte, um sich nicht verpesten zu +lassen. Noch nicht. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch wartete das +Meer, noch hoffte es, daß es diese Pest nicht zu erdulden haben werde, +das dieses Meeresgeschwür irgendwo auf dem Lande oder in einem +verschmierten Winkelhafen zerplatzen und vergehen würde. Noch war +Yorikkes Zeit nicht gekommen. Ich hatte noch kein Todesahnen, an meine +Bunk hatte der Gast noch nicht geklopft. Denn als ich jetzt an der +Reeling stand, über mir den sternenblinkenden Himmel und vor mir das +grünlich flickernde Meer, an mein verlorenes New Orleans und an mein +sonniges Spanien dachte, da überkam es mich: Hopp drüber Junge, schiet +sie an mit dem Kohlschlepper und mach ein flottes sauberes Ende, damit +du nicht deinen Rest verlierst. Aber dann war ja nur ein andrer armer +müder, verlumpter, verhungerter, verdreckter und gehetzter +Kohlschlepper, der Doppelwache bekam und mir die letzte Reise so schwer +machte und ich immer wieder hoch kommen mußte. + +Ei zum Teufel nochmal, beiß zu und schiet. Die Yorikke kann dich, mein +Junge, nicht unterkriegen. Nicht die Konsuln. Nicht die Yorikke. Nicht +der Taschendieb. Bist ja von New Orleans, Junge. Rin in die Schiet und +durchgeschwommen. Es gibt auch wieder mal Wasser und Seife. Der Gestank +ist nur äußerlich. Patsch rin, daß es spritzt. Weg von der Reeling, und +dem Biest, das dich unterkriegen will, eins in die Zähne gehauen! Spuck +noch mal runter und nun weg in die Bunk! + +Als ich weg war von der Reeling, wußte ich, daß ich zwar auf einem +Totenschiff und auf einer Blendkaroline war, aber daß es nicht mehr mein +Totenschiff war. Mit der Yorikke half ich keine Versicherung fahren. Auf +ihr wurde ich kein Gladiator. Ich spucke dir ins Gesicht, Cäsar Augustus +Imperator. Spare deine Seife und fresse sie, ich brauche sie nicht mehr. +Aber du sollst mich nicht mehr winseln sehen. Ich spucke dir ins +Angesicht, dir und deinem Gezücht. + + + 28 + +Einschlafen konnte ich nicht. Ich lag auf den blanken Brettern meiner +Bunk wie ein eingelieferter Spitzbube auf der nackten Pritsche in einer +Polizeiwache. Die schmökende Petroleumlampe füllte den Raum mit einem +Dunst, daß Atmen eine Qual wurde. Da ich ja keine Decke hatte, fröstelte +ich, denn die Nächte auf dem Meere können ganz verteufelt kalt werden. +Gerade war ich in einen dämmernden Halbschlaf gefallen, als ich +plötzlich mit kräftigen und ungeduldigen Händen so gerüttelt und +gestoßen wurde, als sollte ich durch die Wand geworfen werden. + +„Raus du. Ist halb elf.“ + +„Halb erst? Warum kommst du nicht um dreiviertel?“ + +„Ich bin gerade oben, weil ich für den Heizer Trinkwasser hole. Ich kann +nicht nochmal raufkommen. Mußt raus. Zehn vor zwölf weckst du deinen +Heizer und holst ihm Kaffee.“ + +„Kenn ihn nicht. Weiß seine Bunk nicht.“ + +„Komm raus. Ich zeig dir.“ + +Ich stand auf, und mir wurde die Bunk des Heizers gezeigt, der zu meiner +Wache gehörte. + +„Mach voran. Rasch. Geh gleich zu der Aschenwintsche. Wir haben +verflucht viel Asche.“ Der Mann verschwand wie ein Geist. + +Es war fast finster in dem Quartier, weil die Lampe kein Licht gab. + +Beim Licht einer zerbrochenen kleinen verräucherten Laterne zeigte mir +der Kohlenzieher der Vorwache, es war Stanislaw, wie die Wintsche +gehandhabt werden muß. + +„Höre mal, Stanislaw, das verstehe ich nicht“, sagte ich. „Ich kenne +doch nun auch etwas von Salzkrusten, aber das habe ich noch nicht +erlebt, daß die Kohlschlepper Wache aufzubüßen haben. Warum?“ + +„Weiß ich gut. Ich bin auch nicht gerade aus den Windeln gerutscht. +Woanders hat der Heizer beim Aschehieven zu helfen. Aber hier wird ja +der Heizer allein nicht fertig, und wenn ihm der Schlepp nicht manchmal +hilft, fällt er runter auf hundertzwanzig, daß es nur so rasselt, und +der Eimer sackt und steht wie eine Böckchenpinne. Auf andern Eierkisten, +auch wenn es Särge sind, hat die Wache zwei Heizer oder wenigstens +einundeinenhalben. Aber ich denke doch, du weißt jetzt schon, wo du +bist, mein Seemannsengelchen.“ + +„Ich engele nicht. Da kannst du Zinnober drauf schlucken.“ + +„Willst du achtern kanten? Glückt nicht. Wirst du schon noch lernen. +Setz dich nur lieber gleich richtig in die Wolle und such dir das Boot +aus, mit dem du klippen willst. Der Koch hier ist der Großvater. Der +erzählt dir was, wenn du mit ihm angewärmt bist. Der Hund hat zwei +Westen in seiner Bunk liegen.“ + +„Haben wir denn keine Westen?“ fragte ich erstaunt. + +„Nicht mal ein Ring ist da. Vier Dekorationsringe mit Goldbronze. Aber +ich rate dir, nimm keinen davon. Wenn du da den Kopf durchsteckst, nimm +lieber einen Mühlstein. Mit dem Mühlstein hast du vielleicht noch +Hoffnung, mit den Dekorationswürsten nicht.“ + +„Wie kann der Hund denn das machen? Da muß doch in jeder Bunk eine Weste +sein. Ich bin das so gewöhnt, daß ich das gar nicht beachtet habe, daß +keine da ist.“ + +Stanislaw lachte und sagte: „Du hast so eine Kanne noch nicht gefahren. +Darum. Yorikke ist meine vierte Leichenkanne. Die sind ja jetzt zum +Aussuchen.“ + +„He–ho, Lawski!“ schrie sein Heizer den Aschenschacht hinauf. + +„Was ist los, Heizer?“ fragte Stanislaw runter. + +„Zieht ihr denn heute keine Asche, oder was ist los?“ blökte der Heizer +rauf. Es war Martin. + +„Natürlich ziehen wir. Aber ich muß doch den Neuen anlernen. Der kennt +doch die Wintsche nicht.“ + +„Dann mach zu und komm runter. Mir ist ein Rost raus.“ Der Heizer schrie +es rauf. + +„Erst muß die Asche gezogen werden. Der Rost hat Zeit. Ich muß den Neuen +anlernen“, schrie Stanislaw wieder runter. + +„Nein, was Leichenkannen anbetrifft – wie heißt du denn eigentlich, +Neuer?“ + +„Ich? Pippip.“ + +„Hübscher Name. Bist du Türke?“ + +„Ägypter.“ + +„Das ist gut. Ägypter hat gefehlt. Wir haben hier alle Nationen auf der +Kanne.“ + +„Alle? Auch Yanks?“ + +„Ich glaube, du schläfst noch. Die beiden einzigen, die nie auf einer +Leichenkanne fahren, das sind Yanks und Kommse.“ + +„Kommse?“ + +„Ach tu doch nicht so unschuldig, du Schaf. Bolsches. Kommunisten. Yanks +kommen nicht, weil die in dem Dreck den ersten Tag verrecken würden, und +weil denen auch immer von ihren Konsuln geholfen wird. Der winkt ihnen +schon die Weisheit über die Eimer.“ + +„Und die Komms?“ + +„Die sind zu schlau, die riechen, was los ist, wenn sie nur den +Mastknopf sehen. Kannst dich drauf verlassen. Die sind gekocht. Wo ein +richtiger Komms drauf ist, kann keine Versicherung fahren. Die beerdigen +dir jede Versicherungspolice, und wenn sie noch so fein gezuckert ist. +Die haben dir Riecher, da können wir alle nicht mit. Und die haben auch +immer gleich die schönste Sauerei mit der Inspektion. Aber nun kann ich +dir auch erzählen, wenn da ein gesunder Eimer ist, wo nicht nur Yanks +drauf sind, sondern Yanks, die Komms sind, Mann, das ist Honig. Das ist +–. Ich kann es dir ja sagen, ich fahre überhaupt nur, um mal auf einen +solchen Eimer zu kommen. Da gehe ich nie wieder runter. Da mache ich +sogar den Nauke. Mir ganz egal. Wenn du mal einen Eimer sehen solltest, +der von New Orleans ist oder da herum. Das ist eine Sache.“ + +„So ein Schiff habe ich noch nicht gesehen“, sagte ich. + +„Kommst du auch nicht drauf, und wenn du hundert Jahre alt wirst und +alles ausgestiegen ist. Du nicht. Ein Ägypter überhaupt nicht, und wenn +er einen Paß hat wie Zucker. Jetzt ist es für mich auch vorbei. Wer die +Yorikke gefahren hat, kommt nie wieder auf einen gesunden Eimer. Jetzt +wollen wir mal dran gehen.“ + +„Hängt er drin?“ schrie Stanislaw in den Schacht. + +„Hiev up!“ + +Stanislaw schaltete den Hebel ein, und die Aschkanne rasselte rauf. Als +sie in Reichhöhe war, warf er den Hebel wieder herum. Die Kanne ruckte +noch mal rauf und noch mal runter und hing dann in der Schachtluke. + +„Nun hängst du die Kanne aus und trägst sie zur Schanze und schüttest +sie aus. Da gib aber gut Achtung, daß dir die Kanne nicht mit über Stag +geht. Dann sitzt du da. Dann können wir mit einer arbeiten, und wir +können zwei Stunden früher aufstehen. Daß du’s weißt.“ + +Die Kanne war glühend heiß, und obenauf lagen die rotglühenden +Schlacken. Ich konnte sie kaum anfassen, aber es mußte sein. Und schwer +war die Kanne. Sicher ihre fünfzig Kilo. Nun hatte ich die Kanne vor der +Brust quer über das vier Meter breite Gangdeck zu schleppen und in den +Holzschacht zu schütten, durch den die Asche ins Meer fiel und dort +zischend verschwand. Dann trug ich die Kanne zurück, und ich hängte sie +wieder in die Hievketten. + +„Das ist doch ganz klar, warum die Westen gegangen sind. Ich bin sicher, +der Skipper hat sie verkauft, um nebenbei was zu machen“, sagte +Stanislaw. „Aber des Verkaufens wegen war es nicht. Siehst du, wenn +keine Westen da sind, kommen auch keine Zeugen vor das Seemannsgericht. +Verstehst du jetzt den Zimt? Auf Zeugen kann man sich schlecht +verlassen. Manchmal haben sie doch was gesehen oder gemerkt, und die +Versicherung ist ja auch immer gleich dahinterher und schnappt sich die +Leute. Die Boote mußt du dir mal bei Tage betrachten – wie war doch +gleich dein Name? Ja, also die Boote mußt du dir mal bei Tage +betrachten, Pippip. Da kannst du deine Stiefel durchschmeißen. Aber +glatt. Noch weniger Zeugen.“ + +„Na rede keinen Seetang, hä?“ sagte ich zur Antwort. „Der Skipper will +doch auch runter.“ + +„Sorge dich nur nicht um den Skipper. Denk zuerst an deine Haut. Der +Skipper kommt schon runter. Wenn du alles so gut weißt, wie das, dann +fehlt dir nichts mehr.“ + +„Du bist doch aber auch schon von drei Leichenkannen runtergekommen oder +etwa nicht?“ + +„Auf zweien bin ich richtig ausgestiegen und habe den letzten Hafen +nicht im Stich gelassen. Und beim dritten – aber du Esel, Glück mußt du +eben auch haben. Wenn du kein Glück hast, dann bleibe nur überhaupt vom +Wasser weg, sonst fällst du in die Waschschüssel und kommst nicht mehr +hoch.“ + +„Lawski! Mensch! Was ist denn los da oben?“ schrie nun wieder der Heizer +rauf. + +„Die Ketten haben sich ausgehakt, verflucht nochmal“, blökte Stanislaw +runter. + +„Das gibt heute eine lange Asche, wenn ihr so weiter macht“, kam wieder +die Stimme aus der Tiefe. + +„So, nun probiere mal die Wintsche, aber sei vorsichtig, die haut wie +das Donnerwetter. Die haut dir glatt den Schädel ab, wenn du nicht alle +Gedanken beieinander hast.“ + +Die schwere Kanne kam rauf und sauste oben gegen den Deckel, daß ich +glaubte, sie würde den ganzen Schacht in Trümmer schlagen, aber ehe ich +den Hebel herum hatte, setzte die Wintsche von selbst mit der +Konterwirkung ein, und der Eimer raste wieder den Schacht hinunter. Er +schlug unten mit einem fürchterlichen Getöse auf, die Schlacken +spritzten herum, der Heizer schrie wie verrückt, und im selben +Augenblick setzte abermals die Konterwirkung ein, und die Kanne, jetzt +halb leer, raste wie wahnsinnig ein zweitesmal gegen die Deckung des +Schachtes, schlug herum mit donnerndem Krachen, und mit einem +entsetzlichen Geprassel fielen die Schlacken den Schacht hinunter, beim +Fallen gegen die Eisenwände des Schachtes schlagend und das Getöse und +Geratter so vermehrend, daß man glauben konnte, das ganze Schiff +splittert auseinander. Die Kanne war schon wieder am Heruntersausen, als +Stanislaw jetzt eingriff und den Hebel packte. Sofort stand die Kanne so +brav da, als ob sie ein totes Geschöpf sei. + +„Ja,“ sagte Stanislaw, „so einfach ist das nicht. Das muß gelernt sein. +Da brauchst du zwei Wochen, bis du den Dreh heraus hast. Geh besser +runter und schippe ein, dann werde ich die Wintsche bedienen. Ich zeige +es dir morgen mittag, bei Tage, da kriegst du das dann schon besser. +Wenn die Wintsche in die Wicken gehauen wird, dann können wir die Asche +mit der Hand hieven. Und das wünsche ich dir nicht und uns nicht. Dann +laufen wir nicht mehr, dann kriechen wir nicht mehr, dann rollen wir nur +noch von einem Platz zum andern.“ + +„Laß es mich noch mal versuchen, Lawski. Ich will mal gnädige Frau zu +ihr sagen. Vielleicht tut sie es dann.“ + +Dann rief ich runter: „Hopp an.“ + +„Hiev up!“ kam der Schrei. + +„Na, Frau Gräfin, wollen wir jetzt?“ + +Der Prophet weiß, sie tat es, sie tat es so sanft, so zart. Sie stand +auf den Millimeter. Ich glaube, daß ich Yorikke besser kannte als ihr +Skipper oder der Großvater. Die Wintsche gehörte zu jenen Teilen des +Schiffes, die schon in der Arche Noah mitgewirkt hatten und noch aus der +Zeit vor der Sintflut stammten. In dieser Dampfwintsche waren alle +Geister und Geisterchen zusammen, die in den übrigen Ecken und Winkeln +der Yorikke nicht mehr Platz fanden, weil ihre Zahl zu groß war. Darum +auch hatte die Wintsche ihre Persönlichkeit, die respektiert werden +wollte. Stanislaw erwarb sich den Respekt durch eine langgeübte Hand, +ich mußte es durch Worte machen. + +„Euer königliche Gnaden, noch mal, bitte.“ + +Sieh da, abermals glitt die Aschkanne wie mit Sammetpfötchen +gestreichelt. Aber freilich, oft genug noch, spielte sie toll und machte +Splittereffekte, jedoch nur, wenn ich vergaß, sie mit Höflichkeit zu +behandeln. Es waren manchmal recht ergötzliche Fangversuche, die ich +anzustellen hatte, um den rauf- und runterrasenden Behälter zu +schnappen. Bald sauste er oben durch, bald raste er runter und gleich +wieder hoch. Wenn der Hebel nicht genau, aber haargenau gehalten wurde, +schlug der Konterhub ein. + +Stanislaw war runtergegangen und schippte und rief die „Hiev-ups“ aus. +Und ich hängte meine Kannen aus und ein, schleppte sie glühend heiß, wie +sie waren, über das Gangdeck und schüttete sie in den Aschenschacht. + +Als fünfzig Kannen gehievt waren, schrie Stanislaw, daß wir den Rest +lassen wollten für die nächste Wache, weil es zu spät sei. Ich dachte, +daß ich nun zusammenbrechen würde, von diesem atemlosen Schleppen der +unglaublich schweren Kannen. Aber ehe ich Zeit hatte, umzuklappen, +schrie Stanislaw herauf: „He, mach voran, zwanzig vor zwölf.“ + +Ich schleppte mich zum Quartier. Das Deck war nicht erleuchtet, um das +Petroleum zu sparen; und ich schlug mir viermal die Schienenbeine auf, +ehe ich bis zum Forecastle kam. Was da alles auf dem Deck herumlag, läßt +sich nur dadurch näher beschreiben, daß ich sage: „Da lag alles auf dem +Deck herum.“ Alles, was die Erde hervorbringt, je hervorgebracht hat. +Unter diesem alles lag sogar ein schwerbesoffener Schiffszimmermann, der +der Zimmermann der Yorikke war; sich in jedem Hafen sinnlos besoff und +den ersten Tag auf Fahrt nicht einmal als Besenstiel gebraucht werden +konnte. Der Skipper war nur froh, wenn ihm nicht jedesmal die A. B.s +dabei Gesellschaft leisteten und wenigstens einer der A. B.s noch genug +Leben zurückbehalten hatte, um am Ruder zu stehen. Der Zimmermann, die +drei A. B.s und noch ein paar andre hätten ruhig Westen bekommen dürfen. +Sie hätten keine Versicherung vermanscht, anders, sie hätten die +wackligste Versicherung gerettet, ohne zu wissen, was man von ihnen +wollte. Sie hatten auch die meiste Aussicht, mit in Boot eins zu kommen, +das der Skipper brauchte, um das wohlgepflegte Journal zu retten und die +Lizenz zu behalten mit Auszeichnung für Pflichteifer trotz Lebensgefahr. + +Ich hatte jetzt die Kaffeekanne zu nehmen, damit zur Galley zu gehen, wo +der Kaffee auf dem Kochherd stand, und sie zu füllen. Dann hatte ich den +Weg zum drittenmal zu machen, über das Verdeck, wo kein Licht brannte. +Meine Schienbeine bluteten fürchterlich. Aber da war keine Handapotheke +an Bord, und wenn wirklich der Erste Offizier irgendwo etwas versteckt +hielt für erste Hilfe, wegen solcher Kleinigkeiten durfte man ihm nicht +kommen. + +Jetzt bearbeitete ich meinen Heizer, um ihn hochzukriegen. Er wollte +mich ermorden, daß ich es wagte, ihn schon zu wecken. Und als die Glocke +ausrief und er den heißen Kaffee noch nicht hatte schlucken können, +wollte er mich ein zweites Mal ermorden, weil ich ihn zu spät geweckt +hatte. Sich zu streiten, ist Kraftvergeudung. Nur Narren streiten sich. +Sag’ deine Meinung, wenn du überhaupt eine hast, was selten genug der +Fall ist, und dann halt’s Maul und laß den andern reden, bis ihm das +Maul aus den Angeln fällt. Sage immer ja zu der Meinung des andern, und +wenn er dann fertig ist und nicht mehr japsen kann und dich fragt: „Na, +habe ich nicht recht?“ dann erinnere ihn so nebenbei daran, daß du ihm +deine Meinung ja schon längst gesagt hättest, daß er aber im übrigen +durchaus recht habe. Eine Woche lang Heizer der Rattenwache wecken, +macht jemand auf Jahre hinaus unfähig, Politik zu begreifen. + +Der Kaffee war heiß, schwarz und bitter. Kein Zucker, keine Milch. Brot +war vorhanden, aber man mußte es trocken essen, weil die Margarine +stank. Der Heizer kam zum Tisch, fiel auf die Bank, richtete sich hoch, +und während er die Kaffeetasse an den Mund führen wollte, fiel sein Kopf +herunter und schlug auf die Tasse, daß sie umkippte. Er schlief schon +wieder und tastete träumerisch nach dem Brot, um sich ein Stück +abzureißen, weil er das Messer nicht halten konnte vor Müdigkeit. Jede +seiner Bewegungen wurde vom ganzen Körper ausgeführt, nicht nur mit den +Händen, den Armen, den Fingern, den Lippen oder dem Kopfe. Die Glocke +rief aus, er bekam einen Wutanfall, des Kaffees wegen, und sagte: „Geh’ +runter, ich komme gleich. Kümmere dich um Schlackenwasser.“ + +Als ich an der Galley vorbeikam, sah ich Stanislaw im Dunkeln da +herumwirtschaften. Er versuchte, Seife zu stehlen, die der Koch +vielleicht irgendwie versteckt haben mochte. Der Koch stahl die Seife +vom Steward, und der Steward stahl die Seife aus dem Koffer des +Skippers. + +„Zeig mir doch mal den Weg runter in die Stokehold, in den Kesselraum, +Lawski“, sagte ich zu ihm. + +Er kam raus, und wir hatten auf eine höhere Etage zu klimmen, die das +Halbdeck vom Mittschiff war. Er zeigte mir einen schwarzen Schacht. „Da +gehen die Leitern runter. Du kannst nicht fehlgehen“, sagte er und ging +wieder zurück zur Galley. + +Aus der tiefschwarzen und doch so glänzend klaren Meeresnacht blickte +ich hinunter in den Schacht. In einer unendlich erscheinenden Tiefe sah +ich eine flackernde, dunstige, rauchige Helle. Diese Helle war rötlich +von dem Widerschein der Kesselfeuer. Mir war, als sähe ich in die +Unterwelt. In diesen rötlichen, dunstigen Schein trat jetzt eine nackte +menschliche Gestalt, verrußt und mit glitzernden Streifen rieselnden +Schweißes. Die Gestalt stand da, die Arme verschränkt und starrte +bewegungslos auf die Quelle des rötlichen Scheines. Dann bewegte sich +die Gestalt, ergriff ein langes schweres Schüreisen und stellte es an +die Rückwand, nachdem sie unschlüssig damit herumgewirtschaftet hatte. +Die Gestalt ging jetzt vor, bückte sich, und einen Augenblick darauf war +es, als sei sie von Flammen umlodert. Dann reckte sich die Gestalt hoch, +die Flammen waren verlöscht und übrig blieb nur der gespenstische +rötliche Schein. + +Ich wollte die Leiter hinuntergehen. Als ich aber einen Fuß auf die +oberste Sprosse gesetzt hatte, schlug mir eine entsetzliche Säule von +Hitze, erstickendem Ölgestank, Kohlenstaub, Flugasche, dickem +Petroleumqualm und Wasserdampf entgegen. Ich fiel zurück, und mit einem +lauten Japser schnappte ich nach frischer Luft, weil ich glaubte, meine +Lungen könnten nicht mehr arbeiten. + +Aber es half nichts. Ich mußte da hinunter. Da war ein Mann unten. Ein +lebender Mensch, der sich bewegen kann. Und wo ein andrer Mensch sein +kann, da kann auch ich sein. Ich kletterte rasch fünf oder sechs +Sprossen, dann aber ging es nicht mehr. Mit einem Rasen sauste ich +wieder hoch, um Luft zu bekommen. + +Die Leiter war aus Eisen, die Sprossen aus fingerdickem Rundeisen. Nur +an der einen Seite war ein Geländer, die andre Seite, die äußere Seite, +war ohne Geländer, also just die Seite war offen, wo man in den Schacht +abstürzen konnte, während die Seite, die an der Wand der Maschinenhalle +war, mit einem Geländer gesichert war. + +Als ich meine Lungen wieder aufgefüllt hatte, machte ich den dritten +Versuch, und ich kam auf eine Plattform. Drei Schritte über die +Plattform, die nur einen halben Schritt breit war, führten zum Ende der +Platte, wo eine zweite Leiter tiefer in den Schacht ging. Diese drei +Schritte konnte ich aber nicht machen. In Gesichtshöhe war hier die +Aschenhievwintsche, und das Dampfrohr der Wintsche hatte einen langen, +aber ganz dünnen Riß. Durch diesen Riß zischte ein brühend heißer +Wasserdampf, scharf und schneidend wie eine Stichflamme. Der Riß lag so, +daß selbst, wenn man sich bückte, man diesem schneidenden Dampfstrahl +nicht ausweichen konnte. Ich versuchte, mich hochzurecken, aber dann +wurden die Arme und die Brust angefressen und verbrüht. Inzwischen mußte +ich hoch, um Luft zu schöpfen. + +Ich war auf falschem Wege. Das war nicht der meine. Ich ging wieder zur +Galley, wo Stanislaw immer noch nach Seife suchte. + +„Ich gehe mit dir runter, komm los“, sagte er bereitwillig. + +Als wir auf dem Wege waren, sagte er: „Du bist doch nie Kesselbums +gewesen, nicht wahr? Habe ich doch gleich gesehen. Zu einer Wintsche +sagt man doch nicht guten Tag, der haut man eins auf den Schädel und +fertig.“ + +Ich war nicht in der Laune, ihm jetzt zu erzählen, wie man mit Dingen +umzugehen hat, die eine Seele haben. + +„Recht hast du, Lawski, bin nie beim Kessel gewesen, habe noch nie da +überhaupt reingeguckt. War Deckarbeiter, Steward, Kabinenjunge, seit ich +meinen ersten Eimer gesehen habe. Nie schwarzen Gang gerochen, war mir +immer zu stickig. Sag’, willst du mir nicht für die erste Wache eine +Krume zur Hand gehen?“ + +„Rede nicht lange. Freilich. Komm nur voran. Wir werden die Kohlsuppe +schon kochen. Kenne deine Sorgen. Dein erster Leichenwagen. Ich kenne +die Särge, kannst mir glauben. Aber manchmal dankst du Himmel und Hölle, +daß dir eine Yorikke quer vor’n Bug kommt, und du hoppst drauf mit einem +Wonnegefühl, als ob – ja, hab’ nur keine Bange. Wenn was krumm geht, ruf +mich nur. Ich zieh dich schon raus aus dem Dreck. Wenn wir auch alle +miteinander Tote sind, nur nicht verzagen. Schlimmer kann es nicht +kommen.“ + +Es kam aber schlimmer. Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein +Toter sein, ein Toter zwischen Toten. Ausgelöscht kann man sein aus der +Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und kann +dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen man nicht +entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer Weg zur +Flucht offen gelassen ist. + + + 29 + +Ich sah Stanislaw zu dem Schacht gehen, den ich soeben verlassen hatte, +weil ich glaubte, ich hätte mich im Wege geirrt. Er kletterte die Leiter +ohne zu zögern hinunter, und ich folgte ihm. Als wir am Ende der ersten +Leiter waren und auf die Platte kamen, die unter dem heißen Dampfstrahl +lag, sagte ich: „Da können wir nicht durch. Da wird uns die Haut bis auf +die Knochen abgeledert.“ + +„Meist gibt es was ab. Ich kann dir morgen meine Arme zeigen. Aber wir +müssen durch“, sagte Stanislaw. „Hilft uns nichts. Kein andrer Weg zu +den Kesseln für uns. Die Ingenieure lassen uns nicht durch die +Maschinenhalle gehen, wir sind zu dreckig, und es ist gegen die +Vorschrift.“ + +Während er das noch sagte, sah ich, wie er plötzlich seine Arme um den +Kopf schlug, sich so Gesicht, Ohren und Nacken schützend. Nun drehte, +quetschte und reckte er sich zwischen die glühend heißen Dampfrohre, wo +die Schutzpackungen längst abgefault und abgerissen waren, und der +glühend heißen Kesselwand hindurch wie eine geölte Zitterschnecke. Das +konnte ihm kein Schlangenmensch nachmachen, dachte ich, als ich das sah. +Aber ich erfuhr nun, daß der ganze Kesselbums das so zu machen hatte, +und ich verstand auch mit einemmal, warum es auf der Yorikke so viele +Dinge zu essen gab, die kein Mensch essen konnte und die über Bord +flankiert wurden. Das Flankieren durfte der Koch nicht sehen, dann gab +es einen Mordskrach, weil alle Salzschwarten und alles Ungenießbare, das +nicht in den Magen hineinwollte, weil der Magen sich sträubte, in die +Küche zurückgebracht werden mußte, damit daraus Irish Stew, +Frikandellen, Gulasch, Haschee und ähnliche Delikatessen gemacht werden +konnten. + +„Hast du nun gesehen, Sohn, wie das gemacht wird? Besinne dich nicht +lange. Wenn du dich erst besinnst und dir das anguckst und darüber +nachdenkst, daß du an der einen Seite verbrüht werden magst und an der +andern Seite hinuntersausen kannst in den Schacht, dann geht’s gar +nicht. Arme um den Kopf, sieh so – und dann Schlange gemacht. Kann dir +eines Tages von Nutzen sein, wenn du andern Leuten zu tief in die +Taschen gelinst hast und man dir eiserne Vorhänge an die Fenster gehängt +hat. Bin ich auch schon durchgekommen. Immer gut, wenn man in der Übung +bleibt, du weißt nie, wie du es gebrauchen kannst. Hopp an.“ + +Schwupp! da war ich durch. Ich fühlte Heißes an meinen Armen, aber das +war sicher nur Einbildung. + +Am andern Ende der Platte ging eine lange eiserne Leiter weiter +hinunter, zu den Grundmauern der Unterwelt. Diese zweite Leiter war so +heiß, daß mein Taschentuch, das ich bisher benutzt hatte, wertlos wurde. +Ich mußte mich mit den gebogenen Ellbogen in das Geländer hängen, um +Halt an der Leiter zu greifen. Je tiefer ich kam, desto dicker wurde die +Luft, desto heißer, qualmiger, öliger und unerträglicher. Die Hölle, die +ich nun endlich nach meinem Tode erreicht hatte, konnte das nicht sein. +In der Hölle hatten ja auch die Teufel zu leben, hier aber konnten keine +Teufel leben, das war undenkbar. + +Doch da stand ein Mensch, ein nackter, schwitzender Mensch, der Heizer +der Vorwache. Menschen konnten hier auch nicht leben. Aber sie mußten. +Sie waren Tote. Ausgelöschte. Landlose. Paßlose. Heimatlose. Die mußten, +ob sie konnten oder nicht. Teufel konnten hier nicht leben, denn ein +Rest von Kultur ist selbst den Teufeln gelassen, das weiß Goethe. Aber +Menschen mußten hier nicht nur leben, sie mußten hier arbeiten, und sie +mußten hier so schwer arbeiten, daß sie alles vergaßen, zuletzt sogar, +nachdem sie lange vorher sich selbst vergessen hatten, sogar vergaßen, +daß hier zu arbeiten unmöglich sei. + +Mir ist oft, ehe ich gestorben wurde, und ehe ich zu den Toten kam, +unverständlich gewesen, wie Sklaverei möglich sein kann, wie +Militärdienst möglich sein kann, wie es möglich ist, daß Menschen, +gesunde und vernünftige Menschen, sich ohne Protest vor Kanonen und +Kartätschen jagen lassen, daß Menschen nicht tausendmal lieber +Selbstmord begehen, als Sklaverei, Militärdienst, Galeerenketten und +Peitschenhiebe zu ertragen. Seit ich bei den Toten war, seit ich selbst +ein Toter bin, seit ich ein Totenschiff fuhr, ist auch dieses Geheimnis +für mich gelöst, wie sich ja alle Geheimnisse erst nach dem Tode +offenbaren. So tief kann kein Mensch sinken, als daß er nicht immer noch +tiefer sinken könnte, so Schweres kann kein Mensch erdulden, als daß er +nicht noch Schwereres ertragen könnte. Hier ist es, wo der Geist des +Menschen, der ihn über das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier +erniedrigt. Ich habe Packzüge von Kamelen, von Lamas, von Eseln und von +Maultieren getrieben. Ich habe Dutzende unter diesen Tieren gesehen, die +sich hinlegten, wenn sie nur mit einem Kilogramm überladen waren, die +sich hinlegten, wenn sie sich schlecht behandelt glaubten, und die sich +klaglos hätten zu Tode peitschen lassen – und auch das habe ich gesehen +– als aufzustehen, die Last zu übernehmen oder die schlechte Behandlung +weiter zu erdulden. Ich habe Esel gesehen, die zu Leuten verkauft worden +waren, die Tiere schändlich peinigten, und die Esel hörten auf zu +fressen und starben weg. Nicht einmal Mais vermochte ihren Entschluß zu +ändern. Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu +sein, er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu +werden, er liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er +denken kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. Weil er hofft, daß es +auch wieder besser gehen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen. +Mitleid mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und mit Soldatenkrüppeln? Haß +gegen Tyrannen? Nein! Nein! Nein! + +Wäre ich über die Reeling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in +einer Hölle sein, wo es selbst die Teufel nicht aushalten können. Aber +ich sprang nicht und habe nun kein Recht, mich zu beklagen oder gar +andre anzuklagen. Laß den Bettler verhungern, wenn du den Menschen in +ihm achtest. Ich habe kein Recht, mein trauriges Schicksal zu beklagen. +Warum sprang ich nicht? Warum springe ich jetzt nicht? Warum lasse ich +mich peitschen und martern? Weil ich hoffe, ins Leben zurückkehren zu +können. Weil ich hoffe, New Orleans wiederzusehen. Weil ich hoffe, und +weil ich lieber durch die Schiet schwimme, als meine gehätschelte und +getätschelte Hoffnung in die Schiet zu werfen. + +Imperator, du wirst niemals um Gladiatoren verlegen sein; die schönsten +und stolzesten Männer werden dich anflehen: „O angebeteter, o +bewunderungswürdiger Imperator, laß mich dein Gladiator sein!“ + + + 30 + +Natürlich kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja auch andre. Das sehe +ich ja mit eignen Augen. Was ein andrer kann, das kann ich auch. Der +Nachahmungstrieb des Menschen macht Helden und macht Sklaven. Wenn der +nicht an den Peitschenhieben stirbt, dann werde ich sie wohl auch +überleben können. „Siehst du, der da, der geht direkt drauf los auf das +Maschinengewehrfeuer, Donnerwetter nochmal, das ist ein Kerl, verflucht +nochmal, vor dem muß man Achtung haben, das ist ein Kerl, der hat Mumm +in den Knochen.“ Natürlich kann ich das auch. So geht der Krieg voran, +und so fahren die Totenschiffe, alles nach demselben Rezept. Die +Menschen haben nur eine Schablone, nach der sie alles machen; das geht +so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht anstrengen brauchen, um ein andres +Rezept auszudenken. Man geht nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da +fühlt man sich so schön sicher. Der Nachahmungstrieb ist schuld daran, +daß die Menschheit innerhalb der letzten sechstausend Jahre keine +Fortschritte gemacht hat, sondern trotz Radio und Fliegerei in derselben +Barbarei lebt wie am Anfang der europäischen Periode. So hat es der +Vater gemacht, und so hat es der Sohn nachzumachen. Schluß. Was für +mich, den Vater, gut genug war, wird für dich, du Rotznase, wohl erst +recht gut genug sein. Die heilige Konstitution, die für George +Washington und die Revolutionskämpfer gut genug war, ist erst recht gut +genug für uns. Und die Konstitution ist gut, denn sie hat hundertfünfzig +Jahre schon ausgehalten. Aber auch Konstitutionen, die einmal junges +feuriges Blut in den Adern hatten, bekommen mit der Zeit +Adernverkalkung. Die beste Religion ist eines Tages heidnischer +Aberglaube, und keine Religion macht hiervon eine Ausnahme. Allein das, +was anders gemacht wurde, als bisher, allein das, was unter Protest der +Väter und Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde, hat der +Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben gegeben, daß +eines fernen Tages doch ein Fortschreiten wird beobachtet werden können. +Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, wenn die Menschen nicht mehr an +Institutionen glauben und nicht an Autoritäten ... + +„Was stehst du denn rum? Wie heißt du überhaupt, Schlepp?“ + +Mein Heizer war runter gekommen und brummte übelgelaunt herum. + +„Pippip ist mein Name.“ + +Das schien seine Laune ein wenig zu verbessern. + +„Dann bist du wohl ein Perser?“ + +„Nein, ich bin Abessinier. Meine Mutter war Parse. Die werfen ihre +Leichen den Geiern vor.“ + +„Wir den Fischen. Da scheint deine Mutter eine ganz anständige Frau +gewesen zu sein. Meine war eine alte verfluchte Hure. Aber wenn du +Hurensohn zu mir sagst, dann gibt es eins in die Fresse.“ + +Also er war Spanier. Wenn die drei Worte sprechen, dann sind zwei davon +„Hurensohn“. Es kommt auf den Grad der Freundschaft an, ob man zu jemand +sagen darf, daß seine Mutter eine Groschenhure war. Je näher man dabei +der Wahrheit kommt, desto mehr Aussicht hat man, sich plötzlich ein +Messer aus den Rippen ziehen zu können. Je weiter man von der Wahrheit +entfernt ist, desto früher hört man die Antwort: „Muchas gracias, +Senjor, vielen Dank, bitte, genieren Sie sich nicht, stets zu Ihren +Diensten.“ Niemand hat ein so zartes und so albernes Ehrgefühl wie der +dreckigste Prolet. Und wenn die dreckigen Proleten eines Tages das +Ehrgefühl dort haben werden, wo es wirklich hingehört, dann sind sie die +Lacher. Heute haben sie ihr Ehrgefühl da, wo es die andern bei ihnen +gerne sehen, weil sich dann so gut damit spielen läßt, zum Vorteil der +andern. Was brauchst du Ehre, Prolet? Lohn brauchst du, guten Lohn, dann +kommt die Ehre von selbst. Und wenn du auch noch die Fabrik hast, dann +kannst du die Ehre ruhig den andern dauernd überlassen; dann erst wirst +du erfahren, wie wenig sich die draus machen ... + +Der Heizer der Vorwache zog jetzt einen glühenden dicken Bolzen aus dem +Feuer und steckte ihn in einen Eimer mit Frischwasser. In Seewasser kann +man sich ja nicht waschen, das ist kaum gut genug zum Schlackenkühlen. +Dann begann er sich zu waschen mit Sand und Asche, weil er ja keine +Seife hatte. + +Der Kesselraum war durch zwei Lampen erhellt. Eine dieser beiden Lampen +hing vor dem Dampfmeter, damit der Dampfdruck gelesen und von dem Heizer +geregelt werden konnte. Die andre Lampe hing in einer Ecke und wartete +auf den Schlepp. In dieser Welt der Toten wußte man nichts von einer +Erde, wußte man nichts davon, daß es Azetylenlampen, Kunstgaslampen, +Gasolinlaternen, Spirituslaternen gab, gar nicht zu reden von +Elektrizität, die sich durch Ankoppelung einer Dynamo leicht hätte +erzeugen lassen. Aber jeder Cent, ausgegeben für die Yorikke, war +verschwendetes Geld. Die Fische mit Geld zu füttern, wäre närrisch, sie +sollen zufrieden sein mit der Mannschaft. Diese Lampen hier waren bei +den Ausgrabungen des alten Karthago gefunden worden. + +Wer die Form dieser Lampen kennen lernen will, gehe in ein Museum, sehe +sich die römische Abteilung an, wo er unter den Töpferwaren auch diese +Lampen, die wir hatten, finden wird. Es war ein Gefäß mit einer Tülle. +In der Tülle steckte ein Ballen Putzwolle. Das Gefäß wurde gefüllt mit +jener Flüssigkeit, die auch für die Jungfrauenlampe im Quartier zu +dienen hatte, und die den auf Irrwege führenden Namen Petroleum trug. +Viermal in einer Stunde mußte die Putzwolle weiter herausgezerrt werden, +weil sie kohlte und den Kesselraum mit einem undurchsichtigen dicken +schwarzen Rauch erfüllte, in dem die Rußflocken so dicht flogen wie +Heuschrecken in Argentinien während einer Plage. Die Putzwolle mußte man +mit den bloßen Fingerspitzen herauspulen, deshalb hatte man nach der +ersten Wache abgeschmorte Fingernägel und angeschmorte Fingerspitzen. +Wenn man mit seiner Lampe in den Kohlenbunkern saß, konnte man nicht die +Lampe erst ausmachen, weil man ja sonst in den Kesselraum runter gemußt +hätte, um sie wieder anzustecken. + +Stanislaw hatte heute bereits eine Doppelwache gerissen. Was das +bedeutet, wird noch klar werden. Trotzdem er kaum noch kriechen konnte, +blieb er doch mit mir noch eine volle Stunde im Kesselraum, um mir +beizustehen. + +Neun Feuer mußten von dem Heizer bedient werden. Und um diese neun Feuer +zu füttern, hatte der Schlepp die Kohle heranzuschaffen. Ehe aber mit +dem Heranschaffen der Kohle begonnen werden konnte, waren andre Arbeiten +zu verrichten. Da die Feuer selbst auf diese Arbeiten keine Rücksicht +nahmen und sie jede Vernachlässigung sofort am Meter herausbrüllten oder +gar auf der Brücke herausheulten, so mußte ein erheblicher Vorrat von +Kohle im Kesselraum angeschichtet sein, der für diese Zeit der +Nebenarbeiten langte. Diesen großen Vorrat mußte die abzulösende Wache +für die neuantretende Wache hinterlassen, und diese neue Wache hatte, +wenn sie abgelöst wurde, einen gleichen Vorrat der nächsten zu +übergeben. Dieser Vorrat konnte nur geschaffen werden durch eine +unmenschlich erscheinende Kraftanstrengung in der Zeit der beiden +mittleren Stunden einer Wache, also bei meiner Wache von eins bis drei. +Von zwölf bis eins kamen die Vorarbeiten und um drei begann das +Aschehieven mit dem Schlepp der neuen Wache. In zwei Stunden also mußte +alle die Kohle herbeigeschafft werden, die neun Feuer eines in voller +Fahrt befindlichen Dampfers in vier Stunden verschlingen. Liegt die +Kohle in den Bunkern in Front der Feuer, so ist das Heranschaffen der +Kohle die kräftige Arbeitsleistung eines gesunden, starken und +gutgenährten Arbeiters. Liegt die Kohle aber da, wo sie meist auf der +Yorikke lag, so ist es die Arbeit von drei oder vier starken Männern. +Hier hatte diese Arbeit einer zu tun. Und er tut sie. Er ist ja ein +Toter. Der kann alles. Und niemand versteht besser anzutreiben, niemand +versteht höhnischer zu sagen: „Schlapper Hund! Solltest mich mal sehen!“ +als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, als der Mit-Hungernde, als der +Mit-Gepeitschte. Auch die Galeerensklaven haben ihren Stolz und ihr +Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute Galeerensklaven zu sein und „nun +einmal zu zeigen“, was sie können. Wenn das Auge des Auspeitschers, der +mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, wohlgefällig auf ihm ruht, so +ist er beglückt, als hätte ihm ein Kaiser persönlich einen Orden an die +Brust geheftet. + +Der Heizer warf drei Feuer auf, immer zwei überschlagend. Dann brach er +drei andre Feuer auf, die dazwischen lagen. Über jedem Feuer stand eine +Nummer mit Kreide geschrieben, die Nummern von eins bis neun. Als das +Aufwerfen und das Aufbrechen vorüber war, kam das Feuer drei an die +Reihe. Es war ziemlich niedergebrannt, und er brach mit einer schweren +langen Eisenstange die Schlacken von den Rosten. Die Schlacken saßen +fest. Und von dem Feuer strömte eine brüllende Hitze heraus. Mit jeder +Schlacke mehr, die herausgebrochen und vor das Feuer gezerrt war, wurde +die Hitze mächtiger. Denn nun lagen die glühenden Schlacken vor den +Feuertüren im Kesselraum und erhitzten ihn wie einen Glutofen. Der +Heizer und auch ich, wir hatten nur die Hosen an, nichts weiter. Der +Heizer hatte an den bloßen Füßen zerlumpte Tuchpantinen, während ich +Stiefel hatte. Ab und zu sprang der Heizer hoch und trampelte die +glühenden Schlackenkörner von den Füßen, auf die sie gesprungen waren. +Die Schürstange konnte nur gehalten werden, weil der Heizer seine Hände +mit Sacklumpen umwickelt hatte und Leder von einem alten Koffer zwischen +Hand und Eisen hielt. Endlich wurde die Hitze, die von den Schlacken +ausströmte, so gewaltig, daß der Heizer fort mußte vom Feuer. Jetzt +wurden die Schlacken mit Wasser, das ich aus einem Bottich nahm, +gelöscht. Der explosionsartig hochgehende Wasserdampf ließ uns beide +zurück an die Wand springen. Die Schlacken gleich einzeln zu kühlen, +wenn sie herauskommen, geht nicht, weil während des Kühlens der Heizer +nicht arbeiten kann. Dann dauert das Ausschlacken zu lange, das Feuer +fehlt und der Dampf geht so weit zurück, daß eine halbe Stunde wie +wahnsinnig gearbeitet werden muß, um den Dampf wieder hochzukriegen. +Runter geht er wie nichts, rauf nur langsam und mit mühseliger Arbeit. + +Alles, was auf der Yorikke war, diente dazu, der Mannschaft Leben und +Arbeit zu erschweren. Der Kesselraum war viel zu schmal. Er war viel +schmäler als die Feuerungskanäle lang waren. Wenn die Schürstange also +in die Feuerung gestoßen oder herausgezogen werden sollte, so mußte der +Mann mit der Stange alle möglichen Wendungen und Drehungen verüben, um +die Stange zu handhaben, weil sie immer gegen die Rückwand stieß. Durch +diese Tänze, die der Heizer zu machen hatte, kam es nicht selten vor, +daß er bald dort stolperte und in einen Kohlenhaufen fiel, bald hier. +Bald stieß er sich an der Wand die Knöchel der Finger auf, bald an der +Feuertür. Wenn er fiel und instinktiv nach einem Halt griff, so griff er +in glühende Schlacken oder er packte die glühende Schürstange an. Es kam +auch vor, besonders wenn das Schiff rollte, daß er mit dem Gesicht in +die Schlacken oder auf die rotglühende Schürstange oder auf die Feuertür +fiel oder mit den bloßen Füßen auf einen herausgenommenen heißen Rost +oder auf heiße Schlacke trat. Mein Heizer glitschte einmal bei einem +unerwartet schweren Roller des Bootes aus und fiel mit dem nackten +Rücken in die weißglühende Schlacke, die vor dem Feuer lag. Totenschiff, +yes, Sir. Totenschiffe gibt es, die Leichen drin machen, und +Totenschiffe gibt es, die Leichen draußen machen, und Totenschiffe gibt +es, die Leichen überall machen. Yorikke machte alles und alle, sie war +ein gutes Totenschiff. + +War die Schlacke heraus und gelöscht, so wurde frische Nußkohle +aufgeworfen. Diese Kohle mußte der Schlepp inzwischen aus der +Haufenkohle herausgelesen haben, es mußte gute, nicht zu große +Stückkohle sein, damit sie leicht anbrannte und damit das Feuer schnell +wieder in Gang kam. Denn die Kohle, die auf der Yorikke verfeuert wurde, +war die billigste und schlechteste Kohle, die es nur gab, sie erzeugte +nur wenig Hitze; und das war die weitere Ursache, warum der Schlepp +unglaubliche Riesenmengen von Kohle herbeischaffen mußte, um den Dampf +hochzuhalten. Nun wurden die andern Feuer wieder nachgesehen, während +ich die Schlacke nach der Mitte der Kesselwand zu schaufelte, wo sie +nicht im Wege lag. + +Der andre Heizer hatte sich inzwischen fertig gewaschen, war aber die +ganze Zeit über immer in Gefahr gewesen, von dem glühenden Schüreisen +gestoßen und angeschmort zu werden oder von einer springenden Schlacke +verbrannt zu werden. Aber das kümmerte ihn nicht sehr, er war tot. Man +konnte es jetzt auch sehen. Gesicht und Körper waren von dem Waschen mit +Sand und Asche ziemlich rein geworden. In die Augen konnte er aber nicht +gut mit Sand und Asche gehen, darum hatten die Augen breite schwarze +Ringe. Das gab dem Gesicht das Aussehen eines Totenschädels, um so mehr, +als die Backen vor schlechter Ernährung und vor übermäßiger Arbeit tief +eingefallen waren. Er zog sich seine Hose an und sein durchlöchertes +Hemd und kletterte die Leiter hoch. Ich hatte gerade Zeit genug, einmal +einen Blick nach oben zu werfen, als ich ihn die Schlange machen sah. + +Stanislaw schaffte indessen Kohle heran, damit ich wenigstens den Vorrat +bekam. Es kamen dann die Feuer sechs und neun an die Reihe. Als sechs +ausgeschlackt und aufgeschüttet war und die übrigen Feuer soweit +vorbereitet waren, um auch neun ausschlacken zu können, kam Stanislaw +und sagte zu mir: „Nun bin ich fertig. Ich kann nicht mehr. Es ist eins. +Ich habe fünfzehn Stunden jetzt ununterbrochen gewürgt. Um fünf muß ich +schon wieder Asche hieven. Es ist ja gut, daß du da bist, wir hätten das +nicht mehr länger machen können. Ich will dir nur jetzt gestehen, wir +sind nur zwei Schlepps, wenn du eingerechnet bist. Wir haben also nicht +zwei Wachen jeder, sondern drei, und dazu kommt zu jeder Wache eine +Stunde Aschehieven extra. Und morgen haben wir, auch noch extra, die +Berge von Asche, die auf Deck liegen, weil im Hafen ja keine Asche +ausgeworfen werden darf, abzuschaufeln. Wird für jeden vier Stunden +extra machen.“ + +„Das sind doch dann alles Überstunden, die Doppelwachen, das Abschaufeln +der Deckasche und das Aschehieven“, sagte ich. + +„Ja, das sind alles Überstunden. Wenn es dir Vergnügen macht und du +gerne schreibst, kannst du dir die ganzen Überstunden anschreiben. Aber +bezahlen tut sie dir keiner.“ + +„Das ist mir aber bei der Heuer ausgemacht worden“, antwortete ich. + +„Was ausgemacht wird, hat keine Geltung bei uns. Nur was du in der +Tasche hast, das hat Geltung. Und in die Tasche kriegst du immer nur +Vorschuß, Vorschuß, Vorschuß. Immer soviel, daß es zum Besaufen gerade +langt und vielleicht für ein Paar Pantinen oder ein Hemd, aber nicht +mehr. Denn wenn du anständig aussiehst und ruhig durch die Straße gehen +kannst, könntest du ja vielleicht wieder lebendig werden. Verstehst du +jetzt den Dreh? Kannst nicht fort. Mußt Geld haben, mußt eine ganze +Hose, eine ganze Jacke, ganze Stiefel und Papiere haben. Kriegst du +nicht. Kannst nicht lebendig werden. Wenn du aussteigst, läßt er dich +einfangen, wegen Desertion. Die haben dich gleich mit deinen Lumpen und +keinen Papieren. Dann zieht er dir zwei oder drei Monatsheuern ab wegen +Desertion. Kann er. Tut er. Dann bettelst du wegen eines Schillings auf +den Knien für Schnaps. Schnaps mußt du haben. Tot sein tut manchmal doch +weh, auch wenn man sich schon lange daran gewöhnt hat. Gute Nacht. +Waschen tu ich mich nicht, ich kann nicht mehr die Hand heben. Laß dir +keine Roste durchfallen, das kostet Blut, Pippip. Gute Nacht.“ + +„Heilige Maria, genotzüchtigter Gabriel, Joseph und Arimathia, +Eberklöten und Bockpinnen, Himmelkreuzdonnerwetter – –“ + +Der Heizer schrie wie besessen und nahm einen gewaltigen Anlauf, um eine +neue Serie von Flüchen und Verwünschungen loszulassen, daß die Bewohner +aller Höllen schamrot werden mußten. Von der Erhabenheit seines Gottes, +von der jungfräulichen Reinheit der Himmelskönigin, von der Würde der +Heiligen blieb nichts mehr bestehen. Sie sanken in den Kot der Straße +und wurden durch die Jauche der Gosse geschleift. Die Hölle hatte ihre +Schrecken für ihn verloren, ihn konnte kein noch so fürchterlicher +Bannstrahl des Himmels mehr treffen, denn als ich fragte: + +„Heizer, was ist denn los?“ da heulte er wie eine blutdürstige Bestie: + +„Sechs Roste sind rausgefallen. Heilige verhur – –“ + + + 31 + +Stanislaw hatte beim Raufgehen gesagt, daß das Herausfallen der Roste +Blut kostet. Damit meinte er, wenn einer rausfällt. Jetzt waren sechs +raus. Sie einzusetzen kostete nicht nur Blut und nicht nur abgestoßene +Fleischstücken und abgeschmorte Hautfetzen, das kostete blutendes +Sperma, herausgezerrte Sehnen, das Mark floß einem wie wäßrige Lava aus +den Knochenröhren, die Gelenke krachten wie Holz, das gebrochen wird. +Und während wir arbeiteten wie verblödete Maden, fiel der Dampf und fiel +und fiel. Und wir sahen die Arbeit, die uns bevorstand, den Dampf wieder +hochzubringen. Sie kroch und würgte sich in unsre Kadaver, während wir +mit den Rosten würgten. Seit jener Nacht stehe ich über den Göttern. Ich +kann nicht mehr verdammt werden. Ich bin frei, darf unbekümmert tun und +lassen, was ich will. Ich darf Götter verfluchen, darf mich verwünschen, +darf handeln, wie es mir gefällt. Kein menschliches Gesetz, kein +göttliches Gebot mehr kann meine Handlungen beeinflussen, denn ich kann +nicht mehr verdammt werden. Die Hölle ist ein Paradies. Keine +menschliche Bestie kann Höllenqualen ausdenken, die mich erschrecken +könnten. Wie immer auch die Hölle beschaffen sein mag, sie ist Erlösung. +Erlösung vom Einsetzen rausgefallener Roste auf der Yorikke. + +Der Skipper ist nie im Kesselraum gewesen und keiner der beiden +Offiziere. Freiwillig ging niemand in diese Hölle. Sie machten sogar +einen Umweg, wenn sie am Einsteigschacht vorbei mußten. Die Ingenieure +wagten sich in den Kesselraum nur, wenn die Yorikke sanft im Hafen lag +und der Kesselbums Reinigungsarbeiten machte, Rohre ziehen, +Maschinenhalle putzen und ähnliche dreckige Tagesarbeiten. Selbst dann +hatten die Ingenieure diplomatisch mit den Schwarzen Banditen umzugehen. +Denn die waren immer und immer in einem Zustande, dem Ingenieur einen +Hammer an den Schädel zu pfeffern. Was bedeutete dem Kesselbums +Gefängnis, Zuchthaus oder der Henker? Nicht einen Pfifferling machten +die sich daraus. + +Von der Maschinenhalle aus führte ein schmaler niedriger Gang zwischen +dem Steuerbordkessel und der Steuerbordwand zu dem Kesselraum. Dieser +Gang war von der Maschinenhalle durch eine schwere eiserne kleine Tür, +die wasserdicht war – was auf der Yorikke wasserdicht genannt werden +konnte – abgetrennt. Kam jemand von der Maschinenhalle, und hatte er die +Luke passiert, so mußte er mehrere Stufen hinuntergehen, um den Gang zu +erreichen. Dieser Gang war drei Fuß nur breit und so niedrig, daß man +ganz gebückt gehen mußte, um sich nicht den Kopf an den eisernen, +scharfkantigen Querstreben einzurennen. Der Gang war, wie alles auf der +Yorikke und wie auch der Kesselraum, stockdunkel bei Tage und bei Nacht. +Zudem war der Gang heiß wie ein Hochofen. Wir, die Schlepps, fanden uns +in dem Gange mit verbundenen Augen zurecht, denn er gehörte mit zu den +Spezialmarterwegen. Durch diesen Gang hatten wir einige hundert Tonnen +Kohle nach den Kesseln zu schaufeln und zu quetschen, von den Bunkern, +die neben der Maschinenhalle lagen. Wir kannten diesen Martergang und +seine labyrinthischen Rätsel. Andre Leute kannten ihn nicht so gut. + +Fiel nun der Dampf erheblich, weit unter hundertdreißig, dann mußte der +wachhabende Ingenieur etwas tun. Dafür wurde er ja bezahlt. Der Erste +kam auch nicht in den Kesselraum. Auf Fahrt nie. Ein zerschlagenes +Schulterblatt hatte ihn gelehrt, daß man den Kesselbums auf Fahrt nicht +belästigen darf. Er rief nur von oben, vom Deck aus, den Schacht +hinunter: „Der Dampf fällt!“ Dann war er aber auch schon weg. Denn von +unten kam das Gebrüll: „Du gottverfluchter Hurenhund, das wissen wir +selber. Komm runter, du Schwein, wenn du was willst.“ Dabei flogen aber +auch schon Kohlenstücken gegen die Einsteigluke. + +Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten Sitten, +wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen geben will, daß er +anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben ab, nach +innen mehr als nach außen. + +Der Zweite Ingenieur war noch verhältnismäßig jung, vielleicht +sechsunddreißig. Er war ein großer Streber und wollte gern Erster +werden. Er glaubte, seine Strebsamkeit am besten beweisen zu können +dadurch, daß er den Kesselbums herumjagte, besonders wenn Yorikke im +Hafen lag, denn dann hatte er das Maschinenkommando. Er war kein guter +Lerner und lernte schwer, eigentlich nie, mit dem Kesselbums der Yorikke +umzugehen. Es gibt Ingenieure, die vom Kesselbums angebetet werden. Ich +habe einmal einen Skipper gekannt, der vom Kesselbums wie ein Gott +verehrt wurde. Der Skipper ging jeden Tag persönlich in die Galley: +„Koch, ich will das Essen sehen, das meine Heizer und Kohlschlepps heute +kriegen. Will ich kosten. Das ist Dreck. Das geht über Bord. Die Heizer +und Kohlschlepps fahren einen Dampfer, niemand sonst.“ Und wenn er einen +Schlepp oder einen Heizer auf dem Deck traf: „Schlepp, wie war das Essen +heute; genug Fleisch? Wie kommt ihr mit der Milch zurecht? Abends kriegt +ihr eine Extraration an Eiern und Speck. Bringt euch der Junge auch +regelmäßig den kalten Tee runter, der angeordnet ist?“ Und merkwürdig, +die Heizer und Schlepps auf jenem Eimer hatten ein Benehmen, daß sie zum +Gesandtschaftsball hätten eingeladen werden können. + +Als beim Einsetzen der Roste der Dampf fiel und fiel, kam der Zweite, +der die Wache hatte, durch den Gang, lugte um die Kesselecke und sagte: + +„Was ist mit dem Dampf los? Der Kasten wird gleich stehenbleiben.“ Der +Heizer hatte in dem Augenblick gerade die rotglühende Schürstange in der +Hand, mit der er einen Rost vom Aschenzug aus einzustützen versucht +hatte. Mit einem fürchterlichen Geheul, mit blutunterlaufenen Augen und +schäumendem Munde richtete er sich auf und raste wie ein Irrsinniger mit +der glühenden Stange auf den Ingenieur los, um ihm die Stange durch den +Leib zu rennen. Aber wie ein Funke war der Ingenieur hinter der Ecke +verschwunden und sauste den Gang zurück. In der Schnelligkeit, mit der +er floh, maß er die Höhe des Ganges nicht genügend und schlug sich den +Schädel an einer der Querstreben auf. Der Heizer hatte die Stelle, wo +der Ingenieur gestanden hatte, getroffen. Der Stoß war so gewaltig, daß +ein Fladen von dem Mauerwerk, das den Kessel gegen Hitzeverlust +schützte, absprang und die Stange sich oben verbog. Doch der Mann gab +die Verfolgung nicht auf. Er raste hinter dem Zweiten her mit der +Stange, und er hätte ihn mitleidlos erschlagen und zermanscht, wenn der +Ingenieur nicht rechtzeitig, blutüberströmt von dem Gegenrennen an den +Eisenstreben, die Stufen erreicht und die Luke hinter sich zugeschlagen +und verrammelt hätte. + +Der Ingenieur rapportierte den Fall nicht, wie kein Unteroffizier oder +Offizier, der von einem gemeinen Soldaten unter vier Augen gebackpfeift +wurde, die Backpfeifen rapportieren würde, um nicht zugeben zu müssen, +daß ihm das geschehen konnte. Hätte der Ingenieur den Fall rapportiert, +so hätte ich als Zeuge geschworen, daß der Ingenieur hereingekommen sei +und den Heizer mit einem Schraubenschlüssel habe erschlagen wollen, weil +angeblich nicht genügend Dampf gewesen sei und der Heizer ihm gesagt +habe, er möge machen, daß er rauskäme, er sei ja besoffen, und da ist er +in seiner Trunkenheit rausgetorkelt und hat sich den Kopf aufgeschlagen. +Das ist nicht gelogen. Abgesehen von allem andern, der Heizer ist mein +Leidensgefährte. Und wenn die andern blöken: „Right or wrong, my +country! Recht oder Unrecht, mein Vaterland!“, so habe ich, verflucht +nochmal, Recht und Schuldigkeit, zu rufen: „Right or wrong, my +fellow-worker! Recht oder Unrecht, meine Mitproleten!“ + +Am nächsten Tage fragte der Erste den Zweiten, wie er zu dem Loch im +Schädel gekommen sei. Der Gefragte erzählte die Wahrheit. Aber der +Erste, ein schlauer Bursche, rapportierte nichts, sondern sagte zum +Zweiten: „Da haben Sie verteufelt Glück gehabt, Mensch. Machen Sie das +nicht nochmal. Wenn Roste raus sind, lassen Sie sich nicht sehen, gucken +Sie zum Einsteigeschacht rein, aber melden Sie sich mit keinem Atemzuge, +daß Sie da sind. Lassen Sie den Dampf runtergehen, soviel er will, und +wenn der Kasten stehenbleibt. Wenn Sie runtergehen, solange Roste raus +sind und die nächste halbe Stunde danach, werden sie mitleidlos +totgeschlagen und in den Feuerungskanal geschoben. Kein Mensch erfährt +je, wo Sie geblieben sind. Ich warne Sie.“ + +So ein Streber war der Zweite doch nicht, daß er sich diese Warnung +nicht zu Herzen genommen hätte. Er ist nie wieder in den Kesselraum +gekommen, wenn Roste gefallen waren, und wenn er sonst kam, weil der +Dampf büßte und nicht hochkommen wollte, dann kam er wohl rein, sagte +keine Silbe, sah nach dem Dampfmeter, stand eine Weile, bot dem Heizer +und dem Schlepp eine Zigarette an und sagte dann: „Wir haben ludermäßige +Kohle, da kann ein Heizer von Gold gemacht sein und er kann keinen Dampf +halten.“ + +Heizer sind ja keine Idioten und verstehen natürlich sofort, was der +Ingenieur will, und tun das Beste, was sie können, um den Dampf +hochzukriegen. Denn nicht nur andre Leute, sondern auch Proleten haben +Sportgefühl. Aber es soll sich kein Arbeiter über seine Vorgesetzten +beschweren, er hat immer die, die er verdient, und die er sich macht. +Ein gutgezielter und gutsitzender Hieb zur rechten Zeit ist besser als +ein langer Streik oder ein langes Herumärgern. Ob man die Arbeiter als +„Rohlinge“ bezeichnet, kann ihnen gleichgültig sein. Respektieren soll +man sie, das ist die Hauptsache. Nur nicht schüchtern sein, Prolet. Was +Übles man der Yorikke auch immer sonst nachreden konnte, in einem Dinge +verdiente sie, mit Lorbeer gekrönt zu werden: Sie war ein vortrefflicher +Lehrmeister. Ein halbes Jahr Yorikke, und man hatte keine Götzen mehr. +Hilf dir selbst und verlaß dich nicht soviel auf andre. Gefallene Roste +einsetzen, ist selbst auf einem gesunden Eimer kein Vergnügen, wie ich +später erfuhr. Es ist immer eine sehr ärgerliche Sache. Doch nicht mehr +als das. Auf der Yorikke aber war es Blutarbeit. + +Jeder Rostbarren wog etwa vierzig bis fünfzig Kilo. Diese Barren lagen +mit ihren Nocken auf einer Querleiste vorn und auf einer Querleiste am +Ende des Feuerungskanals. Die Querleisten waren einmal gut und neu +gewesen, zu der Zeit, als der große Streik ausbrach beim Bau des Turms +von Babel und jene Sprachverwirrung eintrat, die auf der Yorikke ihren +Höhepunkt erreicht hatte. + +Kein Wunder, daß in der langen Zwischenzeit jene Querleisten ihre +stützende Wirkung verloren hatten. Die Leisten waren verschmort. Die +Roste lagen mit ihren Nocken nur auf winzigen Narben jener abgeschmorten +Querbalken. Beim Aufbrechen der Schlacke brauchte man nur einen +Millimeter zu unvorsichtig sein, oder die Schlacke brauchte nur sehr +fest sitzen, dann rutschte ein Rostbarren ab und fiel hinunter in den +Aschfall. Der Rostbarren war glühend und mußte aus dem Aschfall +herausgefischt werden mit einem merkwürdigen Instrument, das Rostzange +hieß und etwa zwanzig Kilo wog. Hatte man den Barren gefischt, so mußte +er in den Feuerungskanal gehoben und in seine alte Lage gebracht werden. +Da die Querbalken abgeschmort waren im Laufe der Jahrtausende, so waren +die verschrumpelten und verbrannten Narben, auf denen der Barren ruhen +sollte, weniger als einen halben Zoll breit. Hatte man den Barren vorn +glücklich drin, rutschte er hinten ab und fiel wieder in den Aschfall +zurück, wo er abermals herausgefischt werden mußte, um das Einsetzen ein +zweitesmal zu versuchen. Diesmal lag er hinten glücklich in der Narbe, +aber er erreichte vorn nicht den Rest des Balkens und fiel nun vorn in +den Aschfall. Fiel der Barren an einem Ende in den Aschfall, so gab auch +das andre Ende nach, und der ganze Barren fiel runter. Dieses +Herausfischen und Wiedereinheben mußte so lange versucht werden, bis der +Barren durch ein glückliches Zusammentreffen mehrerer glücklicher +Umstände an beiden Enden diesen knappen halben Zoll von Auflagefläche +gewonnen hatte. + +Handelte es sich nur um einen Barren, so war das schon das Schlimmste, +was man sich nur an Arbeit vorstellen kann. Aber durch das Fischen und +durch das Einlegen stieß man zuweilen einen Nachbar-Barren an und der +folgte dem Rufe und fiel gehorsam auch nach in den Aschfall, dabei +seinen nächsten Nachbar mit sich reißend. Beim Einlegen des letzten +Nachbars fiel ein weiterer Nachbar herunter, der an und für sich schon +nur noch einen Millimeter auflag und schon eine Stunde sehnsüchtig +darauf gewartet hatte, daß ihn doch jemand berühren möge, damit er +endlich einen Grund habe, auch in den Aschfall rutschen zu können und +den Tanz mitzumachen. + +Während dieser Fischzeit und Einlegezeit brannte das Feuer in dem Kanal +natürlich lustig weiter, die Barren waren glühend, die Zange war +glühend, das Schüreisen, mit dem die Barren während des Einlegens von +unten aus gestützt wurden, war glühend und die Barren hatten ein +Gewicht, daß sie selbst dann eine ansehnliche Last darstellten, wenn sie +eiskalt waren und man sie in den Armen vor sich tragen konnte. +Ununterbrochen durfte man nicht an den Barren arbeiten, weil die übrigen +Feuer bedient werden mußten, damit sie nicht verlöschten. Alles, was an +vorrätiger Kohle im Kesselraum lag, wurde in der Zeit aufgefressen und +mußte nachgeschleppt werden. + +Als wir endlich die sechs Roste drin hatten und keiner es wagte, in der +Nähe der Feurungstür fest aufzutreten, um die Barren nicht zu +erschüttern und sie von ihren Millimeterstütznarben abzuwerfen, fielen +wir beide leblos in einen Kohlenhaufen. Leblos ist die richtige +Bezeichnung; denn jegliches Leben in uns war für eine halbe Stunde +erloschen. Wir bluteten, aber wir fühlten es nicht, unsre Haut war in +Streifen und großen Flecken von Armen, Händen, Brust und Rücken +abgeschmort, aber wir fühlten es nicht. Wir hatten nicht mehr die Kraft, +zu atmen. + +Ein Hauch des Lebens kam endlich zurück, und wir hatten den Dampf wieder +hochzubringen. Aus den fernsten Winkeln des Schiffes mußte die Kohle +geschleppt werden, denn die Kohlenbunker lagen da, wo sie am wenigsten +Laderaum wegnehmen konnten. Die Laderäume waren die Hauptsache. +Ihretwegen fuhr die Yorikke, ihretwegen fährt jedes Schiff. Die Kohle, +das Essen für das Schiff, war Nebensache, wie das Essen für die +Mannschaft Nebensache war. Wo ein Winkel frei war, der als Laderaum +nicht verwendet werden konnte, da wurde Kohle verbunkert, und da mußte +sie weggeschleppt werden. In einer Wache von vier Stunden verbrauchten +die neun Feuer der Yorikke mehr als vierzehnhundertfünfzig volle schwere +Schaufeln Kohle. Diese vierzehnhundertfünfzig Schaufeln mußten +herbeigeschleppt werden. Und das mußte getan werden neben dem +Ausschlacken, neben dem Aschfallziehen, neben dem Aschehieven und, in +gebenedeiten Wachen, neben dem Rosteeinsetzen. + +Das mußte getan werden von nur einem Kohlenschlepp, dem dreckigsten Mann +der Mannschaft, dem verachtetsten, der weder Matratze hatte, noch eine +Decke, noch ein Kissen, noch einen Teller, noch eine Gabel, noch eine +Tasse, mußte getan werden von einem Manne, dem satt zu essen zu geben +nicht durchführbar war, weil die Kompanie behauptete, sonst nicht +konkurrenzfähig zu sein. Und daß Kompanien konkurrenzfähig sein müssen, +darauf achtet sogar der Staat. Dafür achtet er um so weniger darauf, daß +die Menschen konkurrenzfähig bleiben. Beide, Kompanien und Arbeiter, +können nicht gleichzeitig konkurrenzfähig gemacht werden. + +Um vier wurde mein Heizer abgelöst. Ich nicht. Ich ging meine Ablösung, +den Stanislaw, um zwanzig vor fünf wecken, zum Aschehieven. Ich mußte +ihn aus der Bunk ziehen. Er war wie ein Klotz. + +Er war schon lange auf der Yorikke. Er war daran gewöhnt. Wenn jemand, +vielleicht der Passagier einer Luxuskabine, durch Neugier getrieben, an +dem Kesselschacht vorbeikommt, so ist sein erster Gedanke: + +„Wie ist es möglich, daß da Menschen arbeiten können?“ + +Aber da flüstert ihm sofort der, der immer zur Hand ist und ihm das +Leben erträglich macht, ins Ohr: „Das sind die gewöhnt, die merken davon +nichts.“ + +Damit kann man alles entschuldigen, und damit entschuldigt man alles. So +wenig wie sich ein Mensch an Lungentuberkulose gewöhnt, so wenig wie er +sich daran gewöhnt, dauernd zu hungern, so wenig kann sich ein Mensch +daran gewöhnen, etwas zu ertragen, was am ersten Tage körperliche und +seelische Qualen bereitet, die man niemand gönnen mag, der +Menschenantlitz trägt. Mit der nichtswürdigen Ausrede: „Die sind daran +gewöhnt!“ entschuldigt man auch das Auspeitschen der Sklaven. + +Stanislaw, ein robuster Bursche, hatte sich nie daran gewöhnt, ich habe +mich nie daran gewöhnen können, und ich habe nie einen Menschen gesehen, +der sich an Qualen je gewöhnt hätte. Weder Tiere noch Menschen können +sich an Qualen gewöhnen, nicht an körperliche, nicht an seelische. Sie +werden nur abgestumpft, und das nennt man Gewöhnung. Doch ich glaube +nicht, daß je ein Mensch so abgestumpft werden kann, daß er sich nicht +nach Erlösung sehnt, daß er nicht in seinem Herzen den ewigen Schrei +trägt: „Ich hoffe, daß mein Befreier kommt!“ Nur der allein hat sich +gewöhnt, der nicht mehr hofft. Die Hoffnung der Sklaven ist die Macht +der Herren. + +„Ist das schon fünf?“ sagte Stanislaw. „Ich habe mich doch soeben erst +hingelegt.“ Er war noch so dreckig wie er raufgegangen war. Auch jetzt +konnte er sich nicht waschen. Er war zu müde. + +„Ich will dir sagen, Stanislaw, ich halte es nicht aus. Ich kann um elf +nicht Asche hieven und um zwölf ablösen. Ich gehe über die Reeling.“ +Stanislaw saß auf der Bunk, guckte mich verschlafen an, gähnte und +sagte: „Tu das nicht. Ich kann nicht deine Wache auch noch machen. Ich +mache auch über die Reeling. Gleich hinterher. Nein. Mache ich nicht. +Dann schon lieber Pflaumenmus unter den Kessel. Dann geht alles mit und +die können keinen mehr fangen. Das ist eigentlich ein Spaß. Das mit +Pflaumenmus.“ + +Der arme Stanislaw war noch ganz im Dusel. Dachte ich. + + + 32 + +Um sechs Uhr morgens war meine Wache zu Ende. Ich hatte dem Stanislaw +keinen Kohlenvorrat hinterlassen können. Ich konnte die Schaufel nicht +mehr halten. Ich brauchte keine Matratze, keine Decke, kein Kissen, +keine Seife. Ich fiel in meine Bunk, dreckig, ölig, fettig, verschwitzt +wie ich war. Meine Hosen waren für dauernd verdorben, auch mein Hemd und +meine Stiefel. Dick verschmiert mit Öl, Kohlenstaub und Petroleum. +Löcher reingebrannt, versengt, zerrissen. Wenn ich nun an der Reeling +der Yorikke stand im nächsten Hafen, in Reih und Glied der übrigen +Taschendiebe, Einbrecher und entlaufenen Sträflinge, dann war ich nicht +mehr zu unterscheiden. Ich hatte nun auch meine Sträflingskleidung, in +der ich nicht mehr aussteigen konnte, ohne sofort gefaßt und +zurückgeliefert zu werden. Ich war jetzt ein Teil der Yorikke geworden, +mußte mit ihr gehen auf Tod und Verderben. Es gab kein Entrinnen mehr. + +Jemand riß mich auf und schrie mir ins Ohr: „Frühstück ist da.“ Es kann +kein Frühstück auf der Welt bereitet werden, das imstande gewesen wäre, +mich aus der Bunk zu bringen. Was war mir Frühstück, was war mir Essen? +Ein schwarzes, dickes, dunstiges, schwerwuchtendes Etwas. Manch einer +sagt: „Ich bin so müde, daß ich keinen Finger mehr rühren könnte.“ Der +das sagen kann, weiß nicht, was Müdesein bedeutet. Fingerrühren? Nicht +einmal die Augendeckel schlossen ganz, vor Müdigkeit. Meine Augen waren +halb geöffnet, und ich empfand das trübe Tageslicht wie einen lastenden +Schmerz, aber ich konnte und konnte die Augenlider nicht schließen. Sie +schlossen nicht selbsttätig und sie schlossen nicht auf meinen Willen. +Denn den Willen konnte ich nicht aufbringen. Ich hatte nicht den Wunsch, +sondern nur ein lastendes Unbehagen: „Möchte doch das Tageslicht +weggehen.“ + +Und als ich nicht dachte, sondern widerstandslos empfand: „Was kümmert +dich das Tageslicht?“, da riß mich der schwere eiserne Haken eines +Ladekrans hoch, dem Kranführer flitschte der Hebel aus der Hand, ich +sauste aus dreißig Meter Höhe hinunter, klatschte flach auf den Ladekai +und ein dicker Schwarm von Leuten stürmte auf mich los und schrie: + +„Raus, zwanzig vor elf, Asche hieven.“ + +Nachdem die Asche gehievt war, holte ich das Mittagessen aus der Galley, +hatte mit meinen Kumpen die Leiter Mittschiffs raufzugehen und die +Leiter zum Vordeck wieder runterzuklimmen. Ich aß ein paar Pflaumen, die +„Der Pudding“ hießen, und die in einem blauen Stärkeschleim steckten. +Etwas andres und mehr zu essen war ich zu müde. Ich wusch mich nicht, +sondern trat so meine Wache an. Als ich um Sechs abends wieder abgelöst +wurde, war ich zu müde, um mich zu waschen. Das Abendessen war kalt und +steif. Das rührte mich nicht. Ich schlug in meine Bunk. + +Das ging drei Tage und drei Nächte. Ich hatte keinen andern Gedanken als +nur: Elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs. In +diesem Begriff sammelte sich für mich der Weltbegriff und das +Persönlichkeitsbewußtsein. Ich war ausgelöscht. An Stelle des Ichs stand +nichts andres als elf bis sechs. Zwei unsagbar wehe Schreie schnitten +sich mir mit Grausamkeit in das, was Hirn, Fleisch, Seele, Herz gewesen +war. Sie bereiteten einen Schmerz, der gellend scharf war. Mag sein, daß +man einen ähnlichen kreischenden Schmerz empfindet, wenn einem das +nackte Gehirn mit einer Stahlfeder gekitzelt wird. Die Schreie kamen +immer von weit her, waren immer dieselben, immer gleich grausam und +schmerzhaft: „Raus, zwanzig vor elf!“ – – „Heilige genotzüchti – Roste +durchgefallen!“ + +Als vier Tage und fünf Nächte um waren, bekam ich Hunger, aß und begann, +mich daran zu gewöhnen. + +„So schlimm ist das eigentlich gar nicht, Stanislaw“, sagte ich, als ich +ihn ablösen kam. „Die Frikandellen schmecken ganz gut. Wenn man nur +etwas mehr Milch bekäme. Na, der Vorrat, den du mir hinterläßt, ist auch +nicht gerade berühmt. Das stochern wir in einen hohlen Zahn vom Feuer +eins. Wie kann man denn beim Ersten einen Rum rausschinden?“ + +„Spielend, Pippip. Siehst ja klapprig genug aus. Glaubt er dir. Gehst +jetzt gleich rauf und sagst, hast dir den Magen verdorben und mußt +immerfort kotzen. Sagst, kannst nicht auf Wache gehen, kotzt grün. +Gleich hast du ein Weinglas weg. Zweimal die Woche kannst du drauf +reiten auf das Rezept. Wenn du mehr kommst, zieht es nicht mehr. Dann +gießt er dir unversehens halb Rizinus mit ein, merkste erst, wenn du +geschluckt hast. Und kannst ihm doch nicht gut in die Kabine spucken, +mußte dann aufscheuern. Also schluckste. Gib das Rezept nicht weiter. +Ist bloß für uns beide. Die Heizer haben ein separates. Pfeifens aber +nicht, die Gauner.“ + +Ich gewöhnte mich immer mehr. + +Dann kam die Zeit, wo ich schon wieder Nebengedanken bekam, wo ich nicht +in einem ermüdeten Dämmerzustande, sondern ganz trocken dem Zweiten +zuschrie, wenn er nicht sofort den Kesselraum verließe, er nicht nur +einen Hammer, sondern auch noch einen Knebelbolzen an den Schädel +kriegen würde, und daß er mich wehrlos über Bord schmeißen dürfe, wenn +ich ihm nicht ganz gewiß mit dem Hammer die Vorderfront und mit dem +Bolzen die Hinterpartie seines Idiotenschädels einschlüge, und daß er +uns diesmal nicht durch den Gang entkommen würde. + +Er hätte in der Tat nicht entkommen können. Er hatte wohl auch das +Gefühl. Wir hatten in dem Gange eine Stange aus Eisen so angebracht, daß +sie in der Schwebe hing. Von der Rückwand des Kesselraumes aus führte +eine Schnur zu jener Eisenstange. Wollte er entfliehen, so sprang einer +sofort zu der Schnur und zog sie an. Dadurch wurde die Stange aus der +Schwebe ausgelöst und fiel so in seinen Weg, daß er in der Falle war. Ob +er lebend herausgekommen wäre oder mit kurz und klein geschlagenen +Gliedmaßen nur, hing lediglich von der Anzahl der rausgefallenen Roste +ab. + +Es vergingen manchmal fünf Wachen, ohne daß auch nur ein Rost +herausfiel. Aber die Roste brannten ja auch durch und mußten durch neue +ersetzt werden, weil sonst die Feuer durchbrachen. Zuweilen hatte man so +viel Glück, daß bei dem Neueinsetzen nur ein Nachbar mitging, und daß +man die beiden mit Geduld und Blut so andächtig behandeln konnte, daß es +bei den beiden blieb. Dafür aber kamen dann auch die Prüfungen um so +schärfer, daß nicht nur sechs fielen, sondern acht, und nicht nur in +einem Feuerzug, sondern in zwei oder drei in derselben Wache. Fürwahr, +es wurde einem nichts geschenkt. + +Als wir Goldküste machten, kamen wir in Wetter, und was für ein Wetter! +Ehre sei Gott in der Höhe, und blas’ mir die Trompeten! Das war ein +Lüftchen. Da bring mal die Kumpen mit Suppe und Schneidergulasch heil +über Mittschiff zum Quartier. Fleckenseife und Benzin nochmal! Das will +gelernt sein. + +Nun das Aschehieven. Da hat man die schwere Aschkanne ausgehängt und +trägt sie warm im Ärmchen rüber über das Gangdeck zum Ascheschacht. Aber +ehe man mit seiner geliebten Kanne dort ankommt, hat Yorikke übergerollt +und man saust mit seiner holden gefüllten Kanne das ganze Gangdeck +entlang und sauber zur Gangstieg. Kachelt Yorikke achtern aus, landet +man mit seiner Aschkanne immer noch fest im Arm unten auf dem Vordeck, +läßt Yorikke vorn die blanken Oberschenkel sehen, rasselt man mit der +Kanne nach achtern und rollt das ganze Achterdeck rauf und runter und +der Erste Offizier schreit von der Brücke herunter: „He, Schlepp, wenn +Sie über Stag gehen wollen, man immer los, es hält Sie niemand, aber die +Aschkanne lassen Sie gefälligst hier. Die können Sie beim Fischen nicht +gebrauchen.“ + +Unten vor den Kesseln ist es dann auch viel gemütlicher als sonst. Wenn +der Heizer gerade mit einem schön einstudierten Schwung eine volle +Schaufel aufschmeißen will, dreht er sich plötzlich und schmeißt einem +die Schaufel voll Kohlen klatschend ins Gesicht oder zwischen die +Eingeweide. Beim nächsten Überholer kommt er gar nicht zum Schwunge, +sondern fliegt mit seiner Schaufel in einen Kohlenhaufen, in dem er +verschwindet und aus dem er erst hervorkraucht, wenn Yorikke wieder hier +überlegt. + +In den Bunkern, wenn es Oberbunker sind, die auch mit Gut beladen werden +können, ist der Spaß noch größer, weil man mehr Spielraum hat. Man hat +glücklich am Steuerbordschacht zweihundert Schaufeln aufgeschichtet und +beginnt gerade damit, sie nach dem Kesselschacht abzuwerfen. + +Ratsch! legt Yorikke über nach Backbord. Und Schlepp, seine Schaufel und +seine schönen zweihundert Würfe Feuergut rutschen in einem wilden +Gemengsel über nach Backbord und steigen an der Backbordwand hoch. +Yorikke macht nun einen Längser, man kommt ins Gleichgewicht und +beschließt die zweihundert Würfe am Backbordschacht abzuwerfen. Eine +Schaufel hat man gerade unten, da legt sich Yorikke zur Abwechslung nach +Steuerbord über und das Gemengsel, mit dem Schlepp in der Mitte, rasselt +nach Steuerbord, wo es ursprünglich herkam. Jetzt aber überlistet man +die gute Yorikke. Man überlegt nicht lange, prasselt gleich zehn, +fünfzehn Schaufeln runter in den Steuerbordschacht, dann rennt man noch +rechtzeitig rüber nach Backbord, und wenn die Lawine dort nachkommt, +gleich wieder fünfzehn Würfe den Backbordschacht runter, und wie der +Satan rüber nach Steuerbord, schon ist die Lawine hinterher, fünfzehn +Würfe hier in den Schacht und so kriegt man seine Kohle vor die Kessel, +wenn sie in den Oberbunkern lagern. + +Ein Kohlschlepp muß ebensoviel von Navigation verstehen wie der Skipper, +sonst würde er zu manchen Zeiten nicht ein Kilo Kohle vor die Kessel +kriegen. Natürlich ist der Schlepp am ganzen Körper braun und blau, die +Nase zerschunden, die Schienbeine aufgeschlagen, die Hände und Arme +abgeschunden. Lustig ist das Seemannsleben, hoiho! + +Und lustiger noch ist es, daß Hunderte von Yorikken, Hunderte von +Totenschiffen auf den sieben Meeren fahren. Alle Nationen haben ihre +Totenschiffe. Die stolzesten Kompanien, die die schönsten Flaggen +protzig wehen lassen, schämen sich nicht, Totenschiffe zu fahren. Wozu +zahlt man denn Versicherungsprämien. Nicht zum Vergnügen. Alles muß +seinen Profit abwerfen. + +Es fahren viele Totenschiffe auf den sieben Meeren, weil es viele Tote +gibt. Nie gab es so viel Tote, als seit der große Krieg für die Freiheit +gewonnen wurde. Für jene Freiheit, die Pässe und Nationalitätsnachweise +der Menschheit aufzwang, um ihr die Allmacht des Staates zu offenbaren. +Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten, der absoluten +Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und Maitressen ist +besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines größeren +Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des Staates und +seiner Lakaien. + +Erhebe die Freiheit zu einem religiösen Symbol, und sie wird leicht die +blutigsten Religionskriege entfesseln. Wahre Freiheit ist relativ. Keine +Religion ist relativ. Am wenigsten relativ ist die Profitgier. Sie ist +die älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen. +Yes, Sir. + + + 33 + +Wird man so zuschanden gearbeitet, daß man nicht einmal mehr „pip“ sagen +kann, so kümmert man sich um nichts, was um einen herum vor sich geht. +Laß geschehen was da will, nur in die Bunk und geschlafen. Man kann so +müde gearbeitet werden, daß man aufhört, an Widerstand zu denken, daß +man aufhört, an Flucht zu denken, daß man aufhört, an Müdigkeit zu +denken. Man wird Maschine, man wird Automat. Um einen herum darf nun +geraubt oder gemordet werden, man sieht nicht hin, man hört nicht hin, +nur schlafen, schlafen, nichts weiter. + +Dösig stand ich an der Reeling und schlief im Stehen. Eine gute Anzahl +von Feluken mit ihren merkwürdigen spitzen Segeln waren in der Nähe. +Aber das fiel nicht auf. Die waren immer herum. Fischer und Schmuggler, +und was sie sonst für Geschäfte haben mochten, Geschäfte, an die man zu +denken nicht wagen würde. + +Ich ruckte zusammen und wurde völlig wach. Ich konnte nicht begreifen, +was es war, das mich so aufriß. Es schien ein mächtiges Getöse zu sein. +Aber als ich mich auf das Getöse eingestellt hatte, kam mir zum +Bewußtsein, daß es kein Getöse war, das mich so überwach gemacht hatte, +sondern daß es eine schwere Ruhe war. Die Maschine hatte aufgehört zu +arbeiten, und das verursacht merkwürdige Gefühle. Tag und Nacht hört man +das Stampfen und Dröhnen der Maschine, es dröhnt im Kesselraum wie ein +rollendes Donnern, in den Bunkern wie ein dumpfes schweres Hämmern, im +Quartier wie ein drehendes, ratterndes Keuchen und Pumpen. Es kriecht +einem in Fleisch und Hirn. Man hat es in allen Fibern seines Körpers. +Der ganze Körper wird ein holpriges Stampfen. Der ganze Mensch fällt in +den Rhythmus der Maschine ein. Er spricht, er speist, er liest, er +arbeitet, er hört, er sieht, er schläft, er wacht, er denkt, er fühlt +und lebt in diesem Rhythmus. Und plötzlich hört das Stampfen der +Maschine auf. Man empfindet einen eigentümlichen Schmerz. Man wird leer +in sich, als ob man in rasender Geschwindigkeit in einem Aufzuge +hinuntersause. Die Erde versinkt einem unter den Füßen, und man +empfindet, daß der Boden des Schiffes herausgefallen ist, und daß man +auf den Boden des Meeres sinkt. + +Yorikke stand und wogte leicht auf dem glatten ruhigen Meer. Die Ketten +rasselten und der Anker fiel. + +Stanislaw kam in dem Augenblick vorbei mit der Kaffeekanne. + +„Pippip,“ rief er mich an und sagte halblaut, „jetzt haben wir unten +aber zu hopsen, ei verflucht nochmal. Müssen den Dampf hochpfeifen auf +hundertfünfundneunzig.“ + +„Du bist wohl verrückt, Stanislawski,“ sagte ich, „da fliegen wir ja +gleich ohne Aufenthalt durch bis auf den Sirius. Bei hundertsiebzig +klappern uns ja schon die Eingeweide.“ + +„Deshalb drücke ich mich ja hier oben rum, so viel ich kann“, griente +Stanislaw, „da rennt man mit dem Schädel nicht erst lange gegen die +Platte. Man geht dann gleich wie ein Gummiball ab, und ehe die Brocken +nachkommen, schwimmt man schon. Als ich die Feluken so verdächtig in der +Nähe sah, habe ich wie ein Wahnsinniger Vorrat gemacht, um nur recht +viel Gelegenheit zu haben, raufzukommen. Dem Heizer habe ich gesagt, ich +habe Durchfall. Das nächstemal mußt du dir was andres aussuchen, man +kann nicht immer den gleichen Hanfsamen erzählen, sonst will er selber +raufgehen und schmeckt die Pomeranzen.“ + +„Was ist denn los?“ + +„Na, du bist mir ein Schaf. Es wird geblendet. Skipper zieht die +Prozente ein für die Versicherung. So einen Esel, wie du bist, habe ich +in meinem Leben nicht gesehen. Was denkst du denn, wo du drauf bist?“ + +„Leichenwagen.“ + +„Das hast du ja wenigstens schon klar. Aber die rennen doch so einen +Eimer nicht runter ohne Musik. Das bilde dir nur ja nicht ein. Die +Yorikke ist geliefert. Der Totenschein liegt schon bei der Kompanie, die +brauchen bloß noch das Datum reinschreiben. Na, und siehst du, Mensch, +wenn man schon auf der letzten Violinsaite spielt, dann ist doch alles +Kick und Kaktus. Die Yorikke kann alles machen, was sie will, sie ist +verzweifelt, sie steht auf der Totenliste. Die kann alles riskieren, +verstehst du? Guck mal da rauf, auf den Laternenkorb. Da hängt der +Boss’n mit der Prismatüte und guckt raus, ob die Luft dicht ist. Dann +kannst du aber mal die Yorikke loskartoffeln sehen, Mensch, die olle +ausgeleierte Schachtel macht dir in der ersten Viertelstunde einen Satz, +daß dir himmelangst wird, bei dem Dampfdruck. Entweder ruff in den Mond +oder raus mit fünfunddreißig Meilen. Da sollst du mal die Yorikke sehen. +Nach einer halben Stunde pfeift und keucht sie aus allen Knopplöchern +und hat für vier Wochen Asthma. Aber sie ist raus. Und das ist die +Hauptsache. Jetzt muß ich aber runter. Ich komme gleich wieder, wenn ich +ein paar geschippt habe. Dann muß ich wieder abknöppen gehen.“ + +Wir fuhren gewöhnlich hundertfünfzig, auch hundertfünfundfünfzig Druck, +wenn die Yorikke gegen schweres Wetter zu kämpfen hatte. Hundertsechzig +war ihre „Achtung!“, hundertfünfundsechzig „Warnung!“, hundertsiebzig +„Gefahr!“. Hier blies sie ab mit markdurchdringendem Geheule. Um ihr das +Heulen auszutreiben, waren jetzt die Tränendrüsen zugeschraubt. Wenn sie +Lust hatte, konnte sie nach innen in sich hineinweinen, ihr grausames +Schicksal beweinen und mit Trauer zurückdenken an jene Zeit, wo auch sie +ein ehrliches rotbäckiges Jungferlein war. Sie hatte alle Stadien eines +abenteuerlichen Weibes durchgemacht in ihrem langen, reichen Leben. Sie +war auf glänzenden Bällen gewesen, wo sie die Königin des Festes war und +umworben wurde von den schönsten Herren. Sie hatte sich mehrfach +verheiratet, war ihren Männern durchgebrannt, war in üblen Hotels +gefunden worden, war dreißigmal geschieden worden, hatte von neuem Glück +gehabt und war in die Gesellschaft wieder aufgenommen worden, hatte +wieder Dummheiten gemacht, sich eine Zeitlang dem Suff ergeben und +schottischen Whisky nach Norwegen und nach den Krabbenlöchern an der +Küste des States Maine geschmuggelt, und nun war sie endlich +Kuppelmutter, Testamentsschleicherin, Giftmischerin und Engelmacherin +geworden. So tief kann eine Frau sinken, die aus bester Familie kam und, +versehen mit ausgezeichneter Erziehung und mit seidenen Röckchen und +Fähnchen ins Leben zog. Aber das Unglück vieler schöner Frauen ist, daß +sie nicht zur rechten Zeit zu sterben verstehen ... + +Die Ladeluken wurden geöffnet und es wurde in den Eingeweiden der +Yorikke emsig herumgewühlt. + +Die Feluken waren nahe gekommen, und zwei machten längsseit fest. Sie +waren von marokkanischen Fischern bemannt. Die kamen wie die Katzen an +Bord. Die Lademasten wurden ausgeholt und fingen kreischend an zu +arbeiten. Drei Marokkaner, die wie Fischer gekleidet waren, jedoch sonst +den Fischern nicht glichen, klug und intelligent aussahen, gingen mit +dem Zweiten Offizier zur Kabine des Skippers. Der Offizier kam wieder +heraus und überwachte das Verladen. Der Erste stand auf der Brücke und +hatte die Augen überall, am Horizont, auf dem Wasser, auf dem Schiff. +Vorn in seinem Gurt hatte er einen schweren Browning stecken. + +„Alles dicht, Boss’n?“ schrie er rauf zum Mast. + +„Alles dicht, aye, aye, Sir.“ + +„All right! Keep on!“ + +Die Kisten schwangen lustig durch die Luft und runter in die Feluken. +Dort waren andre Marokkaner mit flinken Händen tätig, die Kisten unter +den Ladungen von Fischen und Früchten zu verstauen. War eine Feluke +geladen, so machte sie los und stieß ab. Sofort kam eine andre +herbeigerudert, machte fest und nahm die Ladung ein. + +Jede Feluke, die ihre Ladung hatte, stieß ab, heißte die Segel und flog +davon. Jede segelte in eine andre Richtung. Einzelne in die Richtung, wo +auf keinen Fall Land liegen konnte, es wäre denn, daß sie nach Amerika +hätten segeln wollen. + +Der Zweite Offizier hatte einen Block mit eingeschobenem Kohlenpapier +und einen Bleistift. Er zählte die Kisten. Dann rief ihm einer der +Marokkaner, der als Lademeister zu arbeiten schien, eine Zahl zu, der +Offizier antwortete die gleiche Zahl zurück und schrieb sie dann auf. +Auch der Lademeister schrieb auf einem Stück Papier mit. Die Zahlen +wurden in Englisch gerufen. + +Endlich wurden keine Kisten mehr heraufgezogen und die Luken +geschlossen. Die letzte Feluke, die Ladung genommen hatte, war schon +weit fort. Die ersten konnte man nicht mehr sehen. Sie waren hinter dem +Horizont verschwunden oder vom Dunst verschluckt. Die andern sah man in +verschiedenen Richtungen wie kleine Stückchen weißen Papiers +herumschwimmen. + +Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte +festgemacht. Sie hatte keine Ladung eingenommen. Sie hatte nur ihre +Fischladung. + +Die drei Marokkaner, die mit dem Skipper in der Kabine gewesen waren, +kamen jetzt mit ihm heraus. Sie lachten und schwätzten miteinander. Dann +verabschiedeten sich die drei mit großen schönen Gesten ihrer Arme und +Hände, kletterten am Fallstieg hinunter, stiegen in ihr Schifflein, +stießen ab, heißten die Segel, der Fallstieg wurde hochgezogen, die +Ankerkette rasselte, und Yorikke war auf voller Fahrt. + +Nach zehn Minuten etwa kam der Skipper raus und rauf zum Deck: + +„Wo steht sie?“ + +„Sechs ab von der Küste.“ + +„Bravo. Dann sind wir ja raus?“ + +„Yes, Sir!“ + +„Kommen Sie frühstücken. Wir wollen einen heben. Geben Sie dem Ruder den +Kurs und kommen Sie.“ + +Damit war der Spuk vorbei. + +Aber der Spuk hatte etwas zurückgelassen. Wir alle bekamen großes +Nach-Sturm-Frühstück. Bratwürste, Schinken, Kakao, Bratkartoffeln und +pro Kehle ein Wasserglas Rum, der uns in unsre Blechtassen gefüllt +wurde. Dieses Nach-Sturm-Frühstück war das Maulpflaster für uns. Das +Maulpflaster für den Skipper sah anders aus. Das konnte man nicht essen, +man mußte es in die Brieftasche stecken. + +Aber wir waren ja so zufrieden. Wir wären mit dem Skipper in die Hölle +gefahren, wenn er gesagt hätte: „Los, Jungens!“ Und keine +Daumenschrauben hätten aus uns herausquetschen können, was wir gesehen +hatten. + +Wir hatten nur gesehen, daß an der Maschine ein Lager heiß gelaufen war, +daß wir uns vor Anker legen mußten, bis der Schaden wieder repariert +war, und daß, während wir vor Anker lagen, Feluken ankamen, die uns +Fische und Früchte hatten verkaufen wollen. Der Koch hat für zwei +Mahlzeiten Fische gekauft, und die Offiziere haben sich Ananas und +frische Datteln und Orangen gekauft. + +Das können wir beschwören, weil es die Wahrheit ist, yes, Sir. + +Einen so guten Kapitän läßt man nicht im Stich, no, Sir. + + + 34 + +Sobald man nicht überarbeitet wird, gleich kümmert man sich um andre +Dinge und steckt seine Nase in Sachen, die einen gar nichts angehen, die +einen nur auf Ideen und Gedanken bringen, die verderblich sein müssen, +wenn man sie pflegt und hätschelt. Seemann, bleib bei deinem Ruder und +bei deinem Farbenpott; dann bist du auch immer ein braver Seemann und +ein anständiger Kerl. + +Der Ingenieur hatte einen Kohlenbunker aufschrauben lassen, der nahe den +Kesseln lag, weil der Bunker für Ladung gebraucht werden sollte. Jetzt +konnte man die Kohlenschächte des Kesselraumes so schön und mollig +auffüllen. Und als die Schächte aufgefüllt waren, der Bunker leer war +und Yorikke die Ladung übernommen hatte, begann eine wollüstige Zeit. +Sie dauerte nur drei Tage, dann waren die Schächte wieder leer, aber es +waren doch schöne Tage, ganz unvergeßlich. + +Es waren die Tage der Galeerensklaven, wenn die Segel voll sitzen und +nur tote Kreuzerfahrten gemacht werden. Sie bleiben angeschmiedet, damit +sie die Gewohnheit nicht verlieren; sie werden weiter gepeitscht, damit +sie das Gefühl nicht verlieren und nicht an Aufruhr denken; sie müssen +weiter arbeiten, damit die Muskeln nicht zu schlapp werden. Aber sie +dürfen sich hin und wieder ausruhen und den Kopf auf die Riemenstangen +fallen lassen, weil unter den vollen Segeln die auslegenden Riemen +bremsen und nicht in Richtung wirken. + +Auch die vollen Kesselschächte konnten bremsend wirken, wenn man nicht +ruhte, und sie hätten den Kesselraum so verstopfen können, daß der +Heizer nicht arbeiten konnte, vielleicht gar Feuer ausbrach. + +Die Ladung wurde ebenfalls auf offner See eingenommen. Irgendwo an der +Küste Portugals mußte es sein; denn die Bootsleute sprachen +portugiesisch. Es ging ähnlich zu wie weiter südlich an den Küsten +Afrikas das Ausladen. + +Auch hier kamen drei Mann zuerst an Bord, die wie Fischer aussahen, +jedoch keine Marokkaner waren. Auch sie gingen mit dem Skipper in dessen +Kabine. Es wurde geladen, es wurden Zahlen in Englisch gerufen und in +Arabisch geschrieben. Dann zogen die Boote mit ihren Fisch- und +Apfelsinenladungen wieder ab, in alle Richtungen hinaus. Zuletzt stiegen +auch die drei in ihr Boot und setzten ab. + +Diesmal gab es kein großes Nach-Sturm-Frühstück, sondern nur Kakao und +Stollenkuchen mit Rosinen. Es gab ja auch nichts zu schwören. + +„Denn was soll man schwören?“ sagte Stanislaw. „Wenn da einer kommt und +hebt die Luke auf und guckt rein und sieht die Kisten, was willst du da +schwören? Kannst doch nicht gut schwören, es ist keine Kiste da, wenn +der Mann sie in der Hand hat. Aber da kommst du auch gar nicht zum +Schwören. Da sind die Kisten und fertig. Kann nur der Skipper schwören, +wo er mit den Kisten hin will. Und der wird ihnen schon was schwören, da +kannst du Schlacke drauf fressen.“ + +Jetzt hatte ich und natürlich auch Stanislaw feine Wachen. Wenn +ausgeschlackt war, wurden die Aschenfälle gezogen, dann hob ich dem +Kohlefall das Schürzchen hoch, und der Kesselraum lag voll, Vorrat mit +eingeschlossen. + +Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so rum in den Eingeweiden. +Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen, +Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die Kisten +aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel oder Seife. +Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die alles haben, alles +behalten können und das übrige noch dazu kriegen. Moral ist die Butter +für die, denen das Brot fehlt. + +Man muß die Kisten nur wieder gut zumachen und darf das Hemd und die +Stiefel nicht gleich anziehen. Wenn es rauchig wird, verkauft man es +besser im nächsten Hafen. Nimmt jeder ab. Der Seemann ist billig. Er +spart ja die Ladenmiete und kann deshalb unter Fabrikpreisen verkaufen. + +Seine Ausgaben hat man auch. So leicht ist es nicht, an die Kisten zu +kommen. Man muß Schlangenmensch sein. Das hatte ich ja gelernt. Jeden +Tag ein paarmal Training; wenn man nachließ, spürte man es sofort an den +verbrühten Armen und den verschmorten Stellen auf dem Rücken. Es hat +auch seine Schwierigkeiten, in den Laderäumen rumzuwirtschaften und +seine Ware zu suchen und in Empfang zu nehmen. Da rutscht so eine Kiste, +ein paar andre rutschen nach und man ist gefangen in der Falle oder zu +Brei zerquetscht. Licht hat man ja keins, sondern Wachszündhölzchen, +damit man den Waren heimleuchten kann. + +Die Yorikke fuhr keine echten Werte, sie fuhr Totenwerte. Alte +Schrauben, versichert als Corned Beef. Aber diese Einladungen und +Ausladungen ließen meinen Geschäftssinn nicht ruhen. Das waren keine +alten Schrauben und das waren auch keine Zementfüllungen. Ich kenne die +Marokkaner, die machen sich nichts aus Schrauben und gebackenem Zement. +Außerdem hatte ich gesehen, daß nur ein Rettungsboot dicht war und daß +die Offiziere mit dem Skipper auf Wertschätzung standen. + +Die beiden Offiziere beanspruchten Boot zwei; sie durften nicht mit in +Boot eins, dann wären Skipper und Offiziere erschlagen worden, weil man +wußte, was los war. Ein zweites Boot mußten sie schon klarmachen. Die +beiden andern Boote waren ja für den Bootsmann und die A. B.s, den +Kesselbums und einen Ingenieur. Wenn der zweite Offizier mit zum Skipper +in Boot eins stieg, das fiel niemand auf, aber beide Offiziere durften +nicht rein. Solange also nicht Boot zwei überholt war, konnte der +Yorikke nichts geschehen. Geschah ihr trotzdem etwas, dann lag der Fall +treu und alles konnte in Boot eins steigen, und wer nicht Platz hatte, +wurde rausgepfeffert. Da packen alle Hände zu. Dann ist es auch nicht +nötig, Zeugen zu verheiligen, weil alles, was heimkommt, bester Zeuge +ist, denn es war eine treue Beerdigung, an der Versicherung kann keine +Maus knabbern. + +Boot zwei also war für mich das Signal für die Beerdigung. Es war noch +knistertrocken, also hatte auch die Yorikke noch andre, treue Werte an +Bord und nicht nur reine Totenwerte. Wenn es auch Blender waren, so +wollte ich doch wissen, was die Blender im Magen hatten. Wissenschaft +macht sich manchmal bezahlt. + +Da war ich drin im Laderaum und betrachtete mir die Kisten. + + „Garantiert echtes schwäbisches Pflaumenmus“ + „Garantiert reine Früchte und Zucker“ + „Kein Farbenzusatz“ + „Erste schwäbische Pflaumenmusfabrik A.-G.“ + „Oberndorf a. N.“ + +Wir sind schöne Esel. Da fressen wir die Schmierseife rein, die +Margarine heißt, und hier liegt das schönste schwäbische Pflaumenmus +stapelweise aufgeschichtet. „O Stanislaw, ich habe dich für einen so +intelligenten Burschen gehalten, aber du bist das größte Rindvieh auf +Erden.“ + +Das war mein erster Gedanke. Stanislaw hatte immer so einen großen Mund, +er tat immer so klug, er wußte immer alles, wußte immer, wohin die +Yorikke ging und wohin sie nicht ging. Aber das Pflaumenmus hatte er +doch nicht entdeckt. + +Kisten aufmachen ist Spielerei, wenn man Übung hat. Feine große Büchsen. +Das gibt ein Fressen morgen, dick drauf geschmiert auf das warme Brot. +Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Garantiert reine Früchte und +Zucker. Kein Ersatz aus deutscher Rübenzeit. Reine Früchte und Zucker. +Die Marokkaner wissen schon, was gut ist. Das ist besser als Datteln und +Rosinen, schwäbisches Pflaumenmus aus der Ersten Pflaumenmusfabrik. Mit +dem Meißel, den ich zum Aufmachen der Kiste gebraucht hatte, öffnete ich +jetzt gleich eine Büchse. Ich war mit zwei Büchsen zum Bunker gekrochen, +wo ich ja meine Lampe unbekümmert brennen durfte. Es konnte mir schon +keiner raufkommen, weil ich das Brett, das über zwei Streben lag und das +zur Bunkerluke führte, weggezogen hatte. Von den Ingenieuren wäre +sowieso keiner über das Brett gegangen; denn das erforderte Mut. +Besonders stark war das Brett nicht, und es war auch nicht mehr neu. Es +war nicht ausgemacht, ob es heute oder morgen brach. Und wenn es brach, +oder wenn man beim Drübergehen infolge eines unerwarteten Stampfers der +Yorikke das Gleichgewicht verlor, so sauste man zwanzig Fuß tief runter +in den Kesselraum und schlug sich auf dem Wege dahin einen Schädelbruch, +wenn man Glück hatte. Wenn man Pech hatte, so war es schon ganz egal, ob +man einen oder zehn Schädelbrüche hatte. Aber besser ist besser, dachte +ich, und darum hatte ich das Brett weggezogen. Die Büchse war auf. Es +war keine Blendung, verflucht noch mal. Es war tatsächlich garantiert +reines Pflaumenmus. Offenbar hatte ich Goldstaub erwartet, weil ich so +erstaunt war. Das hätte ich von der Yorikke nicht gedacht. Sie fährt +treues, echtes Gut. Und ich habe das arme Weib unter Verdacht gehalten, +daß sie Deklarierungen kleistert und Blender fährt. Man soll doch nie +voreilig urteilen, wenn man es mit Weibern zu tun hat. + +Man soll nicht voreilig urteilen, wenn man es mit –. + +Schmeckt das Zeug? Schmeckt ganz gut. Schmeckt – na – na – warte mal – +schmeckt etwas ranzig. Nein, schmeckt nach – nach – nach was denn zum +Donnerwetter nochmal? Die haben Coppers reingetan, die Säue. Die haben +Kupfermünzen rein getan, damit die Pflaumen Farbe behalten sollen. +Garantiert kein Farbzusatz. Ist keine Farbe, aber schmeckt danach. +Wollen doch noch mal kosten. Ja, Teufel, schmeckt nach Grünspan, direkt +nach Messing. Kann ich nicht essen auf Brot. Ich werde den Geschmack +nicht los. Frißt sich auf der Zunge ein und klietscht gegen den Gaumen. + +Vielleicht nur oben so schlimm. Gehen wir mal tiefer mit dem Finger in +die Marmelade! Was ist denn das? Da sind ja noch die ganzen +Pflaumenkerne drin geblieben. Das ist ja eine Marmelade. Scheint echt +schwäbisch zu sein, die Kerne alle drin zu lassen. + +Na? Was ist denn das? Das sind aber merkwürdige Pflaumen, die echt +schwäbischen Pflaumen. Die haben sehr mysteriöse Kerne. Die Kerne sind +ja aus Blei, tatsächlich aus Blei. Und damit das Blei nicht beschädigt +wird, hat es einen weißen Stahlpanzer. Und jeder Kern steckt auf einer +Messinghülse. Daher der Messinggeschmack. Und in den Hülsen? Was ist +denn da drin? Zucker. Feiner Zucker. Schwäbischer Zucker muß das sein. +Ist schwarz und schmeckt ganz salzig. Garantiert reine Früchte und +Zucker. Feine Blender. Man soll nicht voreilig urteilen, Yorikke ... + +Dann ging ich auf die zweite Reise. Mausefallen. Daß die Marokkaner so +wild auf Mausefallen sein sollten, glaubte ich nicht. Es waren wirklich +Mausefallen in den Kisten. Als ich aber nach den Kernen suchte, fand ich +Mausefallen ohne Fallen, mit einem R am Ende. Mauser. + +Da waren Kisten mit Kinderspielzeug. „Blechautos mit aufziehbarem +Federwerk.“ Ich suchte nicht nach den Kernen und sparte mir die Mühe, +weil die Blechautos mit aufziehbarem Federwerk aus der „Ältesten Suhler +Spielwarenfabrik“ kamen. Aber England war viel besser und viel +gründlicher vertreten als Belgien und benachbarte Gebiete. Belgien hatte +Zuckerwaren beigesteuert und England Kasserollen aus Weißblech. Die +Marokkaner haben ganz recht. Spanien den Spaniern, Frankreich den +Franzosen und China den Chinesen. Wir lassen keine Chinesen +rein. Aber wenn die uns nicht reinlassen, dann ist unser +Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra! befleckt, bedreckt, beschiet und muß +mit Blutfleckseife ausgewaschen werden, yes, Sir. + +He, Skipper, auf mich kannst du zählen. Du machst das Geschäft, und ich +habe das Wohlgefallen. + + + 35 + +„Stanislaw, nun sag mal, warum frißt du denn die Margarine immer so in +dich hinein? Hast du denn gar kein Schamgefühl?“ + +„Was willst du machen, Pippip. Erstens habe ich Hunger, und zweitens +kann ich doch nicht meine Lumpen auskochen, den Saft eindicken und dann +als Marmelade aufs Brot schmieren. Hab doch weiter nichts aufs Brot. Und +immer das trockene Brot hinterwürgen, Mensch, du wirst ja ganz dusselig +davon. Kriegst ja Betonfundamente in den Bauch.“ + +„Du bist schön dumm,“ sagte ich nun, „weißt du, daß wir Marmelade +geladen haben?“ + +„Natürlich weiß ich“, sagte Stanislaw, ruhig weiter kauend. + +„Warum machst du denn nicht eine Kiste dicht?“ fragte ich. + +„Das ist doch keine Marmelade für uns.“ + +„Warum denn nicht?“ + +„Die ist bloß gut für Marokkaner, Spanier und Franzosen und natürlich +für die Lieferanten. Aber für uns, für dich und für mich, ist das keine +Marmelade. Die kannst du nicht verdauen. Die kannst du nur verdauen, +wenn man sie dir in die Rippen pfeffert. Aber dann kriegst du die +Lauferei, da läufst du gleich so sehr, daß du deinen Urgroßvater noch +einholen und mit ihm zusammen gehen kannst.“ + +Der wird doch nicht etwa? + +Ich platzte gleich raus: „Weißt du denn etwa schon, was da drin ist. Du +hast doch nicht etwa –?“ + +„Nachgesehen? Für was für ein großes Kamel hältst du mich denn +eigentlich? Die drei Edlen waren noch beim Skipper in der Kabine und +oben wurde noch die Luke dicht gemacht, damit auch ja niemand dran kann, +da hatte ich schon eine Kiste auf. Ich brauche doch nur lesen +Pflaumenmus oder Marmelade oder Dänische Butter oder Corned Beef oder +Ölsardinen oder Schokolade, da bin ich doch auch schon dahinter.“ + +„Da ist aber tatsächlich Pflaumenmus drin“, erwiderte ich. + +„Es ist immer was drin. Aber das kannst du nicht essen. Das schmeckt zu +sehr nach Grünspan. Stirbst an Blutvergiftung. Auf der letzten Reise, +ehe du raufkamst, da hatten wir Corned Beef. Natürlich auch Blender, +aber ich habe gründlich abgehäutet, das kann ich dir sagen. Das war +fein. Da war nichts dran. Das war in Pergament gefettet. Manchmal hat +man eben Glück. War gute amerikanische Ware. Ging nach Damaskus oder da +herum.“ + +„Wie waren denn die Knochen?“ + +„Die Knochen? In Corned –? Ach so, die Knochen meinst du. Das waren +K’rabben. K–rabben. Karabiner. Made in U. S. A. Feines Modell. Da hat +der Skipper schwer Draht gezogen. Da gab es Kognak, Rinderbraten, Huhn +und frisches Gemüse. Da mußte nicht nur das Maul, da mußten auch die +Glotzen und die Riecher gepflastert werden. Ein französischer Jäger +kriegte uns auf, ehe wir raus waren. Die haben geschnüffelt, mit +Zigaretten und mit Franken rumgeschmissen. Aber mußten wieder abziehen +und dem Skipper Verbeugungen machen.“ + +„Hat denn keiner für die gewinkten Franken gepfiffen?“ + +„Bei uns? Auf der Yorikke? Wir sind alle Dreck und haben nichts mehr zu +melden. Wir sind tot. Du auch. Na, und sieh mal, jemand anders ins +Portemonnaie sehen oder in den Glasschrank gucken oder Kisten aufmachen +in einem Schuppen oder auf der Yorikke, dem Zweiten und dem Ersten noch +dazu den Hammer an den Schädel feuern, das ist alles Ehrensache. +Behältst du immer den Kopf hoch, behältst du immer deinen Murr, deinen +Stolz. Aber pfeifen bei der Polizei oder der auch nur mit einem +Fingernagel helfen, das ist schäbig. Da kannst du dir nicht mehr in die +Augen gucken. Wenn die was wollen, laß sie doch machen. Aber du bist +doch ein anständiger Kerl, da putzt man den Burschen nicht die +Brillengläser. Ich will lieber auf der Yorikke und mit der Yorikke +verrecken, als mit einem Polizisten tauschen.“ + +Wir lagen auf der Reede an der portugiesischen Küste, um Deckungsgut +einzunehmen und die Yorikke zu klären. Die Yorikke war plötzlich in +Verdacht gekommen. Deshalb nahm der Skipper nur echtes Gut ein und ließ +sehr saubere Deklarierungen gegen die Yorikke laufen, an denen auch +nicht ein Pünktchen zu deuteln war. Es war sehr billiges Gut, denn hohes +vertraute der Yorikke niemand an. Wer sie kannte, nicht. Aber da gibt es +ja so unendlich viel Gut, das an sich keinen besonderen Wert darstellt, +aber doch gefahren werden muß und doch wieder zu gut ist, um nur als +Ballast zu gehen. Den Wert bekommt dieses Gut erst, wenn es abgeliefert +ist. + +Nach fünf Uhr des Nachmittags hatten wir nichts mehr zu tun, und die +Arbeit begann erst wieder am nächsten Morgen um sieben. Das war die +Arbeitszeit, wenn wir auf Reede oder am Kai in einem Hafen lagen. Die +Arbeit in diesen Fällen war meist unangenehm, aber doch nicht gar so +schwer wie auf der Fahrt. + +Hier war es dann, daß wir schon manchmal einige Stunden beieinander +sitzen konnten, um in Ruhe zu schwätzen. Ein Schiff ist immer groß +genug, daß man irgendwo sitzen kann, ohne daß man sich mit den Ellbogen +stößt. + +So viele Leute auf der Yorikke waren, so viele Nationen waren auch +vertreten. Jede Nation hat ihre Toten, die leben und atmen, aber +gegenüber der Nation doch tot für ewig sind. Manche Staaten haben ganz +offen ihre Totenschiffe. Diese Totenschiffe nennt man dann +Fremdenlegion. Wer sie überlebt, kann vielleicht ein neues Leben damit +erkauft haben. Er hat einen neuen Namen erworben, der ihm bestätigt +wird, und er hat einen neuen Platz in einer Nation gefunden, als wäre er +als Säugling eben hineingeboren. + +Alle Kommandos auf der Yorikke wurden in Englisch gegeben, und alle +Unterhaltung wurde in englischer Sprache gepflogen, weil sonst eine +Verständigung nicht denkbar gewesen wäre. Es war ein höchst merkwürdiges +Englisch. Nur der Skipper sprach ein reines, fehlerfreies Englisch. Alle +übrigen dagegen sprachen etwas, das mit Englisch nichts zu tun hatte. Es +war Yorikkisch. Eine eigne Sprache. + +Wie die Sprache klang und aussah, läßt sich nur schwer schildern. Jeder +Seemann weiß zwei Dutzend englische Worte. Und jeder weiß drei bis sechs +Worte, die der andre nicht weiß, aber von ihm lernt durch das +Zusammenleben an Bord, wenn nur Englisch gesprochen wird. Dadurch eignet +sich jeder in kurzer Zeit etwa zweihundert Worte an. Zweihundert Worte +der englischen Sprache auf diese Weise, aber nur auf diese Weise gelernt +und dazu die Zahlen, die Namen der Tage und Monate in Englisch, +ermöglichen jedem Menschen, alles das klar und zweifelsfrei +auszudrücken, was er innerhalb dieses Kreises sagen will. Ganze Romane +kann er mit diesem Sprachschatz erzählen. Er kann natürlich kein +englisches Buch lesen und noch viel weniger eine englische Zeitung. +Keine andre europäische Sprache kann diesen Vorteil ihren Schülern +bieten, sich so leicht und so rasch im Leben verwenden zu lassen. + +Ehe ich aber das Yorikkisch verstand und mich in Yorikkisch ausdrücken +konnte, vergingen mehrere Tage. Hätte ich Worte und Wortverbindungen so +gebraucht, wie ich sie seit meinen ersten nassen Windeln gehört und +geplappert hatte, würde mich niemand auf der Yorikke, der Skipper +ausgenommen, verstanden haben, und man würde mir kaum geglaubt haben, +daß ich Englisch spräche. + +Wie war das Yorikkische Englisch entstanden, und wie war das Englisch +auf andern Totenschiffen entstanden? + +Das Sprachengewirr unter den Angehörigen der verschiedenen Nationen, die +auf der Yorikke fuhren, machte eine gemeinsame Sprache notwendig. Da +jeder, wenn er nur ein paar Wochen fährt, einige englische Brocken weiß +und gleich mitbringt, so ergibt sich ganz von selbst das Englisch als +Kommando- und Umgangssprache. + +Da ist das Wort First-Mate, Erster Offizier, das die meisten wissen, und +da ist das Wort Money, das jeder weiß. + +Nun aber kommt die lebendige Entwicklung, eine Sprachentwicklung, wie +sie sich nicht nur auf der Yorikke zeigte, sondern wie sie sich in +ganzen Völkern zeigt und von jeher gezeigt hat. + +Mate wird in London-West ganz anders ausgesprochen als in London-Ost, +und der Amerikaner spricht achtzig Prozent der Worte anders aus als der +Engländer, und sehr viele schreibt er auch ganz anders und verwendet sie +in ganz andern Ideenverbindungen. + +Der Zimmermann hat das Wort First-Mate nie in England gehört, sondern +von einem Schweden, der das Wort von einem Seemann aus London-Ost gehört +hatte. Der Schwede konnte es schon selbst nicht richtig aussprechen, +außerdem hatte er es noch in dem üblen Petty-coat-lane oder +Cockney-Dialekt gehört, den er für die richtige und allein gültige +Aussprache halten mußte, weil er ja das Wort von einem Engländer +vernommen hatte. Wie das Wort nun von dem Zimmermann ausgesprochen +wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Ein Spanier bringt die +Aussprache des Wortes Money, ein Däne bringt Coal, ein Holländer Bread, +ein Pole Meal, ein Franzose Thunder und ein Deutscher Water. + +Das Wort First-Mate läuft durch alle Stadien der Laute, die ein Mensch +geben kann: Feist-Moat, Fürst-Meit, Forst-Miet, Fisst-Määt und noch so +viel mehr als Leute auf der Yorikke sind. Nach einer kurzen Zeit aber +schleifen sich die verschiedenartigen Aussprache-Färbungen gegeneinander +ab und es kommt zu einer einheitlichen Aussprache, in der sich alle die +Tonfarben wiederfinden in abgeschwächter Form. Wer neu hinzukommt, +selbst wenn er genau weiß, wie das Wort richtig ausgesprochen wird, ja +selbst wenn er Professor der Phonetik in Oxford wäre, muß das Wort +Yorikkisch aussprechen, wenn er zu jemand den Befehl bringen soll, daß +der First-Mate ihn zu sehen wünsche, weil der Mann sonst gar nicht +wüßte, was man von ihm wolle. Der Professor merkt nach kurzer Zeit gar +nicht mehr, daß er die Worte Yorikkisch ausspricht, weil er sie nur in +dieser Form hört und sie sich in dieser Form in sein Gedächtnis +einprägen. Von den Vokalen bleibt nicht viel an richtiger Aussprache +übrig, aber von den Konsonanten bleibt genug übrig, um das Wort nach +einigem Hinhören doch zu verstehen. Dadurch bleibt die Sprache immer +Englisch in ihrem Skelett und kann auf jedes andre Schiff übertragen +werden. Gäbe es keine Buchdruckerkunst, so würde es so viele ganz +selbständige Sprachen geben wie es Dialekte gibt. Hätten die Amerikaner +nicht die gleiche Schriftsprache wie die Engländer, würde heute die +Sprache der beiden Völker ebenso verschieden sein wie die Sprache der +Holländer und der Deutschen. + +Der Seemann ist, soweit die Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An +welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden und +kann sich verständlich machen. Und wer eine Yorikke überwinden und +überleben kann, den kann nichts mehr in Schrecken versetzen, für ihn ist +nichts unmöglich. + + + 36 + +Stanislaw wurde nur von mir und den Heizern Stanislaw oder Lawski +gerufen. Alle übrigen, auch die Offiziere und Ingenieure riefen ihn +Pole, manche Pollack. Die Mehrzahl der Leute wurden nach ihrer +Nationalität gerufen: He, Spanier oder Russ oder Holländer. Und das war +ein ironischer Witz des Schicksals. Ihre Nation verleugnete sie und +stieß sie von sich, auf der Yorikke war ihre Nation ihre ganze +Persönlichkeit. Jeder, der auf einem Schiff angezeichnet werden soll, +wird zum Konsul gebracht, zum Konsul jenes Staates, unter dessen Flagge +des Schiff fährt. Der Konsul hat die Anmusterung zu bestätigen und zu +registrieren. Er prüft die Papiere des Seemanns, und wenn ihm die +Papiere nicht gefallen, verweigert er die Registrierung, und der Mann +kann nicht mustern. Die Anmusterung vor dem Konsul muß im Hafen +erfolgen, ehe der Mann seine Arbeit beginnt. + +Yorikke hätte auf diese Art nie einen Mann bekommen, vielleicht nicht +einmal Ingenieure und Offiziere; denn wer mit seinen Papieren in Ordnung +war, ging der Yorikke in weitem Bogen aus dem Wege. Die Yorikke verdarb +die besten Papiere eines Mannes, und ein Mann, der von der Yorikke +abzeichnete, hatte ein oder zwei Jahre dreiviertel und halbe Yorikken +erst zu fahren, ehe er sich wieder beim Skipper eines ehrlichen Schiffes +sehen lassen konnte, falls er überhaupt je auf eine dreiviertel Yorikke +kommen konnte. Denn selbst da war der Skipper mißtrauisch. „Auf der +Yorikke haben Sie gefahren? Wo werden Sie denn verlangt? Was haben Sie +denn ausgefressen?“ Das sagt der Skipper. + +Und der Mann sagt: „Ich konnte kein andres Schiff kriegen und nahm +deshalb die Yorikke für eine Reise.“ + +„Ich will keine Scherereien haben mit der Polizei oder mit den Konsuln. +Ich möchte nicht gern, daß es heißt, auf meinem Schiff haben sie unter +der Mannschaft einen Raubmörder verhaftet, der in Buenos-Aires verlangt +wird“, sagt der Skipper. + +„Aber, Skipper, wie können Sie denn das sagen? Ich bin ein ganz +ehrlicher Mann.“ + +„Ja, ja. Aber von der Yorikke. Ich kann doch nicht von Ihnen fordern, +daß Sie mir von allen Ländern der Erde ein polizeiliches Leumundszeugnis +beibringen, nicht älter als vier Wochen. Da haben Sie zwei Schillinge, +für ein gutes Abendessen, aber Anmusterung? Ich möchte doch lieber nicht +das Risiko übernehmen. Vielleicht kriegen Sie ein andres Schiff, liegen +ja eine Masse hier. Gehen Sie mal zu dem Italiener da drüben. Kann sein, +er nimmt es nicht so hart.“ + +Der Skipper der Yorikke konnte mit keinem seiner Leute zum Konsul gehen, +wahrscheinlich nicht einmal mit seinem Ersten Offizier, und ich würde +mich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht beim Konsul sehen lassen +dürfte, ohne daß der Konsul sofort den Hörer abnimmt und zum Skipper +sagt: „Setzen Sie sich, bitte, Herr Kapitän, nur einen Augenblick, dann +stehe ich zu Ihren Diensten.“ + +Diese Dienste würde der Skipper vielleicht nicht abwarten, sondern etwas +andres tun; rin ins Auto, rauf auf die Yorikke, Anker gehievt und +abgesurrt mit hundertfünfundneunzig und zugeschraubten Tränendrüsen. + +Die Yorikke bekam alle Leute unter dem Schiffsnotgesetz. Sie kamen rauf, +wenn der Blaue Peter eingezogen wurde und der Lotse schon an Bord war. +Kein Konsul der Erde wird dann verlangen, daß der Skipper nun wieder +anhalten und mit einem Mann zum Konsul gehen soll. Das verlangt noch +viel weniger irgendeine Hafenbehörde. Früher konnte man den Mann nicht +anmustern, weil keiner da war, und weil man nicht wußte, daß von der +Mannschaft sich einer besaufen und achtern abkanten würde. Das merkte +man erst, als das Lotsensignal gepfiffen wurde und der Mann nicht an +Bord war. + +Selten verriet jemand auf der Yorikke einem andern seinen wahren Namen +und seine wahre Nationalität. Ebenso selten erfuhr man, unter welchem +Namen und unter welcher Nationalität jemand angemustert hatte. Kam +jemand neu, so fragte ihn der Offizier oder der Ingenieur oder ein Mann, +eben irgendeiner, der mit ihm zuerst zu tun hatte: „Wie heißen Sie?“ +Darauf sagte der Gefragte: „Ich bin Däne.“ Damit hatte er zwei Fragen +beantwortet und nun hieß er Der Däne oder nur Däne. Mehr zu fragen, +hielt man für überflüssig. Man wußte meist oder glaubte meist, daß Däne +schon gelogen war, und sich mehr anlügen zu lassen, darauf ging man +nicht aus. Willst du nicht belogen werden, dann darfst du auch nicht +fragen. + +Um uns an einem faulen Abend, während wir auf der Reede lagen, die Zeit +zu vertreiben, erzählte mir Stanislaw seine Geschichte und ich ihm +meine. Ich erzählte ihm nicht meine wahre Geschichte, sondern eben eine +Geschichte. Ob er mir eine wahre Geschichte erzählte, weiß ich nicht. +Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, ob das Gras grün ist, +es kann ja nur in meinen Augen eine grüne Täuschung verursachen. + +Aber gute Gründe machen mich glauben, daß die Geschichte, die mir +Stanislaw erzählte, der vollen Wahrheit entsprach, weil sie den +Geschichten aller Reisenden auf Totenschiffen so ähnlich war. + +Sein Name, den ich, wie die ganze Geschichte, auf dem Eimer nicht +verraten durfte, war Stanislaw Koslowski. Er war geboren in Posen und +dort bis zu seinem vierzehnten Jahre in die Schule gegangen. Indianer- +und Seegeschichten verlockten ihn, er rannte von Hause fort, kam nach +Stettin, verbarg sich dort auf einem dänischen Fischkutter und fuhr mit +ihm nach Fünen. Dort fanden ihn die Fischersleute in ihrem Kutter +halberfroren und halb verhungert. Er sagte, er sei aus Danzig, borgte +sich von seinem Buchbinder, wo er die Seegeschichten zu kaufen pflegte, +den Namen aus und gab ihn als seinen Namen an. Er erzählte weiter, daß +er ein Waisenkind sei und von den Leuten, bei denen er in Pflege sei, so +schlecht behandelt und so verprügelt werde, daß er ins Meer gesprungen +sei, um sich zu töten. Da er aber schwimmen könne, so habe er zu +schwimmen angefangen und sich auf dem Kutter versteckt. Er schloß seine +Erzählung unter Tränen mit den Worten: „Wenn ich zurück nach Deutschland +muß, binde ich mir Hände und Füße zusammen und springe sofort ins Meer. +Zu den Pflegeeltern gehe ich nicht zurück.“ + +Die Fischersfrauen weinten alle herzzerbrechend über das traurige +Schicksal des kleinen deutschen Jungen und nahmen ihn auf. Zeitungen +lasen sie nicht, und in die dänischen Zeitungen kam es wohl auch nicht, +daß ganz Deutschland nach dem Jungen abgesucht wurde und die +gräßlichsten Geschichten in Umlauf waren, was wohl alles mit dem Jungen +geschehen sein könne. + +Bei den Fischersleuten auf Fünen mußte er schwer arbeiten, aber es +gefiel ihm hundertmal besser als in den Straßen von Posen; und wenn er +daran dachte, daß man ihn zu einem Schneider hatte in die Lehre geben +wollen, so verging ihm alle Lust, seinen Eltern auch nur das kleinste +Zeichen zu schicken, daß er am Leben sei. Die Furcht, Schneider werden +zu müssen, war größer als die Liebe zu Vater und Mutter, die er ganz +niedlich hassen konnte für ihre Absicht, ihn zu einem tüchtigen +Schneider ausbilden zu lassen. + +Mit siebzehn Jahren verließ er die Fischersleute mit deren +Segenswünschen, um nach Hamburg zu gehen und für große Fahrt zu mustern. +In Hamburg war kein Schiff zu haben, und er nahm für einige Monate +Arbeit bei einem Segelmacher. Er meldete sich vorschriftsmäßig unter +seinem richtigen Namen an, bekam seine Invalidenkarte und ließ sich +endlich ein gutes deutsches Seemannsbuch ausstellen. + +Dann fuhr er los auf große Fahrt auf ehrlichen deutschen Schiffen. Dann +wechselte er und fuhr auf einem Holländer. Und dann kam der blutige Tanz +ums goldene Kälbchen. Als das los ging, war er mit seinem Holländer im +Schwarzen Meer. Auf der Heimfahrt passierte das Schiff den Bosporus, +wurde von den Türken untersucht, und er mit noch einem Deutschen wurde +herausgeholt und in die türkische Kriegsmarine gesteckt, unter anderm +Namen, weil er seinen richtigen nicht angab. + +Dann kamen zwei deutsche Kriegsschiffe nach Konstantinopel, die in einem +italienischen Hafen gelegen hatten und dort den Engländern, die ihnen +auflauerten, entwischt waren. Stanislaw kam nun auf eines dieser Schiffe +und diente weiter unter türkischer Flagge, bis er eine passende +Gelegenheit fand, den Türken den Abschied zu geben. + +Er fand Heuer auf einem Dänen. Der Däne wurde von einem deutschen +Unterseeboot durchsucht, und ein Schwede, der auf dem Schiff fuhr, und +dem er erzählt hatte, daß er nicht Däne, sondern Deutscher sei, verriet +ihn an die Offiziere des Unterseebootes. Stanislaw kam nach Kiel und +wurde unter falschem Namen in die deutsche Kriegsmarine gesteckt. +Artilleriedienst. + +In Kiel traf ihn ein andrer Kuli, mit dem er früher auf einem deutschen +Handelsschiff gefahren war. Durch den kam der richtige Name heraus, und +Stanislaw wurde nun mit seinem richtigen Namen in der deutschen +Kriegsmarine geführt. + +Stanislaw war dabei, als in der Nähe von Skagen zwei sich bekämpfende +Nationen, die Engländer und die Deutschen, zu gleicher Zeit Sieger +wurden und die Engländer mehr Schiffe verloren als die Deutschen und die +Deutschen mehr als die Engländer. Stanislaw wurde von dänischen +Fischerbooten aufgepickt und ins Dorf gebracht. Da er mit dänischen +Fischersleuten umzugehen verstand und hier ein Bruder jener Frau war, +die ihn in Fünen aufgenommen hatte, so lieferten ihn die Fischer nicht +ab an die dänische Regierung, sondern versteckten ihn und brachten ihn +endlich als Dänen auf einem guten Schiff in Esbjerg unter, mit dem +Stanislaw wieder auf große Fahrt kam. Diesmal hütete er sich, zu +verraten, daß er Deutscher sei, und so konnte er allen Unterseebooten, +englischen und deutschen, ins Gesicht lachen. + +Die Regierungen vertrugen sich, die großen Räuber setzten sich alle zu +einem fetten Versöhnungsbankett nieder, und die Arbeiter und kleinen +Leute in allen Ländern hatten die Unfallkosten, die Hospitalrechnungen, +die Beerdigungskosten und das Versöhnungsbankett zu bezahlen. Dafür +durften sie den einziehenden Heeren, die „im Felde gesiegt“ hatten, mit +kleinen Fähnchen und Taschentüchern zuwedeln und den übrigen Heeren, die +„im Felde nicht besiegt“ waren, mit brausender Begeisterung zurufen: +Macht nischt, das nächste Mal! Und als den Arbeitern und den Kleinen +schwindlig wurde von der Höhe der Rechnungen, die sie bezahlen sollten, +weil die großen Räuber nichts verdient und sogar das noch für die +Wohltätigkeit geopfert hatten, da führte man die kleinen Leute an das +Grab des „Unbekannten Kriegers“, wo sie so lange standen und man so +lange auf sie einredete, bis sie dran glaubten, an die Pflicht des +Bezahlens und an die Echtheit des Unbekannten Kriegers. Wo man sich +keinen Unbekannten Krieger leisten konnte, weil man keinen hatte, da +schläferte man das Denken der Arbeiter damit ein, daß man ihnen den +Dolch im Rücken zeigte und sie raten und streiten ließ, wer ihn +reingesteckt habe. + +Dann kam die Zeit, wo in Deutschland ein Zündholz zweiundfünfzig +Billionen Mark kostete, während die Herstellung jener zweiundfünfzig +Billionen Mark in Nicht-Billionen-Scheinen mehr kostete als ein ganzer +Eisenbahnwaggon voll Zündhölzer. Da fand es die dänische Kompanie an der +Zeit, ihre Schiffe nach Hamburg ins Trockendock zu schicken zum +Überholen. Die Mannschaften wurden entlassen und in ihre Heimat +geschickt. Stanislaw war mit dem Schiff nach Hamburg gekommen und war +nun gleich in seinem Heimatlande. + + + 37 + +Das dänische Heuerbuch war nicht viel wert. In Dänemark lagen so viele +Schiffe auf, daß man kaum auf Musterung rechnen konnte. Und Stanislaw +wollte endlich wieder einmal ein richtiges Seemannsbuch haben. + +Er ging zum Seemannsamt, wo er dachte, das Buch zu bekommen. + +„Müssen Sie erst eine Bescheinigung von der Polizei beibringen.“ – „Ich +habe hier mein altes Seemannsbuch.“ + +„Das ist ein dänisches. Wir sind hier nicht in Dänemark.“ + +Das dänische Seemannsbuch trug einen andern Namen, nicht den richtigen +Namen Stanislaws. + +Er ging zur Polizei, sagte seinen richtigen Namen und wollte eine +Bescheinigung haben, damit er ein Seemannsbuch bekommen könne. + +„Hier gemeldet?“ wurde er gefragt. + +„Nein. Bin gestern erst angekommen. Mit einem Dänen“, sagte Stanislaw. + +„Dann lassen Sie sich erst Ihren Geburtsschein schicken, sonst können +wir Ihnen keine Bescheinigung geben“, sagte die Polizei. + +Stanislaw schrieb nach Posen, um seinen Geburtsschein zu bekommen. Er +wartete eine Woche. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete zwei Wochen. +Der Geburtsschein kam nicht. + +Nun schrieb Stanislaw einen Einschreibebrief und packte fünfzig +Billionen Mark bei für Unkosten. + +Stanislaw wartete drei Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete +vier Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Was kümmert man sich in Polen +um den Geburtsschein eines Mannes, der in Deutschland wohnt. Man hat +andre Sorgen. Da ist erst mal Oberschlesien. Und da ist erst mal Danzig. +Und wer weiß, wo die Geburt registriert ist. In diesem Kram können wir +uns nicht zurecht finden. Das ist alles nichts für uns. Das Geld, das +Stanislaw mitgebracht hatte, ein hübsches Päckchen dänischer Kronen, war +längst über alle Berge. Berge? Nein, war längst über ganz St. Pauli. In +St. Pauli kennt man dänische Kronen und weiß sie zu schätzen, sind +beinahe ebenso gut wie Dollar. „Was willst du machen, wenn da die Mädels +sind? Kannst doch nicht gut abwinken. Sieht ja aus, als ob du nicht mehr +–. Ja, da waren halt die Kronen im –.“ + +„Verhungern und Kohldampf schieben tun nur die Dussel und Idioten“, +sagte Stanislaw. „Ein ehrliches Handwerk ernährt immer seinen Mann.“ + +Da fiel schon mal eine Kiste auf dem Güterbahnhof aus einem Güterwagen, +wo die Tür zu leicht aufging. „Mußt bloß da sein, wenn sie fällt, und +mußt sie nicht liegen lassen. Das ist der ganze Witz an der Geschichte“, +sagte Stanislaw. + +Dann gingen auch schon mal ein paar Zuckersäcke im Hafen auf. „Wenn du +da mit einem leeren Rucksack gehst“, sagte Stanislaw, „und es geht ganz +von allein so ein Zucker- oder Kaffeesack auf, und der ganze Brassel +rutscht dir in den Rucksack, da machst du doch nicht den Rucksack los, +schüttest den Kaffee wieder aus und gehst deiner Wege. Das wäre ja +Gottversuchen. Wenn du den Kaffee wieder ausschüttest und es sieht +einer, denkt er gar noch, du hättest ihn gestohlen, und er läßt dich +hochgehen.“ + +Es gab auch Salvarsan und Koks. „Für die arme leidende Menschheit muß +man ein Herz haben, da kannst du nicht drum rum. Weißt nicht, wie es dir +tun kann, wenn du Salvarsan nötig hast und kannst es nicht kriegen. Mußt +nicht nur immer an dich denken, mußt auch mal an andre denken, wenn es +dir gut gehen soll.“ + +„Siehst du, Pippip,“ ergänzte Stanislaw seine Erzählung, „jedes Ding hat +seine Zeit. Da kommt dann eine Zeit, wo du dir sagen mußt, nun trachte +aber nach etwas anderm. Das ist der Fehler, daß die meisten nicht zur +rechten Zeit sagen können: Nun aber runter von der Ella, sonst kommst du +nicht mehr raus und die Olsche schnappt dich. Und da sagte ich mir, +jetzt mußt du einen Kasten kriegen, und wenn du ihn stehlen sollst, +sonst sitzt du fest.“ + +Als Stanislaw zu dieser Überzeugung gekommen war, ging er wieder zur +Polizei und sagte, daß sein Geburtsschein nicht gekommen sei. + +„Die verfluchten Pollacken,“ sagte der Inspektor, „das machen sie aus +Niedertracht. Wir werden ihnen schon noch die Hölle heiß machen, lassen +Sie nur erst mal die Franzosen in Afrika und die Engländer in Indien und +China die Hände voll Dreck haben, dann werden wir schon was pfeifen.“ + +Stanislaw, den die politische Meinung des Inspektors nicht +interessierte, der aber aus Höflichkeit zugehört, genickt und mit der +Faust auf den Tisch geschlagen hatte, sagte nun: „Wo krieg ich denn nun +mein Seemannsbuch her, Herr Inspektor?“ + +„Haben Sie denn nicht schon mal in Hamburg gewohnt?“ + +„Natürlich. Vor dem Kriege.“ + +„Lange?“ + +„Über ein halbes Jahr.“ + +„Gemeldet gewesen?“ + +„’türlich.“ + +„Welchen Bezirk?“ + +„Hier in diesem Bezirk. Auf diesem Revier.“ + +„Dann gehen Sie nur einmal rasch zur Hauptmeldestelle und lassen Sie +sich einen Meldeauszug geben. Dann kommen Sie damit her und bringen Sie +zwei oder drei Photographien mit, die ich Ihnen stempeln kann.“ + +Stanislaw bekam den Meldeauszug und eilte zurück zu dem Inspektor. Der +Inspektor sagte: „Der Auszug ist richtig, wenn ich nur genau wüßte, daß +Sie auch der sind, der hier im Auszug genannt ist?“ + +„Das kann ich beweisen. Ich kann ja den Segelmacher Andresen, bei dem +ich gearbeitet habe, herbringen. Aber da steht ja ein Wachtmeister, der +mich vielleicht noch kennt.“ + +„Ich? Sie kennen?“ fragte der Wachtmeister. + +„Ja. Ihnen habe ich neun Mark Ordnungsstrafe zu verdanken, die Sie mir +eingebracht haben, wegen einer Prügelei. Damals hatten Sie noch eine +Fliege an der Unterlippe, die Sie jetzt abrasiert haben“, sagte +Stanislaw. + +„Ja–a–a–! Jetzt kann ich mich auf Sie besinnen. Richtig, Sie arbeiteten +bei dem Andresen. Wir hatten ja noch die Geschichte mit Ihnen. Posen +suchte Sie, weil Sie als Junge zu Hause durchgebrannt waren. Wir ließen +Sie dann hier, weil Sie ja hier anständig in Arbeit waren.“ + +„Dann stimmt das alles“, sagte nun der Inspektor. „Jetzt kann ich Ihnen +die Bescheinigung geben und die Photographien stempeln.“ + +Am nächsten Tage ging Stanislaw mit der Bescheinigung zum Amt. + +„Die Bescheinigung stimmt. Der Inspektor bestätigt, daß er Sie +persönlich kennt. Aber. Aber die Reichsangehörigkeit bezweifeln wir +noch. Da steht Deutsche Reichsangehörigkeit. Das müssen Sie uns +beweisen.“ + +Das sagte man ihm auf dem Amt. + +„Ich habe doch in der K. M. gedient und bin am Skagerrak verwundet +worden.“ + +Der Beamte zog die Augenbrauen hoch und machte eine Gebärde, als ob von +dem, was er jetzt sagen wolle, der Weiterbestand der Erde abhängig sei. +„Als Sie in der Kaiserlichen Marine dienten und am Skagerrak verwundet +wurden, wo wir es den scheinheiligen Hunden aber gründlich gegeben +haben, da waren Sie deutscher Reichsangehöriger. Das wird nicht in +Zweifel gestellt. Aber ob Sie heute noch deutscher Staatsangehöriger +sind, das ist von Ihnen zu beweisen. Solange Sie uns das nicht beweisen +können, sind wir nicht in der Lage, Ihnen ein Seefahrtsbuch +auszustellen.“ + +„Wo muß ich denn da hingehen?“ + +„Da müssen Sie zum Polizeipräsidium gehen. Abteilung +Staatsangehörigkeit.“ + + + 38 + +Stanislaw mußte doch wieder nach seinem ehrlichen Handwerk sehen, um +nicht zu verhungern. Da half nichts. Seine Schuld war es +nicht. Arbeit gab es nicht einen Brocken. Alles saugte an der +Arbeitslosenunterstützung. Stanislaw machte keinen Versuch, sie +mitzunehmen. Ehrliches Handwerk war ihm lieber. + +„Es drückt einen so nieder, wenn man immer zwischen Arbeitslosen steht +und dort der paar Pfennige wegen halbe Tage in Reih und Glied anstehen +und jeden Tag hinlaufen muß. Dann schon lieber Schmalmachen nachts auf +der Straße oder aufpassen, ob nicht jemandem die Brieftasche juckt“, +sagte Stanislaw. „Meine Schuld ist es nicht. Hätten die mir ein Buch +gegeben, als ich das erstemal da war, wäre ich längst fort. Ich kriege +schon einen Kasten.“ + +Auf dem Polizeipräsidium fragte man ihn: „Sie sind in Posen geboren?“ + +„Ja.“ + +„Geburtsschein?“ + +„Hier ist die Quittung vom Einschreibebrief. Schicken keinen.“ + +„Die Bescheinigung von dem Inspektor in Ihrem Revier genügt mir. Es ist +nur die Staatsangehörigkeit. Haben Sie für Deutschland optiert?“ + +„Ob ich was habe?“ + +„Ob Sie für Deutschland optiert haben? Ob Sie, als die polnischen +Provinzen abgegeben werden mußten, vor einer deutschen zuständigen +Behörde die Erklärung persönlich zu Protokoll gegeben haben, daß Sie +deutscher Staatsangehöriger bleiben wollen?“ + +„Nein“, sagte Stanislaw. „Das habe ich nicht getan. Davon habe ich gar +nichts gewußt, daß man das tun müsse. Ich habe geglaubt, wenn ich +Deutscher einmal bin und nichts andres werde, daß ich dann auch +Deutscher bleibe. Ich war doch in der K. M. und habe Skagerrak +mitgekämpft.“ + +„Damals waren Sie Deutscher. Damals gehörte die Provinz Posen noch zu +Deutschland. Wo waren Sie denn, als die Optionen gemacht werden mußten?“ + +„Auf großer Fahrt. Draußen.“ + +„Da hätten Sie zu einem deutschen Konsul gehen müssen und dort Ihre +Option zu Protokoll geben müssen.“ + +„Aber ich habe doch gar nichts davon gewußt“, sagte Stanislaw. „Wenn man +draußen fährt und hat seine verfluchte schwere Arbeit, dann hat man +keine Zeit, an solche dummen Sachen zu denken.“ + +„Hat Ihnen denn Ihr Kapitän nichts gesagt?“ + +„Ich fuhr einen Dänen.“ + +Der Beamte dachte eine Weile nach und sagte dann: „Da ist nichts mehr zu +wollen. Sind Sie vermögend? Haben Sie Landbesitz oder Hausbesitz?“ + +„Nein, ich bin Seemann.“ + +„Ja, wie gesagt, da ist nichts mehr zu wollen. Alle Fristen, sogar die +Versäumungsfristen sind abgelaufen. Und Sie können sich nicht einmal +berufen darauf, daß Sie irgendwo durch höhere Gewalt gehindert worden +seien, zu optieren. Sie waren nicht schiffbrüchig in irgendeinem Lande, +das außerhalb des üblichen Verkehrs liegt. Sie konnten zu jeder Zeit +einen deutschen Konsul oder den Konsul einer andern Macht, der uns +vertrat, aufsuchen. Die Aufforderung zur Option ist in der ganzen Welt +bekanntgemacht worden, und das ist wiederholt geschehen.“ + +„Wir kommen nicht dazu, Zeitungen zu lesen. Deutsche sieht man nicht, +und andre versteht man nicht. Und wenn man eine Zeitung wirklich mal +kriegt, da steht es dann nicht drin, weil das nicht in jede Nummer +eingesetzt wird.“ + +„Ich kann nichts machen, Koslowski. Es tut mir leid. Ich möchte Ihnen ja +gerne helfen. Aber ich habe nicht die Vollmachten. Sie können sich noch +an das Ministerium wenden. Aber das dauert lange, und ob Sie Erfolg +haben, ist noch sehr fraglich. Die Polen kommen uns in keiner Weise +entgegen. Warum sollen wir dann ihre Stuben rein fegen. Vielleicht kommt +es noch so weit, daß sie in Polen alle, die für Deutschland optiert +haben, ausweisen, und dann tun wir das natürlich auch.“ + +Überall erzählte man dem armen Stanislaw politische Ansichten, anstatt +ihm ernsthaft zu helfen. Wenn ein Beamter jemand nicht helfen will, so +sagt er, er möchte ja so gerne helfen, aber er habe keine Macht und +keine Vollmachten. Wenn man aber laut mit einem Beamten spricht oder ihn +nachdenklich ansieht, dann kommt man ins Gefängnis wegen Beleidigung +eines Staatsbeamten und wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt. Dann +ist er plötzlich der Staat selbst, ausgerüstet mit allen Vollmachten und +allen Gewalten, sein Bruder spricht das Urteil, und sein andrer Bruder +schließt einen in die Zelle oder schlägt einem den Knüppel über den +Schädel. Was ist der Wert des Staates, wenn er dir nicht helfen kann in +deinen Nöten? + +„Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, Koslowski,“ sagte der Beamte, +während er mit dem Stuhle rückte, „gehen Sie zum polnischen Konsul. Sie +sind Pole. Der polnische Konsul muß ihnen einen polnischen Paß +ausstellen. Dazu ist er verpflichtet. Sie sind in Posen geboren. Wenn +Sie den polnischen Paß haben, dann können wir eine Ausnahme hier machen +und Ihnen, weil Sie hier ortsansässig sind und auch schon früher hier +gewohnt haben, ein deutsches Seemannsbuch ausstellen. Das ist alles, was +ich Ihnen raten kann.“ + +Stanislaw ging am nächsten Tage zum polnischen Konsul. + +„Sie sind in Posen geboren?“ + +„Ja. Meine Eltern wohnen noch da.“ + +„Haben Sie in Posen oder in einer der Provinzen, die von Deutschland, +Rußland oder Österreich abgetreten werden mußten, zur Zeit der Abtretung +gewohnt?“ + +„Nein.“ + +„Auch nicht zwischen neunzehnhundertzwölf und dem Tage der Abtretung?“ + +„Nein. Ich fuhr auf See.“ + +„Was Sie taten und wo Sie fuhren, will ich jetzt noch nicht wissen.“ + +„Stanislaw, da war der richtige Zeitpunkt, ihn über die Barriere zu +ziehen.“ + +„Weiß ich, Pippip, aber ich wollte doch erst den Paß haben, dann hätte +ich ihm eine auf die Nase gesetzt, eine Stunde ehe mein Schiff abging.“ + +„Haben Sie bei einer polnischen Behörde innerhalb Polens, die hierfür +zuständig war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist persönlich zu +Protokoll gegeben, daß Sie Pole bleiben wollen?“ + +„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich in den letzten Jahren nicht +in Posen oder in Westpreußen war.“ + +„Das ist keine Antwort auf meine klare Frage. Ja oder nein?“ + +„Nein.“ + +„Haben Sie vor einem rechtmäßig bestallten polnischen Konsul im +Auslande, der ausdrücklich bevollmächtigt war, Willenserklärungen +solcherart anzunehmen, persönlich zu Protokoll gegeben, daß Sie +polnischer Staatsangehöriger bleiben wollen?“ + +„Nein.“ + +„Was wollen Sie denn dann hier? Sie sind Deutscher. Scheren Sie sich zu +den deutschen Behörden und belästigen Sie uns ja nicht mehr.“ + +Stanislaw erzählte das nicht kochend, sondern mehr traurig, weil er aus +Gründen andrer Art dem Konsul nicht seine Meinung nach Seemannsart hatte +sagen können. + +„Sieh mal einer an,“ sagte ich, „was diese neuen Staaten sich leisten. +Das ist schon allerhand. Die werden es noch weit bringen. Du solltest +nur mal sehen, wie weit es Amerika auf diesem Gebiete schon gebracht +hat, und wie es sich abrackert, es noch viel weiter zu bringen und das +muffigste und verstaubteste preußisch-kaiserliche Beamtenhirnchen an +Muffigkeit und Beschränktheit zu übertrumpfen. Gehe mal nach Deutschland +oder nach Polen oder nach England oder nach Amerika und hilf mal deiner +Ella mit Rotwein und Zimt und Nelken aus der Appelsoße, da hast du +gleich ein Jahr weg, daß es nur so hagelt. Der Staat darf keinen +Menschen verlieren. Wenn du aber ausgewachsen bist, dann will dich +keiner haben. Du hast ja kein Vermögen, keinen Landbesitz, keinen +Hausbesitz. Da geben die Staaten Millionen an Dollar aus, halten +Tausende von Vorträgen, machen Filme und drucken Bücher, damit die +Jungen nicht in die Fremdenlegion gehen sollen. Aber wenn ein Junge +kommt und hat keinen Paß, geben sie ihm einen Tritt in den Hintern. Dann +muß er in die Fremdenlegion oder, was viel schlimmer ist, aufs +Totenschiff. Das Volk, das zuerst die Pässe aufheben und den Zustand +wieder herbeiführen wird, der vor dem Freiheitskriege war, und der +niemand schadete und allen das Leben erleichterte, das Volk, das zuerst +diese Tat vollführt, wird den Toten der Totenschiffe das Leben +zurückgeben und den Besitzern der Totenschiffe den Spaß verderben.“ + +„Möglich“, sagte Stanislaw. „Von der Yorikke kommt keiner mehr runter. +Wie es heute ist, nicht. Er hat nur eine Aussicht, wenn sie abrutscht, +und man rutscht nicht mit ab. Aber so sicher ist das auch nicht, man +kann leicht auf einer andern Yorikke landen.“ + +Stanislaw ging nun wieder zum Polizeipräsidium, Abteilung +Staatsangehörigkeit. + +„Der polnische Konsul nimmt mich nicht auf.“ + +„Das war vorauszusehen. Was machen wir nun, Koslowski. Sie müssen doch +Papiere haben, sonst kriegen Sie kein Schiff.“ + +„Sicher, Herr Kommissar.“ + +„Gut, ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, und da gehen Sie +morgen früh um zehn zum Paßamt. Ist hier gleich dabei, Zimmer +dreihundertvierunddreißig. Da kriegen Sie dann einen Paß. Mit dem Paß +holen Sie sich dann Ihr Seemannsbuch.“ + +Stanislaw war froh, und die Deutschen hatten bewiesen, daß sie Leute +waren, die noch am wenigsten Bureaukraten genannt werden konnten. Er +ging zum Paßamt, gab seine Bescheinigung ab und seine Photographien, +unterschrieb seinen schönen Paß, bezahlte vierzig Trillionen Mark und +bekam seinen Paß. + +Alles stimmte in dem Paß. Es war ein gutes Papier. Stanislaw hatte nie +in seinem ganzen Leben je ein so gutes Papier gehabt. Damit konnte er +direkt nach New York fahren, so gut war das Papier. Er hätte nicht +einmal nach Ellis Island gebraucht. + +Alles stimmte, Name, Geburtsdatum, Beruf, Geburtsort. Was ist denn das? +„Staatenlos.“ Macht nichts, brauche ich nicht. Kriege ein Seemannsbuch. +Und das, was bedeutet das? „Nur für das Inland gültig.“ Wahrscheinlich +denken die Beamten, daß man auch in der Lüneburger Heide mit Dampfern +fahre, oder daß man auf Elbkähnen rudern wolle. + +Wieder ein Tag mehr, und Stanislaw ist auf dem Seemannsamt. + +„Seefahrtsbuch? Können wir nicht ausstellen. Sie haben ja +keine Staatsangehörigkeit. Und die Staatsangehörigkeit, die +Heimatsberechtigung ist für das Seefahrtsbuch die Hauptsache, der +übrigen Sachen wegen kann man auch mit der Invalidenkarte auskommen.“ + +„Wie soll ich denn da ein Schiff kriegen? Sagen Sie mir das bloß.“ +Stanislaw war zu Ende mit seiner Weisheit. + +„Sie haben ja einen Paß, da kriegen Sie jedes Schiff. Es geht ja aus dem +Paß hervor, wer Sie sind, was Sie sind, und daß Sie hier in Hamburg +wohnen. Sie sind doch ein alter befahrener Mann, Sie kriegen spielend +ein Schiff. Kriegen jeden Ausländer, verdienen Sie mehr als auf +deutschen Schiffen bei diesem Tiefstand der Mark.“ + +Stanislaw bekam ein Schiff. Einen schönen Holländer. Gute Heuer. Als der +Heuerbas den Paß sah, sagte er: „Feine Sache“, und als der Skipper den +Paß sah, sagte er: „Gute Papiere, das habe ich gern; wir wollen jetzt +zum Konsul gehen, anmustern und registrieren, Akten verlesen.“ + +Der Konsul registrierte und trug den Namen Stanislaw Koslowski ein. Dann +sagte er: „Seemannsbuch?“ + +Und Stanislaw antwortete: „Paß.“ + +„Ebensogut“, erwiderte der Konsul. + +„Paß ist ganz neu, hier vom Präsidium, zwei Tage alt. Alles in Ordnung. +Der Mann ist gut.“ Das sagte der Skipper und zündete sich eine Zigarre +an. + +Der Konsul nahm den Paß, blätterte darin herum, nickte wohlgefällig, +weil es ein Meisterwerk gutgeölter Bureaukratie war. Solche Dinge +behagten dem Konsul. + +Plötzlich hielt er inne und erstarrte zu einer Eiskruste. + +„Können nicht mustern“, sagte er. + +„Was?“ rief Stanislaw. + +Und „Was?“ rief der Skipper und ließ vor Erstaunen die Zündholzschachtel +auf den Boden fallen. + +„Mustere ich nicht an“, sagte der Konsul. + +„Warum denn nicht? Ich kenne ja den Beamten vom Präsidium, der die +Unterschrift gegeben hat, persönlich.“ Der Kapitän wurde ungeduldig. +„Der Paß ist durchaus einwandfrei. Aber ich kann nicht mustern. Er hat +ja keine Staatsangehörigkeit“, ereiferte sich der Konsul. + +„Das ist mir ganz Wurscht“, sagte darauf der Skipper. „Ich will den Mann +haben, mein Erster kennt ihn, und die Schiffe, auf denen der Mann +gefahren hat, sind Topp. Solche Leute, wie den hier, will ich um mich +haben.“ + +Der Konsul hatte das Paßbüchlein zugeklappt und patschte sich damit auf +die offne linke Hand. + +Er sagte nun: „Sie wollen den Mann gern haben, Herr Kapitän? Wollen Sie +ihn adoptieren?“ + +„Unsinn!“ bellte der Skipper. + +„Übernehmen Sie persönlich die Verantwortung dafür, daß Sie den Mann +wieder loswerden können?“ + +„Verstehe ich nicht“, brummte der Skipper. + +„Der Mann darf in keinem Lande landen. Er darf an Land gehen, solange +das Schiff im Hafen liegt. Wenn das Schiff fort ist, und er wird +aufgegriffen, hat die Kompanie oder Sie, Kapitän, den Mann wieder aus +dem Lande herauszubringen. Wo wollen Sie ihn hinbringen?“ + +„Er kann doch hier nach Hamburg jederzeit zurück“, sagte der Skipper. + +„Kann. Kann. Nein, er kann nicht. Deutschland kann seine Aufnahme +verweigern und gibt ihn der Kompanie zurück oder Ihnen. Deutschland +braucht ihn nicht mehr aufzunehmen, sobald er auch nur die Grenze +übertreten hat. Er hat einen Weg. Er kann sich eine Bescheinigung +verschaffen, daß er jederzeit nah Hamburg oder Deutschland zurück dürfe +und da wohnen darf. Aber eine solche Bescheinigung kann nur das +Ministerium ausstellen, und das Ministerium wird es kaum so ohne +weiteres tun, weil diese Bescheinigung gleichbedeutend ist mit deutscher +Staatsbürgerschaft. Und dann kommt es wieder zu dem Ausgangspunkt +zurück. Könnte er eine Staatsbürgerschaft erwerben, dann hätte er sie, +er ist ja Deutscher, ist in Posen geboren. Aber weder Deutschland, noch +Polen erkennen ihn an. Nur wenn Sie oder Ihre Kompanie volle +Verantwortung für den Mann übernehmen –“ + +„Wie kann ich denn das?“ rief der Kapitän unwillig aus. + +„Dann kann ich den Mann nicht anmustern“, sagte der Konsul ruhig, strich +den Namen aus dem Buche wieder aus und händigte Stanislaw den Paß ein. + +„Hören Sie,“ der Skipper drehte sich noch einmal um und sagte zu dem +Konsul, „hören Sie, können Sie denn keine Ausnahme machen? Ich möchte +den Mann gern haben. Er ist ein vorzüglicher Rudermann.“ + +„Tut mir leid, Kapitän, dazu reichen meine Vollmachten nicht aus. Ich +habe mich an meine Vorschriften zu halten. Ich bin nur ein Diener.“ + +Der Konsul hob die Schultern hoch bis zu den Ohren, als er das sagte, +seine Arme gingen mit hoch, und die Unterarme hingen nun rechtwinklig +und wackelnd im Ellbogengelenk. Das sah aus, als ob man ihm die Flügel +gerupft und gestutzt hätte. + +„Verfluchter Schietkram, verfluchter“, schrie der Skipper, warf seine +Zigarre wütend auf den Fußboden, trampelte wie wild darauf rum, ging zur +Tür und warf die Tür krachend zu. + +Draußen auf dem Korridor stand Stanislaw. + +„Was mache ich denn bloß mit dir, Junge“, sagte der alte Skipper. „Ich +möchte dich ja so gerne mitnehmen. Aber nun kannst du nicht mal mehr +Notmusterung machen, der Konsul kennt deinen Namen. Da hast du zwei +Gulden, mach’ dir einen vergnügten Abend. Muß mich nach einem andern A. +B. umsehen.“ + +Skipper und schöner Holländer waren weg. + + + 39 + +Aber ein Schiff mußte Stanislaw unbedingt haben. + +„Ehrliches Handwerk ist ganz gut, für eine Weile. Aber nicht zu lange. +So eine Kiste oder so ein Sack, das tut ja niemand weh. Das sind +Geschäftsunkosten in einem großen Hause. Die Kiste kann ja auch bei +Verladung in die Brüche gehen. Aber man wird das ehrliche Handwerk +leid.“ + +Ich sagte nichts darauf und ließ ihn ruhig reden. + +„Ja, man wird es wahrhaftig leid,“ setzte Stanislaw fort, „man kriegt +das Gefühl, als ob man jemand auf der Tasche liegt. Eine Zeit, ja, aber +dann wird es einem so widerlich, immer auf der Tasche zu liegen. Man +will doch auch was tun, was schaffen. Sehen will man, wie das rennt, was +man arbeitet. Siehst du, Pippip, so am Ruder stehen, in schwerem Wetter, +und den Kurs halten ... Das ist eine Sache, da kann das ganze ehrliche +Handwerk nicht mit. Verflucht und zugenäht, nein, da kann es nicht mit. +Da stehst du und stehst, und der Kasten will herumhauen und rauswichsen +aus dem Kurs. Aber da hältst du ihn an der Kandare. Sieh mal so.“ + +Stanislaw packte mich beim Gürtel und versuchte mich herumzuwitschen, +als ob er das Ruderrad in der Hand hätte. + +„Du, ich bin kein Ruder, laß los!“ + +„Und dann, wenn du es durchhältst im schweren Wetter, und es rutscht dir +noch nicht einmal einen viertel Strich ab, Pippip, ich kann dir sagen, +da könnte man schreien und brüllen vor lauter Vergnügen, daß man diesen +Riesenkasten so an der Schlippe halten kann, daß er tun muß, wie du +willst, wie ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee. Und wenn dann der +Erste oder gar der Skipper auf die Rose guckt und sagt: ‚Kos’ki, Junge, +Sie können aber mal Kurs halten, verflucht feine Arbeit, könnte ich +selber nicht besser machen. Weiter so, dann halten wir die Karline gut +in der Zeit!‘ ja, Mensch, Pippip, da lacht dir das Herz, da könnte man +gleich so wegheulen und natschen, daß dir der Rotz die Backen +runtertrippt, vor lauter Vergnügen. Siehst du, das kann das ehrliche +Handwerk nicht und nie. Lachst ja auch, wenn dir ein Schnapp glückt, +aber lachst doch nicht so, lachst mehr scheinheilig und drehst dich +immer um dabei, ob nicht schon einer hinter dir her ist.“ + +„Ich habe ja an dicken Eimern noch nicht gerudert, aber doch schon an +kleinen, und ich denke, du hast recht“, sagte ich. „Aber beim Anpinseln +geht es einem auch so. Wenn dir eine grüne oder braune Kante so recht +fein glückt, ohne zu klecksen und ohne auszurutschen, da hat man auch +seinen Spaß.“ + +Stanislaw schwieg eine Weile, spuckte über die Reeling, schob sich ein +neues Dickerchen zwischen die Zähne, den er vor einer halben Stunde von +einem Händler, der mit einem Boot herangepullt war, gekauft hatte und +sagte: „Wirst vielleicht lachen. Kohlenschleppen, wenn man eigentlich A. +B. ist, und ein besserer A. B. als diese Räuber hier, ist ja vielleicht +eine Schmach. Aber doch nicht. Hat auch seine Freuden. Auf so einem +Kasten ist alles wichtig. Wenn nicht geschleppt wird, kann der Heizer +keinen Dampf halten, und wenn der keinen Dampf hält, steht die Karre wie +eine Ramme im Lehm. Und mal so fünfhundert Schaufeln in einem Zug auf +zehn Schritt Entfernung durch die Schachtluke pfeffern und einen Vorrat +hinhauen, daß der Heizer kaum noch treten kann, bloß um mal zu sehen, +was du schaffen kannst, wenn du mal rangehst an die Ella, und du siehst +dir den Berg an, den du so auf einen Sitz hingehauen hast, da lacht dir +auch das Herz im Leibe. Du könntest den Berg wahrhaftig abknutschen vor +Vergnügen, wenn er da so dick aufgeschichtet daliegt und dich so +verwundert anglubscht, weil er doch eben noch oben in einem Bunker war +und nun mit einemmal hier vor den Kesseln liegt. Nein, an Arbeit, an +gesunde Arbeit, kann das schönste ehrliche Handwerk nicht ran. + +Und warum macht man das ehrliche Handwerk überhaupt? Weil man keine +Arbeit hat, weil man keine kriegt. Mußt doch was tun, kannst doch nicht +den ganzen geschlagenen Tag im Bett liegen oder dich in den Straßen +rumtreiben, wirst ja ganz vertattelt im Kopf.“ + +„Na und was dann, als du den Holländer nicht kriegtest?“ fragte ich. + +„Arbeit mußte ich haben, und ein Schiff mußte ich haben, weil ich sonst +verrückt geworden wäre. Den guten Paß, das feine Papier, verkaufte ich +für Dollar. Dann platzte wieder ein Sack, und ich hatte ein paar +Silberlinge in der Hand. Machte mit ein paar dänischen Fischern ein +saftiges Spritgeschäft, das ich ihnen durch den Zoll brachte, na und da +hatte ich ja feine Pinke. + +Ich mich in den Zug gesetzt und runter nach Emmerich. Komme auch glatt +rüber. Drüben aber, als ich mir eine Karte nach Amsterdam kaufen will, +werde ich geschnappt, und nachts bringen sie mich über die Grenze und +schieben mich rüber.“ + +„Was?“ fragte ich. „Du willst doch nicht etwa sagen, daß die Holländer +Leute nachts über die Grenze bringen, ganz heimlich?“ + +Ich wollte hören, wie es Stanislaw ergangen war. + +„Die? Die?“ sagte Stanislaw, und streckte seinen Kopf weit vor und +bohrte mich fest mit seinen Augen. „Die machen noch ganz andre Sachen. +Da ist jede Nacht an den Grenzen das schönste Austauschgeschäft mit +Menschen. Die Deutschen schleppen ihre lästigen Ausländer und +Bolschewisten über die holländische, belgische, französische und +dänische Grenze, und das machen die Holländer, die Belgier, die +Franzosen, die Dänen. Ich bin sicher, die Schweizer, die Tschechen, die +Polen machen es genau ebenso.“ + +Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Kann ich nicht glauben. Das ist ganz +ungesetzlich.“ + +„Aber sie machen’s. Sie haben es doch mit mir gemacht, und ich habe an +der Grenze und in Holland ein paar Dutzend getroffen, mit denen sie es +von allen Seiten aus gemacht hatten. + +Was wollen Sie denn tun? Totschlagen und eingraben können sie doch die +Leute nicht. Sie haben ja nichts verbrochen. Haben bloß keinen Paß und +können keinen kriegen, weil sie nicht geboren sind oder nicht optiert +haben. Jedes Land versucht, seine Paßlosen und Staatenlosen loszuwerden, +weil die Leute ihnen immer wieder Scherereien machen. Wenn sie mit den +Pässen aufhören, hört diese Warenverschiebung auch auf. Also, ob du es +glaubst oder nicht, mit mir haben sie es getan.“ + +Stanislaw ließ sich aber nicht einschüchtern weder mit der Drohung +Arbeitshaus, noch mit der Drohung Gefängnis, noch mit der Drohung +Internierung. Er ging in derselben Nacht wieder rüber nach Holland, +machte es klüger und kam nach Amsterdam. Er kriegte einen Italiener, ein +ganz schmachvolles Totenschiff, und ging mit ihm nach Genua. Dort +segelte er achtern raus, kriegte wieder ein Totenschiff, diesmal einen +unmittelbaren Leichenmacher, und ging mit ihm aufs Riff. Er, mit noch +ein paar andern, überlebte die Leichen, strolchte sich bettelnd durch zu +einem andern Hafen und kam über ein andres Totenschiff, wo er infolge +einer gräßlichen Schlägerei abkanten mußte, auf die Yorikke. + +Wo bleibt er? Wo bleibe ich? Wo bleiben alle die Toten eines Tages? Am +Riff. Früher oder später. Einmal trifft es. Man kann nicht ewig +Totenschiffe fahren. Man muß die Fahrerei eines Tages doch bezahlen, ob +man noch soviel Glück hat. Und man muß immer auf ein Totenschiff. Kein +andrer Ausweg ist einem geblieben. Das feste Land ist mit einer +unübersteigbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen sind, +ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. Es +ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines +Sinnes entwickeln will und muß, dem einzelnen Menschen, der nicht +numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit kühler +Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch kommen +müssen. Vorläufig aber hat Cäsar Kapitalismus an diesem Mord noch kein +wesentliches Interesse, weil er den Kehricht, der über die +Zuchthausmauern geworfen wird, noch gebrauchen kann. Und Cäsar +Kapitalismus läßt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht. +Auch der Kehricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch +seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre, +unverzeihliche Sünde. + +„In der Bunk über mir,“ sagte ich eines Tages zu Stanislaw, „da ist +einer verreckt, wurde mir erzählt. Weißt du was davon, Lawski?“ + +„Freilich, weiß ich davon. Wir waren ja sozusagen Brüder. Er war ein +Deutscher. War aus Mülhausen im Elsaß. Seinen richtigen Namen weiß ich +nicht. Kümmert mich auch nicht. Er sagte, er hieße Paul. Gerufen wurde +er Franzos oder French eigentlich. War Kohlschlepp. Er hat mir mal in +einer Nacht, als wir zusammen im Achterbunk saßen und er wie ein kleiner +Junge heulte, erzählt, was mit ihm los war.“ + +Paul war in Mülhausen geboren und hatte Kupferschmied, glaube ich, +gelernt in Straßburg oder in Metz. Ich habe das verwechselt, weil es nur +so nebenbei war. + +Er ist dann auf die Wanderschaft gegangen nach Frankreich und Italien. +In Italien war er interniert, als der Dreck da losging, oder warte mal, +nein, es war anders. Er war in der Schweiz gewesen als es losging, hatte +kein Geld, wurde rübergeschoben und eingezogen. Dann wurde er auf einem +Patrouillengang von den Italienern gefangengenommen. Er brach aus, stahl +sich Zivilsachen, grub seine feldgrauen Lumpen ein und trieb sich in +Mittelitalien und Süditalien herum. Er kannte ja die Gegenden, weil er +da gearbeitet hatte. + +Endlich wurde er erwischt. Daß er ausgekniffener Kriegsgefangener war, +wußte man nicht, man hielt ihn für einen Deutschen, der sich da während +der ganzen Zeit herumgetrieben hatte, und so kam er in ein +Internierungslager für Zivilgefangene. So war die Geschichte. + +Ehe noch die Zivilgefangenen ausgetauscht wurden, war er schon wieder +ausgebrochen und walzte rauf durch die Schweiz. Er wurde abgeschoben +nach Deutschland und arbeitete da in einer Brauerei. Dann kam er in +revolutionäre Geschichten rein, wurde verhaftet und mit Landesverweis +bedacht als Franzose. Die Franzosen nahmen ihn nicht an, weil er schon +ewige Zeiten fort war von Mülhausen und weder für Frankreich, noch für +Deutschland optiert hatte. Was kümmert man sich als Arbeiter um solchen +Quatsch. Da hat man andres zu denken und zu sorgen, besonders wenn man +keine Arbeit hat und rumlaufen muß wie verrückt, um wenigstens was für +den Magen zu schaffen. + +Aber er wurde wegen der bolschewistischen Sachen, von denen er gar +nichts verstand, landesverwiesen. Er kriegte zweimal vierundzwanzig +Stunden Zeit, sich zu verduften, oder sechs Monate Arbeitshaus. Kam er +raus aus dem Arbeitshaus, so bekam er wieder zwei Tage Zeit, und war er +nicht weg in der Zeit, dann blühte ihm wieder Arbeitshaus oder Gefängnis +oder Internierungslager. Arbeitshaus haben sie ja nicht mehr oder nennen +es nicht mehr so, wie er mir sagte. Aber sie haben dafür ähnliche +Einrichtungen. Die Brüder finden immer eine neue Schikane, wenn sie mit +einer alten aufräumen aus irgendwelchen Gründen. Was wissen die von +menschlichen Gründen? Da gibt es bloß Verbrecher und Nichtverbrecher. +Wer nicht beweisen kann, daß er bestimmt kein Verbrecher ist, der ist +eben einer. + +Also raus mußte er. Er war ein halbes Dutzend mal schon beim +französischen Konsul gewesen, aber der wollte nichts von ihm wissen, +schmiß ihn raus und verbot ihm das Betreten des Konsulats. + +Paul walzte nun nach Luxemburg, machte die Grenzen und kam nach +Frankreich. Als er geschnappt wurde, sagte der Esel, er sei Franzose. Es +blieb ihm ja nichts weiter übrig. Es wurde nachgeforscht, und die fanden +raus, daß er sich auf diesem Wege die französische Staatsangehörigkeit +in ungesetzlicher Weise habe erschleichen wollen. Das ist ein großes +Verbrechen. Ein saftiger Einbruch ist lange kein so großes Verbrechen. +Die hätten ihm ein paar Jahre aufgeknackst. + +Na, kurz und gut, er kriegte ein Mauseloch, um zu entwischen. +Anmusterung für die Fremdenlegion. Da konnte er sich ja ein Zehntel +französische Staatsangehörigkeit verdienen, wenn er es aushielt. + +Aber er hielt es nicht aus und mußte kippen. + +Wie er mir erzählte, ist das ja nun so mit dem Abbrennen. Wo willst du +hin? Rüber auf spanisches Gebiet? Gut. Wenn nur der Weg nicht so weit +wäre. Aber da kommen Marokkaner, die sich das Kopfgeld verdienen wollen. +Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, wenn man sie um ein paar +Datteln oder um einen Schluck Wasser anbettelt. Und zurück als +Deserteur, dann schon lieber mit einem Stück spitzen Holz erstechen. + +Dann wieder trifft man Marokkaner, die ziehen einen aus bis aufs Hemd +und lassen einen liegen im Sonnenbrand und im Sande. + +Dann trifft man welche, die rauben einen nicht aus, aber schlagen einen +tot oder martern einen tot, weil er von der verhaßten Legion ist oder +von den verhaßten Christenhunden einer ist. + +Da sind auch welche, die verschleppen einen und verkaufen einen tief ins +Innere als Sklave zu den Göpelmühlen. Auch ein Vergnügen, lieber die +Kaldaunen aus dem Leibe reißen. + +Aber der Junge hatte Glück, ein ganz verfluchtes Glück. Er traf +Marokkaner an, die ihn erschlagen wollten oder an den Pferdeschwanz +binden und abhäuten. Aber er konnte ihnen verständlich machen, noch +rechtzeitig genug, denn sie lassen sich für gewöhnlich in keine +Diskussionen ein, daß er Deutscher sei. Na, die Deutschen sind ja auch +Christenhunde, aber sie haben gegen die Franzosen gekämpft, das wird +ihnen hoch angerechnet, wie man in Spanien und in Mexiko es den +Deutschen hoch anrechnet, daß sie fünfzigtausend Amerikanern unter die +Erde verholfen haben. Bei den Marokkanern haben aber die Deutschen noch +einen andern Stein im Brett, sie haben an der Seite der Türken, an der +Seite der Mohammedaner gegen die Engländer und Franzosen gekämpft, und +sie haben die mohammedanischen Glaubensgenossen, die auf seiten der +Engländer und Franzosen kämpften und von den Deutschen gefangen wurden, +nicht als Kriegsgefangene, sondern als dreiviertel Freunde behandelt. +Das weiß jeder, der Allah und den Propheten anruft, ob er in Marokko +wohnt oder in Indien. + +Es ist nur so ungemein schwer, einem nichttürkischen Mohammedaner das +begreiflich zu machen, daß einer Deutscher ist. Er denkt sich die +Deutschen ganz anders aussehend als die verhaßten Franzosen und +Engländer, und wenn er nun sieht, daß der Deutsche auch nicht viel +anders aussieht, so glaubt er es ihm nicht und denkt, der Mann will ihn +beschwindeln. Wenn er nun gar als Deutscher in der Fremdenlegion dient, +um die Mohammedaner dort zu bekämpfen, so glaubt es ihm selbst der nicht +mehr, der vielleicht zuerst ihn für einen Deutschen gehalten hätte. Denn +ein Deutscher kämpft nicht auf seiten der Franzosen gegen die +Mohammedaner, die um ihre Freiheit kämpfen, weil die Deutschen das +selbst wissen, was es bedeutet, wenn man um die Freiheit und +Unabhängigkeit seines Landes gegen Franzosen und Engländer zu kämpfen +hat. + +Wie es geschah, niemand kann es sagen. Durch ein unbegreifliches Gefühl, +das in den Marokkanern plötzlich auftauchte, glaubten sie ihm, daß er +Deutscher sei, und daß er nie gegen Marokkaner gekämpft habe. Sie nahmen +ihn auf, pflegten ihn, fütterten ihn gut und gaben ihn von Sippe zu +Sippe und von Stamm zu Stamm weiter, bis er an der Küste landete und +dort mit den Pflaumenmushändlern auf die Yorikke gebracht wurde. + +Der Skipper nahm ihn mit Freuden auf, weil er einen Kohlschlepp +brauchte, und Paul war glücklich, unter uns zu sein. + +Aber nach zwei Tagen schon, obgleich er mit Rosten kein Pech hatte und +die Kohlen damals gut zur Hand lagen, sagte er: „Ich wollte, ich hätte +die Fremdenlegion nicht gekippt. Das hier ist zehnmal schlimmer als die +böseste Kompanie in unsrer Division. Wir lebten demgegenüber ja wie die +Fürsten. Hatten menschliches Essen und menschliche Quartiere. Ich gehe +hier in die Wicken.“ + +„Mach keine solchen Töne, Paul“, sagte Stanislaw, um ihn aufzurichten. +Aber Paul, der vielleicht auch durch die Strapazen der Flucht schon +etwas abgekriegt hatte, fing an Blut zu spucken. Immer mehr. Dann kotzte +er Blut in großen Fladen. Und eines Nachts, als ich ihn ablösen kam, lag +er auf einem Kohlenhaufen oben im Bunker im dicken Blut. Tot war er +nicht. Ich schleife ihn ins Quartier und packte ihn in seine Bunk da +oben. Früh als ich ihn wecken kommen wollte, war er tot. Um acht kam er +über Bord. Der Skipper nahm nicht mal die Mütze ab, er tippte bloß so an +den Rand. Eingewickelt wurde er auch nicht. Er hatte nur Lumpen, die vom +Blut verkleistert waren. Ans Bein kriegte er einen dicken Klumpen Kohle. +Ich glaube, selbst diesen Klumpen Kohle gönnte ihm der Skipper nur mit +schiefem Maul. Ins Journal ist Paul nicht gekommen. Luft, verwehte Luft. + + + 40 + +Paul war nicht der einzige Schlepp, den die Yorikke verschluckt und +verdaut hat, während Stanislaw drauf war. Da war der Kurt, ein Junge von +Memel, auch nicht optiert. Zu der Zeit trieb er sich in Australien +herum, wurde aber nie erwischt, um interniert zu werden. Schließlich +kriegte er namenloses Heimweh und mußte nach Deutschland. Irgendwo in +Australien hatte er was ausgefressen. Eine Streikbrechergeschichte mit +Streikbrecherverholzen, und einer von diesen Lumpen war liegengeblieben +und nicht mehr aufgestanden. Kurt konnte nicht zum Konsul gehen, um auf +treuem Wege wegzukommen, denn wenn es sich um Streik handelt oder um +Geschichten, die nach Kommunismus riechen, dann bocken die Konsuln +gleich alle zusammen, auch wenn sie ein paar Monate vorher sich noch +anspucken wollten. Der Konsul hätte ihn sicher der Polizei verwinkt, und +Kurt hätte seine zwanzig Jahre machen müssen. Ein Konsul ist immer auf +seiten des Staatsgedankens. Des Staatsgedankens, dieses großen +erlauchten Wortes, das nichts als Unfug stiftet und die Menschen zu +Nummern macht. Und diese Staatsidee ist so stark in den Konsuln +entwickelt, daß sie zugunsten der Staatsidee ihre eignen Söhne +verkaufen, nur damit der Staat recht behalten kann. Streik ist ja gegen +den Staat gerichtet. Manchmal, wenn er ein treuer und nicht ein +geschobener Streik ist. + +Es gelang Kurt, ohne Papiere bis nach England zu kommen. Aber England +ist eine böse Sache. Eine Insel ist immer bös. Man kann rauf, aber nicht +mehr runter. Kurt konnte nicht mehr runter. Er mußte zum Konsul. Der +Konsul wollte wissen, warum er von Brisbane in Australien fort sei, +warum er dort nicht den deutschen Konsul aufgesucht habe, und warum er +auf illegalen Wegen nach England gekommen sei. + +Kurt konnte das nicht erzählen und wollte es auch nicht erzählen, weil +ja England für ihn auch nicht sicherer war als Australien. Die Engländer +hätten ihn sofort an Australien zur Aburteilung ausgeliefert. + +Auf dem Konsulat in London oder in Southampton oder in welcher Stadt in +England es sein mochte, bekam Kurt in dem Bureau des Konsuls, wo alles +an die Heimat erinnerte, ein so übermächtiges Heimwehgefühl, daß er +bitterlich zu weinen anfing. Darauf schrie ihn der Konsul an, er möge +hier kein Theater machen, sonst schmisse er ihn raus, solche Vagabunden +kenne er schon zur Genüge. Kurt gab ihm die einzige richtige Antwort, +die ein echter Junge für solche Gelegenheiten auf Lager hält, und um der +Einladung den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ergriff er einen +Sandstreuer oder was es war und feuerte es dem Konsul an den Kopf. Der +fing gleich an zu bluten und an zu schreien, aber Kurt war raus wie der +Teufel. + +Er hätte sich den Weg zum Konsul sparen können, denn da er von Memel war +und nicht optiert hatte, konnte ihm der Konsul ja doch nicht helfen. +Dazu reichten dessen Vollmachten nicht aus. Wie gewöhnlich. Er war ja +nur Diener des Götzen. + +Dadurch war Kurt nun endgültig tot und konnte die Heimat nicht +wiedersehen. Es war ihm ja durch eine Amtsperson bestätigt worden, daß +sein Heimweh nur Theater war. Was weiß eine Amtsperson davon, daß ein +Vagabund, ein zerlumpter Weltherumtreiber auch Heimweh bekommen kann? +Solche Gefühle sind nur denen vorbehalten, die weiße Wäsche haben und +jeden Tag ein reines Taschentuch aus der Kommode nehmen können. Yes, +Sir. + +Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was +Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist, +daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das +treue Heimatsgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon mehr +übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo ich bin und wo mich niemand +stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will, was ich +tu, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine Heimat, da +ist mein Vaterland. + +Der Junge von Memel kriegte einen Spanier und kam schließlich auf die +Yorikke als Schlepp. + +Schutzvorrichtungen gab es auf der Yorikke nicht, erstens kosten sie +Geld und zweitens hindern sie an der Arbeit. Ein Totenschiff ist keine +Kleinkinderbewahranstalt. Mach die Augen auf, und wenn was abgeht, so +ist das nur faules Fleisch oder ein fauler Finger, der doch nicht +arbeiten wollte. + +Das Wasserstandglas an den Kesseln hatte weder ein Schutzglas, noch ein +Drahtgitter. Eines Tages platzte es, als Kurt auf Wache war. Es war auch +kein Langhebel dran, wodurch das Rohr, das zum Wasserstandglas führte, +von einem sicheren Platz aus hätte abgedrosselt werden können. Das +kochende Wasser strahlte heraus, und der Kesselraum war in dichten +heißen Dampf gehüllt. + +Das Rohr mußte abgedrosselt werden. Mußte gemacht werden. Aber der +Drosselhahn war direkt unter dem gebrochenen Glas, zwei Zoll von der +Strahlöffnung entfernt. Es mußte abgedrosselt werden, sonst lag der +Eimer einen halben Tag fest, und wenn schweres Wetter aufkam, konnte das +Schiff nicht manövrieren und wurde gepfeffert, daß kein Splitter mehr +heil blieb. + +Wer drosselt ab? Der Schlepp natürlich. Der Vagabund opferte sein Leben, +damit Yorikke manövrierfähig blieb und erst dann zu den Fischen ging, +wenn es befohlen wurde. + +Und Kurt drosselte ab. Dann brach er zusammen und wurde von dem +Ingenieur und dem Heizer in seine Bunk getragen. + +„So etwas von Schreien“, erzählte mir Stanislaw, „kannst du dir nicht +denken. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen und nicht auf dem Bauche +und nicht auf den Seiten. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter wie ein +zerrissenes Hemd, alles Blasen und Blasen, dick wie ein Kopf, und eine +neben der andern. Hätte man ihn in ein Hospital gebracht, ich weiß ja +nicht, vielleicht hätte man ihm helfen können mit Hauteinsetzen. Aber +man hätte schon eine ganze Kalbshaut gebrauchen müssen, um ihn wieder +zurechtzuflicken. Und geschrien und geschrien und geschrien! Ich wünsche +nur, daß der Konsul ihn im Schlafe gehört hätte, er wäre den Schrei +nicht mehr los geworden. Die sitzen am Tisch und schreiben Formulare +voll. Hundert Meilen hinter der Front des nackten Lebens. + +Tapferkeit im Kriege? Quatsch! Tapferkeit auf dem Felde der Arbeit. Aber +da kriegst du keinen Orden. Da bist du kein Held. Er hat sich +totgeschrien. Abends kam er über Bord, der Junge von Memel. Na, Pippip, +ich muß die Kappe abnehmen, guck mich nicht so an. Da mußt du +Präsentiert das Gewehr! machen. Kannst nicht anders. Über Bord, mit +einem Klumpen Kohle am Bein. Sah aus wie ein Sträfling. Der Zweite +Ingenieur sah hinterdrein und sagte dann: „Verfluchte Geschichte, jetzt +haben wir wieder keinen Schlepp.“ Das war alles, was er sagte. Und +gerade er war der Mann, der es hätte machen müssen; denn es war eine +Reparatur, und solche Reparaturen gehen den Schlepp gar nichts an. Ja, +das war der Kurt. Steht auch nicht im Journal. Der Zweite Ingenieur +steht drin. Der Koch hat es gesehen, als er Seife stehlen ging in die +Kabine vom Skipper. Na, was sich unsereiner dafür schon kauft.“ + + + 41 + +Mit den übrigen Mannschaften redete ich sehr wenig. Sie waren meist +brummig, übelgelaunt und schläfrig, wenn sie nicht besoffen waren, was +in jedem Hafen vorkam. Aber, wenn ich ganz ehrlich sein soll, so waren +es eigentlich sie, die nicht mit uns redeten. Ich war ja nur Schlepp, +ich und der Stanislaw. Und der Schlepp ist ja nicht, bei weitem nicht so +viel wie ein A. B., nicht einmal so viel wie ein Deckarbeiter. Das sind +alles Herren im Vergleich zum Schlepp. Der Schlepp wühlt im Dreck und in +der Asche und ist erst recht Dreck und Asche. An ihm kann man sich ja +die Finger dreckig machen. Und nun gar erst der Zimmermann oder gar, um +noch höher zu gehen, der Bootsmann. Denen gegenüber ist man nur ein +Würmchen. Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste +Rangunterschiede zu machen wie der Arbeiter. + +Nun erst in der Fabrik. Der die Schrauben drehen darf, tausendweise, +alle nach Schablone, was ist der für ein großer Mann gegenüber dem, der +die Schrauben in einem Korbe wegschleppen muß. Und der die Schrauben +wegschleppen darf, was ist der für eine unerreichbare Größe gegenüber +dem, der die Säle ausfegen darf. Und der, der ausfegen darf, wirft sich +in die Brust und sagt: „Ach der, der sucht ja bloß den Dreck durch, der +muß ja die Messingspäne aussuchen, mit dem kann ich doch nicht +verkehren. Wie sieht denn das aus?“ + +Unter den Toten hört der Rangunterschied nicht auf. Er wird noch größer +beinahe. Wer da hinten an der Mauer nur gerade so verscharrt ist, weil +er ja irgendwo liegen muß, der ist nichts. Der in einem Tannensarg +begraben wird, ist schon mehr. Nachts, wenn sie tanzen, guckt er den +Verscharrten mit keiner Miene an, sondern sieht sehnsüchtig rüber zu +denen, die mit ihrem Eichensarg tanzen. Zu denen, die mit einem +Metallsarg mit goldenen Ecken gravitätisch herumwandern, wagt er gar +nicht aufzusehen; das würden die sich auch sehr verbitten. Damit man das +alles gleich von vornherein klarstellen kann, darum werden ja die einen +in Metallsärgen mit vergoldeten Ecken begraben und die andern in einer +viereckigen Holzkiste in einem Winkel verscharrt. Erst die Würmer und +die Maden, diese revolutionären Aufräumer und Umwälzer, die machen sich +nichts aus Rangunterschieden. Die sind alle gleich weiß und alle gleich +groß und sie wollen fressen; und das Fressen nehmen sie sich, wo sie es +kriegen, sie holen es sich aus dem Metallsarg mit vergoldeten Ecken +ebenso rasch wie aus der Kiste. + +Der Herr Zimmermann und der Herr Bootsmann und der Herr Donkeyman waren +Petty-Offiziere, Unteroffiziere. Sie waren genau so dreckig wie wir, +waren auch nicht länger befahren als wir, waren für den geregelten Gang +der Yorikke viel weniger wichtig als wir, aber die Schlepps mußten den +Herrn Donkeyman bedienen. Mußten ihm das Essen aus der Galley holen, auf +den Tisch stellen und wieder abservieren. Damit der Rangunterschied +gewahrt blieb. Der Donkeyman ist der Wintschenmaschinist, und wenn das +Schiff im Hafen liegt und die Heizer und Schlepps haben Tagarbeit, dann +muß er die Kessel heizen, auch des Nachts. Auf der Fahrt murkst er im +Wege herum, putzt an den Maschinen hier ein wenig, dort schmiert er ein +Lager, dann muß er einen Selbstöler auseinandernehmen und auswaschen und +dann wieder da ein wenig Dreck wegnehmen und ihn hier hinlegen. Dafür +braucht er nicht in den großen Quartieren schlafen, sondern in kleinen, +wo nur zwei oder drei Bunks sind, und dafür bekommt er Sonntag +Grießpudding mit Himbeersaft und in der Woche zweimal Backpflaumen in +blauer Stärke, während wir keinen Pudding am Sonntag und nur einmal in +der Woche Backpflaumen in blauer Stärke fassen. Wenn wir aber zweimal +Backpflaumen kriegen mit versteinertem Salzfisch, dann bekommt er +dreimal Backpflaumen. Er, der Bootsmann, der Zimmermann, die +Unteroffiziere. Dafür hat er hinter uns her zu sein und aufzupassen, daß +wir nicht etwa einen Kesselbunker aufschrauben, wenn schweres Wetter ist +und die Achterbunker noch ein paar Kilogramm haben. Was würde Cäsar mit +seinen Armeen machen, wenn er keine Unteroffiziere hätte, die auf der +ersten Sprosse der Leiter zum Generalfeldmarschall stehen? +Unteroffiziere, die von oben kommen, sind nicht zu gebrauchen; sie +müssen von unten kommen, gestern noch geprügelt worden sein, dann sind +sie gut zu gebrauchen, die können am besten prügeln. + +Dann kamen die A. B.s und dann die Deckarbeiter. Stanislaw konnte mehr +als alle drei A. B.s zusammen, aber er war nur Dreck. Sie hätten sich +erst wohlgefühlt, wenn angeordnet worden wäre, daß die Schlepps, wenn +sie an dem Donkeyman vorbeigehen wollten, zu fragen hätten, ob es ihnen +auch erlaubt sei, an ihm vorbeizugehen. + +Dennoch waren sie alle Tote, und dennoch waren sie alle auf dem Wege zu +den Fischen. + +Soweit das Erhabenheitsgefühl bei ihnen nicht verletzt wurde, konnte man +mit ihnen umgehen, und sie fühlten sich durchaus im gleichen +Schiethaufen mit uns. Die weniger Befahrenen unter den Deckarbeitern +waren noch zu unsicher unter uns alten Seehunden, um irgendwelchen +Sprossensinn uns gegenüber zu entwickeln. Mit der Zeit kam dann doch ein +Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das seinen Grund in der uns allen +gemeinsamen Schicksalslage hatte. Wir alle waren Verwehte, wenn es auch +keiner für sich zugeben wollte und immer noch auf ein Entspringen +hoffte. Uns allen drohte das gleiche Schicksal der Gladiatorenopferung, +was wir alle wußten, ohne es offen auszusprechen. Seeleute sprechen +nicht von Schiffbruch und nicht von Untergang, das ist nicht gut. Lockt +nur den Gast aufs Schiff. Aber gerade dieses wartende Wissen, dieses +bebende Zählen der Tage von einem Hafen zum andern, dieses verhaltene +Nichtaussprechen der Tatsache, daß, wie lange es auch immer dauern möge, +wir doch mit jedem Tage näher und sicherer dem letzten Tage kommen, wo +es um den brutalen Kampf, ums nackte Leben gehen würde, knüpfte uns mit +einem merkwürdigen Band zusammen. + +Es ging nie einer allein in den Hafen, immer zu zweien oder dreien. +Seeräuber konnten nicht ein Viertel so schlimm aussehen wie wir. Wir +kamen nie in Händel mit den Mannschaften andrer Schiffe. Zum Teil waren +wir ihnen zu dreckig und zu zerlumpt, zum Teil hakten sie nicht ein. Wir +konnten sagen, was wir wollten, sie taten, als hörten sie es nicht, +tranken ihren Wein aus oder ihren Schnaps und gingen ihrer Wege. Sie +waren die ehrliche Arbeiterklasse, der vierte Stand; wir waren der +fünfte, der noch lange nicht dran ist, solange nicht der vierte erst +einmal an der Krippe sitzt. Vielleicht waren wir gar der sechste und +hatten noch ein paar Jahrhunderte zu warten. + +Die vom vierten, dem ehrlichen Stand, ließen sich auch darum nicht mit +uns ein, weil sie uns für Desperados hielten. Das waren wir ja auch. Uns +war alles gleichgültig. Was immer auch geschah, es konnte uns nichts +Schlimmeres geschehen. Also los, weg mit ihm. + +Wenn wir in eine Seemannskneipe kamen, war der Wirt immer ängstlich +darauf bedacht, uns nur ja recht schnell heraus zu haben, obgleich wir +alles über die Kante hauten, was wir in der Tasche hatten oder im Munde, +weil die Taschen zerrissen waren, oder auch im Mützenleder, wenn es noch +vorhanden war. Wir waren gute Kunden, aber solange wir in der Taverne +waren, ließ der Wirt kein Auge von uns und beobachtete jeden Schritt und +jeden Blick. Schien es ihm, daß einer mit den Augen zuckte und einen vom +ehrlichen Stand zu deutlich anguckte, ging der Wirt sofort zu dem Manne +hin, der angeguckt worden war, und bearbeitete ihn, daß er das Lokal +verließe. Er mußte ihn ja vorsichtig und zart behandeln, denn hätte der +Betreffende gemerkt, was los war, so hätte er vielleicht doch einmal +gelippt, und dann war die Appelsoße im Gange. + +Wahrscheinlich hatte sich mit der Zeit durch die übermäßige Arbeit, die +wir zu leisten hatten, durch die seltsame, verlorene Lage, in der wir +uns alle befanden, durch die unaufhörliche Spannung vor dem krachenden +Schrei der aufgebrannten Yorikke, die nicht zu den Fischen wollte, in +unsre Gesichter etwas eingegraben, das alle Menschen, die nicht auf der +Yorikke fuhren, mit unsagbarem Grauen erfüllte. Es mußte etwas in unsern +Gesichtern und in unsern Augen liegen, das Frauen manchmal erbleichen +und aufschreien machte, wenn wir unerwartet in ihren Gesichtskreis +traten. Selbst Männer sahen uns scheu an und drehten und wendeten sich, +um einen andern Weg zu machen, damit sie nicht an uns vorbei brauchten. +Die Polizei folgte uns mit den Augen, solange sie auch nur ein +Zipfelchen von uns sah. Merkwürdig war es mit Kindern. Manche fingen an +zu schreien, wenn sie uns sahen, und liefen fort wie gehetzt, manche +wieder blieben stehen, rissen die Augen weit auf, wenn wir vorüber +kamen, manche wieder folgten uns atemlos, als hätten sie Traumgestalten +verwirklicht gesehen, und manche, und das war recht seltsam, kamen auf +uns zu, gaben uns die Hand, lachten uns an und sagten: „Guten Tag, +Mann!“ oder „Guten Tag, Seemann!“ oder so etwas. Unter denen, die uns +die Hand gaben, waren aber wieder einige, die, nachdem sie uns die Hand +gegeben hatten, aufblickten mit großen Augen, uns mit offnem Munde +anstarrten, dann plötzlich wegrannten und sich nicht mehr umdrehten. + +Waren wir so tot, daß die Kinderseele den Tod in uns sah und fühlte? +Waren wir den Kindern erschienen, als sie noch unter dem Herzen ihrer +Mütter träumten? Schlang sich ein geheimnisvolles Band um uns +Fortgehende und Totgeweihte und um die Kinderseelen, die gerade über die +Schwelle des Lebens getreten sind und noch den Schatten des unbekannten +Reiches im Bewußtsein tragen? Wir die Gehenden – sie die Kommenden, die +Verwandtschaft lag im Gegensatz. + +Richtig sauber gewaschen waren wir nie. Mit Sand und Asche kann man sich +nicht sauber waschen. Wenn man in einem Hafen dachte, daß man ja auch +Seife haben wollte, war das Geld schon weg für andre Dinge, die einem +auch wichtig erschienen, Wein und Gesang und alles das übrige. Singen +konnten wir auch. Es war ein Grölen und Heulen, aber niemand rief vom +Fenster hinunter, daß wir ruhig sein sollten. Sie hüteten sich. Die +Polizei hörte nichts und sah nichts. + +Manchmal kauften wir ja auch ein Stück Seife, aber man hatte es nur +einen Tag. Dann war es weg für immer. Man kann doch nicht die Seife den +ganzen Tag im Munde halten, um sie zu schützen. Und weil man das Geld +auch nicht dauernd im Munde halten konnte und es auch nicht gestohlen +haben wollte und sich dann noch ärgern mußte, gab man es aus. Das +einfachste Ding von der Welt. + +Es kam vor, daß wir uns rasieren ließen, wenn wir daran dachten, solange +wir noch Geld hatten, oder wenn wir zufällig in eine Schaufensterscheibe +guckten und uns selber nicht mehr kannten. Denn einen Spiegel hatten wir +nicht. Das war gut, so wußte keiner, wie er selbst aussah im Gesicht. Es +war ja immer der andre, der so fürchterlich aussah, daß die Frauen +aufschrien und sich in den Häusern versteckten. Nicht rasiert, das +Gesicht rot und verschrammt von dem Sand und der Asche, die nackten Arme +voll Brandnarben und die Kleidung versengt, verbrannt, zerrissen, +verlumpt. + +Nach einem englischen, französischen, deutschen, dänischen oder +holländischen Hafen gingen wir nie. Da hatten wir nichts zu suchen. +Immer an den Küsten Afrikas oder Syriens. Nur selten gingen wir in +Spanien oder Portugal an einen Kai, meist blieben wir draußen auf der +Reede liegen und nahmen die Ladung von Leichtern und von Booten über. +Der Skipper mochte wohl wissen, warum er in manchen Häfen nicht an den +Kai ging, sondern sich auf Reede vor Anker legte. Dann signalisierte er +nach einem Boot und fuhr hinein zum Hafen, um die Papiere in Ordnung zu +bringen beim Konsul oder bei den Hafenbehörden. + +Wir gingen unsre eignen Wege. Es gibt keine Totenschiffe. Das sind Dinge +der Vorkriegszeit. Es gibt keine, weil man sie in einem Hafen, in einem +bekannten Hafen nicht sieht. Sie sind da draußen in der Ferne, wo jede +Bucht ein Hafen ist, wenn ein Schuppen hingebaut wird. In den +chinesischen Gewässern, in den indischen, in den persischen, den +malaiischen, an den Küsten des südlichen und östlichen Mittelmeeres, an +den Küsten Madagaskars, an den Westküsten und Ostküsten Afrikas, an den +Küsten Südamerikas, in der Südsee. Platz genug für alle und für ein paar +Tausend mehr. Sowenig wie man je alle Vagabunden von den Landstraßen der +Erde wird vertreiben können, weil ja auch ganz anständige Leute darunter +sein mögen, die eben gerade nur mal knapp bei Gelde sind, ebensowenig +wird man die Totenschiffe von den sieben Meeren vertreiben können. Wer +sie suchen wollte, findet sie nicht. Es gibt ja dreimal mehr Wasser auf +der Erde als Land; und wo Wasser ist, da ist auch eine Straße für ein +Schiff, aber wo Land ist, da ist noch lange nicht eine Straße für einen +Vagabunden. + +Die Yorikke hätte nie jemand gefunden. Sie hatte einen Skipper, der sich +aufs Handwerk verstand. Er konnte mit Fürsten umgehen, sie würden ihn +für ihresgleichen gehalten haben. Kam jemand irgendetwas verdächtig vor, +er schlug die Geschicktesten. Seine Papiere waren immer in Ordnung, +soweit sie sich auf die Yorikke und auf ihren Mageninhalt bezogen. Kein +zehnmal konzessionierter und überwachter Postdampfer konnte bessere +Papiere zeigen. Und das Journal? Es stimmte auf die Minute. + +Da kam mal ein spanisches Kriegsboot auf, als wir noch innerhalb der +Seegrenze waren. Das Boot suchte. Jedes Kind wußte, daß Corned Beef mit +Knochen ein gutes Geschäft ist. + +Das Boot signalisierte, aber der Skipper pfiff drauf. Dann feuerte das +Boot den Stopper. Und Yorikke stoppte. Es hatte nicht mehr gelangt. Sie +war noch drin. Na, solche Boote machen sich ja nichts draus. Sie +versuchen auch außerhalb der Grenze zu picken. Der Skipper muß vor +Gericht beweisen, daß er nicht mehr drin war, sondern schon anderthalb +Seemeilen raus. Soll er mal beweisen, das ist nicht so einfach. Es steht +kein Grenzpfahl im Wasser. Die Rumjäger in den States kennen überhaupt +keine Seegrenze. Manchmal glückt es dem Skipper aber doch, zu beweisen, +daß er raus war. Na, dann wird eben bezahlt. Und eine halbe Stunde drauf +wird es woanders schon wieder versucht. Nur der Mensch, der kleine, der +muß das Gesetz achten, der Staat braucht das nicht. Er ist die Allmacht. +Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine Moral. Er mordet, wenn +er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für gut befindet; er +raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut befindet; er +zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was er will. +Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er den Menschen +bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine Gebote Gottes, +die er den Kindern mit dem Knüppel einbläuen läßt. Er macht sich seine +Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der Allwissende und der +Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, und wenn sie ihm eine +Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er sie selbst. Er hat keinen +Richter über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, und wenn der Mensch +anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er ihm mit der Flagge +Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen herum, daß der Mensch ganz +duselig wird, und brüllt ihm ins Ohr: „Haus und Herd – Weib und Kind“ +und bläst ihm in die Nasenlöcher den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche +Vergangenheit. Und dann plappern die Menschen alles nach, weil der +Allmächtige sie in ausdauernder Arbeit zu Maschinen und Automaten +gemacht hat, die ihre Arme, Beine, Augen, Lippen, Herzen und +Gehirnzellen genau so bewegen, wie es der allmächtige Staat haben will. +Das hat nicht einmal der allmächtige Gott zuwege gebracht, und der +konnte doch auch etwas. Aber diesem Ungeheuer gegenüber ist er nur ein +armer Stümper. Seine Menschen handelten ganz selbständig, sobald sie +erst einmal ihre Arme und Beine bewegen konnten. Sie liefen ihm davon, +achteten seine Gebote nicht, sündigten wie toll und setzten ihn endlich +ab. Bei dem neuen allmächtigen Gott haben sie es schwerer, weil er noch +zu jung ist, und weil sie noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten +und den Apfel vom Baume zu reißen. + +Wir stoppten. Blieb uns ja nichts andres übrig. Er hätte uns sonst +hochgeblasen. Und dann kamen sie rauf. + +„Möchten die Papiere sehen. Ja, danke, die sind in Ordnung. Wir dürfen +doch wohl einmal überprüfen. Wir halten Sie nicht auf. Ein paar Minuten +nur.“ + +„Bitte, bitte, meine Herren, aber nicht zu lange. Ich habe Verspätung, +oder ich muß Ihre Regierung haftbar machen.“ Der Skipper lacht. Wie der +Mann zu lachen verstand. Mit seinem Lachen, das so halb ironisch, so +halb ungemein lustig war, leerte er alles aus, was da noch verdächtig +sein konnte. + +Die guten Leute hatten etwas von Corned Beef mit Knochen vernommen. Wie +Ameisen krochen sie in dem Laderaum herum und suchten Corned Beef von +Chikago. Und der Skipper lachte und lachte. + +Es war kein Corned Beef da. In der Galley waren ein paar Büchsen. Zum +Hausgebrauch für das Mitschiff. + +Aber da war Kakao. Holländischer, garantiert reiner, entölter, Van +Houtens. Kisten und Kisten voll. Aller Kakao in Blechbüchsen. Damit das +Aroma nicht verlorengeht. + +Der Untersuchungsoffizier tippte auf eine Kiste, die ganz mitten drin +lag. Die Kiste kam hoch. Er lief sie öffnen. + +Und der Skipper lachte. Und der Offizier wurde nervös. Er wollte es +nicht merken lassen, aber er konnte es nicht verbergen. Das Lachen +machte ihn halbverrückt. + +Schöne große Büchsen. Alle mit Etiketten verklebt. Der Skipper trat an +die Kiste, nahm eine Blechbüchse heraus und reichte sie dem Offizier zu, +während er seinem Lachen einen ganz unterstrichnen sarkastischen Ton +gab. Der Offizier sah den Skipper an, dann sah er die Büchse an und nun +trat er mit einem schneidigen Schritt auf die offene Kiste zu und nahm +sich selbst eine Büchse heraus, gleich neben der Lücke. Er riß das +Etikett hastig ab und öffnete die Büchse. – Kakao. + +Der Skipper schüttelte sich vor Lachen. + +Plötzlich fiel dem Offizier wieder das Corned Beef mit Knochen ein und +er schüttele den Kakao aus der Büchse völlig aus. + +Kakao. Da war nichts andres drin. Nichts als garantiert reiner entölter +Van Houtens Kakao. + +Aber der Offizier, zitternd vor Nervosität, nahm jetzt dem Skipper die +Büchse aus der Hand, riß das Etikett ab, hob den Blechdeckel ab und da +war – Kakao. Er steckte den Deckel wieder auf und gab die Büchse dem +Skipper mit einem „Danke!“ zurück. + +Was in dem Skipper vorging, als ihm der Offizier die Büchse aus der Hand +nahm, weiß nur er allein. Aber er lachte, daß man es drüben auf dem +Kriegsboot, das beigedreht hatte, hören konnte. + +Der Offizier entschuldigte sich, gab das Revisionsdokument, in das er +das Zeichen der geöffneten Kiste einschrieb mit der Quittung für die +beiden verdorbenen Büchsen Kakao, stieg mit seinen Leuten in die +Schaluppe und setzte ab zu seinem Boot. + +Als er abstieß, rief der Skipper rüber zur Galley: „Koch, heute abend +Kakao für die Mannschaft und Rosinenstollen.“ + +Dann ging er näher zur Kiste, suchte eine Weile herum, bis er fand, was +er haben wollte, nahm die gewünschte Büchse heraus und übergab sie dem +Koch. Dann ließ er die Kiste wieder zunageln und verstauen. + +Ich hatte auf Deck gestanden, als dies geschah. Und da man Gelegenheiten +nie verpassen soll, so machte ich mich nachts gleich daran, ein paar +Blechbüchsen Kakao flottzumachen. Im nächsten Hafen brachten sie immer +ein paar Schillinge ein, oder man konnte sie für Tabak eintauschen. + +Fünf zog ich ab und verstaute sie im Bunker. + +Bei der Ablösung sagte ich zu Stanislaw: „Hast du schon mal an den Kakao +gedacht? Ehrliches Handwerk. Ein paar Schillinge sind drin.“ + +„Da ist kein Schilling drin. Wenn es Kakao wäre. Aber es sind ja +Kakaobohnen, und wenn du nicht die passenden Kakaomühlen dazu verkaufen +kannst, kriegst du nicht einen roten Penny dafür.“ + +Das kam mir verdächtig vor. Stanislaw hatte also schon an das Handwerk +gedacht. Wahrscheinlich schon eine Kiste aufgehabt, als die zweite noch +am Lademast hing. + +Ich kletterte sofort rauf in den Bunker und machte eine Büchse auf. +Stanislaw hatte recht. Es waren Kakaobohnen. Sehr harte, mit +Messinghülsen. In der zweiten Büchse, dasselbe. In der dritten, vierten, +fünften: dasselbe. Ich machte sie wieder schön zu und packte sie zurück +in die Kisten. Für arabische und marokkanische Kakaobohnen hatte ich +kein Interesse; die passenden Mühlen, falls wir sie an Bord hatten, +hätte ich ja doch nicht sicher heruntergekriegt. + +Nur der Skipper war fähig, Kakaobohnen in Kakaopulver zu verwandeln. Er +konnte es auf zwei Arten. Er konnte das Wunder vollbringen dadurch, daß +er die Blechbüchse in der Kiste ließ, er konnte es aber auch dadurch, +daß er die Büchse in die Hand nahm. Er war ein Meister in der schwarzen +Magie, yes, Sir. + + + 42 + +Wir machten Tripolis und hatten verteufelt schweren Seegang. Wir wurden +im Kesselraum hin und her gepfeffert, und in den Bunkern war es noch +schlimmer. Ich betrachtete mir, wenn ich mal ein wenig zum Verschnaufen +im Kesselraum auf einem Kohlenhaufen saß, zuweilen das kleine +Glasröhrchen, das einen erwachsenen Seemann so martervoll verschlucken +kann, wenn es dazu in der Laune ist. Dabei legte ich mir die Frage vor, +ob ich das Rohr abdrosseln würde, wenn das Röhrchen zum Tanzvergnügen +geht. + +Natürlich sagte ich nein. Aber wer kann sagen, was er tun wird, wenn die +Frage nicht gestellt wird, sondern wenn die Frage entschieden werden muß +und man gar nicht daran denkt, daß die Frage überhaupt existiert? Der +Heizer kann ja drunter liegen und kann nicht mehr allein fort. Meinen +Heizer im Stich lassen, daß er mir mein ganzes Leben hinterher schreit: +„Pippip! Pippip! Ich verbrühe! Hol mich raus, Pippip! Ich kann nicht +sehen, meine Augen sind rausgebrüht, Pippip, schnell, es ist gleich +vorbei! Pip–pip–p–“ + +Na, nu laß mal da deinen Heizer liegen. Da gehst du eben, auch wenn du +weißt, ihr bleibt beide da liegen. + +Vielleicht gehe ich auch nicht. Warum? Mein Leben ist auch etwas wert. +Mein Leben – + +„Pippip, Schlepp, spring Back, nicht gucken, Backbord und her!“ + +Der Heizer brüllt es, daß er das Hämmern der Maschine überkreischt. + +Ohne aufzugucken, mache ich einen Satz rüber nach Backbord und falle +dort in die Knie, weil ich über das Schüreisen falle, das im Wege liegt. +Gleichzeitig erfolgt ein Krach und ein Rasseln, das betäubend ist. + +Unter seinem schwarzen dicken Kohlenstaub, den er im Gesicht hat, sehe +ich, daß der Heizer ganz bleich ist. Auch Tote können noch erbleichen. +Ich klaube mich auf mit zerschundenen Schienbeinen und aufgeschlagenen +Kniescheiben und drehe mich um. + +Die Aschenhuze, die Aschenführung, ist runtergekommen. + +Diese Aschenführung ist ein runder Blechkanal, wie ein großer +Blechschornstein, mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. In ihm +werden die Aschkannen hochgehievt, damit sie nicht hin und her +schlenkern können, sondern oben in den Aushebeschacht geführt werden. + +Die Huze hängt weit in den Kesselraum hinein bis etwa neun Fuß über dem +Boden. Oben ist sie an einen Kranz festgenietet. Sie ist sicher dort an +den Nieten durchgerostet, und jetzt bei dem Wetter hat sie den Rest +bekommen und ist abgebrochen. Wo will sie hin? Sie muß in den +Kesselraum. Sie ist senkrecht fallendes, sehr starkes Eisenblech und hat +hundert Kilo oder mehr. Schneidet den Kopf und den ganzen Körper der +Länge nach durch. Geht wie mit dem Rasiermesser. Oder schlägt den Arm ab +und nimmt die eine Schulter mit. Wenn sie Gnade übt, nur den halben Fuß. +Wer denkt an die Aschenhuze, daß die einmal abrosten könnte am Kranz. +Sie hängt seit der Zerstörung Jerusalems da drin und ist nie +runtergefallen. Die ganzen vielen Jahrhunderte nicht. Und nun mit +einemmal fällt es ihr ein, runterzukommen. + +Seemannslos. Arbeiterlos. Deine Schuld. Geh zur rechten Zeit drunter +weg, dann kann dir nichts passieren. + +Hallo, Heizer, da bin ich ja nochmal mit einem Sprung davongekommen. +Gleich beim ersten Schrei: „Schlepp, Back!“ gesaust wie ein Affe. Nicht +erst lange gedacht, was los ist. Die Yorikke entwickelt die Instinkte, +sie hält einen in Form. + +„Ja, Heizer, verflucht nochmal, das war ein Sprung zur rechten Zeit.“ + +Danke! ist nicht. Wozu? Morgen dir, übermorgen Stanislaw. Wer weiß, wen +die nächste Kugel trifft. Wir sind im Kriege. Kopp weg. Aber ehe du es +hörst, ist er schon weg, der Kopp. Der Rest bleibt liegen. Wird nicht +bezahlt. Über Bord. Klumpen Kohle ans Bein. An die Mütze getippt. +Grabmusik: „Nun haben wir wieder keinen Schlepp.“ + +Das Glasröhrchen ist heil. Es hat sein Opfer. Der Aschenhuze hat der +Heizer den Spaß verdorben. Aber dafür wartet die Rache. Was ist das +nächste Glasröhrchen? Wer ist der Nächste? Junge, zieh dir den Gürtel +fest. Da ist Warnung in der Luft. Warnung für dich. Es schwirrt der Gast +herum, er kriecht in den Winkeln und lauert in den Ecken. Beim +nächstenmal macht er bessere Arbeit und läßt nicht gerade den Heizer +zufällig nach oben blicken, daß er sieht, wie sich erst die eine Hälfte +am Kranz löst und dann die andre. Beim nächstenmal ist es vielleicht das +Brett da oben, auf dem du rüberbalancierst zur Bunkerluke. + +Mein Junge, ich glaube, du steigst am besten aus in Tripolis. Wenn du +auch tot bist, man macht doch gern noch manchmal einen Spaziergang aus +den Gräbern und sieht, was draußen los ist, weil man sich so rasch an +die stickige Luft im Grabe nicht gewöhnen kann. Mußt ja wieder rein ins +Grab oder in ein Totenschiff, aber hast doch eine Nase voll frischer +Luft mitgenommen und beim zweiten Male geht es schon besser. Aber +Tripolis war nichts mit Aussteigen. Wir konnten keinen Schritt tun ohne +Bewachung. Beim geringsten Versuch, achtern abzubleiben, hätten sie uns +gepackt und zurückgebracht. Hätten dem Skipper eine Kostenrechnung +gemacht, und er hätte sie von der Heuer abgezogen. Es war auch nichts in +Syrien. Man konnte nicht abkanten. Wir waren freie Männer, freie +Seeleute. Durften in die Häfen gehen, durften in den Kneipen rumsaufen, +durften tanzen und unser Geld verspielen oder es uns aus den Taschen +räubern lassen. Alles durften wir tun, weil wir ja freie Seeleute und +keine Sträflinge waren. Aber sobald Yorikke das Blaue Peterlein flattern +ließ, und man drückte sich auffällig weit vom Kai oder von den Molen +herum oder gar in verschnörkelten Gäßchen und dunklen Winkeln, da hatte +einen auch schon einer am Arm: + +„Monsieur, s’il vous plaît, Ihr Schiff wartet, wir werden Sie begleiten, +damit Sie nicht den Weg verfehlen.“ + +Und war man dann erst wieder drauf auf der Yorikke, hatten sie das +Recht, draußen am Kai zu stehen und einem das abermalige Verlassen des +Bootes zu verbieten, denn Blau Peterlein flatterte, und das hieß, nun +hat die Freiheit wieder mal ein Ende. + +Stanislaw hatte schon recht gehabt: „Kommst nicht mehr runter. Und wenn +du kommst, die kriegen dich und stecken dich auf einen andern +Toteneimer, der vielleicht noch schlimmer ist. Denn die Toten nehmen +dich immer wieder auf, auch aus den Händen der Polizei. Mit Dank. +Drücken dem Engelmacher noch zehn Schillinge in die Hand dafür. Füttern +dich sogar, bis sie dich auf ein andres Totenschiff, das hereinkommt, +verkaufen können. Müssen dich doch los werden. Können dich doch nicht +nach der Heimat deportieren, hast ja keine.“ + +„Da brauche ich doch aber nicht raufzugehen.“ + +„Mußt rauf. Der Skipper sagt, er hat dich gezeichnet, auf Handschlag. +Dir glaubt man nichts, dem Skipper glaubt man. Er ist ja ein Skipper und +hat eine Heimat, wenn es auch nur selbst eine geschwindelte ist und er +selber nicht mehr heim darf. Aber er ist der Skipper. Mußt rauf. Er hat +dich gemustert. Hat dich nie gesehen. Aber auf Handschlag gemustert. +Mußt rauf. Bist Deserteur.“ + +„Aber, Stanislaw, nun rede mal klar. Da gibt es doch noch Recht“, sagte +ich, weil ich glaubte, er übertreibt. + +„Das ist doch schon mein viertes. Es ist dein erstes. Und ich bin durch +mit allen Zipfeln.“ + +„Man kann dich doch nicht zwingen. Ich bin doch freiwillig auf die +Yorikke gekommen“, wandte ich ein. + +„Ja, das erstemal kommt man halb freiwillig. Aber hättest du deine +Sachen alle klar gehabt, wärst du nicht freiwillig gekommen. Wenn du +deine Sachen in Ordnung hast, kann dir niemand mit solchem Zimt kommen, +wie Handschlag, Deserteur und so. Da sagst du, du willst zum Konsul. Da +müssen sie dich gehen lassen und können mitkommen. Wenn der Konsul sagt, +daß er dich annimmt, daß er dich anerkennt, müssen sie abziehen. Da ist +nichts von Handschlag, da heißt es zu dem Skipper: ‚Wer sind Sie? Wann +wurde das Schiff zum letztenmal inspiziert? Wie sind die Gebührnisse für +die Mannschaft, Essen, Löhnung, Quartiere?‘ Da zuppelt er ab, der +Skipper und sagt nichts mehr von Handschlag. Kannst du zum Konsul gehen? +Hast du Papiere? Hast du ein Vaterland? Na also. Können sie mit dir +machen, was sie wollen. Glaubst du nicht? Steig aus, versuche es.“ + +„Hast du denn dein dänisches Heuerbuch nicht mehr?“ fragte ich +Stanislaw. + +„Eine Frage! So eine dumme Frage! Wenn ich das noch hätte, wäre ich doch +nicht hier. Ich hab’s doch gleich für zehn Dollar verkauft, als ich den +schönen Paß in Hamburg kriegte. Auf einen Dänen darf er nicht damit +gehen, auch nicht zu einem dänischen Konsul. Der nimmt es ihm gleich ab, +weil es angemeldet ist; es ist doch ein Schwimmer. Lebt doch nicht mehr. +Aber für kleine Verhältnisse ist es hundert Dollar wert. Wenn ich es nur +hätte. Hab mich doch auf meinen eleganten Paß verlassen. War doch wie +eine Festung, so gut und so sicher. Kerngesund. Echt bis auf die +Pupille. Besser als zehn Eide. Konnte von der ganzen Erde aus +angeklingelt werden in Hamburg, ohne Murren. Bloß die Nummer gewinkt. +Schon war die Antwort da: Paß ist klar wie ein Diamant. Aber er war doch +bloß Gipsfront. Hatte bloß ein schönes Gesicht und nichts dahinter.“ + +„Warum hast du es denn nicht noch woanders damit versucht?“ + +„Habe ich doch, Pippip. Denkst du denn, ich laß so einen eleganten +Schwenker gehen, ohne ihn ein halbes Dutzend mal anzuziehen und zu +sehen, ob er nicht doch noch paßt? Ich hatte doch auch einen Schweden. +Da sind wir gar nicht erst bis zum Konsul gekommen. Der Skipper nahm +ihn, guckte rein und sagte gleich: „Nichts zu machen mit uns. Ich werde +Sie nicht mehr los.“ + +„Die Deutschen hätten dich doch aber genommen“, sagte ich nun. + +„Zuerst einmal zahlen die ja hundemäßig. Damals wenigstens. Was sie +heute zahlen, weiß ich nicht. Ich hätte auch gern einen genommen. War +mir ja egal. Aber wenn du da ankamst, gleich sprangen sie dir ins +Gesicht: ‚Nehmen keine Pollacken. Pollacken raus. Freßt oberschlesische +Steinkohle. Könnt ja euren Pollackenrachen nicht voll kriegen.‘ Und +lauter solche Sachen. Das wäre dann die ganze Fahrt so gegangen. Auch +wenn ich hätte mustern können. Die andern, die Mannschaften sind ja noch +zehnmal schlimmer, noch zehnmal verhetzter. Hältst du gar nicht aus. +Geht vom frühen Morgen bis zum Abend: ‚Saupollack. Dreckpollack. +Mistpollack. Wollt ihr nicht auch noch Berlin einsacken, ihr +Pollackenschweine?‘ Hältst du nicht aus, Pippip. Gehst über die Reeling. +Dann schon lieber Yorikke. Da schmeißt keiner dem andern seine +Nationalität vor, weil keiner mehr eine Nationalität hat, mit der er +protzen kann.“ + +So verging ein Monat nach dem andern. Ehe ich es mir versah, war ich +vier Monate auf der Yorikke. Und ich hatte gedacht, ich könnte dort +keine zwei Tage leben. + + + 43 + +Lasset uns Menschen machen ein Bild, das uns gleich sei, und lasset uns +ihnen die Fähigkeit geben, zu glauben und sich zu gewöhnen, damit sie +uns nicht eines Tages absetzen. Yorikke war erträglich geworden. War +eigentlich doch ein ganz feines Schifflein. Das Essen war gar nicht so +schlecht, wie es schien. Es gab ja hin und wieder Nach-Sturm-Frühstück. +Auch schon mal Kakao mit Rosinenstollen. Und zuweilen ein halbes +Wasserglas Kognak oder ein volles Wasserglas Rum. Manchmal gab der Koch +sogar ein halbes Kilo Zucker extra her, wenn man ihm schöne Nußkohle für +die Galley aus den Bunkern klaubte. + +Der Dreck in den Quartieren war zu ertragen. Wir hatten ja keine Bürste +und keinen Feger. Wir fegten mit einem Sacklumpen. Seife hatten wir ja +auch keine. Und wenn wir uns ein Stück kauften für den persönlichen +Gebrauch, werden wir es doch nicht aufbrauchen für Reinquartier. Wir +waren doch nicht verrückt. + +Die Bunk war auch gar nicht so hart, wie sie erst erschien. Ich hatte +mir aus Putzwolle ein Kissen zurecht gemacht. Wanzen? Gibt es auch +anderswo. Nicht nur auf der Yorikke. Es war ganz gut zu ertragen. Es sah +auch niemand mehr so dreckig aus und so zerlumpt, wie in den ersten +Tagen. Auch die Eßgeschirre waren nicht mehr so schmierig. + +Mit jedem Tag war alles ein klein wenig sauberer und besser und +erträglicher geworden. Wenn Augen sehr lange dasselbe sehen, sehen sie +es nicht mehr. Wenn müde Glieder jeden Tag auf demselben harten Holze +ruhen, schlafen sie bald wie auf Daunen. Wenn die Zunge jeden Tag +dasselbe schmeckt, weiß sie nicht, wie andres wohl schmecken mag. +Wenn alles rundherum kleiner wird, sieht man nicht, wie man +zusammenschrumpft, und wenn alles dreckig ist, was einen umgibt, sieht +man nicht, wie dreckig man selbst ist. + +Die Yorikke war recht erträglich. Mit Stanislaw konnte man sich gut +unterhalten. Er war ein kluger und intelligenter Junge, der viel gesehen +und alles mit ganz klaren Augen gesehen hatte, und der sich das Hirn +nicht so leicht verkleistern ließ. Mit den Heizern konnte man auch +sprechen. Wußten auch dies und jenes Neue zu erzählen. Die Deckarbeiter +waren auch keine verblödeten Dummköpfe. Dummköpfe kamen nie zu den Toten +und nur selten Durchschnittsmenschen. Denn die haben immer alles schön +in Ordnung. Die können nie über die Mauer fallen, weil sie nie +hochklettern, um zu sehen, wie es auf der andern Seite wohl aussehen +mag. Die glauben, was man ihnen darüber erzählt. Die glauben, daß auf +der andern Seite der Mauer Mordbrenner sitzen. Die Mordbrenner sitzen +immer auf der andern Seite der Mauer. Und wer das nicht glaubt und +einmal nachsehen will, ob es wahr ist, auf die Mauer klettert und dabei +runterfällt, dem geschieht es ganz recht, daß er draußen bleibt. Und +wenn er schon auf die andre Seite will, um den Mordbrennern die +überflüssigen Hosenknöpfe zu verkaufen, dann soll er wenigstens durch +das Tor gehen, damit man sieht, wer es ist, und damit der Nachtwächter, +der über der Haustür den Adler und die Fahnenstange hat, damit man auch +gleich weiß, daß er der Nachtwächter seines Landes ist, das Trinkgeld +nicht einbüßt. Wer kein Trinkgeld bezahlen kann und keinen Zettel in der +Tasche hat, auf dem abgestempelt wurde, daß er der Sohn seiner Mutter +ist, soll daheim bleiben. Freiheit ja, aber muß abgestempelt sein. +Freizügigkeit der Erdenbewohner ja, aber nur mit Zustimmung der +Nachtwächter. Vier Monate Heuer hatte ich beim Skipper stehen. +Hundertzwanzig oder einige mehr Pesetas Vorschuß gingen ab. Blieb ein +ganz hübsches Sümmchen übrig. War auch dann noch ein ganz nettes +Sümmchen, wenn es in Pfunde umgerechnet wurde. + +Umsonst wollte ich nun auch nicht gerade gearbeitet haben und das Geld +dem Skipper schenken. Und so hatte er mich nur um so fester. Aber wo und +wann und wie abmustern? Gab es doch nicht. In keinem Hafen wurde die +Abmusterung bestätigt. Keine Papiere, kein Heimatsland. Werden den Mann +nie wieder los. Kann nicht abmustern. + +Es gab nur eine Abmusterung. Die Gladiatorenabmusterung. Abzeichnung auf +dem Riff. Abzeichnung bei den Fischen. Kam man klar, dann flog man auf +eine Küste. Da konnten sie einen nicht gleich wieder ins Wasser fegen. +Schiffbrüchiger. Es regt sich das Mitleid der Menschen, besonders derer, +die in Küstenstrichen wohnen. Mit Toten gibt es kein Erbarmen, mit +Schiffbrüchigen ist es etwas andres. + +Dann muß sich ja auch der Nachtwächter der Flagge melden, unter der man +aufs Riff ging. Er zahlt nicht für den Mann, er zahlt für den Rapport, +damit die Versicherung besser geölt wird. Denn wenn der Rapport nicht +einläuft, dann kommt die Verschollenwartezeit, und das bedeutet einen +erheblichen Zinsverlust. Wenn der Rapport da ist und das Mitleid mit dem +Schiffbrüchigen eingetrocknet ist, dann wandert man wieder zu den Toten. +Erst ganz langsam, dann schneller und immer schneller. Die Kompanie ist +für den Mann haftbar und sie ist verantwortlich für seine Fortschaffung. +Wohin mit ihm? Kein Skipper will ihn haben. Er wird ihn nicht mehr los. +Auf ein Totenschiff. Er will nicht, weil er genug hat, vom letztenmal. +Handschlag, versuchte Desertion, zehn Schilling in die Hand, Blaues +Peterlein, rauf. Guten Morgen, da wären wir wieder. + +Die Fische können warten. Er kommt. Einmal kommt er. Er kommt, entweder +mit dem Glasröhrchen oder mit der Aschenhuze oder mit einer Kohlenlawine +im Bunker oder mit dem Riff. Aber er kommt. Er kann nicht pensioniert +werden oder ein Weib nehmen und einen kleinen Bootshandel anfangen. Er +muß immer wieder in die Arena. Bis er es vergißt, daß er in der Arena +ist, yes, Sir ... + +Nun lagen wir in Dakar. Ein durchaus anständiger Hafen. Nichts gegen ihn +einzuwenden. + +Kesselreinigen. Kesselreinigen, wenn die Feuer unter dem zu reinigenden +Kessel nur gerade einen knappen Tag aus sind und der Nachbarkessel unter +Dampf bleibt. Und dieses Vergnügen in einer Gegend, wo man sagt: „Guck +mal da rüber, wo die grünen Zaunpfähle stehen mit dem großen A dran, das +ist der Äquator, kannst auch sagen Mittagslinie, dann mußt du aber das A +abschrauben und ein Messingschild anhängen mit dem großen M drauf. Aber +ob du nun Mittagslinie sagst oder Äquator oder überhaupt nichts, es ist +immer egal heiß und glühend. Wenn du den Äquator anfaßt, die Hand ist +sofort weg, wie abrasiert, bloß noch ein paar Krümelchen Asche sind +übrig. Wenn du ein Stück Eisen auf den Äquator legst, schmilzt das wie +Butter. Wenn du zwei Stück zusammenhältst, die schweißen autogen. Glatt +ohne Naht, brauchst bloß drücken.“ + +„Weiß ich,“ sagte Stanislaw, „wir sind mal rübergefahren über den +Äquator, da war es gerade Weihnachten. Da war doch der immer noch so +heiß, daß du die dicken eisernen Bordwände man bloß so mit dem Finger +durchbohren konntest. Brauchtest gar nicht bohren. Bloß so mit dem +Finger antippen, da war schon ein Loch drin. Wenn du gegen die eiserne +Bordwand spucktest, flog die Spucke durch wie nichts, war gleich wieder +ein Loch. Der Skipper sah das von der Brücke und schrie: ‚Ihr wollt wohl +hier ein Kaffeesieb aus dem Schiff machen. Sofort die Löcher wieder +zugemacht.‘ Und da wischten wir so ein klein wenig mit der Hand rüber +oder mit dem Ellbogen und da waren die Löcher wieder zu. Es war ja +gerade so weich wie Kuchenteig. Die eisernen Masten hatten sich ganz +umgebogen, so wie ein langes Wachslicht, das du auf einen heißen +Kochherd stellst. Es war eine Schweinerei, bis wir sie wieder gerade +hatten. Mit dem Äquator darf man nicht spaßen.“ + +„Ganz gewiß nicht,“ gab ich zu, „darum hat man ja zu beiden Seiten des +Äquators rund um die Erde einen Lattenzaun gemacht mit Warnungsschildern +dran. Kannst du ja schon auf der Landkarte sehen, den Zaun. Ihr habt den +dummen Fehler gemacht, ihr seid drüber weggefahren. Wir waren schlauer. +Wir sind durch die Unterwassertunnel drunter hergefahren. Da ist es +schön kühl. Merkst gar nicht, daß du unter dem Äquator herfährst.“ + +„Die Äquatortunnel kenne ich. Aber die Kompanie wollte nicht die +Tunneldurchfahrtkosten bezahlen. Die berechnen pro Tonne einen Schilling +Tunnelkosten. Wie geht es denn da rein in den Tunnel?“ + +„Aber Mensch, das ist doch ganz einfach,“ erwiderte ich, „da ist ein +großes Loch im Meer und da geht das Schiff eben rein, mit dem Bug +zuerst, fährt durch und kommt an der andern Seite wieder raus, da ist +auch so ein Loch im Wasser.“ + +„Ist tatsächlich ganz einfach,“ gab Stanislaw zu, „das hätte ich mir +viel komplizierter gedacht. Ich habe gedacht, das Schiff wird in eine +Art Taucheranzug gesteckt und dann runtergezogen. Unten ist eine +Maschine, die da zieht, und dann geht es unten lang auf Zahnradschienen +und an der andern Seite wird das Schiff dann wieder hochgezogen.“ + +„So hätte man das natürlich auch machen können,“ sagte ich, „aber das +ist zu umständlich. Könnten sie auch gar nicht machen für einen +Schilling die Tonne.“ + +„Zum Kreuzdonnerwetter nochmal, wird das Geschwätze da drin im Kessel +nun bald aufhören oder nicht“, schrie der Zweite Ingenieur in den +Kessel, während er den Kopf zum Mannloch durchsteckte. „Wenn da in einem +fort erzählt wird, kann der Kessel nicht rein werden.“ + +„Komm doch rein, du Hund, wenn du den Hammer an den Schädel haben +willst.“ Ich schrie es wie wild, halbverrückt von der Hitze. „Klopp dir +den Kessel allein, du Roßtäuscher, du verfluchter. Dir werde ich ja +überhaupt noch was erzählen.“ + +Ich wollte ja gern, daß er mich rapportiert und daß ich rausgefeuert +werde. Dann hätte ich ein Quittungsbuch kriegen müssen und mein Geld. +Aber dazu waren die ja viel zu schlau. „Ebenso wie die Offiziere im +Kriege. Kann man noch so beleidigen und in die Fresse hauen, melden dich +nicht,“ sagte Stanislaw, „haben dich lieber draußen als daß du im +Gefängnis im Trocknen sitzt.“ + +Kesselreinigen am Äquator, wenn das Feuer nur knapp einen Tag gelöscht +ist und der Nachbarkessel unter Dampf liegt. Meine Herren! Wer nie sein +Brot mit Tränen aß, der trinkt es jetzt wie Himbeerlimonade. Wir saßen +nackt drin, aber die Wände waren so glühend heiß, daß wir uns anziehen +mußten und dicke Polster aus Sacklumpen unter die Knie zu legen hatten, +um nicht anzubrennen. + +Dann klopfen. Und was der Kesselstein für einen Staub macht. Das ist, +als ob man die Lunge, den Schlund, die Kehle mit Glas abkratzt. Wenn man +den Mund bewegt, knirscht es zwischen den Zähnen, als ob man Sand mahlt, +und es kriecht einem am ganzen Rückenmark ein entsetzliches Empfinden +hoch, als würde das Rückenmark von einem Ende aus herausgebohrt. + +Der Kessel ist an sich schon nicht allzu geräumig. Nun liegen auch noch +die Feuerzüge drin, und man muß auf dem Rücken liegen, auf dem Bauche, +um überall hinzukommen. Wie eine Schlange windet man sich in den Zügen +herum. Wo man mit der bloßen Hand hinfaßt, ist es so heiß, als fasse man +auf eine heiße Herdplatte. + +Dann springt einem Kesselstein in die Augen. Und das harte scharfe +Körnchen bereitet einem Schmerzen, daß man glaubt, wahnsinnig zu werden. +Dann wird es mit dreckigen und schweißigen Händen herausgefischt und das +Auge rötet sich von den Martern, die man ihm angetan hatte. Eine Weile +geht es gut, und ratsch: wieder ist ein scharfer Splitter drin, und die +Marter geht von neuem los. + +Schutzbrillen? Die kosten Geld. Für solchen Unfug hat die Yorikke kein +Geld. So wurde es vor tausend Jahren gemacht, und so wird es heute +gemacht. Meist sind die Brillen auch nicht viel wert. Entweder man sieht +nichts durch oder sie drücken oder der Schweiß läuft einem zwischen die +Plüschdichtungen und frißt sich in die Augen. + +Hätte man elektrische Lampen gehabt, wäre das ja eine kleine +Erleichterung. Aber nun die Lampen aus Karthago. In fünf Minuten ist der +Kessel schwarz und dick von Rauch. Aber es muß geklopft werden. + +Und die Hämmer dröhnen innerhalb des Kessels, als ob tausend Donner +einem unmittelbar auf das Trommelfell pauken. Es ist keine federnde +Resonanz, sondern ein hart vibrierendes gell-kreischendes Pochen. + +Fünf Minuten, dann müssen wir raus, um Luft zu holen. Wir kochen in +Schweiß, die heißen Lungen fliegen und flattern, das Herz tobt, als +wollte es die Brust durchsprengen, und wir zittern in den Knien. + +Luft, nur Luft. Koste es, was es wolle. Und wir stehen in der +Meeresbrise, die auf uns wirkt, als wäre sie ein Schneesturm in +Saskatchewan. Ein breites hartes Schwert stößt durch unsern Körper in +seiner ganzen Länge. Wir frieren und beben und sehnen uns zurück in die +heiße Glut des Kessels. + +Wieder fünf Minuten, und wir schreien: Luft. Alle drei, die wir drin +sind, drängen wir an das kleine Mannloch, durch das wir uns zwängen +müssen. Nur einer kann zu gleicher Zeit durch und muß sich wie eine +Katze drehen und winden, um herauszukommen. Während der Zeit, wo er sich +durch das Mannloch zwängt, kommt auch nicht ein Hauch von Luft in den +Kessel. Mit Mühe kriege ich, der ich Zweiter bin am Loch, die Arme durch +und zwänge mich hinaus. Der Heizer fällt innen um und schlägt hart auf. +Er ist besinnungslos. + +„Stanislaw, der Heizer muß raus, hat schlapp gemacht“, rufe ich mit +letztem Atem. „Wenn wir ihn nicht holen, zockt er ab und erstickt.“ + +„Ei–ei–ne Mi–nu–te, Pip–, Hab’ noch keine Luft wieder.“ + +Es dauert nicht lange, und das Schwert sitzt uns wieder im Körper und +wir sehnen uns nach der kochenden Hitze des Kessels. + +Wir nehmen ein Tau. Ich winde mich wieder durch und hole den Heizer +fest. Und nun arbeiten wir, ihn hinauszukriegen. Das ist das Schwerste. +Hineinwinden und herauswinden kann man sich. Aber einen leblosen +Menschen da durchzuziehen, das erfordert unendliche Geduld und +Geschicklichkeit und Kenntnisse in der Anatomie. Der Kopf ist rasch +durch. Aber die Schultern. + +Endlich schnüren wir die Schultern zusammen wie ein Paket, ganz fest und +dann können wir ihn hieven und er kommt. + +In den Schneesturm bringen wir ihn nicht, sondern wir lassen ihn im +Kesselraum und legen ihn sogar dicht in die Nähe der Feuer des +Nachbarkessels. Wir binden seine Schultern los. + +Der Atem ist weg. Ganz weg. Aber das Herz pocht. Leise, doch regelmäßig. +Wir gießen ihm Wasser über den Kopf und pressen einen nassen Sack aufs +Herz. Dann fächeln wir ihm Wind ins Gesicht, blasen ihn an wie +Holzkohlen und tragen ihn endlich unter die Windhuze. + +Stanislaw muß rauf und die Windhuze in den Wind stellen, damit frische +Luft auf den Heizer fällt. + +Jetzt läßt sich der Hund von einem Roßtäuscher natürlich nicht sehen; +aber wir brauchen uns nur etwas im Kessel erzählen, dann ist diese +widerwärtige Fratze gleich am Mannloch und stopft uns die Luft ab mit +seiner klobigen Knochenbeule. Er kriegt doch noch den Spitzhammer an den +Kadaver geworfen. Möchte er wenigstens ein Wasserglas Rum für den Heizer +bringen, der Schuft. Wir wollen ihn ja gar nicht trinken. Nur ein +Schlückchen, um den Glasstaub aus der Kehle und aus den Zähnen zu +kriegen. + +Der Heizer ist unter der Windhuze, und ich fange mit Armbewegungen an. +Allmählich kommt er. Und er kommt immer besser. Als wir ihn hoch haben, +auf den Kohlenhaufen setzen und in die Ecke drücken, damit er einen Halt +hat, kommt der Zweite Ingenieur. + +„Was ist denn das, zur Hölle nochmal,“ schreit er gleich, „werdet ihr +bezahlt für Faulenzen oder für was?“ + +Stanislaw oder ich oder wir beide hätten ja nun sagen können: „Der +Heizer war ...“ + +Aber wir hatten beide dasselbe Gefühl, und unser Instinkt war wieder +einmal richtig. Arbeiter brauchen nur auf ihren Instinkt hören, dann +handeln sie schon ganz richtig. + +Gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, hatten wir uns gebückt, in jede +Hand einen sauberen dicken Brocken Kohle genommen und noch in derselben +Sekunde dem Zweiten an seine Knochenbeule und an seinen Kadaver +gefeuert. + +Die Arme um den Kopf herum, rannte er davon. Stanislaw lief ihm ein paar +Schritte nach und schrie: „Du Giftkröte, wenn du einen halben Schilling +für den Pfeffer abziehst, den du erwischt hast, kommst du auf der +nächsten Fahrt in den Feuerkanal und dann in die Aschkanne und du sollst +mich ins Gesicht spucken dürfen, wenn ich dich nicht in die Feuerung +schiebe. Biest von einem Ingenieur.“ + +Das Biest machte keine Meldung beim Skipper. Wäre uns auch ganz egal +gewesen. Wir wären mit Wonne in Dakar ins Gefängnis gegangen. Hat auch +keinen Penny Strafe abgezogen. Solange wir Kessel reinigten, und das +dauerte ein paar Tage, ist er nie wieder in die Nähe gekommen. Von dem +Tage an behandelte er uns wie rohe Eier und bekam mehr diplomatische +Fähigkeiten, als der Erste sie besaß. Wirkt Wunder, wenn man Kohle oder +einen Hammer oder eine Schürstange zur Hand hat, und man weiß sie am +rechten Orte zu gebrauchen. + +Als der Kessel sauber war, bekamen wir zwei Glas Rum und Vorschuß. Wir +in die Stadt und rumgeguckt. Man denkt ja immer, man könnte einen +treffen, den man nicht erwartet. Ich hätte wegpacken können auf einem +Franzosen, der nach Barcelona ging. Aber ich wollte meine vier Monate +Heuer dem Skipper nicht schenken. Warum sollte ich denn umsonst +arbeiten? So ließ ich den netten Franzosen allein. Stanislaw hätte mit +einem Norweger stauen können, der nach Malta ging. Aber er hatte +dieselben Gründe. Die Heuer. Er hatte viel mehr stehen als ich. + +So trieben wir uns im Hafen herum. Stanislaw ging auf den Norweger und +ich schlenderte für mich weiter. + + + 44 + +Da lag weit draußen die Empreß of Madagascar, die Kaiserin von +Madagaskar, ein Engländer, neun Tausend Tonnen, vielleicht noch mehr. +Das wäre so ein Eimerchen, um damit abzuflippen und zu versuchen, für +eine Weile aus dem Grabe aufzustehen und einen Spaziergang zu machen. +Feines neues Bötchen. Wie lackiert, so sauber. Sogar das Gold ist noch +nicht mal abgewettert. Funkelfarbenneu. Aber da ist keine Schanz, da ist +nichts frei, auf so einem pfirsichweichen Backfischlein. Lächelt so +kokett rüber, zwinkert mit den angefärbten Wimperchen und flickert mit +den unterstrichenen Augäpfeln, daß es eine wahre Freude ist. Muß mal +rüber und das holde Geschöpfchen aus der Nähe besehen. + +Verflucht nochmal, wenn nur die Heuer nicht wäre, ich würde wahrhaftig +mal anklingeln. Aber die Heuer lasse ich nicht im Stich. Wenn ich den +Zweiten nur dazu kriegte, daß er mich rausfeuert. Vielleicht einen +Brocken Bolschewistenhetzerei machen. Aber die pfeifen drauf. Hetz’ so +viel du magst, kommst nicht runter. Und machst du es zu bunt, zieht er +dir zwei Wochen Heuer ab. Arbeitest umsonst. + +Wenn die Kaiserin früher abfährt als die Yorikke und ich bin darauf mit +Notheuer, ist nichts mehr zu wollen. Aber wo ladet mich die Empreß +wieder ab? Nach England darf sie mich nicht mitnehmen, wird mich nicht +los. Loswerden muß sie mich. Aber wo? Schiebt mich ab auf ein +Totenschiff, irgendwo unterwegs oder in irgendeinem Hafen, wo gerade ein +Schuppen steht. + +Aber fragen kostet ja nichts. – „Hallo!“ + +„Hallo! What is up?“ Er hat eine weiße Mütze auf, der es runter ruft. + +„Ain’t no chance for a fireman, chap? Ist bei euch keine Stelle frei für +einen Heizer?“ rufe ich hinauf. „Papiere?“ „No, Sir.“ + +„Sorry. Bedaure, nichts zu machen.“ + +Habe ich ja gewußt. Ist ein sauberes Fräuleinchen. Muß alles in Ordnung +sein. Heiratslizenz notwendig. Hat noch eine Mutter, die die Hand drauf +hält. Mutter Lloyd in London. + +Ich gehe lang runter an dem Eimer. Auf dem Achterdeck sitzt Mannschaft. +Spielen Karten. Verflucht nochmal, was reden denn die für ein Englisch. +Das ist ja Yorikkisch. Und das auf einem glattlackierten Engländer, wo +das Gold noch nicht mal abgeblättert ist? Da stimmt etwas nicht. Spielen +Karten, aber zanken sich nicht und lachen nicht. + +Laß mal sehen. Klingelfisch und Haifischflosse, die sitzen da herum und +spielen, als ob sie auf ihrem eignen Grabhügel sitzen und um ihre Maden +spielen. Zu essen haben sie gut, sehen gutgemästet aus. Aber das +traurige Kartenspiel und die trüben Gesichter, und das alles auf einem +brandneuen Engländer? Da stimmt etwas nicht. Was tut denn der überhaupt +hier in Dakar-Hafen? Was hat er denn geladen? + +Eisen, Alt-Eisen. An der Westküste Afrikas? Gleich beim Äquator? +Alt-Eisen? Well, die Dame Kaiserin geht in Ballast heim und nimmt das +Alt-Eisen mit. Nach Glasgow. Bezahlt wenigstens die Fahrt zur Hälfte. +Alt-Eisen ist besser als Sand und Steine. + +Nichtsdestoweniger. Das schöne neue Schifflein Empreß und kann keine +Ladung kriegen von Afrika nach England? + +Wenn ich hier an der Beach liegen würde, hätte ich es in drei Stunden +raus, was da los ist mit der blanken Kaiserin. Sie wird doch nicht etwa +–? Na, bist auch schon eingetrant, siehst auch schon in allen Ecken +Gespenster. Die Empreß of Madagascar, dieser pfirsichweiche und +schwellende Backfisch aus Glasgow sollte hier bereits auf den Strich +gehen? Aufgeschminkt? + +Nein, sie ist nicht geschminkt. Alles Natur. Sie ist keine drei Jahre +alt. Alles echt. Noch nicht einmal eine Niete abgeschliffen am Röckchen. +Alles wie geleckt und duftet gesund oben und unten. Aber die Mannschaft, +die Mannschaft. Da ist etwas nicht in Ordnung. + +Was geht es mich an. Jedes Kind will seine Freude haben. + +Ich gehe zurück zum Norweger. + +Ich setze rauf. Stanislaw ist noch da. Sitzt im Quartier und schnackt +mit ein paar Dänen. Hat eine Büchse guter dänischer Butter in der Tasche +und ein Stück Prachtkäse. + +„Pippip, kommst gerade zur Zeit, kannst Abendbrot mitmachen, ein treues +dänisches Abendbrot, vollwertig und echt“, sagt Stanislaw. + +Wir lassen uns nicht nötigen und machen das Abendbrot mit. + +„Habt ihr den Engländer da drüben gesehen, die Empreß?“ frage ich, +während wir alle im Meßraum sitzen und futtern. + +„Liegt schon eine Weile hier“, sagt einer. + +„Feines Mädchen“, forsche ich nun. + +„Oben Seide, unten meide“, sagt einer von den Dänen. + +„Na?“ frage ich, „meiden? Warum meiden? Ist doch ganz echt.“ + +„Freilich ist sie echt“, ruft ein andrer dazwischen. „Kannst du +notmustern wenn du willst. Mit Honig und Schokolade. Kriegen jeden Tag +Henkersmahlzeit. Pudding und Braten.“ + +„Kreuzdonnerwetter nochmal, komm endlich klar“, sage ich nun. „Was ist +los? Ich habe doch wegen Schanz gefragt, ist nichts zu machen.“ + +„Lieber Freund, siehst doch nicht so aus, als ob du gestern zum +erstenmal Seewasser geschluckt hast. Sie ist ein Leichenwagen.“ + +„Du bist wohl verrückt und mit Teer gepinselt?“ rufe ich. + +„Ein Leichenwagen, sage ich dir“, wiederholt der Däne und gießt sich +Kaffee ein. „Willst du auch noch Kaffee? Wir brauchen mit der Milch, mit +dem Zucker und der Butter nicht sparen. Wir können wühlen. Kannst eine +Büchse Milch mit heimnehmen. Willst du?“ + +„Die Frage allein rührt mich zu Tränen“, sage ich und fülle mir meine +Tasse mit Kaffee, mit richtigem Bohnenkaffee. Ich hatte vergessen, wie +das schmeckt, denn Yorikke gab nur Kaffee-Ersatz mit zwanzig Prozent +Kaffee, damit unser Herz nicht beschädigt würde. + +„Ein Leichenschiff, sage ich dir noch einmal.“ + +„Wie meinst du das? Leichen von Frankreich nach Amerika, daß sie drüben +die Mütter in den Blumentopf pflanzen können, um sich an der Ehre zu +erfreuen und sich am Kriege zur Beendigung aller Kriege begeistern zu +können?“ + +„Rede doch nicht so ausländisch, Mensch.“ + +„Sie fährt Leichen, aber keine Kriegerleichen aus Frankreich.“ + +„Sondern?“ + +„Kleine Engelchen. Seemanns-Engelchen. Seemanns-Leichen, du Sägefisch, +wenn du das nicht endlich verstehst.“ + +„Hat die Kaiserin die an Bord?“ + +„Mensch, mit dir kann man ja Bunkerwände einrennen.“ + +„Natürlich hat die Tante sie an Bord. Siebenachtel fertig. Können zu +Hause in ihrer Dorfkirche schon ruhig in die Gedenktafel für Seeleute +eingekratzt werden. Braucht nicht mehr ausradiert werden. Wenn du deinen +Namen auch auf der Gedenktafel in deiner Dorfkirche haben willst, +brauchst du nur mitgehen. Sieht überhaupt sehr vornehm aus, wenn du +neben deinem Namen stehen hast ‚Empreß of Madagascar‘. Klingt doch nach +etwas. Sieht doch besser aus, als wenn da nur daneben steht Berta oder +Emma oder Nordkap. Man muß auch daran denken, wen du als Nachbar kriegst +auf der Tafel. ‚Empreß of Madagascar‘, da ist Schwung drin, Junge.“ + +„Warum soll denn die schon Versicherung fahren?“ Das leuchtete mir nun +durchaus nicht ein. Das war wieder nur so Gerede. Blasser Neid, weil sie +nicht selber drauf waren, auf dem neuen Eimer. + +„Kinderleichte Sache.“ + +„Ist doch höchstens drei Jahre aus den Windeln“, warf ich ein. + +„Endlich beweist du, daß du länger aus den Windeln bist. Sie ist genau +drei Jahre alt. War für große Fahrt gebaut, Ostasien und Südamerika. +Sollte zwölf Knoten machen. War Bedingung. Als sie losackerte, machte +sie vier und wenn es gut ging vier und einen halben. Das kann sie nicht +aushalten, dabei geht sie pleite.“ + +„Können sie doch umbauen.“ + +„Schon zweimal versucht. Wird immer schlechter. Hat ursprünglich sogar +sechs Knoten gemacht, nach dem Umbau nur noch vier. Die muß runter vom +Wasser, muß die Versicherung bringen. Haben die Versicherung sicher fein +gedreht, daß sie Lloyd passieren konnte. Aber geht ja alles zu +schieben.“ + +„Und nun soll sie abrasseln?“ + +„Sie hat schon zweimal gebrummt. Hat aber nicht gefleckt. Das erstemal +saß sie auf Sand. Sauber wie hingestreichelt. Haben sicher schon in +Glasgow darauf gezecht. Kam aber Schwerwetter hoch mit Mordsflut und die +hob die edle Dame runter vom Sand wie Himmelfahrt mit Trompeten und +Pauken. Und sie schwenkte lustig ab. Da mag der Skipper schön geflucht +haben. Beim zweitenmal, das war vorige Woche, wir lagen schon hier, da +ist sie draußen zwischen Klippen gefegt. Saß fein fest. Drahtlose +Station war zerhauen. Natürlich. Mußte der Skipper Flaggen setzen. +Anstandshalber. Sind doch immer Zeugen rum. Da kam ein französisches +Patrouillenboot, gerade wo der Skipper schon so ganz gemütlich ausbooten +ließ. Die Patrouille flaggte rüber: „Warten. Hilfe unterwegs!“ Da hat +der Skipper aber geflucht. Möchte nur wissen, wie er das Journal wieder +in Ordnung gebracht haben mag. Er hatte es doch schon aufgezaubert. Wird +schön radiert haben, Junge, Junge. Er hatte einen Fehler gemacht. Heißt, +es ging wohl nicht anders. War bei Ebbe aufgesessen. Nun kamen drei +Schlepper und hoben ihn ab von den Klippen bei Flut. Ganz elegant. Hatte +nicht mal eine Schramme abbekommen. Das ist Pech. Muß nun auch die +Bergungskosten bezahlen. Geht alles runter von der Versicherung. Fragt +sich, ob die Versicherung die ganzen Kosten trägt. Hängt vom Journal +ab.“ + +„Und was nun?“ + +„Jetzt macht er den Verzweifler. Muß er machen. Dreimal kann er nicht +abkommen. Dann macht die Versicherung eine Untersuchung und streicht die +Versicherung. Verlangt einen andern Skipper drauf, der treu fährt. Dann +ist es aus. Dann muß die Empreß zum Abwracken. Fahren kann sie nicht.“ + +„Warum liegt sie denn da so lange, wenn sie keine Reparatur hat?“ + +„Kann nicht raus. Hat keine Heizer.“ + +„Das ist Unsinn. Hätte er mich doch nehmen können. Ich sagte ihm doch +rauf, ich sei Heizer.“ + +„Hast du Papiere?“ + +„Sei nicht so albern, Mensch.“ + +„Wenn du keine Papiere hast, nimmt er dich nicht. Er muß ein vornehmes +Gesicht behalten. Tote wären für ihn verdächtig. Aber ob du Zulukaffer +bist oder Hottentotte oder taubstumm, das ist ihm gleichgültig. Mußt nur +Papiere haben und mußt befahren sein. Unbefahrene Leute ist nicht gut, +da kann die Versicherung mauern und Geschichten machen. Die Heizer haben +sich rausgemacht. Haben sich verbrannt und liegen im Hospital, sonst +hätten sie ja nicht fortgekonnt. Die Heizer sind am schlimmsten dran, +die kommen nicht raus, wenn es ein verzweifelter Aufbrummer ist. Da ist +gleich Wasser vor den Kesseln, und die Kessel gehen auch gewöhnlich +gleich hoch, wenn sie so plötzlich kalte Dusche kriegen. Die haben +gleich die explodierende Lungenentzündung weg.“ + +„Wartet er jetzt ab, bis die Heizer wieder raus sind aus dem Hospital?“ + +„Das nützt ihm nichts. Die brauchen nicht mehr rauf, wenn sie nicht +wollen. Können sauber abmustern. Haben feine Papiere und können in Ruhe +auf einen andern warten.“ + +„Wie denkt die Tante denn fortzukommen?“ + +Die Leute lachten in sich hinein, und der, der diesen Fall am besten +studiert zu haben schien, sagte: „Die sind auf Kindsraub aus. Auf +Shanghaien. Kann ich dir zuflüstern, Junge. Ja, eine feine elegante +Dame, die Kaiserin von Madagaskar. Oben Seide, unten meide. Meide, in +die Nähe zu gehen.“ + +Dagegen ist die Yorikke ja eine hochachtbare Dame. Sie täuscht nichts +vor. So wie sie aussieht, so ist sie. Ehrlich bis auf das Gerippe. +Beinahe fange ich an, Yorikke zu lieben. + +Ja, Yorikke, ich muß es dir gestehen: Ich liebe dich. Liebe dich +aufrichtig um deiner selbst willen. Habe an meinen Händen sechs +schwarzblaue Fingernägel und an den Zehen vier schwarzgrünblaue +Zehennägel. Alles um deinetwillen, geliebte Yorikke. Auf die Zehen sind +Roste geschlagen, und jeder Fingernagel hat seine eigne schmerzhafte +Geschichte. Meine Brust, mein Rücken, meine Arme, meine Füße haben +Narben von bösen Brandwunden. Jede einzelne Narbe wurde geboren unter +einem Schmerzensschrei, der dir galt, Geliebte. + +Dein Herz heuchelt nicht. Dein Herz weint nicht, wenn es nicht zum +Weinen fühlt, es jubelt nicht, wenn es keine Freude fühlt. Dein Herz +heuchelt nicht, es ist rein und lauter wie pures Gold. Wenn du lachst, +Herzliebste, so lacht deine Seele, lacht dein Leib und lacht dein +lustiges Zigeunerkleid. Und wenn du weinst, Herzallerliebste, dann weint +selbst das kalte Riff, an dem du vorübergehst. + +Ich will dich nimmermehr verlassen, Geliebte, nicht um alle Schätze der +Welt. Ich will mit dir wandern, mit dir singen, mit dir tanzen und mit +dir schlafen. Ich will mit dir sterben, in deinen Armen meinen letzten +Seufzer tun, du Zigeunerin der Meere. Du protzest nicht mit deiner +glorreichen Vergangenheit und deinem uralten Stammbaum bei Tantchen +Lloyd in London. Du protzest nicht mit deinen Lumpen, und du spielst +nicht mit ihnen. Sie sind dein rechtmäßiges Gewand. Du tanzest in deinen +Lümpchen froh und stolz wie eine Königin und singst dein Zigeunerlied, +dein Lumpenlied: + + + DAS TANZLIED DES TOTENSCHIFFES + + Was gehn euch meine Lumpen an? + Da hängen Freud’ und Tränen dran. + Was kümmert euch denn mein Gesicht? + Ich brauche euer Mitleid nicht. + + Was kümmert euch, was mir gefällt? + Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt. + In euren Himmel will ich gar nicht rein, + Viel lieber dann schon in der Hölle sein. + + Ich brauch’ gewiß nicht eure Gnaden, + Und selbst wenn Tote ich geladen, + Wenn Schimpf und Schand’ sind an mir dran, + Euch geht das einen Sch...dreck an. + + Ich pfeife auf das Weltgericht. + An Auferstehung glaub’ ich nicht, + Ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht, + Und Höllenstrafen fürcht’ ich nicht. + + Hopla he, auf weiter See, + Hopla, hopla, he! + + + + + DRITTES BUCH + + + ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN + DA DRAUSSEN KREUZ UND QUER; + DOCH KEINS KANN SO VERRUFEN SEIN, + DASS NICHT MANCH ANDRES + SCHLIMMER WÄR’. + + + 45 + +Mag sein, daß man seine Frau nicht zu sehr lieben darf, wenn man sie +behalten will. Sie langweilt sich sonst und läuft zu einem andern, um +geprügelt zu werden. + +Es war verdächtig, sehr verdächtig, daß ich die Yorikke plötzlich so +innig zu lieben begann. Aber wenn man soeben die gräßliche Geschichte +eines Kindsräubers vernommen hat, in der einen Tasche eine Büchse Milch, +in der andern eine Büchse guter dänischer Butter trägt, kann man wohl +Liebesgedanken bekommen und diejenige lieben, die in ihren Lumpen +liebenswerter ist als Leichenräuber in seidenen Kleidern. + +Aber verdächtig war diese aufkeimende Liebe doch. Etwas war nicht in +Ordnung. Da war die Aschenhuze gewesen. Und nun war auch noch Yorikke, +die ich mit heißer Inbrunst liebte. Das wollte mir nicht gefallen. Da +stimmte etwas nicht. + +Im Quartier war es nicht auszuhalten. Die Luft stand dick und schwer und +drückte auf das Hirn. + +„Laß uns wieder rausgehen,“ sagte ich zu Stanislaw, „wir schlendern am +Wasser herum bis es kühler wird. Nach neun wird sicher eine Brise +aufkommen. Dann gehen wir heim und legen uns aufs Deck.“ + +„Hast recht, Pippip“, gab Stanislaw zu. „Hier kann man weder schlafen +noch sitzen. Wir können mal raufgehen zu dem Holländer, der da oben +liegt. Vielleicht sehe ich einen Bekannten.“ + +„Immer noch Hunger?“ fragte ich. + +„Nein, aber vielleicht kann ich ihnen ein Stück Seife abnehmen und ein +Handtuch. Wäre ganz gut mitzunehmen.“ + +Wir trotteten langsam los. Es war inzwischen ganz finster geworden. Die +Hafenlampen waren nur spärlich erleuchtet. Es wurde nirgends geladen. +Die Schiffe glimmerten schläfrig durch die abendliche Dunkelheit. + +„Berühmt ist der Tabak aber auch nicht, den uns die Norweger gegeben +haben“, sagte ich. + +Kaum hatte ich das ausgesprochen und mich dabei Stanislaw zugewandt, um +Feuer von ihm zu kriegen, als ich einen mächtigen Hieb über den Schädel +erhielt. Ich fühlte den Schlag ganz deutlich, konnte mich aber nicht +bewegen, meine Beine wurden merkwürdig plump und dick und ich fiel hin. +Es sauste und brummte entsetzlich um mich herum und es tat drückend weh. + +Das dauerte aber nicht lange, schien mir. Ich stand wieder auf aus +meiner Betäubung und wollte weitergehen. Aber ich lief gegen eine Wand, +gegen eine Holzwand. Wie konnte das sein? Ich ging links, doch auch da +war eine Wand. Und rechts war eine Wand und hinter mir war eine Wand. +Und alles war finster. Mein Kopf summte und dröhnte. Ich konnte nicht +denken, wurde müde und legte mich wieder auf den Boden. + +Als ich abermals aufwachte, waren die Wände noch immer da. Aber ich +konnte nicht ruhig stehen. Ich schwankte. Nein, das war es nicht, der +Boden schwankte. + +Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß jetzt, was los ist. Ich bin +auf einem Boot, auf einem Eimer, und der ist auf hoher See. Schwimmt +lustig voran. Die Maschinen stampfen und bollern. + +Mit beiden Fäusten und endlich auch mit den Füßen hämmere ich gegen die +Wände. Es scheint niemand etwas zu hören. Aber nach längerer Zeit, als +ich wieder und wieder die Wände bearbeitet und auch mit Schreien mein +Trommeln unterstützt habe, wird eine Luke aufgemacht und es leuchtet +jemand mit einer elektrischen Taschenlampe herein. + +„Haben Sie jetzt Ihren Soff ausgeschlafen?“ werde ich gefragt. + +„Scheint, ja“, sage ich. + +Es braucht mir niemand etwas erzählen, ich weiß bereits, was los ist. +Kindsraub, shanghaied. Ich bin auf der Empreß of Madagascar. + +„Sie sollen zum Skipper kommen“, sagt der Mann. + +Es ist heller Tag draußen. Ich klettere die Leiter hoch, die der Mann +durch die Luke schiebt und bin bald darauf auf dem Deck. + +Ich werde zum Skipper geführt. + +„Feine Leute seid ihr, muß ich sagen“, schreie ich gleich, als ich in +die Kabine komme. + +„Bitte?“ sagt der Skipper ganz ruhig. + +„Kindsräuber. Shanghaier. Engelmacher. Leichenfledderer. Das ist es, was +ihr seid“, schreie ich. + +Der Skipper bleibt ungerührt, steckt sich ruhig eine Zigarre an und +sagt: „Es scheint, Sie sind noch nicht ganz nüchtern. Wir werden Sie mal +in kaltes Wasser tauchen müssen, damit der Rauch abzieht.“ + +Ich sehe ihn an und sage nichts. + +Der Skipper drückt auf einen Knopf, der Steward kommt und der Skipper +nennt zwei Namen. + +„Setzen Sie sich“, sagt der Skipper nach einer Weile. + +Es kommen zwei widerliche Kerle rein. Verbrechergesichter. + +„Ist das der Mann?“ fragt der Skipper. + +„Ja, das ist er“, bestätigen die beiden. + +„Was tun Sie hier auf meinem Schiff?“ sagt der Skipper jetzt zu mir in +einem Tone, als ob er Vorsitzender eines Schwurgerichts wäre. Vor sich +hat er Papier liegen, auf dem er mit einem Bleistift kritzelt. + +„Das möcht ich gern von Ihnen wissen, was ich hier auf dem Schiff +mache“, antworte ich. + +Nun redet der eine dieser beiden Verbrecher. Sie scheinen Italiener zu +sein nach der Art, wie sie die Brocken Englisch herausbringen. + +„Wir wollten gerade die Ladekammer elf reinigen, und da fanden wir den +Mann hier besoffen in einer Ecke liegen, wo er fest schlief.“ + +„Also“, sagt darauf der Skipper, „dann ist das ganz klar. Sie wollten +sich auf meinem Schiff blind wegpacken, um nach England zu kommen. Sie +werden das nun wohl nicht mehr bestreiten wollen. Ich kann Sie leider +nicht über Bord werfen, was ich ja eigentlich tun müßte. Verdienten +eigentlich, daß ich Sie ein halbes Dutzend mal am Lademast schleifen +lasse und Ihnen die Haut ein wenig abschinde, damit Sie dran denken, daß +ein englisches Schiff nicht dazu dient, Verbrecher, die von der Polizei +verfolgt werden, in Sicherheit zu bringen.“ + +Was sollte ich da lange reden. Er hätte mir von diesen italienischen +Sträflingen die Knochen zerschlagen lassen, wenn ich ihm gesagt hätte, +was ich von ihm denke. Er würde es überhaupt tun schon für das, was ich +ihm gleich am Anfang erzählt habe. Aber er hat ja nur Interesse an +meinen gesunden Knochen und nicht an meinen zerschlagenen. + +„Was sind Sie?“ fragte er nun. + +„Schlichter Deckarbeiter.“ + +„Sie sind Heizer.“ + +„Nein.“ + +„Sie haben sich doch hier gestern als Heizer angeboten?“ + +Ja, das hatte ich, und das war mein Fehler. Seitdem haben die mich nicht +mehr aus den Augen gelassen. Hätte ich damals gesagt, Deckarbeiter, +hätten sie vielleicht kein Interesse an mir gehabt. Heizer waren es, die +sie brauchten. + +„Da Sie also Heizer sind und Sie Glück haben dadurch, daß mir zwei +Heizer krank geworden sind, so können Sie als Heizer arbeiten. Sie +bekommen englische Heizerheuer, zehn Pfund zehn ist sie augenblicklich. +Aber ich kann Sie nicht heuern. Wenn wir nach England kommen, habe ich +Sie den Behörden zu übergeben; und Sie werden, je nachdem der Richter +Ihnen geneigt sein wird, zwei bis sechs Monate abmachen müssen und dann +natürlich Deportation. Aber hier werden Sie, solange wir auf Fahrt sind, +als regelrechtes Mitglied der Mannschaft unsrer Empreß of Madagascar +behandelt. + +Wir können uns gut vertragen, wenn Sie Ihre Arbeit tun. Wenn wir uns +nicht vertragen können, gibt es kein Wasser, lieber Freund. Ich denke +also, wir vertragen uns lieber. Um zwölf beginnt ihre Wache. Ihre Wachen +sind sechs und sechs Stunden; die zwei Stunden je Wache mehr, werden +Ihnen bezahlt mit einem Schilling sechs Pence die Stunde.“ + +Da war ich nun Heizer auf der Empreß of Madagascar, auf der Fahrt zu dem +Gedenkstein in der Dorfkirche. Ich hatte keine Dorfkirche, also blieb +mir nicht einmal diese Ehre. + +Die Heuer war gut, da ließ sich Geld dabei machen. Aber in England +Gefängnis wegen Schiffschleichens und dann vielleicht noch Jahre im +Gefängnis warten auf Deportation. Doch das war ja eben die Sache. Die +Heuer bekam ich nicht, weil die Fische sie nicht auszahlen werden. Komme +ich heil raus, ich kriege keinen Nickel Heuer, ich bin nicht treu +gemustert. Kein englischer Konsul erkennt diese Strafmusterung an. +Gefängnis und Deportation rühren mich nicht. Wir kommen nicht nach +England. Nur ja keine Sorge. Wollen uns doch mal die Boote ansehen. Die +Boote sind fertig. Da wird es also in den nächsten Tagen losgehen. Erste +Bedingung ist, alles klarmachen, um auf alle Fälle aus dem Kesselraum zu +kommen. Beim leisesten Knirscher weg vom Kessel und hoch wie der Satan. + + + 46 + +Die Quartiere sind wie Salons. Sauber und neu. Stinken nur unerträglich +nach frischer Farbe. Matratzen im Bunk, aber kein Kissen, keine Decke, +kein Laken. Kaiserin von Madagaskar, bist nicht so reich wie du von +draußen aussiehst. Oder die haben schon alles gezockelt und vermünzt, +was gerettet werden konnte. + +Geschirr gibt es auch nicht. Aber man kann es schon leichter +zusammenklauben, weil da was übrig ist und dort was herumliegt. Das +Essen wird von einem italienischen Jungen gebracht, damit hat man also +nichts zu tun. Das Essen ist ausgezeichnet. Freilich, unter +Henkersmahlzeit verstehe ich etwas andres. + +Rum gibt es hier überhaupt nicht, wie mir von einem erzählt wird. Der +Skipper ist Anti, schon faul. + +Schiffe ohne Rum stinken wie Jauche. + +Ich sitze im Meßraum des Kesselpersonals. + +Der Meßboy ruft die Leute aus den Bunks zum Essen. Es kommen zwei +schwere Neger herein, die Kohlschlepps. Und dann kommt ein Heizer +herein, der auf Freiwache ist. + +Den Heizer kenne ich. Sein Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. Das +Gesicht ist aufgeschwommen, und um den Kopf hat er eine Binde. + +„Stanislaw, du?“ + +„Pippip, du auch?“ + +„Wie du siehst. Mitgegangen, mitgefangen“, sagte ich. + +„Du bist ja noch ganz gut davon gekommen. Ich habe mich mit ihnen schwer +gekloppt. Ich kam gleich wieder hoch, nachdem ich den ersten Schlag weg +hatte. Du lagst fest, hattest gleich einen saftigen gekriegt. Aber als +du so plötzlich umknicktest, bückte ich mich nach dir und so kriegte ich +nur einen halben. Gleich war ich wieder auf. Und nun ging die Bürsterei +los. Waren gleich vier herum. Und ich habe ganz verflucht was auf den +Schädel gekriegt.“ + +„Was haben sie dir denn für eine Geschichte erzählt?“ fragte ich. + +„Ich hätte mich gekloppt, hätte einen erstochen und dann hätte ich mich +auf dem Eimer versteckt, weil die Polizei hinter mir her gewesen sei.“ + +„Mir haben sie etwas Ähnliches erzählt, die Kindsräuber“, sagte ich. +„Unsre Heuer von der Yorikke sind wir nun auch noch los, und hier +kriegen wir nie einen Cent.“ + +„Dauert ja nur ein paar Tage. Ich denke übermorgen wird es schon soweit +sein. Es ist ein Platz, wie er ihn sich nicht besser wünschen kann. Kann +sich schön sauber hinlegen wie gemalt. Kommt niemand her und deckt das +Gesicht ab. Um fünf ist Exerzieren an den Booten. Merkst was, he? Wir +sind nicht dabei, wir sind gerade dann auf Wache. Wir sind beide Boot +vier, Heizer von Wache zwölf bis vier. Ich habe die Liste gesehen, hängt +im Gangweg.“ + +„Weißt du schon, wie es vor den Kesseln ist?“ fragte ich. + +„Zwölf Feuer. Vier Heizer. Die beiden andern sind Neger. Auch die +Schlepps sind Neger. Da die beiden, die am Tisch sitzen.“ Stanislaw +deutete rüber zu den starken Burschen, die gleichgültig an ihrem Essen +würgten und uns kaum zu bemerken schienen. + +Um zwölf traten wir unsre Wache an. Die vorige Wache hatte der Donkeyman +mit den Negern gemacht. + +Die Feuer sahen bös aus, und wir hatten beinahe zwei Stunden wild zu +arbeiten, bis wir sie in Ordnung hatten. Alles war verschlackt; +aufzuschmeißen verstanden die schwarzen Heizer auch nicht. Sie +pfefferten die Kohle hinein, und damit gaben sie sich zufrieden. Daß +Heizen eine Kunst ist, die mancher nie lernt, davon schienen sie nichts +zu wissen, obgleich sie offenbar schon einige Jahre vor den Kesseln +arbeiteten und sicher schon eine gute Anzahl von Schiffen abgedient +hatten. + +Mit den Rosten hatten wir hier nur wenig Arbeit. Brannte einer durch, so +ließ er sich rasch einsetzen ohne daß er nachfiel oder gar andre mitriß. +Die Schlepps, riesenhafte Neger, mit Armen wie Oberschenkel und einem +Körperbau, daß man glaubte, sie könnten einen ganzen Kessel auf ihren +Schultern fortschleppen, brachten die Kohle verteufelt langsam heran, +und wir mußten ihnen ganz gehörig den Marsch blasen, bis sie sich +endlich herbeiließen, zu arbeiten. Sie stöhnten in einem fort, daß es zu +heiß sei, daß sie keine Luft bekämen, daß sie vor Staub nicht schlucken +könnten, und daß sie sicher verdursten würden. + +„Na, Pippip,“ sagte Stanislaw, „da mußten wir ganz anders ziehen auf der +alten Yorikke. Was tun die Kerle nur mit ihren Knochen? Ehe die eine +halbe Tonne heran haben, hole ich sechs und puste noch nicht einmal +dabei. Und hier liegen ihnen die Kohlen direkt vor der Nase.“ + +„Gerade jetzt fing auf der Yorikke wieder eine schöne Zeit für eine +Woche an“, sagte ich. „Sie hatte gerade frisch gekohlt und die Schächte +und Kesselbunker lagen gepfropft, daß es ein wahrer Spaß hätte sein +müssen für die nächste Fahrt. Aus. Schiet Yorikke. Haben jetzt andres zu +denken.“ + +Ich sah mich um. + +„Habe auch schon herumgeblickt“, sagte Stanislaw. „Wir müssen Luftlöcher +suchen. Zur Leiter kommt man nicht immer. Bricht meist weg, wenn sie +richtig aufknallt. Und wenn gar noch die Kessel oder die Rohre anfangen +zu summen und zu spucken, dann ist die Leiter eine verfluchte +Rattenfalle. Kannst nicht mehr runter, nicht mehr rauf.“ + +„Der Oberbunker hat eine Luke zum Deck“, sagte ich. Ich war eben oben +gewesen und hatte untersucht. „Wir müssen die Luke immer klar haben, +wenn wir auf Wache gehen. Dann baue ich eine Lattenleiter, und die +halten wir immer hier an der Schachtluke. Wenn es knirscht, sofort raus, +rauf, hoch und raus zur Deckluke.“ + +Wir arbeiteten uns nicht blöd. Es schien den Ingenieuren auch ganz +gleich zu sein. Solange die Maschine lief, war es recht. Ob sie große +Fahrt machte oder kleine, kam nicht in Betracht. + +Es hätte alles ganz nach Vorschrift gehen können. Ein paar Löcher unten +in den Mantel gedrillt, nicht größer als einen halben Zoll, und mit +ihrer Sargeinlage Alteisen wäre die Empreß sanft und selig +eingeschlafen, weggesackt wie ein Stein. Nur noch der Pumpe einen Klaps +gegeben. Aber vor dem Seegericht kann das manchmal fehlgehen, und wenn +die ganze Mannschaft heil abkommt, so ist das immer verdächtig. Zwei +Tage waren es nur. Wir hatten gerade die Wache übernommen und waren mit +dem Ausschlacken halb durch, da hörte ich einen furchtbaren Knall und +ein Krachen. Ich flog zuerst gegen die Kessel und dann zurück in einen +Kohlenhaufen. + +Gleich darauf standen die Kessel senkrecht über mir, ein paar +Feuerungstüren brachen auf und die Glut fiel in den Kesselraum. Zur +Lattenleiter brauchte ich nicht hinaufsteigen, ich konnte auf ebener +Fläche zu der Schachtluke gehen. + +Stanislaw war schon raus. + +Als ich in den Bunker kam, kletterte er gerade durch die Luke. + +In diesem Augenblick hörten wir einen gräßlichen Schrei aus dem +Kesselraum. + +Stanislaw hatte den Schrei auch gehört und drehte sich um. + +„Das war Daniel, der Schlepp“, rief ich Stanislaw zu. „Ich glaube, er +sitzt fest.“ + +„Verflucht, runter, aber rasch“, schrie Stanislaw. + +Ich war schon wieder drin im Kesselraum. Die Kessel standen noch immer +Kopf, und jede Sekunde konnte einer losfahren in die Lüfte. Das +elektrische Licht war verlöscht, weil offenbar das Kabel durchgerissen +war. Aber die Glut gab Licht genug, wenn es auch recht gespensterhaft +aussah. + +Daniel, der eine Neger, lag lang und war mit seinem linken Fuß von einer +losgelösten Platte eingeklemmt. Er schrie und schrie, weil die Glut ihn +schmorte. + +Wir versuchten, die Platte zu heben, aber es ging nicht, wir kriegten +sie nicht hoch und konnten mit der Schürstange nicht heran, um sie +hochzuheben. + +„Geht nicht, Daniel, Fuß sitzt fest.“ Ich schrie es in wahnsinniger Eile +auf Daniel ein. + +Was tun? Sollen wir ihn hierlassen? + +„Wo ist der Hammer?“ schreit Stanislaw. + +Schon ist der Hammer zur Hand, und in derselben Sekunde haben wir eine +Schaufel glattgeklopft, und ohne Besinnen schlägt Stanislaw dem Neger +den Fuß ab. Drei Hiebe waren nötig. Wir schleiften Daniel zur +Schachtluke, schleiften ihn durch den Bunker und zerrten ihn durch die +Deckluke. + +Draußen packte der andre Neger unsrer Wache, der sich rechtzeitig in +Sicherheit gebracht hatte, sofort zu. Wir überließen ihm Daniel und +kümmerten uns nun um uns selbst. + +Das Quartier lag bereits im Wasser. Die Empreß ragte mit dem Stern hoch +in die Luft. Das war beim Bootsexerzieren nicht ausprobiert worden. Es +stand alles ganz anders, als man es gewöhnt war. Eine Weile hatte noch +das Licht gebrannt. Der Ingenieur hatte es zu den Akkumulatoren +durchgeschaltet. Jetzt verglimmte es langsam, weil die Akkumulatoren +wahrscheinlich auszulaufen begannen oder die Kabel irgendwo Widerstände +aufnahmen. Elektrische Taschenlampen und Notlaternen mußten helfen. + +Vom Quartier sah ich niemand. Die waren schon fertig. Die konnten nicht +mehr raus. Gegen die Tür lehnten einige Tonnen Wasserdruck. + +Boot zwei riß sich los und war im Augenblick vom Seegang fortgeschwemmt, +ohne daß auch nur ein Mann drin saß. + +Boot vier war nicht zu holen. Lag nicht klar. + +Boot eins war klar, und der Skipper kommandierte die Besatzung. Dann +stand es bei und wartete auf ihn, weil er anstandshalber auf Deck blieb. +Das Seegericht sieht so etwas gern und lobt es. + +Nun kam auch Boot drei klar. Hier flitzten Stanislaw und ich hinein, +zwei Ingenieure, der gesunde Negerschlepp und Daniel mit dem abgehackten +Fuß, der jetzt mit einem Hemd verbunden war; ferner kriegten wir den +Ersten Offizier und den Steward. + +Die Kessel schienen brav zu halten und waren vielleicht durch die +herausgefallenen Feuer beruhigt worden. Pflaumenmus gab es ja hier +nicht. + +Wir stießen ab. Der Skipper war inzwischen in Boot eins gesprungen, und +auch dieses Boot lief klar ab. + +Aber ehe es seine Riemen gestreckt hatte, wurde es von der See heftig +gegen den Schiffsleib geschleudert. Immer wieder versuchten sie, klar zu +kommen. + +Da plötzlich löste sich ein Etwas von dem Schiffe los und schlug mit +brechendem und splitterndem Getöse auf das Boot. Man hörte ein Schreien +von vielen Stimmen und dann war alles still, als wären Schrei, Boot und +Besatzung mit einem Ruck von einem großen Maul verschluckt worden. + +Wir waren ganz schön abgekommen und pullten lustig drauf los. Kurs zur +Küste. + +Große Fahrt machten wir nicht mit den paar Riemen. Die Wogen gingen +verteufelt hoch, und wir standen manchmal zwei Bootslängen hoch an einer +steilen Wasserwand. Dann spreizten die Riemen in der Luft, konnten nicht +einlegen, und wir wurden kreuz und quer geschleudert. Der Ingenieur, der +mit an den Riemen saß, sagte da plötzlich: „Wir sitzen ziemlich flach. +Kaum drei Fuß. Auf Fels.“ + +„Nicht möglich“, erwiderte der Erste Offizier. Er tastete nach dem +Riemen, lotete und sagte dann: „Sie haben recht. Raus, raus.“ + +Er hatte den Befehl noch halb im Munde, da gingen wir steil an einer +Wand hoch. Die Welle nahm uns wie eine kleine Untertasse und haute das +ganze Boot mit solcher Wucht auf den Fels, daß es in tausend Splitter +ging. + +„Stanislaw!“ schrie ich hinaus in das Toben der Wellen. „Hast du was, wo +du kleben kannst?“ + +„Nicht einen dürren Strohhalm“, schrie er mir zu. „Ich schwimme zurück +zum Eimer. Der steht ein paar Tage gut so, wie er da steht. Der fällt +dir so leicht nicht auf die Zehen.“ + +Die Idee war nicht schlecht. Ich versuchte, Kurs auf das schwarze +Ungetüm zu halten, das sich gegen den Nachthimmel klar abhob. + +Und verflucht nochmal, wir kamen beide ran, obgleich wir einige +dutzendmal immer wieder zurückgeschleudert worden waren. + +Wir kletterten rauf und suchten in Mittschiff zu kommen. Das war nicht +so leicht. Die Achternwand bildete jetzt das Deck oder das Dach für das +Mittschiff. Die beiden Korridore waren tiefe Schächte geworden, in die +hinunterzukommen während der Nacht nicht gut vollführt werden konnte und +selbst bei Tage seine Schwierigkeiten haben würde. Die Wogen gingen +außerordentlich hoch und schienen an Wucht noch zuzunehmen. Offenbar +waren wir bei Ebbe aufgebrummt, denn das Wasser begann zu steigen. + +Die Empreß stand fest wie ein Turm, eingeklemmt in einer Riffspalte. Wie +sie in diese unschiffsmäßige Lage kommen konnte, wußte wohl nur sie +allein. Sie zitterte kaum und bebte nicht, so fest stand sie. Nur +manchmal, wenn ein besonders schwerer Brecher gegen ihren Panzer tobte, +zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie ihn abschütteln. Sturm war +gar nicht. Der Aufruhr lag nur in der schweren See. Es sah auch nicht +danach aus, als ob Sturm aufkommen würde. Nicht in den nächsten sechs +Stunden. + +Dann graute der Himmel. Die Sonne ging auf. Frisch gewaschen stieg sie +aus ihrem Seebade empor zu den weiten Höhen. + +Zuerst lugten wir aus über die See. Es war nichts zu sehen. Kein Mann +schien übrig zu sein. Daß irgendeiner aufgepickt worden war, glaubte ich +nicht; auch Stanislaw bezweifelte es. Wir hatten kein Schiff passieren +sehen. Außerdem lagen wir nicht in der Route. Der Skipper war +herausgegangen, um nicht abermals von Patrouillen oder Passanten gesehen +zu werden. Der Spaß war für ihn teuer geworden. Er hatte an eine ruhige +friedliche Abwicklung des Geschäfts gedacht. Daß er vom Quartier keinen +Mann mitbekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Wären die beiden +Boote richtig bemannt gewesen, hätte das ein Vergnügen sein müssen, klar +abzukommen. + + + 47 + +Als es völlig hell geworden war, versuchten wir, den Korridorschacht +hinabzuklettern. Mit einiger Sorgfalt ging es auch. Wir benutzten die +Türen zu den einzelnen Kabinen und die Wandrippen als Sprossen, und so +ging es viel rascher und schneller, als wir gedacht hatten. + +Auf dem Boden des Schachtes befanden sich die beiden Kabinen des +Skippers. Ich fand einen Taschen-Schiffskompaß, den ich gleich mit +Beschlag belegte, aber Stanislaw anvertraute, weil ich keine Tasche +hatte, wo ich ihn aufbewahren konnte. Es waren auch zwei kleine +Wassertanks in der Kabine, einer diente für Waschwasser und einer für +Trinkwasser. Um Wasser waren wir nun für einige Tage nicht verlegen, +denn ob die Pumpen in der Galley würden Wasser ziehen können, mußten wir +erst noch ausprobieren. Vielleicht war der Frischwassertank überhaupt +schon ausgelaufen. + +Auf der Yorikke hatten wir ja jedes Plätzchen gewußt, wo was zu holen +war. Hier mußten wir erst damit beginnen, alles zu suchen. Aber +Stanislaw hatte eine gute Nase und hatte die Vorratskammer, die Pantry, +im Augenblick entdeckt, sobald nur die Frage nach dem Frühstück +auftauchte. Verhungern konnten wir zwei Mann innerhalb der nächsten +sechs Monate nicht. Und wenn wir genügend Wasser noch hatten, ließ es +sich für eine Weile aushalten. In der Pantry waren mehrere Kasten mit +Mineralwasser, Bier und Wein. Ganz schlimm konnte es nicht werden. + +Der Kochherd wurde auch wieder aufgerichtet, und so konnten wir auch +kochen. Wir probierten die Pumpen für Frischwasser aus. Die eine zog +nicht an, dagegen um so besser die andre. Das Wasser war noch etwas trüb +von dem aufgerüttelten Schlamm, der sich am Boden festgesetzt hatte, +aber das würde sich nach einem Tage schon geben. + +Mir wurde übel zumute, und auch Stanislaw zeigte Unbehagen. + +„Mensch,“ sagte er mit einemmal, „was sagst du dazu, ich werde +seekotzig. Verflucht nochmal, das ist mir denn doch noch nicht +passiert.“ + +Ich konnte mir das nicht erklären, denn mir wurde immer kläglicher +zumute, während der Eimer doch ziemlich still stand. Das Herantoben der +Brecher und das gelegentliche Erzittern des Eisenkolosses konnte ein so +erbärmliches Gefühl doch nicht auslösen. + +„Nun kann ich dir sagen, was los ist, Stanislaw“, gab ich nach einer +Weile zur Antwort. „Die verrückte Lage der Kabinen ist es, was uns +kotzig macht. Alles steht schräg und steil. Da muß man sich erst daran +gewöhnen.“ + +„Ich glaube, du hast recht“, meinte er, und sobald wir draußen waren im +Freien, war das üble Empfinden sofort weg, obgleich einem auch die ganze +Lage des Schiffes, die so blödsinnig toll zum Horizont stand, auf das +Gleichgewichtsempfinden schlug. + +„Siehst,“ sagte ich jetzt zu ihm, als wir draußen saßen und des Skippers +gute Zigarren rauchten, „es ist nur die Einbildung, nichts weiter. Ich +bin sicher, wenn wir einmal heraus haben, was in unserm Leben alles +Einbildung und was Tatsache ist, werden wir noch recht sonderbare Dinge +lernen und die ganze Welt von einem andern Gesichtswinkel aus +betrachten. Wer weiß, welche Folgen das haben kann.“ + +So sehr wir auch Ausschau hielten, ein Schiff war nicht zu sehen. Nicht +einmal eine Rauchfahne konnten wir erblicken. Wir lagen zu weit +außerhalb der üblichen Fahrstraßen. + +„Wir können hier das schönste Leben führen, das wir je geträumt haben,“ +philosophierte Stanislaw, „haben alles, was wir uns nur wünschen, können +essen und trinken, was wir wollen und soviel wir wollen, kein Mensch +stört uns, und arbeiten brauchen wir auch nicht. Trotzdem möchten wir +fort, je rascher, je lieber, und wenn kein Eimer uns abholen kommt, +müssen wir doch bald sehen, runter zu kommen und versuchen, die Küste zu +machen. Immer jeden Tag dasselbe, das ist es, was man nicht ertragen +kann. Ich denke mir manchmal, auch wenn es wirklich ein Paradies geben +würde, was ich ja nicht glaube, weil ich mir nicht vorstellen kann, wo +die Reichen hingehen, ich würde nach drei Tagen im Paradiese eine +gräßliche Gotteslästerung verüben, nur um wieder rauszukommen und nicht +immerfort fromme Lieder singen zu müssen und zwischen alten +Betschwestern und Pfaffen und Muckern zu sitzen.“ + +Da mußte ich aber doch lachen: „Habe nur ja keine Bange, Stanislaw, wir +beide kommen nicht da rein. Wir haben ja keine Papiere. Und kannst dich +heilig drauf verlassen, die verlangen da oben auch Papiere, Pässe und +Taufzeugnisse von dir, und wenn du die nicht beibringen kannst, machen +sie dir die Türe vor der Nase zu. Frag’ nur den Pfaffen, er wird es dir +sofort bestätigen. Mußt Heiratslizenz beibringen, kirchlichen +Trauschein, Taufschein, Konfirmationsschein, Firmungsschein, +Kommunionsstempel und Beichtzettel. Ginge das da oben so glatt ohne +Papiere, wie du dir das zu denken scheinst, brauchten die hier unten ja +keine ausstellen. Auf die Allwissenheit scheinen sie sich nicht zu +verlassen, besser ist es schon, man hat es schwarz auf weiß und +ordnungsmäßig abgestempelt. Wird dir jeder Pfaff erzählen, daß der +Torwächter da oben ein großes Bund mit Schlüsseln hat. Wozu? Zum +Abschließen der Türen, damit nicht doch vielleicht einer ohne Visa über +die Grenze schleichen kann.“ + +Stanislaw saß eine Weile still und sagte dann: „Merkwürdig, daß ich +gerade so drauf komme, aber die ganze Geschichte hier will mir nicht +recht gefallen. Es geht uns viel zu gut. Und wenn es einem so ganz +ausnahmsweise gut geht, so ist etwas nicht in Ordnung. Ich kann das +nicht vertragen. Es ist immer, als ob man auf Mastkur geschickt wird, +weil eine besonders schwierige Sache auf einen wartet, die man ohne jene +gute Vorbereitung und Erholung sonst nicht bewältigen kann. War bei der +K. M. auch so. Immer wenn was Besonderes bevorstand, gab es vorher ein +paar gute Tage. War auch so, ehe wir rauf nach Skagen glitschten.“ + +„Da redest du aber nun einmal richtigen Kohlgulasch“, sagte ich zu ihm. +„Wenn dir ein gebratenes Hühnchen ins Maul fliegt, dann spuckst du es +wieder aus, nur damit es dir nicht gut gehen soll. Die schwierige Sache +kommt ganz von selbst, verlaß dich drauf. Um so besser, wenn du vorher +in der Sommerfrische warst. Wenn du eine Mastkur hinter dir hast, dann +kannst du die schwierige Sache unterkriegen, andernfalls kriegt sie +vielleicht dich unter.“ + +„Verflucht, du hast recht“, rief Stanislaw nun wieder gutgelaunt. „Ich +bin ein altes Schaf. Ich habe sonst auch noch nie solche blöden Gedanken +gehabt. Gerade heute. Es kam mir so, als ich dachte, vorn im Quartier, +oder ich muß ja eigentlich sagen: da unten zu unsern Füßen, da liegen +die Burschen alle schwimmend hinter der Tür, auf demselben Kasten wie +wir. Weißt, Pippip, man soll keine Leiche auf einem Kasten fahren, das +bringt den Gast herbei. Ein Schiff ist lebendig, das mag keine Leichen +in der Nähe haben. Als Fracht, meinetwegen. Das ist etwas andres. Aber +nicht so herumliegende, so herumschwimmende Leichen.“ + +„Können wir doch nicht ändern“, sagte ich. + +„Das ist es gerade, was ich meine“, antwortete Stanislaw. „Wir können es +nicht ändern. Und das ist das Schlimme. Alle die andern sind +abgerasselt. Wir beide sind allein noch übrig. Da stimmt etwas nicht.“ + +„Nun will ich dir etwas sagen, Stanislaw, wenn du mit dieser blöden +Pinselei nicht aufhörst, dann – nein, runterschmeißen will ich dich +nicht, wirst es dir ja auch nicht gefallen lassen. Aber dann rede ich +mit dir keine Silbe mehr, und wenn ich dadurch meine Sprache verlernen +sollte. Dann wohnst du im Steuerbordschacht und ich im Backbordschacht +und jeder geht seine eignen Wege. Solange ich am Leben bin, will ich mir +nichts vom Gast vorjaulen lassen. Da habe ich später, wenn es mal so +weit ist, noch Zeit genug dazu. Und wenn du nun meine Meinung wissen +willst, warum wir beide gerade übriggeblieben sind, so ist das ganz klar +und zeigt wieder einmal, wie gerecht alles zugeht in der Welt. Wir +gehörten nicht zu der Mannschaft. Wir waren gestohlen. Wir haben der +Empreß von Madagaskar nie etwas getan und wollten ihr auch nie etwas +tun. Niemand weiß das so gut wie sie. Das ist der Grund, warum sie uns +nicht mitgenommen hat.“ + +„Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt, Pippip?“ + +„Ja, was denkst du denn von mir, ich bin doch nicht dein königlicher +Ratgeber. So etwas weiß man doch von selbst und hat es im Gefühl.“ + +„Jetzt gehe ich mich besaufen“, sagte nun Stanislaw. „Ist mir ganz egal. +Na, ich will ja nicht sagen besaufen, aber doch einen gesunden hieven. +Wer weiß, vielleicht kommt doch bald ein Kasten vorbei und holt uns +über. In meinem Leben könnte ich es mir dann nicht vergeben, daß ich +hier das alles zurückgelassen habe, ohne es mal durchzukosten.“ + +Warum sollte denn Stanislaw das Vergnügen allein genießen? + +Es begann jedenfalls jetzt eine Schlemmerei, die sich selbst der Skipper +nie auf einen Sitz erlaubt haben würde. + +Es war ja alles so schön da in Büchsen. Salm von British Columbia, Wurst +von Bologna, Hähnchen, Hühnerfrikassee, Pasteten, Zungen aller Art, ein +Dutzend verschiedene eingemachte Früchte, zwei Dutzend verschiedene +Sorten Jam, Biskuits, Gemüse der besten Auslesen, Liköre, Schnäpse, +Weine, Ales, Stouts, Pilsener. Die Kapitäne, Offiziere und Ingenieure +wissen sich das Leben angenehm zu machen. Aber wir waren jetzt die +Besitzer und die Esser, während die früheren Esser jetzt schwammen und +gegessen wurden, um die Fische fett zu machen. + +Den folgenden Tag war es sehr diesig und dunstig. Wir konnten kaum eine +halbe Meile weit sehen. + +„Wir kriegen schweres Wetter“, sagte Stanislaw. + +Am Abend kam es auf. Schwerer und schwerer. + +Wir saßen in des Skippers Kabine bei einer Petroleum-Notlaterne. + +Stanislaw machte ein besorgtes Gesicht: „Wenn die Empreß abhaut oder +runterbricht vom Riff, dann sind wir geliefert, Junge. Wir wollen uns +mal schon beizeiten umsehen.“ + +Er fand etwa drei Meter Tauende, das er sich um den Leib band, um es zur +Hand zu haben. Alles, was ich finden konnte, war eine halb aufgebrauchte +Rolle Bindfaden, kaum so stark wie ein Bleistift. + +„Wir klettern besser den Schacht hoch“, schlug Stanislaw vor. „Hier +drinnen sitzen wir in der Falle, wenn der Rummel losgeht. Oben hat man +immer noch eine Möglichkeit, abzukommen.“ + +„Wenn du oben in die Wicken gehen sollst, dann gehst du oben, und wenn +du unten vor die Fische gehen sollst, dann unten“, sagte ich. „Eins wie +das andre. Wenn du vom Auto überfahren werden sollst, dann springt es +rüber zum Schaufenster, vor dem du stehst, brauchst dem Auto gar nicht +nachzulaufen oder in den Weg zu rennen.“ + +„Du bist mir einer. Wenn du im Wasser ersaufen sollst, dann kannst du +ruhig deinen Hals auf die Eisenbahnschienen legen und der Expreß springt +über dich weg wie ein Luftschiff. Daran glaube ich nicht. Ich lege +meinen Hals nicht auf die Schienen. Ich gehe rauf und sehe zu, was +geschieht.“ + +Er kletterte den Korridorschacht hinauf, und da mir einleuchtete, daß er +recht habe, kletterte ich hinterher. + +Dann saßen wir wieder oben auf der Achternwand von Mittschiff, dicht +nebeneinander. Wir mußten uns an den Beschlägen festhalten, sonst hätte +uns der Sturm hinuntergeschleudert. + +Immer mehr kam das Wetter in Aufruhr. Schwere Brecher wüteten gegen die +unter uns liegende Vorfront von Mittschiff und brandeten gegen die +Skipperkabinen. + +„Wenn das die ganze Nacht so fortgeht“, sagte Stanislaw, „dann ist +morgen früh von der Kabine nichts mehr übrig. Ich glaube sogar stark, +die Brecher holen das ganze Mittschiff ab. Dann bleiben uns nur noch die +Kammern im Stern und der Maschinenraum, wo die Rudermaschine steht. Dann +gute Nacht Essen und Trinken. Da findet keine Maus was.“ + +„Vielleicht besser, wir klettern jetzt schon rauf“, riet ich, „denn wenn +das Mittschiff abrasselt, haben wir keine Zeit mehr. Dann schwimmen wir +auch schon.“ + +„So mit einem Hieb haut das Mittschiff nicht ab,“ erklärte nun +Stanislaw, „das geht in Stücken zum Teufel. Und wenn unten eine Wand +losbricht, haben wir Zeit genug, raufzuklettern.“ + +Stanislaw hatte recht. + +Aber das Recht ändert sich durch wechselnde Verhältnisse. Es gibt +nichts, das nicht einmal Recht gewesen ist. Man darf das Recht nur nicht +einpökeln wollen und erwarten, daß es in hundert Jahren noch immer +Recht, vielleicht gar dasselbe Recht sein werde. + +Stanislaw hatte ganz gewiß recht. Aber einige Minuten später hatte er +schon nicht mehr recht. + +Drei gigantische Brecher, von denen jeder folgende immer zehnfach +schwerer und stärker zu sein schien als der vorangegangene, wüteten mit +donnerndem Gebrüll, als wollten sie die ganze Erde verschlingen, gegen +die Empreß. + +Das tobende Gebrüll der Brecher und der nachziehenden Brandungswogen war +ein drohendes Wutgeheul gegen die Empreß, die es wagte, ihnen auf diesem +Riff so lange Trotz zu bieten. + +Der dritte Brecher brachte die steil hochgeworfene Empreß zum Schwanken. +Aber sie stand noch. Doch wir beide hatten es im Gefühl, sie ist los, +sie steht nicht mehr fest wie ein Turm. + +Die Brecher ebbten ab, um auszuholen für die nächsten drei. + +Der tosende Sturm jagte die schweren Wolken gleich Fetzen am Nachthimmel +dahin. Zuweilen öffnete sich ein Loch in diesem schweren Wolkentoben, +und man erblickte für einige Sekunden ein paar klare glänzende Sterne, +die in diesen schwarzen, heulenden, brüllenden, tobenden und brandenden +Aufruhr empörter Elemente herunterriefen: + +„Wir sind Friede und Ruhe für dich, für uns aber sind wir umlodert von +den Flammen des Schöpfens, des Gebärens und der Rastlosigkeit. Fliehe +nicht zu den Sternen, wenn du Ruhe suchst und Frieden. Was du nicht in +dir trägst, wir können es dir nicht geben!“ + +„Stanislaw!“ schrie ich laut, obgleich er doch an meiner Seite saß, „die +Brecher kommen zurück. Jetzt gilt’s. Die Empreß fegt ab.“ + +Ich sah den ersten Brecher in dem schwachen Sternenlicht herankommen wie +ein unmeßbar riesenhaftes schwarzes Ungetüm. + +Er peitschte hoch und peitschte mit seinen nassen Tatzen über uns +hinweg. + +Wir hatten gut festgehalten, aber die Empreß hob sich und wand sich in +den Krallen des Riffs, als ob sie schwere Schmerzen erdulde. + +Der zweite Brecher kam auf, nahm uns den Atem weg für eine lange Zeit, +und ich hatte das Empfinden, ich sei ins Meer geschleudert. Aber ich saß +noch fest. + +Die Empreß jedoch kreischte, als ob sie zu Tode verwundet würde. Sie +drehte sich noch weiter herum in ihrem Schmerz und schwankte im Stern +zurück, krachend, polternd und dröhnend, bis sie nicht mehr steil stand, +sondern schräg. Außerdem legte sie sich auch noch nach Steuerbord über. + +Mittschiff war durch die Brecher jetzt so voll Wasser gelaufen, daß +alles verdorben sein mußte, was nicht in Büchsen eingelötet war. Aber, +was in Mittschiff vor sich ging, war in mir nur wie ein ganz ferner +dünner Gedanke. + +„Stanislaw, Junge!“ brüllte ich. + +Ob er ebenfalls gebrüllt hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte auch er es +getan. Aber zu hören war ja nichts. + +Der dritte Brecher, der schwerste dieses Zuges, war herangestürmt. + +Die Empreß war bereits verschieden, als wäre sie vor Schreck gestorben. +Der dritte Brecher, obgleich er mit donnerndem Branden herangejagt kam, +nahm den Leichnam der Kaiserin von Madagaskar leicht auf wie eine leere +Seidenhülle. Er tat es trotz seines rauhen Tobens kosend und +streichelnd. Er hob den Leichnam hoch, drehte ihn der ganzen Länge nach +in einem Halbkreise herum und ohne ihn noch einmal auf den Fels krachen +zu lassen und sich an dem Brechen der Knochen zu erfreuen, legte er ihn +sanft und zärtlich auf die Seite. + +„Spring weg und schwimm, Pippip, sonst kommen wir in den Schlucker,“ +schrie Stanislaw. + +Schwimm mal, wenn du eben eins über die Arme gekriegt hast von einem +herumpfeifenden Lademast oder was es sein mochte. + +Aber ob ich schwimmen konnte oder nicht wollte, kam gar nicht in Frage. +Der Nachzieher des letzten Brechers hatte mich abgeschwemmt und weit +genug, um nicht vom Schlucker gefaßt zu werden. Ein paar Minuten würde +die Empreß ja noch machen, ehe sie endgültig wegschluckt und strudelt. +Das Achterschiff hat ja noch kaum Wasser gekriegt. + +„Hoiho!“ hörte ich jetzt Stanislaw schreien. „Wo steckst du?“ + +„Komm, hier. Ich klebe gut. Platz genug“, brüllte ich hinaus in die +Finsternis. „Hallo. Hier. Hoiho!“ Immer wieder rief ich es, um Stanislaw +die Richtung zu geben. + +Er kam auch immer näher. Endlich hatte er gepackt und kletterte hoch. + + + 48 + +„Was ist denn das, wo wir drauf sind?“ fragte Stanislaw. + +„Weiß ich selbst nicht. Mit einemmal war ich drauf, weiß gar nicht, wie +es zuging. Ich denke, daß es eine Wand vom Ruderhaus ist. Hier sind die +Haltegriffe überall.“ + +„Sicher. Ist vom Ruderhaus“, bestätigte Stanislaw. + +„Gut, daß die Esel noch nicht alles aus Eisen machen und manchmal noch +ein paar Stückchen Holz übriglassen. In den alten Schwarten siehst du +immer den Schiffsjungen an einen Mast angeklammert, auf dem er sich +rettet und mit dem er losschwimmt. Das ist heute aus. Die Masten sind +auch schon aus Eisen, und wenn du dich dran festklammerst, kannst du dir +auch ebenso gut einen Stein an den Bauch hängen. Wenn du wieder mal so +ein Bild siehst, dann sag ruhig, der Maler ist ein Schwindler.“ + +„Du hast aber einen Redefluß unter diesen verdammten Umständen hier“, +kritisierte Stanislaw. + +„Ja, du Esel, soll ich denn hier jammern und Trauer flöten? Wer weiß, ob +ich dir in einer Viertelstunde noch erzählen kann, daß man sich heute +nicht mehr auf Maste verlassen darf. Und das muß gesagt werden, denn das +ist wichtig.“ + +„Bürsten und Bimsstein, da sind wir ja nochmal glatt davongekommen“, +rief er nun. + +„Kreuzverhagelt nochmal“, schrie ich ihn an. „Halt dein +gotteslästerliches Maul, verflucht nochmal. Schreist ja das ganze +Gesindel heran. Wenn du im Trocknen sitzt, dann freu’ dich im stillen, +aber schrei es nicht raus so unverschämt. Ich gebe mir die größte Mühe, +das in unauffälliger und höchst eleganter Form zu sagen und vornehm zu +umschreiben, was ich meine, und du Prolet brüllst das glatt hinaus.“ + +„Rede nicht so große Töne. Jetzt ist doch alles egal, ist doch alles im +–.“ + +Mit diesem Stanislaw ist nichts zu erreichen, die Redewendungen, die er +zuweilen braucht, werden mich noch veranlassen, seine Gesellschaft zu +meiden. + +„Alles egal?“ wiederholte ich. „Ich denke ja gar nicht dran. Alles egal +ist blöd. Es ist nie etwas egal. Jetzt geht das Vergnügen ja erst +richtig los. Bisher haben wir uns nur um Papiere herumgeschlagen, dann +mit dem Rattenfraß, dann wieder mit den verfluchten Rosten. Jetzt geht +es endlich um den letzten Atemzug, mit dem wir uns herumzuschlagen +haben. Alles übrige, was ein Mensch haben kann, ist weg. Alles, was wir +noch haben, ist der Atem. Und so schnell und willig laß ich mir den +nicht auch noch wegnehmen.“ + +„Ein Vergnügen denke ich mir aber anders“, sagte Stanislaw. + +„Sei nicht undankbar, Lawski. Ich sage dir, es ist ein höllisches +Vergnügen, sich mit den Fischen um den Bissen zu prügeln, wenn man der +Bissen sein soll.“ + +Stanislaw hatte natürlich durchaus recht. Es war kein Vergnügen. Man +mußte sich ankrallen an den Handgriffen wie toll, um nicht +runtergeschwemmt zu werden. Die Brecher fühlte man nicht so hart auf der +schwimmenden Wand hier wie auf dem Schiff, weil die Brecher die Wand mit +hoch nahmen und nicht in voller Wucht darüber hinwegbrandeten. Aber +getaucht wurden wir doch oft genug, damit wir auch nicht vergessen +sollten, wo wir waren. + +„Ich denke, wir müssen nun etwas tun“, sagte ich. „Meine Arme sind so +zerknüppelt, ich kann nicht mehr lange halten.“ + +„Wollen wir festlegen“, sagte Stanislaw. „Ich gebe dir hier mein +Tauende, und ich nehme deinen Bindfaden. Ich kann schon besser halten. +Der Bindfaden ist ja lang genug, daß man ihn dreifach nehmen kann.“ + +Stanislaw half nun, mich mit dem Tau festzuholen; ich konnte es mit +meinen lahmen Armen nicht gut allein tun. Dann band er sich ebenfalls +fest, und wir warteten nun auf die Geschehnisse. + +Keine Nacht ist so lang, daß sie nicht endlich doch vorübergeht und dem +Tage weichen muß. + +Mit dem neuen Tage ließ das schwere Wetter nach, aber der hohe Seegang +blieb. + +„Siehst du was von Land?“ fragte Stanislaw. + +„Nein. Ich wußte es ja, so leicht werde ich kein Entdecker neuer +Erdteile. Wenn nichts vor der Nase liegt, sehe ich keins.“ + +Plötzlich sagte Stanislaw: „Mensch, ich habe ja den Kompaß. War gut, daß +du ihn fandest.“ + +„Ja, ein Kompaß ist eine feine Sache, Lawski. Können wir immer sehen, in +welcher Richtung die afrikanische Küste liegt. Aber ein Segel wäre mir +lieber als zehn Kompasse.“ + +„Kannst nichts mit einem Segel machen auf dem Brett.“ + +„Warum nicht? Wenn Seebrise auf Land geht, gehen wir mit.“ + +„Wir werden wohl woandershin mitgehen, Pippip.“ + +Am Nachmittag wurde es wieder diesig und ein leichter Nebel legte sich +über die See. Er wirkte beruhigend auf das Toben des Meeres. + +Die unermeßliche Weite der See wurde immer kleiner. Bald hatten wir die +Täuschung, daß wir nur auf einem Binnensee seien. Dann wurde auch der +See kleiner und kleiner und endlich glaubten wir, auf einem Flusse +dahinzugleiten. Es schien, als ob wir die Ufer mit den Händen ergreifen +könnten, und ehe wir einschliefen, sagte bald Stanislaw, bald ich: „Da +ist das Ufer, laß uns runtergehen und das kleine Stückchen +rüberschwimmen. Kannst es ganz deutlich sehen, es sind noch keine +hundert Schritt.“ + +Aber wir waren zu müde, um uns loszubinden und diese hundert Schritte zu +schwimmen. + +Wir sprachen dann kaum noch und schliefen ein. + +Als ich erwachte, war es Nacht. + +Der dunstige Nebel lag noch immer auf dem Meer. Aber hoch in den Lüften +sah ich Sterne funkeln. Zu beiden Seiten sah ich die Ufer des Flusses, +auf dem wir hinglitten. Zuweilen wurde an einem der Ufer der Nebel +dünner, und ich sah die tausende funkelnden Lichter des nahen Hafens. Es +war ein großer Hafen. Er hatte hohe Wolkenkratzer und Miethäuser, deren +Fenster alle erleuchtet waren. Und hinter den Fenstern saßen die Leute +traulich beisammen und wußten nichts davon, daß hier auf dem Flusse zwei +Tote dahinglitten. + +Und die Wolkenkratzer und die hohen Wohnhäuser wuchsen und wuchsen. +Welch ein gewaltiger Hafen war es, an dem wir vorüberglitten. Immer +höher und höher wuchsen die Wolkenkratzer bis sie endlich den Himmel +erreichten. Und die tausende funkelnden Lichter des Hafens, der +Wolkenkratzer und der traulichen Wohnhäuser, wo man nichts wußte von den +vorübergleitenden Toten, waren wie Sterne des Himmels. Und oben steil +über meinem Haupte trafen die Wolkenkratzer zusammen, und ich sah ihre +Fenster leuchten, und ich hoffte, die Gebäude möchten zusammenbrechen +und mich unter sich begraben. Es war die große Sehnsucht des Toten, +begraben zu werden und nicht mehr wandern zu müssen. + +Ich bekam Angst und rief: „Stanislaw. Da ist ein großer Hafen. Sieht aus +wie New York.“ + +Stanislaw wurde munter, guckte sich um, sah durch den dünnen Nebel zu +den Ufern des Flusses, rieb sich die Augen, guckte hoch über sich und +sagte dann: „Du träumst, Pippip, die Lichter des großen Hafens sind +Sterne. Da ist auch kein Ufer. Wir sind auf hoher See. Spürst du doch an +den langen Wellen.“ + +Er konnte mich nicht überzeugen. Ich wollte nun doch zum Ufer schwimmen +und den großen Hafen erreichen. Aber als ich das Tau lösen wollte, +fielen mir die Hände schlaff herunter, und ich schlief ein. + +Durst und Hunger machten mich wach. Es war Tag. + +Stanislaw sah mich an mit verquollenen Augen. Mein Gesicht war +verkrustet von dem Salzwasser. Ich bemerkte, wie Stanislaw würgte, als +wollte er seine eigne Zunge kauen oder als sei sie ihm im Wege und lege +sich vor die Luftröhre. + +In seinen Augen glomm Wut auf, und er rief mit rauher Stimme: „Du hast +immer gesagt, das Wasser auf der Yorikke stinkt. Das ist nicht wahr. Das +ist Quellwasser, ganz frisches, klares Quellwasser aus dem Tannenwalde.“ + +„Das Wasser stank nie,“ bestätigte ich, „das Wasser war Eiswasser. Und +der Kaffee war guter Kaffee. Ich habe nie etwas gegen den Kaffee auf der +Yorikke gesagt.“ + +Stanislaw schloß die Augen. Doch nicht lange darauf schreckte er +zusammen und schrie: „Zwanzig vor fünf, Pippip, raus. Hol’ das +Frühstück. Hiev die Asche. Das Frühstück zuerst. Pellkartoffeln und +Rauchhering. Den Kaffee. Viel Kaffee. Bring Wasser mit.“ + +„Ich kann nicht aufstehen“, gab ich ihm zur Antwort. „Bin gebrochen. Zu +müde. Mußt heute allein hieven. Wo ist denn der Kaffee?“ + +Wie war das? Ich hörte Stanislaw schreien, aber er war zwei Meilen fort. +Und meine Stimme war auch zwei Meilen weit fort von mir. + +Nun brachen auch noch drei Feuertüren auf und die Hitze war nicht zu +ertragen. Ich lief zur Windhuze, um Atem zu schöpfen. Aber der spanische +Heizer schrie: „Pippip, die Feuertüren zu, der Dampf fällt.“ + +Aller Dampf fiel in den Kesselraum, und es wurde immer heißer. Ich lief +zum Trog, wo das Schlackenlöschwasser drin war, um meinen Durst zu +löschen, aber es schmeckte salzig und widerlich. Ich schnappte und +schnappte und trank es wieder, und der Feuerungskanal stand ganz weit +offen über meinem Kopfe am Himmel und war die Sonne, und ich trank +Seewasser. + +Dann schlief ich wieder ein und die Türen der Feuerkanäle waren +geschlossen und der Heizer goß den Trog mit dem Schlackenwasser über den +Kesselraum, und ich war auf dem offnen Meer und ein Wellenkamm war über +die Wand hinweggebrochen. + +„Da ist die Yorikke!“ schrie Stanislaw viele Meilen weit fort von mir. +„Das ist das Totenschiff. Der Hafen. Der Norweger liegt da. Er hat +Eiswasser. Siehst du nicht, Pippip?“ + +Mit beiden Armen, die Fäuste geballt, deutete Stanislaw über das weite +Meer. + +„Wo ist die Yorikke?“ rief ich. + +„Siehst du sie denn nicht, Mensch? Da liegt sie ja. Sechs Roste sind +rausgefallen. Verflucht. Jetzt acht. Himmelkreuzdonnerwetter! Wo ist der +Kaffee, Pippip? Habt ihr wieder alles weggesoffen. Das ist keine +Schmierseife, du Hund, das ist Butter. Gib den Tee jetzt her, verflucht +nochmal.“ + +Stanislaw fuhr herum, bald zeigte er in diese Richtung, bald in jene. +Immer fragte er, ob ich denn die Yorikke und den Hafen nicht sähe. + +Aber mir war das gleichgültig. Es tat mir weh, den Kopf nach dem Hafen +zu drehen. + +„Wir kommen ab! Wir kommen ab!“ brüllte nun Stanislaw. „Ich muß rüber +zur Yorikke. Die Roste sind alle raus. Der Heizer liegt im Kessel. Wo +ist das Wasser? Habt ihr denn keinen Kaffee mehr für mich gelassen? Ich +muß rüber, rüber, rüber.“ + +Er zerrte nun an dem Bindfaden, um ihn zu lösen. Er konnte aber die +Knoten nicht öffnen. Er drehte wie unsinnig an den Knoten und verknotete +sie immer mehr. + +„Wo ist die Schaufel?“ rief er. „Ich muß das Tau kappen.“ + +Aber der Bindfaden hielt nicht lange. Stanislaw zerrte, riß und +scheuerte mit solcher Kraft an den dreifach gedrehten Verschnürungen, +daß er sich immer weiter daraus hervorwinden konnte. Die letzten Stringe +riß er durch. + +„Die Yorikke fährt weg. Schnell, Pippip. Der Norweger hat Eiswasser. Er +winkt mit der Kanne. Ich bleibe nicht auf dem Totenschiff.“ + +Immer wilder brüllte Stanislaw. + +Er hing nur noch am Fuß fest, und jetzt zerrte er auch dort die Stringe +los. + +Ich sah das alles in meilenweiter Ferne, wie auf einem Bilde oder durch +ein Fernrohr. + +„Da ist die Yorikke. Der Skipper tippt an die Mütze.“ Stanislaw rief es +und sah mich an mit starren Augen. „Komm rüber, Pippip. Tee und +Rosinenstollen mit Kakao und Wasser.“ + +Ja, da lag die Yorikke. Ich sah sie deutlich liegen. Erkannte sie an +ihrem bunten närrischen Kleide und an ihrer Brücke, die immer in der +Luft hängen blieb und von irgendeinem Schiff zurückgelassen worden war, +das sie nichts anging. + +Da war die Yorikke, und jetzt hatten sie Frühstück oder Abendessen oder +Pflaumen in blauem Stärkeschleim. Der Tee war nicht schlecht. Das war +Lüge und Verleumdung. Der Tee war gut auch ohne Zucker und Milch. Und +das Trinkwasser stank nicht. + +Ich begann, an meinem Tau zu knoten. Aber ich bekam den Knoten nicht +auf. Dann rief ich Stanislaw, er möge mir helfen, den Knoten +aufzuziehen. Aber er hatte keine Zeit. Er wurde mit seinem Fuße nicht +fertig und arbeitete wie toll, um den Fuß loszukriegen. Nun gehen auch +noch die Wunden auf, die man ihm auf dem Kopfe geschlagen hatte. Das +Blut sickert über sein Gesicht, aber er läßt sich nicht stören. + +Und ich zerrte und zerrte an meinen Banden. Aber das Tau war zu dick. +Ich konnte es nicht durchscheuern und konnte meine Glieder nicht +herauswinden. Ich verstrickte mich immer mehr. Dann suchte ich nach der +Axt, nach dem Messer und endlich nach der Schaufel, die wir glatt +geklopft hatten, um einen hölzernen Mast daraus zu machen, aber der +Kompaß fiel immer wieder ins Wasser, und ich mußte ihn mit dem +durchgebrannten Rost fischen. Das Tau gab nicht nach. Der Knoten zog +sich immer fester. Das versetzte mich in namenlose Wut. + +Stanislaw hatte seinen Fuß jetzt los. + +Er drehte sich halb um nach mir und rief: „Komm rüber, Pipplaw. Sind nur +zwanzig Schritte zu laufen. Die Roste sind alle raus, und es ist +Wasserminute vor fünf. Aufstehen. Rasch auf. Raus. Asche hieven.“ + +Aber die Aschenhieve kreischte: „Da ist keine Yorikke!“ Und ich schrie, +so laut ich konnte: „Da ist keine Yorikke! Da ist keine Yorikke! Da ist +keine Yorikke!“ + +Ich klammerte mich an das Tau in furchtbarer Angst; denn die Yorikke war +fort, und ich sah nur Meer, Meer, sah nichts als die gleichmäßigen Wogen +der See. + +„Stasinkowslow, spring nicht!“ Ich schrie es in namenloser Angst; denn +ich konnte seinen Namen nicht finden, der mir aus der Hand gerutscht +war. „Stanislaw, nicht springen! Nicht springen! Nicht. Bleib hier!“ + +„Die holt den Anker ein. Ich gehe nicht auf ein Totenschiff. Ich renne +rüber zur Yorikke. Renne, ich renne, renne. Rüber. Komm!“ + +Und er sprang. Er sprang. Da war kein Hafen. Da war kein Schiff. Da war +kein Ufer. Alles See. Alles Wogen. + +Er tat nur ein paar patschende Schläge. Dann sank er für immer weg. Ich +starrte rüber zu dem Loch, in das er gefallen war. Ich sah es in +unendlich weiter Ferne. Und ich rief: „Stanislaw! Lawski! Bruder! +Lieber, lieber Kamerad, komm hierher! Hoiho! Hoiho! Hierher! Hierher!“ + +Er hörte nicht. Er kam nicht. Er kam nicht mehr hoch. Er tauchte nicht +mehr auf. Da war kein Totenschiff. Da war kein Hafen. Da war keine +Yorikke. Er tauchte nicht mehr auf, no, Sir. + +Und das war merkwürdig. Er tauchte nicht mehr auf, und ich konnte es +nicht fassen, wie das zuging. + +Er hatte angemustert für große Fahrt, für ganz große Fahrt. Aber wie +konnte er nur mustern? Er hatte doch kein Seefahrtsbuch. Sie würden ihn +gleich wieder runterfeuern. + +Aber er kam nicht hoch. Der große Kapitän hatte ihn gemustert. Und treu +hatte er ihn gemustert, auch ohne Papiere. + +„Komm, Stanislaw Koslowski“, sagte der große Kapitän, „komm, ich mustere +dich treu und ehrlich für große Fahrt. Laß nur die Papiere. Brauchst +keine bei mir. Fährst auf treuem und ehrlichem Schiff. Geh zum Quartier, +Stanislaw. Kannst du lesen, was über der Tür steht?“ + +Und Stanislaw sagte: „Ja, Käp’n. Wer hier eingeht, ist ledig aller +Qualen!“ + + + Anmerkungen zur Transkription + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 48]: + ... können einen manchmal besser voranhelfen als die ... + ... können einem manchmal besser voranhelfen als die ... + + [S. 81]: + ... einem Fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was + ich bis jetzt ... + ... einem fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was + ich bis jetzt ... + + [S. 155]: + ... Straße gehen kannst, könntet du ja vielleicht wieder + lebendig werden. ... + ... Straße gehen kannst, könntest du ja vielleicht wieder + lebendig werden. ... + + [S. 171]: + ... Ein weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte + festgemacht. ... + ... Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte + festgemacht. ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 *** diff --git a/75907-h/75907-h.htm b/75907-h/75907-h.htm new file mode 100644 index 0000000..35a26a8 --- /dev/null +++ b/75907-h/75907-h.htm @@ -0,0 +1,16007 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Das Totenschiff | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Das Totenschiff" --> + <!-- AUTHOR="B. 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M. B. H.<br> +BERLIN LEIPZIG<br> +1926 +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<h1 class="title" title="DAS TOTENSCHIFF"> +DAS<br> +TOTEN<br> +SCHIFF +</h1> + +<p class="subt"> +DIE GESCHICHTE<br> +EINES<br> +AMERIKANISCHEN<br> +SEEMANNS +</p> + +<p class="aut"> +VON<br> +B. TRAVEN +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="cop"> +ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H. +BERLIN / BUCHBINDEARBEITEN DER LEIPZIGER BUCHBINDEREI A.-G. +VORM. GUSTAV FRITZSCHE / NACHDRUCK VERBOTEN / ALLE RECHTE, +INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG VORBEHALTEN +</p> + +<p class="cop2"> +COPYRIGHT 1926 BY B. TRAVEN +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-1"> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +ERSTES BUCH +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="epi" id="chapter-1-1"> +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +SONG OF AN AMERICAN SAILOR +</h3> + +</div> + +<div class="center"> + <div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">NOW STOP THAT CRYING, HONEY DEAR,</p> + <p class="verse">THE JACKSON SQUARE REMAINS STILL HERE</p> + <p class="verse">IN SUNNY NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">IN LOVELY LOUISIANA</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">SHE THINKS ME BURIED IN THE SEA,</p> + <p class="verse">NO LONGER DOES SHE WAIT FOR ME</p> + <p class="verse">IN SUNNY NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">IN LOVELY LOUISIANA</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">THE DEATH-SHIP IS IT I AM IN,</p> + <p class="verse">ALL HAVE I LOST, NOTHING TO WIN</p> + <p class="verse">SO FAR OFF SUNNY NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">SO FAR OFF LOVELY LOUISIANA</p> + </div> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="epi" id="chapter-1-2"> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +LIED EINES AMERIKANISCHEN SEEMANNS +</h3> + +</div> + +<div class="center"> + <div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">MÄDEL, HEUL DOCH NICHT SO SEHR,</p> + <p class="verse">WART’ AUF MICH AM JACKSON SQUARE</p> + <p class="verse">IM SONN’GEN NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">IM LIEBEN LOUISIANA</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">MEIN MÄDEL GLAUBT, ICH LIEG IM MEER,</p> + <p class="verse">SIE STEHT NICHT MEHR AM JACKSON SQUARE</p> + <p class="verse">IM SONN’GEN NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">IM LIEBEN LOUISIANA</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">DOCH ICH LIEG NICHT AN EINEM RIFF,</p> + <p class="verse">ICH FAHRE AUF DEM TOTENSCHIFF</p> + <p class="verse">SO FERN VOM SONN’GEN NEW ORLEANS</p> + <p class="verse">SO FERN VOM LIEBEN LOUISIANA</p> + </div> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-3"> +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +1 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> hatten eine volle Schiffsladung Baumwolle von +New Orleans ’rübergebracht nach Antwerpen mit +der S. S. Tuscaloosa. +</p> + +<p> +Sie war ein feines Schiff. Verflucht nochmal, das ist +wahr. First rate steamer, made in U. S. A. Heimatshafen +New Orleans. Oh, du sonniges, lachendes New +Orleans, so ungleich den nüchternen Städten der vereisten +Puritaner und verkalkten Kattunhändler des +Nordens! Und was für herrliche Quartiere für die Mannschaft. Endlich +einmal ein Schiffbauer, der den revolutionären Gedanken gehabt hatte, +daß die Mannschaft auch Menschen seien und nicht nur Hände. Alles +sauber und nett. Bad und viel saubere Wäsche und alles moskitodicht. +Die Kost war gut und reichlich. Und es gab immer saubere Teller und +geputzte Messer, Gabeln und Löffel. Da waren Niggerboys, die nichts +andres zu tun hatten, als die Quartiere sauberzuhalten, damit die +Mannschaft gesund bliebe und bei guter Laune. Die Kompanie hatte +endlich entdeckt, daß sich eine gutgelaunte Mannschaft besser bezahlt +macht als eine verlotterte. +</p> + +<p> +Zweiter Offizier? No, Sir. Ich war nicht Zweiter Offizier auf diesem +Eimer. Ich war einfacher Deckarbeiter, ganz schlichter Arbeiter. Sehen +Sie, Herr, Matrosen gibt es ja kaum noch, werden auch gar nicht mehr +verlangt. So ein modernes Frachtschiff ist gar kein eigentliches Schiff +mehr. Es ist eine schwimmende Maschine. Und daß eine Maschine +Matrosen zur Bedienung braucht, glauben Sie ja gewiß selbst nicht, +auch wenn Sie sonst nichts von Schiffen verstehen sollten. Arbeiter +braucht diese Maschine und Ingenieure. Sogar der Skipper, der Kapitän, +ist heute nur noch ein Ingenieur. Und selbst der A. B., der am Ruder +steht und noch am längsten als Matrose angesehen werden konnte, ist +heute nur noch ein Maschinist, nichts weiter. Er hat nur die Hebel auszulösen, +die der Rudermaschine die Drehungsrichtung angeben. Die +Romantik der Seegeschichten ist längst vorbei. Ich bin auch der +Meinung, daß solche Romantik nie bestanden hat. Nicht auf den Segelschiffen +und nicht auf der See. Diese Romantik hat immer nur in der +Phantasie der Schreiber jener Seegeschichten bestanden. Jene verlogenen +Seegeschichten haben manchen braven Jungen hinweggelockt +zu einem Leben und zu einer Umgebung, wo er körperlich und seelisch +zugrunde gehen mußte, weil er nichts sonst dafür mitbrachte als seinen +Kinderglauben an die Ehrlichkeit und an die Wahrheitsliebe jener +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Geschichtenschreiber. Möglich, daß für Kapitäne und Steuerleute eine +Romantik einmal bestanden hat, für die Mannschaft nie. Die Romantik +der Mannschaft ist immer nur gewesen: Unmenschlich harte Arbeit und +eine tierische Behandlung. Kapitäne und Steuerleute erscheinen in +Opern, Romanen und Balladen. Das Hohelied des Helden, der die +Arbeit tat, ist nie gesungen worden. Dieses Hohelied wäre auch zu +brutal gewesen, um das Entzücken derer wachzurufen, die das Lied gesungen +haben wollten. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Ich war nur eben gerade schlichter Deckarbeiter, das war alles. Hatte +alle Arbeit zu machen, die vorkam. Richtig gesagt, war ich nur ein Anstreicher. +Die Maschine läuft von selbst. Und da die Arbeiter beschäftigt +werden müssen und andre Arbeit nur in Ausnahmefällen ist, wenn nicht +Laderäume gereinigt werden sollen oder etwas repariert werden muß, +so wird immer angestrichen. Von morgens bis abends, und das hört nie +auf. Da ist immer etwas, das angestrichen werden muß. Eines Tages +wundert man sich dann ganz ernsthaft über dieses ewigwährende Anstreichen, +und man kommt ganz nüchtern zu der Auffassung, daß alle +übrigen Menschen, die nicht zur See fahren, nichts andres tun, als Farbe +anfertigen. Dann empfindet man eine tiefe Dankbarkeit gegen diese +Menschen, weil, wenn sie sich eines Tages weigerten, noch weiter Farbe +zu machen, der Deckarbeiter nicht wüßte, was er tun soll, und der Erste +Offizier, unter dessen Kommando die Deckarbeiter stehen, in Verzweiflung +geriete, weil er nicht wüßte, was er nun den Deckhands +kommandieren soll. Sie können doch ihr Geld nicht umsonst bekommen. +No, Sir. +</p> + +<p> +Der Lohn war ja nicht gerade hoch. Das könnte ich nicht behaupten. +Aber wenn ich fünfundzwanzig Jahre lang keinen Cent ausgäbe, jede +Monatsheuer sorgfältig auf die andre legte, nie ohne Arbeit wäre +während der ganzen Zeit, dann könnte ich nach Ablauf jener fünfundzwanzig +Jahre unermüdlichen Arbeitens und Sparens mich zwar nicht +zur Ruhe setzen, könnte aber nach weiteren fünfundzwanzig Jahren +Arbeitens und Sparens mich mit einigem Stolz zur untersten Schicht der +Mittelklasse zählen. Zu jener Schicht, die sagen darf: Gott sei gelobt, +ich habe einen kleinen Notpfennig auf die Seite gelegt für Regentage. +Und da diese Volksschicht jene gepriesene Schicht ist, die den Staat in +seinen Fundamenten erhält, so würde ich dann ein wertvolles Mitglied +der menschlichen Gesellschaft genannt werden können. Dieses Ziel erreichen +zu können, ist fünfzig Jahre Sparens und Arbeitens wert. Das +Jenseits hat man sich dann gesichert und das Diesseits für andre. +</p> + +<p> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Ich machte mir nichts daraus, mir die Stadt anzusehen. Ich mag Antwerpen +nicht leiden. Da treiben sich so viele schlechte Seeleute und ähnliche +Elemente herum. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Aber die Dinge im Leben spielen sich nicht so einfach ab. Sie nehmen +nur selten Rücksicht auf das, was man leiden mag und was nicht. Es sind +nicht die Felsen, die den Lauf und den Charakter der Welt bestimmen, +sondern die kleinen Steinchen und Körnchen. +</p> + +<p> +Wir hatten keine Ladung bekommen, und wir sollten in Ballast heimgehen. +Die ganze Mannschaft war in die Stadt gegangen am letzten +Abend vor der Heimfahrt. Ich war ganz allein im Forecastle. Des Lesens +war ich müde, des Schlafens war ich müde, und ich wußte nicht, was ich +mit mir anfangen sollte. Wir hatten um zwölf heute schon Feierabend +gemacht, weil dann bereits die Wachen für die Fahrt verteilt wurden. +Das war auch der Grund, warum alle in die Stadt gegangen waren, um +noch einen Kleinen mitzunehmen, den wir zu Hause nicht haben konnten +wegen der gesegneten Prohibition. +</p> + +<p> +Bald lief ich zur Reeling, um ins Wasser zu spucken, bald wieder lief +ich in die Quartiere. Von dem ewigen Anstarren der leeren Quartiere +und dem ewigen Herunterglotzen auf die langweiligen Hafenanlagen, +Speicher, Stapelhäuser, auf die öden Kontorlöcher mit ihren trüben +Fenstern, hinter denen man nichts sah als Briefordner und Haufen von +beschriebenen Geschäftspapieren und Frachtbriefen, wurde mir ganz +erbärmlich zumute. Es war so unsagbar trostlos. Es ging auf den Abend +zu, und es war kaum eine Menschenseele in diesem Teil des Hafens +zu sehen. +</p> + +<p> +Es überkam mich eine ganz dumme Sehnsucht nach dem Gefühl, festen +Boden, Erde unter meinen Füßen zu haben, eine Sehnsucht nach einer +Straße und nach Menschen, die schwatzend durch die Straße schlendern. +Das war es: Ich wollte eine Straße sehen, just eine Straße, nichts +weiter. Eine Straße, die nicht von Wasser umgeben ist, eine Straße, die +nicht schwankt, die ganz fest steht. Ich wollte meinen Augen ein kleines +Geschenk machen, ihnen den Anblick einer Straße gönnen. +</p> + +<p> +„Da hätten Sie früher kommen sollen,“ sagte der Offizier, „ich gebe +jetzt kein Geld.“ +</p> + +<p> +„Ich brauche aber unbedingt zwanzig Dollar Vorschuß.“ +</p> + +<p> +„Fünf können Sie haben, nicht einen Cent mehr.“ +</p> + +<p> +„Mit einem Fünfer kann ich gar nichts anfangen. Ich muß zwanzig +haben, sonst bin ich morgen krank. Wer soll denn dann vielleicht die +Galley anstreichen? Vielleicht wissen Sie das? Ich muß zwanzig haben.“ +</p> + +<p> +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +„Zehn. Aber das ist nun mein letztes Wort. Zehn oder überhaupt nichts. +Ich bin gar nicht verpflichtet, Ihnen auch nur einen Nickel zu geben.“ +</p> + +<p> +„Gut, geben Sie zehn. Das ist zwar ein ganz gemeiner Geiz, der hier an +mir verübt wird, aber wir müssen uns ja alles gefallen lassen, das ist +man nun schon gewöhnt.“ +</p> + +<p> +„Unterschreiben Sie die Quittung. Wir werden es morgen in die Listen +übertragen. Dazu habe ich jetzt keine Lust.“ +</p> + +<p> +Da hatte ich meinen Zehner. Ich wollte ja überhaupt nur zehn haben. +Hätte ich aber gesagt zehn, so würde er auf keinen Fall mehr als fünf +gegeben haben, und mehr als zehn konnte ich nicht gebrauchen, weil ich +nicht mehr ausgeben wollte; denn was man einmal in der Tasche hat, +kehrt nicht mehr heim, wenn man erst in die Stadt geht. +</p> + +<p> +„Betrinken Sie sich nicht. Das ist hier ein ganz böser Platz“, sagte der +Offizier, als er die Quittung an sich nahm. +</p> + +<p> +Das war eine unerhörte Beleidigung. Der Skipper, die Offiziere und die +Ingenieure betranken sich zweimal des Tages, solange wir nun schon +hier lagen, aber mir wird gepredigt, mich nicht zu betrinken. Ich dachte +gar nicht daran. Warum auch? Es ist so dumm und so unvernünftig. +</p> + +<p class="ibr"> +„Nein,“ gab ich zur Antwort, „ich nehme niemals einen Tropfen von +diesem Gift. Ich weiß, was ich meinem Lande selbst in der Fremde +schuldig bin. Yes, Sir. Ich bin Abstinenzler, knochentrocken. Können +sich drauf verlassen, das bin ich. Ich glaube an die heilige Prohibition.“ +Raus war ich und runter vom Eimer. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-4"> +2 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> war eine lange schöne Sommerdämmerung. Ich +schlurkste zufrieden mit der Welt durch die Straßen +und konnte mir nicht denken, daß irgendjemand auf +der Welt sei, dem diese Welt nicht gefallen möchte. +Ich sah mir die Schaufenster an, und ich sah mir die +Leute an, denen ich begegnete. Hübsche Mädels, verflucht +nochmal, alles, was recht ist. Manche freilich +beachteten mich gar nicht; die aber, die mich anlachten, +waren gerade die hübschesten. Und wie nett sie lachen konnten! +Dann kam ich zu einem Hause, dessen Front schön vergoldet war. Es +sah so lustig aus, das ganze Haus und die Vergoldung. Die Türen waren +weit offen und sagten: „Komm nur rein, Freund, just für eine kleine +Weile, setz’ dich, mach dir’s bequem und vergiß deine Sorgen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +Ich hatte überhaupt keine Sorgen, aber es war doch drollig, daß jemand +zu einem sagte, man möge die Sorgen vergessen. Das war so lieb. Und +drinnen, in dem Hause, da waren schon eine ganze Menge Leute, und +die waren alle so lustig, hatten ihre Sorgen vergessen, sangen und lachten, +und da war so eine vergnügte Musik. Nur um zu sehen, ob das Haus +drinnen ebenso vergoldet sei wie draußen, ging ich hinein und setzte +mich auf einen Stuhl. Sofort kam ein Bursche, lachte mich an und setzte +mir eine Flasche und ein Glas gerade vor die Nase. Man mußte es mir +wohl an der Nasenspitze ansehen, denn er sagte sofort in Englisch: +</p> + +<p class="ibr"> +„Bedienen Sie sich, mon ami, und seien Sie vergnügt wie alle die +übrigen hier.“ +</p> + +<p> +Nur fröhliche Gesichter rundherum, und wochenlang hat man nichts +weiter vor Augen gehabt als Wasser und stinkende Farbe. Und so war +ich halt vergnügt, und von jenem Augenblick an konnte ich mich auf +nichts Bestimmtes mehr besinnen. Ich tadele nicht jenen freundlichen +Burschen, wohl aber die Prohibition, die uns so schwach gegenüber Versuchungen +macht. Gesetze machen immer schwach, weil es einem in der +Natur liegt, Gesetze zu übertreten, die andre gemacht haben. +</p> + +<p> +Die ganze Zeit hindurch war ein ganz drolliger Nebel immer um mich +herum, und spät in der Nacht fand ich mich in dem Zimmer eines hübschen +lachenden Mädchens. Endlich sagte ich zu ihr: „Well, Mademoiselly, +wie spät haben wir es denn?“ +</p> + +<p> +„Oh,“ sagte sie mit ihrem hübschen Lachen, „du hübscher Junge –“ +Yes, Gentlemen, ganz gewiß, das sagte die Mademoiselly zu mir, +„hübscher Junge, o du hübscher Junge,“ sagte sie, „nun sei kein +Spaßverderber, sei ein Kavalier, laß eine zarte junge Dame nicht allein +um Mitternacht. Da können vielleicht Einbrecher in der Nähe sein, und +ich bin so schrecklich furchtsam, die Einbrecher könnten mich vielleicht +gar ermorden.“ +</p> + +<p> +Na, ich kenne doch die Pflicht eines rotblütigen amerikanischen Jungen +unter solchen Umständen, wenn er ersucht wird, einer hilflosen +schwachen Dame beizustehen. Von meinem ersten Atemzuge an ist mir +gepredigt worden: Benimm dich anständig in Gegenwart von Damen, +und wenn dich eine Dame um etwas bittet, dann hast du zu flitzen und +es zu tun, und wenn es dich das Leben kosten sollte. +</p> + +<p> +Gut, am Morgen, sehr früh, sauste ich raus zum Hafen. Aber da war +keine Tuscaloosa zu sehen. Der Platz, wo sie gelegen hatte, war leer. +Sie war heimgegangen nach dem sonnigen New Orleans, heimgegangen, +ohne mich mitzunehmen. +</p> + +<p> +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +Ich habe Kinder gesehen, die sich verlaufen hatten, und denen die +Mutter abhanden gekommen war; ich habe Leute gesehen, denen ihr +Häuschen abgebrannt oder von Wasserfluten fortgeschwemmt war, und +ich habe Tiere gesehen, denen ihr Gefährte abgeschossen oder weggefangen +war. Das alles war sehr traurig. Aber das traurigste aller +Dinge ist ein Seemann in fremdem Lande, dem soeben sein Schiff fortgefahren +ist, ohne ihn mitzunehmen. Der Seemann, der zurückgeblieben +ist. Der Seemann, der übriggeblieben ist. +</p> + +<p> +Es ist nicht das fremde Land, das seine Seele bedrückt, und das ihn +weinen macht wie ein kleines Kind. Er ist fremde Länder gewöhnt. Er +ist oft freiwillig zurückgeblieben und hat oft abgezeichnet, abgemustert +aus Gründen irgendwelcher Art. Da fühlt er sich nicht traurig oder +bedrückt. Aber wenn das Schiff, das seine Heimat ist, wegfährt, ohne +ihn mitzunehmen, dann kommt zu dem Gefühl der Heimatlosigkeit das +tötende Gefühl des Überflüssigseins. Das Schiff hat nicht auf ihn gewartet, +es kann ohne ihn fertig werden, es braucht ihn nicht. Ein alter +Nagel, der irgendwo herausfällt und zurückbleibt, kann dem Schiff zum +Verhängnis werden, der Seemann, der sich gestern noch so wichtig +dünkte für das Wohl und für das Wandern des Schiffes, ist heute +weniger wert als jener alte Nagel. Der Nagel könnte nicht entbehrt +werden, der Seemann, der übriggebliebene, wird nicht vermißt, die +Kompanie spart seinen Lohn. Ein Seemann ohne Schiff, ein Seemann, +der nicht zu einem Schiff gehört, ist weniger als der Dreck auf der Gasse. +Er gehört nirgends hin, niemand will etwas mit ihm zu tun haben. +Wenn er jetzt da ins Meer springt und ersäuft wie eine Katze, niemand +vermißt ihn, niemand wird nach ihm suchen. „Ein Unbekannter, offenbar +ein Seemann“, das ist alles, was von ihm gesagt wird. +</p> + +<p> +Das ist ja recht lieblich, dachte ich, und jener Welle des Verzagtseins +gab ich rasch ordentlich eins auf den Kamm, so daß sie sich davonmachte. +Mache das Beste aus dem Schlechten, und das Schlechte verschwindet +im Augenblick. +</p> + +<p> +Gosh, schiet den ollen Eimer, da sind andre Schiffe in der Welt, die +Ozeane sind ja so groß und so weit. Kommt ein andres, ein besseres. +Wieviel Schiffe gibt es auf der Welt? Sicher eine halbe Million. Davon +wird doch eines einmal einen Deckarbeiter gebrauchen können. Und +Antwerpen ist ein großer Hafen, da kommen sicher alle diese halbe +Million Schiffe einmal her, irgendwann und irgendeinmal sicher. Muß +man nur Geduld haben. Ich kann doch nicht erwarten, daß gleich da +drüben schon so ein Kasten liegt und der Kapitän in Todesangst schreit: +</p> + +<p class="ibr"> +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +„Herr Deckarbeiter, kommen Sie schnell rauf zu mir, ich brauche einen +Deckarbeiter, gehen Sie nicht zum Nachbar, ich flehe Sie an.“ +</p> + +<p> +So sehr kümmerte ich mich auch wahrhaftig nicht um die treulose +Tuscaloosa. Wer hätte das von diesem schönen Weibsbild gedacht? Aber +so sind sie, alle, alle. Und sie hatte so saubere Quartiere und ein so gutes +Essen. Jetzt haben sie gerade Breakfast, diese verfluchten Halunken, +und essen meine Portion Ham and Eggs mit. Wenn sie wenigstens nicht +der Slim kriegen wollte, denn diesem Hund von einem Bob gönne ich +sie nicht. Aber der wird ja gleich der erste sein, der meine Sachen durchstöbert +und sich das Beste heraussucht, ehe sie abgeschlossen werden. +Diese Banditen werden die Sachen überhaupt nicht abschließen lassen, +sie werden sie glatt unter sich verteilen und sagen, ich hätte nichts gehabt, +diese Banditen, diese niederträchtigen. Dem Slim ist ja auch nicht +zu trauen, er hat mir so schon immer die Toilettenseife gestohlen, weil er +sich mit der Kernseife nicht waschen wollte, dieser geschniegelte Broadwayhengst. +Yes, Sir, das machte der Slim, Sie hätten das nicht von ihm +geglaubt, wenn Sie ihn gesehen hätten. +</p> + +<p> +Wahrhaftig nicht, so sehr kümmerte ich mich nicht um den davongelaufenen +Kasten. Aber was mich ernsthaft bekümmerte, war, ich hatte +nicht einen roten Cent in meiner Tasche. Jenes hübsche Mädchen hatte +mir in der Nacht erzählt, daß ihre so herzinnig geliebte Mutter schwerkrank +sei, und sie hätte kein Geld, um Arznei und kräftiges Essen zu +kaufen. Ich wollte für den Tod der Mutter nicht verantwortlich sein, +deshalb gab ich dem hübschen Mädchen alles Geld, das ich bei mir +hatte. Ich wurde reichlich belohnt durch die tausend beglückten Danksagungen +des Mädchens. Gibt es irgendetwas in der Welt, das beglückender +wäre als die tausend Danksagungen eines hübschen Mädchens, +dessen geliebte Mutter man soeben vom Tode errettet hat? No, Sir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-5"> +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +3 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> setzte mich auf eine große Kiste, die da lag, und folgte der +Tuscaloosa auf ihrem Wege über das Meer. Ich hoffte und +wünschte, daß sie auf einen Felsen aufbrennen möchte und +so gezwungen wäre, zurückzukommen oder wenigstens die +Mannschaft auszubooten und zurückzuschicken. Aber sie ging +den Felsenriffen schön aus dem Wege, denn ich sah sie nicht +zurückkommen. Jedenfalls wünschte ich ihr von Herzen alle +Unglücksfälle und Schiffbrüche, die einem Schiffe nur begegnen +können. Was ich mir aber am deutlichsten ausmalte, das war, daß sie +Seeräubern in die Hände fiele, die das ganze Schiff von oben bis unten +ausplündern und dem Biest Bob die ganzen Sachen wieder abnehmen +würden, die er sich ja nun inzwischen wohl angeeignet haben wird, und +daß sie ihm eins so mächtig auf seine grinsende Fratze hauten, daß ihm +sein Grinsen und Sticheln für sein ganzes Leben verginge. +</p> + +<p> +Gerade als ich mich anschickte, ein wenig einzudröseln und von jenem +hübschen Mädchen zu träumen, klopfte mir jemand auf die Schulter +und weckte mich auf. Er begann sofort so rasend schnell auf mich einzureden, +daß mir ganz schwindlig wurde. +</p> + +<p> +Ich wurde wütend und sagte ärgerlich: „Oh rats, lassen Sie mich in Ruh; +ich mag Ihr Gequassel nicht. Außerdem verstehe ich nicht ein einziges +Wort von Ihrem Geklatter. Scheren Sie sich zum Teufel.“ +</p> + +<p> +„Sie sind Engländer, nicht wahr?“ fragte er nun in Englisch. +</p> + +<p> +„No, Yank.“ +</p> + +<p> +„Aha, also Amerikaner.“ +</p> + +<p> +„Yes, und nun lassen Sie mich ungeschoren und machen Sie, daß Sie +fortkommen. Ich will mit Ihnen nichts zu tun haben.“ +</p> + +<p> +„Aber ich mit Ihnen, ich bin von der Polizei.“ +</p> + +<p> +„Da haben Sie aber Glück, lieber Freund, guter Posten“, sagte ich +darauf. „Was ist denn los? Geht es Ihnen dreckig oder was haben Sie +sonst für Sorgen?“ +</p> + +<p> +„Seemann?“ fragte er weiter. +</p> + +<p> +„Yes, old man. Haben Sie vielleicht einen Posten für mich?“ +</p> + +<p> +„Von welchem Schiff?“ +</p> + +<p> +„Tuscaloosa von New Orleans.“ +</p> + +<p> +„Ist rausgegangen um drei Uhr morgens.“ +</p> + +<p> +„Ich brauche Sie nicht, damit mir das erzählt wird. Haben Sie keinen +besseren Witz auf Lager? Der ist schon sehr alt und stinkt.“ +</p> + +<p> +„Wo haben Sie Ihre Papiere?“ – „Was für Papiere?“ +</p> + +<p> +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +„Ihre Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +Ei, Schokoladencreme mit Appelsauce! Meine Seemannskarte? Die +steckte in meiner Jacke, und die Jacke war in meinem Kleidersack und +mein Kleidersack lag mollig unter meiner Bunk in der Tuscaloosa, und +die Tuscaloosa war – ja, wo konnte sie jetzt sein? Wenn ich nur wüßte, +was sie heute für Breakfast bekommen haben! Den Speck hat der +Nigger sicher wieder anbrennen lassen, na, ich will ihm mal etwas +erzählen, wenn ich die Galley streichen komme. +</p> + +<p> +„Na, Ihre Seemannskarte. Verstehen doch, was ich meine.“ +</p> + +<p> +„Meine Seemannskarte. Wenn Sie die meinen sollten, nämlich meine +Seemannskarte. Da muß ich Ihnen doch die Wahrheit gestehen. Ich habe +keine Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +„Keine Seemannskarte?“ Das hätte man hören müssen, in welch einem +entgeisterten Ton er das sagte. Ungefähr so, als ob er sagen wollte: +„Was, Sie glauben nicht, daß es Meerwasser gibt?“ +</p> + +<p> +Ihm war das unfaßbar, daß ich keine Seemannskarte hatte, und er +fragte es zum dritten Male. Aber während er es diesmal fragte, offenbar +rein mechanisch, hatte er sich von seinem Erstaunen erholt und fügte +hinzu: „Keine andern Papiere? Paß oder Identitätskarte oder etwas +Ähnliches?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ Ich durchsuchte meine Taschen emsig, obgleich ich genau wußte, +daß ich nicht einmal einen leeren Briefumschlag mit meinem Namen +bei mir hatte. +</p> + +<p> +„Kommen Sie mit mir!“ sagte darauf der Mann. +</p> + +<p> +„Wohin kommen?“ fragte ich, denn ich wollte doch wissen, was der +Mann vorhat und auf welches Schiff er mich verschleppen will. Auf ein +Rumboot gehe ich nicht, das kann ich ihm schon jetzt vorher erzählen. +Da kriegen mich keine zehn Pferde mehr rauf. +</p> + +<p> +„Wohin? Das werden Sie gleich sehen.“ Daß der Mann besonders +freundlich gewesen wäre, hätte ich nicht behaupten können, aber die +Heuerbase sind nur dann schietfreundlich, wenn sie für einen Kasten +durchaus niemand kriegen können. Das also schien hier ein ganz +wackeres Bötchen zu sein, auf das er mich bringen wollte. Ich hätte nicht +gedacht, daß ich so schnell wieder auf einen Eimer kommen würde. +Glück muß man haben und nur nicht immer gleich verzagen. +</p> + +<p> +Endlich landeten wir. Wo? Richtig geraten, Sir, in der Polizeistation. +Da wurde ich nun gleich gründlich durchsucht. Als sie mich durch und +durch gesucht hatten und ihnen keine Naht mehr ein Geheimnis war, +fragte mich der Mann ganz trocken: „Keine Waffe? Keine Werkzeuge?“ +</p> + +<p class="ibr"> +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +Na, da hätte ich ihm aber doch so schlankweg eine brennen können. +Als ob ich ein Maschinengewehr in der oberen Hälfte des Nasenloches +und eine Brechstange unter dem Augenlid hätte verstecken können! +Aber so sind die Leute. Wenn sie nichts finden, behaupten sie, man habe +es versteckt; denn daß man das nicht besitze, wonach sie suchen, das +können sie nicht begreifen und lernen sie auch nie begreifen. Damals +wußte ich das noch nicht. +</p> + +<p> +Dann hatte ich mich vor einem Schreibpulte aufzustellen, an dem ein +Mann saß, der mich immer so ansah, als hätte ich seinen Überzieher +gestohlen. Er öffnete ein dickes Buch, in dem viele Photographien +waren. Der Mann, der mich hierher gebracht hatte, spielte den Übersetzer, +weil wir uns sonst nicht hätten verständigen können. Als sie +unsre Jungens brauchten, im Kriege, da haben sie uns verstanden; jetzt +ist das längst vorbei, und da brauchen sie nichts mehr zu wissen. +</p> + +<p> +Der Hohepriester, denn so sah er aus hinter seinem Schreibpult, sah +immer auf die Photographien und dann auf mich, oder genauer, auf +mein Gesicht. Das tat er mehr als hundertmal, und seine Halsmuskeln +wurden nicht müde, so gewohnt war er diese Arbeit. Er hatte viel Zeit, +und die nahm er sich auch ganz unbekümmert. Andre hatten es ja zu +bezahlen, warum sollte er sich da beeilen. +</p> + +<p> +Endlich schüttelte er den Kopf und klappte das Buch zu. Offenbar hatte +er meine Photographie nicht gefunden. Ich konnte mich auch nicht erinnern, +daß ich mich jemals in Antwerpen hätte photographieren lassen. +Schließlich wurde ich hundemüde von diesem langweiligen Geschäft, +und ich sagte: „Jetzt habe ich aber Hunger. Ich habe heute noch kein +Frühstück gehabt.“ +</p> + +<p> +„Das ist recht“, sagte der Dolmetscher und führte mich in einen schmalen +Raum. Viel Möbel waren nicht drin, und die, die drin waren, die waren +nicht in einer Kunstwerkstätte angefertigt worden. +</p> + +<p> +Aber was ist denn das mit dem Fenster? Merkwürdig, das Zimmer hier +scheint für gewöhnlich dazu zu dienen, den belgischen Staatsschatz aufzubewahren. +Der Staatsschatz liegt hier sicher, denn es kann ganz bestimmt +niemand von draußen hier herein, durchs Fenster einmal sicher +nicht, no, Sir. +</p> + +<p> +Ich möchte wissen, ob die Leute hier das wirklich Frühstück nennen. +Kaffee mit Brot und Margarine. Sie haben sich von dem Kriege noch +nicht erholt. Oder wurde der Krieg nur darum gemacht, um sich größere +Frühstücke zu verschaffen? Dann haben sie ihn sicherlich nicht gewonnen, +was immer auch die Zeitungen schreiben mögen, denn ein +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +solches Krümchen müssen sie schon vor dem Kriege Frühstück genannt +haben, weil es das Minimum an Qualität und Quantität ist, das man +gerade noch Frühstück nennen kann, weil man das Stück früh bekommt. +</p> + +<p> +Gegen Mittag wurde ich wieder vor den Hohenpriester gebracht. +</p> + +<p> +„Wünschen Sie nach Frankreich zu gehen?“ Das wurde ich gefragt. +</p> + +<p> +„Nein, ich mag Frankreich nicht, die Franzosen müssen immer setzen +und können nie sitzen. In Europa müssen sie immer besetzen und in +Afrika immer entsetzen. Und dieses Setzen macht mich nervös, sie +können vielleicht sehr schnell Soldaten brauchen und mich, da ich ja +keine Seemannskarte habe, unabsichtlich verwechseln und mich für +einen ihrer Setzer halten. Nein, nach Frankreich gehe ich auf keinen +Fall.“ +</p> + +<p> +„Wie denken Sie über Deutschland?“ +</p> + +<p> +Was die Leute alles von mir wissen wollen! +</p> + +<p> +„Nach Deutschland mag ich auch nicht gehen.“ +</p> + +<p> +„Warum? Deutschland ist doch ein recht hübsches Land, da können Sie +auch wieder leicht ein Schiff bekommen.“ +</p> + +<p> +„Nein, ich mag die Deutschen nicht. Wenn ihnen die Rechnungen vorgelegt +werden, dann sind sie die Entsetzten, und wenn sie die Rechnungen +nicht bezahlen können, dann sind sie die Besetzten. Und weil +ich doch keine Seemannskarte habe, könnte man mich dort vielleicht +auch verwechseln, und ich müßte mit bezahlen. Soviel kann ich ja als +Deckarbeiter nie verdienen. Da könnte ich nie die unterste Schicht der +Mittelklasse erklimmen und ein wertvolles Mitglied der menschlichen +Gesellschaft werden.“ +</p> + +<p> +„Was reden Sie soviel herum? Sagen Sie einfach, ob Sie dahin wollen +oder nicht.“ +</p> + +<p> +Ob sie das verstehen, was ich da sage, weiß ich nicht. Aber es scheint, +daß sie viel Zeit haben und froh sind, daß eine Unterhaltung im +Gange ist. +</p> + +<p> +„Also, dann kurz und bündig und abgemacht, Sie gehen nach Holland“, +sagt der Hohepriester und der Dolmetscher erzählt es mir wieder. +</p> + +<p> +„Ich mag aber die Holländer nicht“, erwiderte ich, und ich will nun auch +gleich erzählen warum, als mir gesagt wird: „Ob Sie die Holländer +mögen oder nicht, das geht uns gar nichts an. Machen Sie das mit den +Holländern ab. In Frankreich wären Sie am besten aufgehoben gewesen. +Aber da wollen Sie ja nicht hin. Nach Deutschland wollen Sie +auch nicht, das ist Ihnen auch nicht gut genug, und jetzt gehen Sie einfach +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +nach Holland. Fertig und Schluß. Eine andre Grenze haben wir +nicht. Ihretwegen können wir uns auch keinen andern Nachbar aussuchen, +der vielleicht Ihre Wertschätzung erwerben könnte, und ins +Wasser wollen wir Sie vorläufig noch nicht schmeißen, das ist die einzige +Grenze, die uns noch bleibt als letzte. Also es geht nach Holland und +nun Schluß. Seien Sie froh, daß Sie so billig davonkommen.“ +</p> + +<p> +„Aber meine Herren, Sie sind im Irrtum, ich will gar nicht nach Holland. +Die Holländer sitzen –“ +</p> + +<p> +„Ruhig nun. Die Frage ist entschieden. Wieviel Geld haben Sie?“ +</p> + +<p> +„Sie haben doch meine Taschen und Nähte alle durchsucht. Wieviel +Geld haben Sie denn gefunden?“ Da soll man nun nicht wütend werden. +Sie durchsuchen einen stundenlang mit Vergrößerungsgläsern, und +dann fragen sie noch ganz scheinheilig, wieviel Geld man habe. +</p> + +<p> +„Wenn Sie nichts gefunden haben, dann habe ich kein Geld“, sage ich. +</p> + +<p> +„Das ist gut. Das ist jetzt alles. Nehmen Sie ihn wieder in die Zelle.“ +Der Hohepriester hatte seine Zeremonien beendet. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-6"> +4 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> späten Nachmittag wurde ich zum Bahnhof gebracht. +Zwei Mann, darunter der Dolmetscher, begleiteten +mich. Offenbar dachten sie, ich sei noch nie +in meinem Leben mit der Bahn gefahren, denn ich +durfte nichts allein tun. Einer löste die Fahrkarten, +während der andre dicht bei mir stehen blieb und +aufpaßte, damit nicht etwa ein Taschendieb sich die +vergebliche Arbeit machen sollte, noch einmal meine +Taschen durchzusuchen, denn wo einmal die Polizei Taschen durchsucht +hat, findet auch der geschickteste Taschendieb keinen Cooper mehr. +</p> + +<p> +Der Mann, der die Karten gelöst hatte, gab mir aber meine Karte nicht. +Wahrscheinlich dachte er, ich würde sie sofort wieder verkaufen. Sie +begleiteten mich dann sehr höflich auf den Bahnsteig und brachten mich +zu meinem Abteil. Ich glaubte, sie würden sich hier von mir verabschieden. +Aber das taten sie nicht. Sie setzten sich zu mir in das Abteil, +und um mich vor dem Hinausfallen zu bewahren, nahmen sie mich in +ihre Mitte. Ob belgische Polizeibeamte immer so höflich mit Leuten +sind, weiß ich nicht. Ich jedenfalls konnte mich über sie nicht beklagen. +Sie gaben mir dann Zigaretten. Wir rauchten, und der Zug dampfte los. +Nach einer kurzen Fahrt verließen wir den Zug und kamen in ein +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +kleines Städtchen. Wieder wurde ich zu einer Polizeistation gebracht. +Ich hatte mich auf eine Bank zu setzen in jenem Raum, wo sich alle die +Polizeibeamten aufhielten, die in Reserve waren. Die beiden Leute, mit +denen ich gekommen war, erzählten eine große Geschichte über mich. +Die übrigen Cops, ich meine die übrigen Polizeibeamten, glotzten mich +alle der Reihe nach an, manche interessiert, als ob sie noch nie einen +solchen Mann gesehen hätten, und andre wieder, als hätte ich irgendwo +einen Doppelraubselbstmord verübt. +</p> + +<p> +Gerade diejenigen, die mich in so verhängnisvoller Weise anstarrten, +die mich der Verübung der gräßlichsten Verbrechen, deren Täter man +noch nicht erwischt hatte, fähig hielten, und die mir noch viel schwerere +Verbrechen in Zukunft zutrauten als ich, ihrer untrüglichen Meinung +zufolge, schon verübt habe, flößten mir plötzlich den Gedanken ein, daß +ich hier auf den Henker zu warten habe, der augenscheinlich nicht zu +Hause war und erst gesucht werden mußte. +</p> + +<p> +Da war nichts zu lachen, no, Sir. Es war eine sehr ernste Sache. Man +braucht nur ein wenig darüber nachzudenken. Ich hatte keine Seemannskarte, +ich hatte keinen Paß, ich hatte keinen Identitätsausweis, +ich hatte kein sonstiges Papier, und meine Photographie hatte der Hohepriester +in seinem dicken Buche auch nicht gefunden. Wenn da wenigstens +noch meine Photographie gewesen wäre, dann hätte er doch gleich +gewußt, wer ich bin. Von der Tuscaloosa achtern abgeblieben zu sein, +das konnte jeder erzählen, der sich da herumtrieb. Eine Wohnung hatte +ich nirgendwo auf der Welt. Entweder ein Eimer oder eine Seemannsherberge. +Mitglied irgendeiner Handelskammer war ich auch nicht. Ich +war eben ein Niemand. Na, nun frage ich, warum sollten die armen Belgier +einen Niemand durchfüttern, wo sie doch schon so viele Niemandskinder +durchzufüttern haben, die wenigstens immer noch zur Hälfte +hierher gehören. Ich aber gehörte mit keiner Hälfte hierhin. Ich war +nur eine weitere Ursache, daß sie in Amerika wieder Geld pumpen +mußten. Mich zu hängen, war der kürzeste und einfachste Weg, um mich +los zu werden. Ich konnte es ihnen nicht einmal verdenken. Kein Mensch +kümmerte sich um mich, kein Mensch würde nach mir fragen, meinen +Namen brauchten sie gar nicht einmal in ihre dicken Bücher zu schreiben. +Und hängen würden sie mich, ganz sicher. Sie warteten nur noch auf +den Henker, der das Geschäft versteht, sonst wäre es ja ungesetzlich +und ein Mord. +</p> + +<p> +Wie recht ich hatte. Da war der Beweis. Einer der Cops kam auf mich +zu und gab mir zwei dicke Pakete mit Zigaretten, die letzte Gabe an +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +den armen Sünder. Dann gab er mir auch noch Zündhölzer, setzte sich zu +mir und radebrechte mit mir, lachte und war freundlich, klopfte mir +auf die Schulter und sagte: „Ist nicht so schlimm, Junge, nehmen Sie es +nicht zu tragisch. Rauchen Sie, damit Ihnen die Zeit nicht lang wird. Wir +müssen warten, bis es finster ist, sonst können wir es nicht gut machen.“ +Nicht tragisch nehmen, wenn man gehängt werden soll. Ist nicht so +schlimm. Ich möchte wissen, ob es mit ihm schon mal versucht worden +ist, daß er so bestimmt sagen kann: Ist nicht so schlimm. Warten, bis +es finster ist. Freilich, bei Tage trauen sie sich nicht so recht, es könnte +uns ja vielleicht jemand begegnen, der mich kennt, und dann wäre der +Spaß verdorben. Aber es hat ja keinen Zweck, den Kopf hängen zu +lassen, er wird bald genug von selber hängen. Und ich rauche erst einmal +wie ein Fabrikschlot, damit sie nicht am Ende gar noch die Zigaretten +sparen. +</p> + +<p> +Die Zigaretten schmecken nach gar nichts. Das reine Stroh. Verflucht +nochmal, ich will nicht hängen. Wenn ich nur wüßte, wie ich hier heraus +komme. Aber die sind ja immerfort um mich herum. Und jeder +neue, der abgelöst ist und hereinkommt, glubscht mich an und will von +den andern wissen, wer ich bin, warum ich hier sei, und wann ich gehängt +werde. Und dann grient er übers ganze Gesicht. Ein widerliches +Volk. Ich möchte wissen, warum wir denen geholfen haben. +</p> + +<p> +Später bekam ich mein letztes Essen. Aber solche Geizhälse gibt es auf +der ganzen Erde nicht mehr. Das nennen sie nun eine Henkersmahlzeit: +Kartoffelsalat mit einer Scheibe Leberwurst und ein paar Schnitten +Brot mit Margarine. Zum Heulen ist es. Nein, die Belgier sind keine +Guten, und es fehlte nicht viel, und ich wäre beinahe verwundet worden, +als wir sie aus der Suppe ziehen mußten und unser Geld los wurden. +Einer, der mir die Zigaretten gegeben hatte und mir einzureden versuchte, +es sei nicht so schlimm, gehenkt zu werden, sagte nun: „Sie sind +doch ein guter Americain, sie trinken doch keinen Wein, nicht wahr?“ +Und dabei lachte er mich an. Teufel nochmal, wenn er nicht ein solcher +Heuchler wäre mit seinem Nicht-so-schlimm, man könnte beinahe +glauben, daß es auch feine und nette Belgier gibt. +</p> + +<p> +„Guter Amerikaner? Schiet auf Amerika. Ich trinke Wein, aber feste.“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Das habe ich mir doch gleich gedacht,“ sagte der Cop schmunzelnd. +„Sie sind echt. Das ist ja alles Alterweiberhumbug mit eurer sogenannten +Prohibition. Laßt euch von Tanten und Betschwestern kommandieren. +Mich geht es ja nichts an. Aber hier bei uns, da haben wir +Männer noch die Hosen an.“ +</p> + +<p> +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +Gosh, da ist endlich einer, der den Pfahl im Fleische sieht. Der Mann +kann nicht verlorengehen, er kann durch dickes Wasser bis auf den +Grund sehen. Schade um den Mann, daß er Cop ist. Aber wenn er nicht +Cop wäre, würde ich wahrscheinlich dieses Riesenglas voll guten +Weines, das er jetzt vor mich hinstellte, nie gesehen haben. Prohibition +ist eine Schande und eine Sünde, Gott sei’s geklagt. Ich bin sicher, daß +wir irgendwann und irgendwo etwas Furchtbares verbrochen haben +müssen, weil uns diese köstliche Gottesgabe genommen wurde. +</p> + +<p> +Gegen zehn Uhr abends sagte der Weinspender zu mir: „So, nun ist es +Zeit für uns, Seemann, kommen Sie mit mir.“ +</p> + +<p> +Was hätte es für Sinn, zu schreien: „Ich will nicht gehenkt werden!“ +wenn da vierzehn Mann um einen herum sind, und alle vierzehn vertreten +das Gesetz. Das ist eben Schicksal. Zwei Stunden hätte die Tuscaloosa +nur zu warten brauchen. Aber zwei Stunden bin ich nicht wert, +hier bin ich noch viel weniger wert. +</p> + +<p> +Der Gedanke an diese Wertlosigkeit empörte mich aber doch, und ich +sagte: „Ich geh nicht mit. Ich bin Amerikaner, ich werde mich beschweren.“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Ha!“ schrie einer höhnisch herüber, „Sie sind kein Amerikaner. Beweisen +Sie es doch. Haben Sie eine Seemannskarte? Haben Sie einen +Paß? Nichts haben Sie. Und wer keinen Paß hat, ist niemand. Mit Ihnen +können wir machen, was uns beliebt. Und das werden wir jetzt, und +Sie werden nicht gefragt. Raus mit dem Burschen.“ +</p> + +<p> +Es war nicht nötig, daß ich mir vielleicht erst noch einen Hieb über +den Schädel holte, am Ende war ich ja nur der Dumme. So mußte ich +halt lostrotten. +</p> + +<p> +An meiner linken Seite ging der lustige Mann, der radebrechen konnte, +und an meiner rechten Seite ging ein andrer. Wir verließen das kleine +Städtchen und befanden uns bald auf offnen Feldern. +</p> + +<p> +Es war entsetzlich finster. Der Weg, auf dem wir gingen, war nur ein +holpriger, zerfahrener Landweg, wo man schlecht laufen konnte. Ich +hätte nur gern gewußt, wie lange wir so wandern wollten, bis das +traurige Ziel erreicht war. +</p> + +<p> +Nun verließen wir auch noch diese elende Straße und bogen in einen +Wiesenpfad ein. Eine gute Weile ging es über Wiesen. +</p> + +<p> +Jetzt war es Zeit, abzuhäuten. Aber diese Burschen waren augenscheinlich +Gedankenleser. Gerade als ich einen ausschwingen will, um zuerst +einmal dem einen Nachbar einen sanften Bläser an die Kinnbacken zu +haken, packt mich der Mann am Arm und sagt: „Nun sind wir da. Jetzt +haben wir einander Lebewohl zu sagen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +Ein entsetzliches Gefühl, wenn man die letzte Minute so klar und +trocken heranschleichen sieht. Nicht einmal schleichen. Sie stand gleich +ganz nüchtern vor mir. Es war mir sehr trocken in der Kehle. Ich hätte +gern einen Schluck Wasser gehabt. Aber nun war ja wohl an Wasser +nicht mehr zu denken. Die paar Augenblicke würde es auch noch ohne +Wasser gehen, das hätten sie mir sicher geantwortet. Ich hätte den +Weinspender nicht für einen solchen Heuchler gehalten. Einen Henker +hatte ich mir anders vorgestellt. Es ist doch ein dreckiges, ein schäbiges +Geschäft; als ob es nicht andre Berufe gäbe. Nein, gerade Henker, +Bestie sein, und das sogar noch als Beruf. +</p> + +<p> +Nie vorher im Leben hatte ich so stark gefühlt, wie wunderschön das +Leben ist. Wunderschön und über alle Maßen köstlich ist sogar das +Leben, wenn man müde und hungrig zum Hafen kommt und erkennt, +daß einem das Schiff weggefahren ist und man zurückgelassen ist ohne +Seemannskarte. Leben ist immer schön, wenn es auch noch so trübe aussieht. +Und in einer so finstern Nacht auf freiem Felde einfach so fortgewischt +zu werden, als wäre man nur gerade ein Wurm –! Hätte ich +von den Belgiern nicht gedacht. Aber schuld daran ist die Prohibition, +die einen so schwach macht gegen Versuchungen. Wenn ich jetzt, gerade +jetzt, diesen Mr. Volstead hier zwischen meinen Fingern hätte! Was +muß der Mann für eine böse Frau gehabt haben, daß er so etwas ausdenken +und ausstinken konnte! Froh bin ich aber doch, daß auf mich +diese Millionen Flüche nicht herabgedonnert werden, die das Leben +dieses Mannes belasten. +</p> + +<p> +„Oui, Mister, wir haben Lebewohl zu sagen. Sie mögen ja ein ganz +netter Mensch sein. Augenblicklich haben wir aber gar keine Verwendung +für Sie.“ +</p> + +<p> +Deshalb brauchen Sie einen doch aber nicht gleich zu henken. +</p> + +<p> +Er hob seinen Arm. Offenbar, um mir die Schlinge über den Kopf zu +werfen und mich zu erdrosseln; denn die Mühe, einen Galgen aufzubauen, +hatten sie sich nicht gemacht. Das hätte zuviel Ausgaben +verursacht. +</p> + +<p> +„Da drüben,“ sagte er nun und zeigte mit ausgestrecktem Arme in die +Richtung, „da drüben, geradenwegs, wo ich hinweise, da ist Holland. +Netherland. Haben Sie doch sicher schon davon gehört?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Jetzt gehen Sie geradenwegs in jene Richtung, die ich Ihnen hier mit +meinem Arme andeute. Ich glaube nicht, daß Sie da jetzt einen Kontrollbeamten +treffen werden. Wir haben uns erkundigt. Sollten Sie aber +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +jemand sehen, dann gehen Sie ihm sorgfältig aus dem Wege. Nach einer +Stunde Gehens immer in dieser Richtung kommen Sie an die Eisenbahnlinie. +Folgen Sie der Linie noch eine kurze Strecke in derselben +Richtung, dann kommen Sie zur Station. Halten Sie sich da in der Nähe +auf, aber lassen Sie sich nicht sehen. Gegen vier Uhr morgens kommen +dann eine Menge Arbeiter, und dann gehen Sie zum Schalter und sagen +nur ‚Rotterdam derde klasse‘, aber sagen Sie kein einziges Wort mehr. +Hier haben Sie fünf Gulden.“ +</p> + +<p> +Er gab mir fünf Geldscheine. +</p> + +<p> +„Und da ist noch ein Happen zu essen für die Nacht. Kaufen Sie nichts +auf der Station. Sie sind bald in Rotterdam. So lange halten Sie es dann +schon aus.“ +</p> + +<p> +Nun gab er mir ein kleines Paketchen, in dem allem Anschein nach +Butterbrote waren. Dann bekam ich noch ein Paket Zigaretten und eine +Schachtel Zündhölzer. +</p> + +<p> +Was soll man von diesen Leuten sagen? Sie sind hinausgeschickt, um +mich zu henken, und geben mir noch Geld und Butterbrote, damit ich +mich aus dem Staube machen kann. Sie haben ein zu gutes Herz, mich +so kalt umzubringen. Da soll man nun die Menschen nicht lieben, wenn +man so gute Kerle selbst unter den Polizisten findet, deren Herz durch +das ewige Menschenjagen durch und durch verhärtet ist. Ich schüttelte +den beiden so sehr die Hände, daß sie Angst bekamen, ich wollte die +Hände mitnehmen. +</p> + +<p> +„Machen Sie nicht solchen Spektakel, einer von drüben kann Sie vielleicht +gar hören, und dann ist alles im Dreck. Und das wäre nicht gut, +dann könnten wir wieder von vorn anfangen.“ Der Mann hatte recht. +„Und nun hören Sie gut zu, was ich Ihnen jetzt sage.“ Er sprach halblaut, +bemühte sich aber, mir alles deutlich zu machen dadurch, daß er +das Gesagte mehrfach wiederholte. „Kommen Sie ja nicht nochmal nach +Belgien zurück, das kann ich Ihnen nur sagen. Wenn wir Sie nochmal +innerhalb unsrer Grenzen finden, Sie können sich darauf verlassen, wir +sperren Sie ein auf Lebenszeit. Auf Lebenszeit im Gefängnis. Lieber +Freund, das ist allerlei. Also ich warne Sie ausdrücklich. Wir wissen ja +nicht, wohin mit Ihnen. Sie haben ja keine Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +„Aber vielleicht hätte ich zum Konsul –“ +</p> + +<p> +„Gehen Sie mir mit Ihrem Konsul. Haben Sie eine Seemannskarte? +Nein. Na also. Da pfeffert Sie Ihr Konsul raus, vierkant, und wir haben +Sie auf dem Halse. Sie wissen jetzt Bescheid. Auf Lebenszeit Gefängnis.“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Ganz bestimmt, meine Herren, ich verspreche es Ihnen. Ich werde nicht +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +mehr Ihr Land betreten.“ Warum sollte ich auch? Ich hatte ja in Belgien +nichts verloren. Ich war eigentlich froh, daß ich raus kam. Holland ist +viel besser. Die versteht man schon zur Hälfte, während man hier kein +Wort versteht, was die Leute reden, und was sie wollen. +</p> + +<p> +„Gut also. Sie sind nun verwarnt. Nun hüpfen Sie los und seien Sie vorsichtig. +Wenn Sie Tritte hören, legen Sie sich hin bis die Schritte vorübergegangen +sind. Lassen Sie sich nur nicht kriegen, sonst kriegen wir +Sie, und dann geht es Ihnen schlecht. Viel Glück auf die Reise.“ +</p> + +<p> +Die schoben ab und ließen mich allein. +</p> + +<p> +Dann, kreuzvergnügt, wanderte ich los. Immer in jener Richtung, die +mir gezeigt worden war. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-7"> +5 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_r.jpg" alt="R"><span class="hidden">R</span></span><span class="postfirstchar">otterdam</span> ist eine hübsche Stadt. Wenn man Geld hat. +Ich hatte keins, nicht einmal eine Börse, wo ich es hätte +hineinstecken können, wenn ich welches gehabt hätte. +</p> + +<p> +Da war auch nicht ein einziges Schiff im Hafen, das einen +Deckarbeiter oder einen Ersten Ingenieur gebraucht +hätte. Zu jener Zeit war mir das ganz gleich. Wenn auf +einem Schiff ein Erster Ingenieur verlangt worden wäre, +ich hätte den Posten angenommen. Glatt. Ohne mit der +Wimper zu zucken. Der Krach kommt ja erst, wenn das Schiff draußen +ist, auf hoher Fahrt. Und dann können sie einen doch nicht so einfach +über Bord feuern. Anzustreichen gibt es immer etwas, da findet sich dann +also schon die rechte Arbeit. Man ist ja schließlich auch nicht so, daß +man nun mit Mord und Tod auf das Gehalt des Ersten Ingenieurs pocht. +Man kann ja etwas nachlassen. Gosh, in welchem Laden wird nicht auch +einmal vom Preise heruntergehandelt, wenn das Plakat „Feste Preise“ +auch noch so groß gemalt ist? +</p> + +<p> +Krach hätte es sicher gegeben; denn damals konnte ich eine Kurbel nicht +von einem Ventil und eine Bleuelstange nicht von einer Welle unterscheiden. +Das wäre ja beim ersten Signal herausgekommen, wenn der +Skipper hinuntergeklingelt hätte „Totlangsam“, und gleich darauf wäre +der Eimer losgeschossen, als ob er auf Tod und Leben verpflichtet sei, +das „Blue Ribbon“, das Blaue Band, zu gewinnen. Ein Spaß wäre es +ja doch. Aber es lag nicht an mir, daß ich den Spaß nicht ausprobieren +konnte, denn niemand suchte einen Ersten Ingenieur. Es wurde überhaupt +niemand gesucht, auf keinem Schiff. Ich hätte alles angenommen, +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +was zwischen Kapitän und Küchenjunge ist. Aber nicht einmal ein +Kapitän wurde vermißt. +</p> + +<p> +Nun trieben sich auch schon so viele Seeleute dort herum, die alle auf +ein Schiff warteten. Und nun gar noch eins erwischen, das ’rüber geht +nach den States, das ist schon ganz hoffnungslos. Alle wollen sie auf +einen Kasten, der rüber geht, weil sie dort alle absacken wollen, achtern +raussegeln. Denn alle denken, drüben werden die Leute mit Rosinen +gefüttert, sie brauchen den Schnabel nur hinzuhalten. Schiet. Und dann +liegen sie dort zu Zehntausenden in den Häfen rum und warten auf ein +Schiff, das sie wieder heimbringt, weil eben alles ganz anders ist, als sie +sich gedacht haben. Die goldnen Zeiten sind vorüber, sonst würde mich +niemand als Deckarbeiter auf der Tuscaloosa gefunden haben. +</p> + +<p> +Aber die beiden netten belgischen Cops haben mir einen Tip gegeben: +Mein Konsul. Mein! Die beiden Cops schienen meinen Konsul besser zu +kennen als ich. Merkwürdig. Es ist doch meine Pflicht, ihn besser zu +kennen, denn er ist doch meiner. Er ist ja meinetwegen in der Welt. Er +wird ja meinetwegen bezahlt. +</p> + +<p> +Der Konsul klariert Dutzende von Schiffen aus, da wird er ja auch +etwas wissen über verlangte Deckarbeiter, besonders wenn ich kein +Geld habe. +</p> + +<p> +„Wo haben Sie Ihre Seemannskarte?“ +</p> + +<p> +„Die habe ich verloren.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie einen Paß?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Bürgerpapier?“ +</p> + +<p> +„Nie gehabt.“ +</p> + +<p> +„Ja, was wollen Sie denn dann hier?“ +</p> + +<p> +„Ich habe gedacht, daß Sie mein Konsul seien, daß Sie mir helfen +würden.“ +</p> + +<p> +Er griente. Sonderbar, daß die Menschen immer grienen, wenn sie einen +den Hieb versetzen wollen. +</p> + +<p> +Und mit diesem Grienen auf den Lippen sagte er: „Ihr Konsul? Das +müssen Sie mir beweisen, lieber Mann, daß ich Ihr Konsul bin.“ +</p> + +<p> +„Ich bin doch aber Amerikaner, und Sie sind amerikanischer Konsul.“ +Das war doch ganz richtig. +</p> + +<p> +Aber es schien nicht richtig zu sein, denn er sagte: „Amerikanischer +Konsul, wenn auch augenblicklich noch nicht Erster, bin ich allerdings. +Aber ob Sie Amerikaner sind, das müssen Sie mir erst beweisen. Wo +haben Sie denn Ihre Papiere?“ +</p> + +<p> +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +„Ich habe Ihnen doch bereits gesagt, die habe ich verloren.“ +</p> + +<p> +„Verloren. Wie kann man seine Papiere verlieren? Die trägt man doch +stets bei sich, besonders wenn man in einem fremden Lande ist. Sie +können ja nicht einmal beweisen, ob Sie überhaupt auf der Tuscaloosa +waren. Können Sie das beweisen?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Also. Was wollen Sie da hier? Wenn Sie auch auf der Tuscaloosa waren, +selbst wenn es bewiesen werden könnte, daß Sie wirklich drauf waren, +so wäre das noch nicht der geringste Beweis, daß Sie Bürger sind. Auf +einem amerikanischen Schiffe können auch Hottentotten arbeiten. Also, +was wollen Sie hier? Wie kommen Sie überhaupt von Antwerpen ohne +Papiere hierher nach Rotterdam? Das ist doch merkwürdig.“ +</p> + +<p> +„Die Polizei hat mich doch –“ +</p> + +<p> +„Kommen Sie mir gefälligst nicht noch mal mit einer solchen Erzählung. +Wo ist denn das erhört, daß Staatsbeamte jemand auf diesem ungesetzlichen +Wege über die Grenze in ein fremdes Land schicken? Ohne +Papiere. Sie können mich nicht damit aufziehen, lieber Mann.“ +</p> + +<p> +Und das alles sagte er grienend und ewig lächelnd; denn der amerikanische +Beamte hat immer zu lächeln, selbst wenn er ein Todesurteil +verkündet. Das ist seine republikanische Pflicht. Was mich aber am +meisten ärgerte, war, daß er während seiner Rede immer mit dem Bleistift +spielte. Bald kritzelte er damit auf der Tischplatte herum, bald +kratzte er sich damit im Haar, bald trommelte er damit „My Old +Kentucky Home“, und bald tippte er mit dem Bleistift so auf den Tisch, +als ob er mit jedem Tippen ein Wort festnageln wollte. +</p> + +<p> +Ich hätte ihm am liebsten das Tintenfaß ins Gesicht geworfen. Aber ich +mußte Geduld üben, und so sagte ich: „Vielleicht können Sie mir wieder +ein Schiff verschaffen, damit ich heimkomme. Es kann ja sein, daß ein +Skipper um einen Mann zu kurz ist, oder daß einer erkrankt.“ +</p> + +<p> +„Ein Schiff? Ohne Papiere ein Schiff? Von mir nicht, da brauchen Sie +gar nicht erst wiederzukommen.“ +</p> + +<p> +„Aber wo soll ich denn Papiere herbekommen, wenn Sie mir keine +geben?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Was geht mich denn das an, wo Sie Ihre Papiere herkriegen. Ich habe +sie Ihnen doch nicht abgenommen. Oder? Da könnte ja jeder Herumtreiber, +der auf seine Papiere nicht besser acht gibt, kommen und von +mir Papiere verlangen.“ +</p> + +<p> +„Well, Sir,“ sagte ich darauf, „ich glaube, es haben auch schon andre +Leute, die nicht Arbeiter sind, ihre Papiere verloren.“ +</p> + +<p> +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +„Richtig. Aber diese Leute haben Geld.“ +</p> + +<p> +„Ach so!“ schrie ich laut, „jetzt verstehe ich.“ +</p> + +<p> +„Nichts verstehen Sie,“ griente er, „ich meine, dann sind das Leute, die +noch andre Ausweise haben, Leute, bei denen kein Zweifel zulässig ist, +Leute, die ein Zuhause haben, die eine Adresse haben.“ +</p> + +<p> +„Was kann ich denn dafür, daß ich keine Villa habe, kein Zuhause und +keine andre Adresse als meinen Arbeitsplatz.“ +</p> + +<p> +„Das geht mich nichts an. Sie haben die Papiere verloren. Sehen Sie zu, +wo Sie andre herbekommen. Ich habe mich an meine Bestimmungen +zu halten. Nicht meine Schuld. Haben Sie schon gegessen?“ +</p> + +<p> +„Ich habe doch kein Geld, und gebettelt habe ich noch nicht.“ +</p> + +<p> +„Warten Sie einen Augenblick.“ +</p> + +<p> +Er stand auf und ging in ein andres Zimmer. Nach einigen Minuten kam +er zurück und brachte mir eine Karte. +</p> + +<p> +„Hier haben Sie eine Verpflegungskarte für drei volle Tage im Seemannshause. +Wenn sie abgelaufen ist, können Sie ruhig nochmal +wiederkommen. Versuchen Sie nochmal, vielleicht bekommen Sie ein +andres Schiff, von einer andern Nationalität. Manche nehmen es nicht so +genau. Ich darf Ihnen keine Andeutungen machen. Sie müssen das selbst +herausfinden. Ich bin hier ganz machtlos. Ich bin lediglich ein Diener +des Staates. ’m sorry, old fellow, can’t help it. Good-bye and g’d luck!“ +Möglich, der Mann hat recht. Vielleicht ist er gar nicht so ein Biest. +Warum sollen Menschen denn Biester sein? Ich glaube beinahe, der +Staat ist das Biest. Der Staat, der den Müttern die Söhne nimmt, um sie +den Götzen vorzuwerfen. Dieser Mann ist der Diener des Biestes, wie +der Henker der Diener des Biestes ist. Alles, was der Mann sagte, war +auswendig gelernt. Das hatte er jedenfalls lernen müssen, als er seine +Prüfung ablegte, um Konsul zu werden. Das ging klipp-klapp. Auf +jede meiner Aussagen hatte er eine passende Antwort, die mir sofort +das Maul stopfte. Aber als er fragte: „Haben Sie Hunger? Haben Sie +schon gegessen?“ da wurde er plötzlich Mensch und hörte auf, Biestdiener +zu sein. Hunger haben ist etwas Menschliches. Papiere haben ist +etwas Unmenschliches, etwas Unnatürliches. Darum der Unterschied. +Und das ist die Ursache, warum Menschen immer mehr aufhören, Menschen +zu sein, und anfangen, Figuren aus Papiermaché zu werden. Das +Biest kann keine Menschen brauchen; die machen zu viel Arbeit. +Figuren aus Papiermaché lassen sich besser in Reih’ und Glied stellen +und uniformieren, damit die Diener des Biestes ein bequemeres Leben +führen können. Yesser, yes, Sir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-8"> +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +6 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">rei</span> Tage sind nicht immer drei Tage. Es gibt sehr +lange drei Tage und es gibt sehr kurze. Daß drei +Tage so kurz sein könnten, wie die drei Tage, +wo ich gut zu essen hatte und ein Bett, würde +ich nicht geglaubt haben. Ich wollte mich gerade +das erstemal zum Frühstück hinsetzen, da waren +die drei Tage schon um. Aber selbst wenn sie +zehnmal länger gedauert hätten, zum Konsul +gehe ich nicht mehr. Sollte ich mir vielleicht wieder seine auswendig +gelernten Prüfungsantworten anhören? Etwas Besseres würde er jetzt +auch nicht wissen. Ein Schiff konnte er mir nicht besorgen. Also was +hätte es für Zweck gehabt, seine Reden über mich ergehen zu lassen? +Möglich, daß er mir wieder eine Karte gegeben hätte. Diesmal aber +sicher schon mit einer Geste und einer Miene, die mir das Essen in der +Kehle hätte festwürgen lassen, ehe ich überhaupt den Löffel in die +Suppe steckte. Die drei Tage wären noch viel kürzer geworden als +die vorigen. +</p> + +<p> +Der wichtigste Grund war, ich wollte die Kleinigkeit Mensch, die er bei +meinem ersten Besuche gewesen war in dem Augenblick, als er sich um +mein Wohlergehen kümmerte, nicht aus meiner Erinnerung verlieren. +Bestimmt hätte er mir nun die Karte in seiner vollen Überlegenheit als +Biestdiener verabreicht und mit moralverbrämten Reden, daß es diesmal +das letzte Mal sein müsse, daß zu viele kämen, und daß man sich +nicht darauf ausruhen könne, sondern daß man auch selbst etwas dazu +tun müsse, um weiterzukommen. Lieber verrecken, als nochmal dahin +gehen. +</p> + +<p> +Oh, du geliebte Schneiderseele, was war ich hungrig! So gottserbärmlich +hungrig. Und so müde durch das Schlafen in Torwegen und +Winkeln, immer gejagt im Halbschlaf von der Nachtpolizei, die in die +Torwege und Winkel hineinleuchtete mit den Taschenlampen. Immer +auf der Hut sein, im Schlafe die Patrouille auf fünfzig Schritte hören +müssen, um sich noch rechtzeitig aus dem Staube zu machen. Denn wenn +sie einen erwischen, das heißt Arbeitshaus. +</p> + +<p> +Und kein Schiff im Hafen, das jemand brauchen könnte. Da sind soviele +hundert Seeleute des eignen Landes auf den Beinen, die ein Schiff +suchen, und die gute Papiere haben. Und keine Arbeit in den Fabriken, +keine Arbeit in irgendeinem Geschäft. Selbst wenn da Arbeit wäre, +der Mann dürfte sie einem gar nicht geben. Haben Sie Papiere? Nein? +Schade, dürfen wir Sie nicht einstellen. Sie sind Ausländer. +</p> + +<p> +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Gegen wen sind die Pässe und die Einreisevisen gerichtet? Gegen die +Arbeiter. Gegen wen ist die Beschränkung der Einwanderung in +Amerika und in andern Ländern gerichtet? Gegen die Arbeiter. Und +auf wessen Veranlassung und mit wessen machtvoller Unterstützung +sind oft diese Gesetze, die die Freiheit des Menschen vernichten, ihn +zwingen, dort zu leben, wo er nicht leben will, ihn verhindern, nach +jenem Teil der Erde zu gehen, wo er gern leben möchte, geschaffen +worden? Auf Veranlassung und mit Unterstützung der Arbeiterverbände. +Ein Biest im Bieste: Ich schütze meine Sippe; wer nicht zu +meiner Sippe gehört, der mag zugrunde gehen; geht er zugrunde, um so +besser, dann bin ich einen Konkurrenten los. Yes, Sir. +</p> + +<p> +So hungrig und so müde! Dann kommt die Zeit, wo man nicht mehr +darüber nachdenkt, ob es einen Unterschied macht, die Börse eines +andern, der nicht hungert, mit der eignen Börse, die man nicht hat, zu +verwechseln. Man braucht sie nicht verwechseln, man fängt damit an, +ohne es zu wollen, an die Börse eines Nichthungernden zu denken. +</p> + +<p> +Ein Herr und eine Dame standen vor einem Schaufenster, als ich vorüberging. +</p> + +<p> +Die Dame sagte: „Sag’ doch bloß mal, Fibby, sind denn diese hübschen +Handtäschchen nicht wirklich ganz reizend?“ +</p> + +<p> +Fibby nuschelte etwas, das ebensogut eine Zustimmung wie eine gegenteilige +Meinung sein konnte, es konnte aber auch ganz gut bedeuten: +Laß mich doch in Ruh’ mit deinem Quark! +</p> + +<p> +Die Dame: „Nein, wirklich, die sind zu entzückend, echte altholländische +Kleinkunst.“ +</p> + +<p> +„Stimmt,“ sagte Fibby nun trocken, „echt altholländisch, copyright +neunzehnhundertsechsundzwanzig.“ +</p> + +<p> +Das war Sphärenmusik für mich. Jetzt war ich überzeugt. +</p> + +<p> +Ich war nun sehr rasch und verlor keine Sekunde weiter. Da lag ja das +blanke Gold vor mir mitten auf der Straße. +</p> + +<p> +Es schien mir, daß Fibby sich über das, was ich ihm erzählte, viel mehr +amüsierte, als was ihm seine Frau oder seine Freundin oder seine – +well, Sir, das geht mich nichts an, in welchem Verwandtschaftsverhältnis +die beiden zueinander standen – ja, jedenfalls amüsierte er sich +köstlich über meine Geschichte. Er lächelte, dann lachte er, und endlich +brüllte er, daß die Leute stehenblieben. Wenn ich es nicht an seinem +„Zat so!“ gleich beim ersten Tonfall gehört hätte, wo er herkam, dann +hätte es mir sein unbändiges Lachen verraten. So kann eben nur ein +Amerikaner lachen, jawoll, die können lachen. +</p> + +<p> +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +„Also, Boy, Sie haben Ihre Geschichte großartig erzählt.“ Da lachte er +auch schon wieder. Ich hatte gedacht, er würde zu weinen anfangen +über meine traurige Geschichte. Na ja, er steckte ja nicht in meiner +Haut. Er sah das alles von der komischen Seite. +</p> + +<p> +„Nun sag’ doch, Flory,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „hat denn +das Vöglein, das da aus dem Nest gefallen ist, seine Geschichte nicht +ganz großartig erzählt?“ +</p> + +<p> +„Wirklich sehr nett. Wo sind Sie her? Von New Orleans? Das ist ja +ganz entzückend. Da habe ich sogar noch eine Tante wohnen, Fibby. +Habe ich dir nicht von Tante Kitty aus New Orleans schon erzählt, +Fibby? Ich glaube doch. Du weißt doch, die immer jeden Satz anfängt: +Als Gra’pa noch in South Carolina wohnte ...“ +</p> + +<p> +Fibby hörte gar nicht hin, was seine Flory sagte; er ließ sie reden, als ob +sie ein Wasserfall sei, an den er sich gewöhnt hatte. Er kramte in seinen +Taschen herum und brachte einen Dollarschein hervor: „Es ist nicht für +Ihre Geschichte selbst, Freundchen, sondern es ist dafür, daß Sie die +Geschichte so meisterhaft erzählt haben. Eine Geschichte, die nicht wahr +ist, gut erzählen zu können, ist eine Gabe, mein Junge. Sie sind ein +Künstler, wissen Sie das? Es ist eigentlich schade um Sie, daß Sie sich +so in der Welt herumtreiben. Sie könnten viel Geld machen, lieber +Freund. Wissen Sie das? Ist er nicht in der Tat ein Künstler, Flory?“ +wandte er sich nun wieder an seine – na, meinetwegen Frau, was geht’s +mich an, die werden ihren Paß schon so haben, wie sie ihn brauchen. +„Aber ja, freilich, Fibby,“ antwortete Flory in Ekstase, „freilich ist er +ein großer Künstler. Weißt du, Fibby, frage ihn doch gleich mal, ob wir +ihn nicht für unsern Gesellschaftsabend haben könnten. Sicher, da +könnten wir die Penningtons übertrumpfen, diese schäbige Bande.“ +</p> + +<p> +Also es ist doch seine Frau. +</p> + +<p> +Fibby zeigte dem Wasserfall nicht die geringste Aufmerksamkeit. Er +lächelte und lachte weiter. Kramte wieder in seinen Taschen herum und +brachte abermals einen Dollarschein ans Tageslicht. +</p> + +<p> +Nun gab er mir beide Scheine und sagte: „Y’see, der eine ist dafür, weil +Sie Ihre Geschichte so meisterhaft erzählt haben, der andre ist dafür, +weil Sie mir eine glänzende Idee für mein Blatt gegeben haben. Ist +fünftausend wert, in meinen Händen; in Ihren nicht einen Nickel. Aber +ich bezahle Ihnen hier einen Nickel mit Gewinnanteil. Vielen Dank für +Ihre Mühe, good-bye und viel Glück.“ +</p> + +<p> +Das war das erste Geld, das ich je für das Erzählen einer Geschichte +bekommen hatte. Yes, Sir. +</p> + +<p> +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +Ich klatterte los zu einer Wechselbank. Für den Dollar ungefähr zweiundeinenhalben +Gulden, für die beiden Dollarnoten also rund fünf +Gulden. Ganz hübsches Sümmchen. Als ich die Noten dort hingegeben +hatte, häufte der Wechsler so ungefähr fünfzig Gulden vor mich hin. +Das war eine Überraschung. Fibby hatte mir zwei Zehner gegeben, und +ich hatte – weil ich ja in seiner Gegenwart die zusammengeknitterten +Scheine nicht neugierig aufmachen wollte – die Scheine für Eindollarnoten +gehalten. Fibby ist eine noble Seele. Wall-Street möge ihn segnen. +Es ist ganz natürlich, daß zwanzig Dollar sehr viel Geld sind. Wenn +man sie besitzt. Wenn man genötigt ist, sie auszugeben, dann lernt man +plötzlich, daß zwanzig Dollar gar nichts sind. Besonders noch, wenn +man eine Reihe von hungrigen Tagen und bettlosen Nächten hinter sich +hat. Ehe ich dazu kam, den Wert des Geldes zu schätzen, war es schon +alle. Nur die Leute, die recht viel Geld haben, kennen den Wert des +Geldes, weil sie Zeit haben, den Wert abzuschätzen. Wie kann man den +Wert eines Dinges erkennen lernen, wenn es einem immer gleich wieder +abgenommen wird? Gepredigt aber wird, daß nur der, der nichts hat, +weiß, was ein Cent wert ist. Daher die Klassengegensätze. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-9"> +7 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_f.jpg" alt="F"><span class="hidden">F</span></span><span class="postfirstchar">rüher</span> als ich geglaubt hatte, kam ein Morgen, der allem +Anschein nach zu urteilen vorläufig der letzte Morgen sein +würde, der mich in einem Bett sah. Ich suchte meine +Taschen durch und fand, daß ich gerade noch genügend +Cents hatte, um ein kurzgehaltenes Frühstück möglich zu +machen. Kurzgehaltene Frühstücke finden nicht meinen +Beifall. Sie sind immer das Vorspiel von Mittagessen und +Abendmahlzeiten, die nicht erscheinen werden. Einen +Fibby findet man auch nicht jeden Tag. Sollte ich aber wieder einen +antreffen, dann erzähle ich diesmal meine Geschichte so komisch wie +nur möglich, vielleicht weint er dann herzzerbrechend und bekommt +die Gegenidee zu Fibbys Fünftausend-Dollar-Idee. Aus einer Idee läßt +sich immer Geld herausquetschen, ob sie nun zum Weinen ist oder zum +Lachen. Es gibt ebenso viele Menschen, die gern weinen und für die +Möglichkeit, weinen zu können, ein paar Dollar bezahlen, wie es Menschen +gibt, die lieber ihren Lachmuskeln ein Vergnügen gönnen. +</p> + +<p> +– – ein Vergnügen gönn–. Na, was ist denn das nun wieder? Kann +man denn für seinen letzten Gulden Schlafgeld, den man bezahlt hat, +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +nicht einmal in Ruhe im Bett noch ein wenig dösen, ehe man es für +längere Zeit aufzugeben hat? +</p> + +<p> +„Lassen Sie mich schlafen, verflucht nochmal. Ich habe bezahlt, gestern +abend, ehe ich ’raufging.“ Da soll man nicht wütend werden. In einem +fort wird an die Tür gebumst. +</p> + +<p> +Und gleich klopft es wieder. +</p> + +<p> +„Kreuzdonnerwetter nochmal, haben Sie nicht gehört, wegscheren +sollen Sie sich! Ich will schlafen.“ Wenn die nur die Tür aufmachen +möchten, ich würde ihnen den Stiefel mitten in die Fratze feuern. So +ein nichtswürdiges und impertinentes Gesindel. +</p> + +<p> +„Machen Sie auf. Polizei ist hier. Wir möchten Sie für einen Augenblick +sprechen.“ +</p> + +<p> +Ich zweifle ganz ernsthaft daran, daß es überhaupt auf der Welt noch +Menschen gibt, die nicht Polizei sind. Die Polizei ist dafür da, um für +Ruhe zu sorgen, und niemand macht mehr Ruhestörung, niemand belästigt +die Menschen mehr, niemand bringt mehr Leute zum Wahnsinn +als die Polizei. Ganz sicher, niemand hat mehr Unheil auf der Welt angestiftet +als die Polizei, denn die Soldaten sind ja auch nur Polizisten. +</p> + +<p> +„Was wollen Sie denn von mir?“ +</p> + +<p> +„Wir möchten Sie nur einmal sprechen.“ +</p> + +<p> +„Das könnten Sie auch durch die Tür tun.“ +</p> + +<p> +„Wir möchten Sie persönlich sehen. Machen Sie auf, oder wir brechen +die Tür auf.“ +</p> + +<p> +Brechen die Tür auf! Und die sollen gegen Einbrecher schützen. +</p> + +<p> +Gut, ich mache auf. Aber kaum habe ich die Tür auch nur einen Ritz +auf, da preßt der eine Bursche schon seinen Fuß dazwischen. Der alte +Trick, auf den sie sich immer wieder etwas einbilden. Das scheint der +erste Trick zu sein, den sie zu lernen haben. +</p> + +<p> +Sie kommen rein. Zwei Mann in Zivilkleidung. Ich sitze auf dem Bettrand +und fange an, mich anzuziehen. +</p> + +<p> +Mit Holländisch werde ich ganz gut fertig. Ich bin auf holländischen +Schiffen gefahren und habe hier nun wieder etwas dazu gelernt. Die +beiden Vögel können aber auch etwas Englisch. +</p> + +<p> +„Sie sind Amerikaner?“ +</p> + +<p> +„Ja, ich denke.“ +</p> + +<p> +„Zeigen Sie Ihre Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +Die Seemannskarte scheint der Mittelpunkt des Universums zu sein. +Ich bin sicher, der Krieg ist nur geführt worden, damit man in jedem +Lande nach seiner Seemannskarte oder nach seinem Paß gefragt werden +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +kann. Vor dem Kriege fragte niemand nach der Seemannskarte +oder nach dem Paß, und die Menschen waren recht glücklich. Aber +Kriege, die für die Freiheit, für die Unabhängigkeit und für die Demokratie +geführt werden, sind immer verdächtig. Verdächtig seit jenem +Tage, wo die Preußen ihre Freiheitskriege gegen Napoleon führten. +Wenn Freiheitskriege gewonnen werden, dann sind die Menschen nach +dem Kriege alle Freiheit los, weil der Krieg die Freiheit gewonnen hat. +Yes, Sir. +</p> + +<p> +„Ich habe keine Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +„Sie ha–a–a–a–ben keine Seemannskarte?“ +</p> + +<p> +Diesen entgeisterten Ton habe ich schon einmal gehört, und auch gerade +zu einer Zeit, als ich so hübsch an einem frühen Morgen einduseln +wollte. +</p> + +<p> +„Nein, ich ha–a–a–a–a–be keine, keine, keine Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +„Dann zeigen Sie Ihren Paß.“ +</p> + +<p> +„Ich habe keinen Paß.“ +</p> + +<p> +„Keinen Paß?“ +</p> + +<p> +„Nein, keinen Paß.“ +</p> + +<p> +„Auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde?“ +</p> + +<p> +„Nein, auch keine Identitätskarte der hiesigen Polizeibehörde.“ +</p> + +<p> +„Sie wissen doch, daß Sie sich hier in Holland ohne Papiere, die von +unsern Behörden visiert sein müssen, nicht aufhalten dürfen?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht.“ +</p> + +<p> +„So? Das wissen Sie nicht? Sie haben wohl die letzten Monate und Jahre +auf dem Monde gelebt?“ +</p> + +<p> +Die beiden Vögel halten das für einen so guten Witz, daß sie laut auflachen. +</p> + +<p> +„Ziehen Sie sich an, und kommen Sie mit!“ +</p> + +<p> +Wissen möchte ich, ob man hier auch gehenkt wird, wenn man keine +Seemannskarte vorzeigen kann. +</p> + +<p> +„Hat jemand von den Herren nicht vielleicht eine Zigarette?“ frage ich. +</p> + +<p class="ibr"> +„Eine Zigarre können Sie haben, eine Zigarette habe ich nicht. Wir +können unterwegs welche kaufen. Wollen Sie die Zigarre haben?“ +</p> + +<p> +„Die Zigarre nehme ich lieber als die Zigarette.“ +</p> + +<p> +Während ich mich ankleide und wasche, rauche ich an der Zigarre. Die +beiden setzen sich hin, aber dicht an die Tür. Ich beeile mich nicht sehr. +Aber wenn man auch noch so langsam macht, einmal ist man dann +schließlich doch angekleidet. +</p> + +<p> +Wir zogen ab und landeten wo? Richtig geraten. In einer Polizeistation. +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Nun wurde ich erst wieder einmal gründlich durchsucht. Diesmal hatten +sie mehr Glück als ihre Brüder in Antwerpen gehabt hatten. Sie fanden +fünfundvierzig holländische Cents in meinen Taschen. Das Frühstücksgeld. +Das konnte ich ja nun sparen. +</p> + +<p> +„Was? Mehr Geld haben Sie nicht?“ +</p> + +<p> +„Nein, mehr Geld habe ich nicht.“ +</p> + +<p> +„Wovon haben Sie denn die ganzen Tage hier gelebt?“ +</p> + +<p> +„Von dem, was ich jetzt nicht mehr habe.“ +</p> + +<p> +„Da hatten Sie also Geld, als Sie hier nach Antwerpen kamen?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Wieviel?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich so genau nicht mehr. Hundert Dollar oder so, es können +auch zweihundert gewesen sein.“ +</p> + +<p> +„Wo hatten Sie denn das Geld her?“ +</p> + +<p> +„Das Geld hatte ich einfach gespart.“ +</p> + +<p> +Das war offenbar wieder ein guter Witz; denn die ganze Bande, die +da im Vernehmungszimmer um mich herum versammelt war, platzte +heraus vor Lachen. Aber alle paßten auf, ob der Hohepriester auch +lachte. Und als der anfing, da fingen sie auch an zu lachen, und als der +aufhörte, da hörten sie so plötzlich auf, als wären sie vom Schlage getroffen +worden. +</p> + +<p> +„Wie sind Sie denn überhaupt nach Holland gekommen? So ganz ohne +Paß. Wo sind Sie denn da durchgekommen?“ +</p> + +<p> +„Ich bin halt so ’reingekommen.“ +</p> + +<p> +„Wie, ’reingekommen?“ +</p> + +<p> +Der Konsul hat es mir nicht geglaubt, wie ich hereingekommen bin. Die +würden es mir erst recht nicht glauben. Ich kann auch diesen netten +Burschen da aus Belgien nicht den Spaß verderben. +</p> + +<p> +Also da sage ich: „Mit einem Schiff bin ich gekommen.“ +</p> + +<p> +„Mit welchem Schiff?“ +</p> + +<p> +„Mit – mit – mit der George Washington.“ +</p> + +<p> +„Wann?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich so genau nicht mehr.“ +</p> + +<p> +„So? Also mit der George Washington sind Sie gekommen. Das ist eine +recht mysteriöse George Washington. Die ist unsers Wissens nie in +Rotterdam gewesen.“ +</p> + +<p> +„Dafür kann ich nichts. Ich bin für das Schiff nicht verantwortlich.“ +</p> + +<p> +„Sie haben also gar kein Papier, gar keinen Ausweis. Nichts. Rein gar +nichts, womit Sie beweisen können, daß Sie Amerikaner sind?“ +</p> + +<p> +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +„Nein. Aber mein Konsul ...“ +</p> + +<p> +Ich schien gute Witze zu machen. Wieder setzte ein Höllengelächter ein. +</p> + +<p> +„I–h–r Konsul.“ +</p> + +<p> +Das Ihr zog er so lang, als ob es für ein halbes Jahr reichen sollte. +</p> + +<p> +„Sie haben doch keine Papiere. Was soll denn da I–h–r Konsul mit +Ihnen anfangen?“ +</p> + +<p> +„Er wird mir doch Papiere geben!“ +</p> + +<p> +„Ihr Konsul? Der amerikanische Konsul? Ein amerikanischer Konsul? +In unserm Jahrhundert nicht. Nicht ohne Papiere. Nicht ohne, daß Sie, +sagen wir mal, in guten Verhältnissen leben. Nicht so einem ’rumtreiber.“ +</p> + +<p> +„Aber ich bin doch Amerikaner.“ +</p> + +<p> +„Möglich. Aber das müssen Sie I–h–rem Konsul beweisen. Und ohne +Papiere glaubt er es Ihnen nicht. Ohne Papiere glaubt er Ihnen nicht, +daß Sie überhaupt geboren sind. Ich will Ihnen etwas sagen, zu Ihrer +Belehrung, Beamte sind immer Bureaukraten. Auch wir sind Bureaukraten. +Die schlimmsten Bureaukraten aber sind die Bureaukraten, die +es erst seit gestern sind. Und die allerschlimmsten Bureaukraten sind +die, die den Bureaukratismus von den Preußen geerbt haben. Haben +Sie verstanden, was ich meine?“ +</p> + +<p> +„Ich glaube ja, mein Herr.“ +</p> + +<p> +„Und wenn wir Sie nun dahin bringen, nämlich zu Ihrem Konsul, und +Sie haben keine Papiere, dann übergibt er Sie uns offiziell, und wir werden +Sie nie wieder los. Haben Sie das auch verstanden?“ +</p> + +<p> +„Ich denke ja, mein Herr.“ +</p> + +<p> +„Was sollen wir denn mit Ihnen machen? Wer ohne Paß aufgegriffen +wird, bekommt sechs Monate Gefängnis und Deportation nach seinem +Heimatlande. Ihr Heimatland wird bestritten, und wir müssen Sie in +das Internierungslager schicken. Wir können Sie doch nicht totschlagen +wie einen Hund. Aber vielleicht kommen solche Gesetze noch heraus. +Warum sollen wir Sie durchfüttern? Wollen Sie nach Deutschland?“ +</p> + +<p> +„Ich mag nicht nach Deutschland. Wenn den Deutschen die Rechnung +vorgelegt ...“ +</p> + +<p> +„Also nicht nach Deutschland. Das kann ich begreifen. Gut für jetzt.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Das war ein Beamter, der offenbar viel gedacht oder viel gute Sachen +gelesen hatte. +</p> + +<p> +Er rief jetzt einen Cop herbei und sagte: „Bringen Sie ihn in die Zelle, +geben Sie ihm Frühstück, und gehen Sie eine englische Zeitung und +eine Zeitschrift für ihn kaufen, damit er sich nicht langweilt. Auch ein +paar Zigarren.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-10"> +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +8 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> Spätnachmittag wurde ich wieder vorgeführt, und +mir wurde gesagt, ich möge den beiden Beamten in +Zivil folgen. Wir gingen auf den Bahnhof und +fuhren ab. Auf der Station einer kleinen Stadt +stiegen wir aus und gingen in die Polizeiwache der +Stadt. Dort saß ich auf der Bank und wurde von +allen Cops, die von Ablösung kamen, betrachtet wie +ein Tier im Zoologischen Garten. Ab und zu sprach +man auch mit mir. Als es gegen zehn Uhr war, sagten zwei Männer zu +mir: „Es ist jetzt Zeit. Wir wollen gehen.“ +</p> + +<p> +Wir gingen über Felder und gingen auf Wiesenpfaden. Endlich blieben +die beiden stehen und einer sprach mit verhaltener Stimme: „Gehen +Sie dort in jener Richtung, die ich Ihnen zeige, immer gerade aus. Sie +werden niemand treffen. Wenn Sie aber jemand sehen sollten, so gehen +Sie ihm aus dem Wege oder legen Sie sich hin, bis er vorüber ist. Wenn +Sie eine Zeit gegangen sind, dann kommen Sie zu einer Bahnlinie. +Folgen Sie der Bahnlinie, bis Sie zu der Station kommen. Halten Sie +sich dort in der Nähe auf bis gegen Morgen. Sobald Sie sehen, daß ein +Zug zur Abfahrt fertiggemacht wird, gehen Sie zum Schalter und +sagen: ‚Un troisième à Anvers.‘ Können Sie das behalten?“ +</p> + +<p> +„Ja, das kann ich. Es ist sehr leicht.“ +</p> + +<p> +„Aber reden Sie sonst kein Wort weiter. Sie bekommen dann Ihre Fahrkarte +und fahren nach Antwerpen. Dort kriegen Sie leicht wieder ein +Schiff, wo man immer Seeleute braucht. Hier haben Sie etwas zum +Beißen und auch noch etwas zum Rauchen. Kaufen Sie nichts, bevor Sie +in Antwerpen sind. Hier sind dreißig belgische Franken.“ +</p> + +<p> +Er händigte mir ein Paket Butterbrote ein, einen Papierbeutel mit +Zigarren und eine Schachtel Zündhölzer, damit ich niemand um Feuer +anbetteln brauchte. +</p> + +<p> +„Kommen Sie nie wieder zurück nach Holland. Sie bekommen sechs +Monate Gefängnis und Internierungskamp. Sie sind also hiermit ausdrücklich +verwarnt, vor einem Zeugen. Good-bye und viel Glück.“ +</p> + +<p> +Da stand ich in der Nacht auf offnem Felde. Viel Glück! +</p> + +<p> +Eine Strecke ging ich nun in jener Richtung, bis ich überzeugt war, daß +die beiden mich nicht mehr sehen konnten, oder daß sie nun fort waren. +Dann blieb ich stehen und begann zu überlegen. +</p> + +<p> +Nach Belgien? Da gab es lebenslänglich Gefängnis. Zurück nach Holland? +Da gab es nur sechs Monate Gefängnis. Das war schon billiger. +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Dann kam noch das Internierungskamp für Paßlose. Hätte ich doch nur +gefragt, wie lange das Internierungskamp dauert. Wahrscheinlich war +das lebenslänglich. Denn aus welchem Grunde sollte es Holland billiger +machen als Belgien? +</p> + +<p> +Ich kam zu dem Entschluß, daß Holland auf alle Fälle billiger war. Es +war auch darum besser, weil ich dort mit der Sprache zurechtkommen +konnte, während ich in Belgien gar nichts reden konnte und noch viel +weniger verstehen. +</p> + +<p> +Nun ging ich erst einmal eine Strecke seitlich fort, ungefähr eine halbe +Stunde lang. Und dann querfeldein zurück nach Holland. Das Lebenslänglich +war doch zu bitter. +</p> + +<p> +Es ging ganz gut. Nur immer tapfer drauf los. +</p> + +<p> +„Halt! Stehen bleiben! Oder es wird geschossen!“ Recht angenehm, +wenn plötzlich aus der Finsternis heraus gerufen wird: „Es wird geschossen.“ +</p> + +<p> +Zielen kann der Mann ja nicht und sehen kann er mich auch nicht. Aber +eine nichtgezielte Kugel kann auch treffen. Und das ist schließlich doch +noch schlimmer als lebenslänglich. +</p> + +<p> +„Was machen Sie denn hier?“ Zwei Männer kamen aus der Dunkelheit +heraus und auf mich zu. Einer fragte mich das. +</p> + +<p> +„Ich gehe ein wenig spazieren. Ich kann nicht schlafen.“ +</p> + +<p> +„Warum gehen Sie denn gerade hier auf der Grenze spazieren?“ +</p> + +<p> +„Die Grenze habe ich nicht gesehen, es ist ja kein Zaun da.“ +</p> + +<p> +Zwei grelle Taschenlampen waren auf mich gerichtet, und ich wurde +durchsucht. Was die Menschen nur immer zu durchsuchen haben. Ich +glaube, die suchen überall nach den verlorengegangenen vierzehn +Punkten Wilsons. Ich habe sie jedenfalls nicht in der Tasche. +</p> + +<p> +Als sie nun nichts weiter fanden als die Butterbrote, die dreißig Franken +und die Zigarren, blieb einer bei mir stehen, während der andre ein +Stück des Weges, auf dem ich gekommen war, ableuchten ging. Wahrscheinlich +hoffte er, dort den Weltfrieden zu finden, der in der ganzen +Welt gesucht wird, seitdem unsre Jungens dafür gekämpft und geblutet +haben, daß dieser Krieg der letzte Krieg sei. +</p> + +<p> +„Wo wollen Sie denn hin?“ +</p> + +<p> +„Ich will zurück nach Rotterdam.“ +</p> + +<p> +„Jetzt? Warum denn gerade um Mitternacht und gerade hier über die +Wiese? Warum gehen Sie denn nicht auf der Straße?“ +</p> + +<p> +Als ob man nicht nachts über eine Wiese gehen könnte! Die Leute haben +merkwürdige Ansichten. Und immer haben sie gleich einen Verdacht, +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +daß man irgendein Verbrechen begangen haben könnte. Ich erzählte +nun, daß ich von Rotterdam käme, und wie ich hierher gekommen sei. +Da wurden sie aber wütend und sagten, ich solle sie nicht zum Narren +halten, es sei ganz klar, daß ich von Belgien käme und mich nach Holland +reinschleichen wolle. Als ich ihnen nun sagte, aber die dreißig +Franken bewiesen doch, daß ich die Wahrheit gesagt hätte, wurden sie +noch wütender und sagten, das sei eben gerade ein Beweis, daß ich sie +anlügen wollte. Die Franken seien ein Beweis, daß ich von Belgien +komme, denn in Holland habe man keine Franken. Nun gar noch zu +sagen, daß mir holländische Beamte dieses Geld gegeben hätten und +mich mitten in der Nacht auf ungesetzlichem Wege abgeschoben hätten, +das zwänge sie, mich zu arretieren und mich unter Anklage der Beamtenbeschimpfung +zu stellen. Sie wollten aber noch einmal Gnade mit +mir haben, weil ich offenbar ein armer Schlucker sei, der nicht die Absicht +gehabt habe, zu schmuggeln, und würden mich auf den richtigen +Weg führen, auf den ich wieder zurück nach Antwerpen kommen +könne. +</p> + +<p> +So gut waren diese Leute zu mir. +</p> + +<p> +Jetzt mußte ich doch nach Belgien gehen, da half nichts. Wenn nur das +Lebenslänglich nicht wäre. +</p> + +<p> +Eine Stunde wanderte ich nun in der Richtung nach Belgien. +</p> + +<p> +Ich wurde müde und stolperte vor mich hin. Am liebsten hätte ich mich +hier hingelegt und geschlafen. Ich hielt es aber doch für besser, weiterzugehen, +um aus dem gefährlichen Bereich, wo geschossen werden darf +auf den, der nicht schießen darf, herauszukommen. +</p> + +<p> +Da plötzlich packt mich etwas am Bein. Ich denke, es ist ein Hund. Als +ich aber zufasse, ist es eine Hand. Und da flammt auch schon eine +Taschenlaterne auf. Dieses Ding ist auch eine Erfindung des Satans, +man sieht sie immer erst, wenn sie einem dicht vor Augen ist. +</p> + +<p> +Zwei Mann stehen jetzt auf. Sie haben da in der Wiese gelegen, und ich +bin ihnen so schön richtig mitten in die Arme gelaufen. +</p> + +<p> +„Wo wollen Sie denn hin?“ +</p> + +<p> +„Nach Antwerpen.“ +</p> + +<p> +Sie sprechen Holländisch oder mehr Flämisch. +</p> + +<p> +„Nach Antwerpen wollen Sie? Jetzt zur Nachtzeit? Warum gehen Sie +denn nicht auf der ordentlichen Straße, wie es anständigen Menschen +gebührt?“ +</p> + +<p> +Ich erzähle ihnen nun, daß ich nicht aus freiem Willen käme, und sage +ihnen, wie es zugegangen sei, daß ich mich hier herumzudrücken habe. +</p> + +<p> +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +„Solchen Schwindel können Sie andern erzählen. Nicht uns. So etwas +tun Beamte nicht. Sie haben da in Holland etwas ausgefressen und +wollen nun hier ’rüber. Aber das gibt es nicht. Wollen wir erst einmal +die Taschen durchsuchen, um zu erfahren, warum Sie hier mitten in der +Nacht über die Wiesen gehen und immer auf der Grenze.“ +</p> + +<p> +Sie fanden in meinen Taschen und zwischen den Nähten meiner Sachen +nicht, was sie suchten. Ich wollte gern wissen, was die Leute eigentlich +immer suchen und warum sie einem immer die Taschen durchwühlen +müssen. Eine üble Angewohnheit dieser Leute. +</p> + +<p> +„Wir wissen schon, was wir suchen. Da brauchen Sie sich gar keine +Sorge machen.“ +</p> + +<p> +Nun bin ich auch nicht klüger. Aber finden tun sie nichts. Ich bin überzeugt, +daß es bis an das Weltende eine Hälfte Menschen geben wird, die +immer die Taschen durchsuchen muß und eine andre Hälfte, die sich +das Durchsuchen der Taschen gefallen lassen muß. Vielleicht geht der +ganze Streit der Menschheit nur darum, wer das Recht hat, die Taschen +zu durchsuchen, und wer die Pflicht hat, sich das gefallen zu lassen und +noch dafür zu bezahlen. +</p> + +<p> +Nachdem das Amtsgeschäft vorüber ist, sagt der eine zu mir: „So, da +drüben ist die Richtung nach Rotterdam, da gehen Sie jetzt immer drauf +los und lassen Sie sich hier ja nicht wieder sehen. Und wenn Sie wieder +einmal Grenzpolizei treffen, dann halten Sie sie nicht für so dumm, wie +Sie uns gehalten haben. Habt ihr denn da drüben in eurem blödsinnigen +Amerika nichts mehr zu essen, daß ihr alle hier herüber kommen müßt, +um uns das bißchen Essen, das wir für unsre Leute brauchen, auch noch +wegzufressen?“ +</p> + +<p> +„Ich bin doch aber gar nicht freiwillig hier“, widerspreche ich, und ich +weiß am besten, wie recht ich habe. +</p> + +<p> +„Merkwürdig, das sagt jeder von euch, den wir hier aufgreifen.“ +</p> + +<p> +Das ist ja ganz etwas Neues. Da bin ich vielleicht noch nicht einmal der +einzige, der sich hier auf einem fremden Erdteil herumtreiben muß. +</p> + +<p> +„Nun ziehen Sie ab. Und machen Sie keine überflüssigen Umwege mehr. +Es wird bald hell, und dann werden wir Sie gut beobachten. Rotterdam +ist ein guter Platz. Da sind viele Schiffe, die immer jemand brauchen.“ +Wie oft mir das nun schon erzählt worden ist. Es müßte eigentlich durch +das häufige Erzählen nun schon eine wissenschaftliche Wahrheit geworden +sein. +</p> + +<p> +Mit den dreißig Franken konnte ich hier in dem kleinen Städtchen nichts +anfangen, das wäre sicher gleich aufgefallen. +</p> + +<p> +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +Aber da kam ein Milchwagen, und der nahm mich eine Strecke mit. Und +dann kam ein Lastauto, und das nahm mich eine Strecke mit. Dann kam +wieder ein Bauer, der Schweine zu einer Stadt brachte. So kam ich Meile +um Meile näher nach Rotterdam. Sobald die Menschen nicht zur Polizei +gehören, und sobald sie nicht zur Polizei gerechnet werden wollen, +fangen sie an, sehr liebe Geschöpfe zu werden, die ganz vernünftig +denken und ganz normal fühlen können. Ich erzählte den Leuten ganz +treu, wie es mir ergangen sei, und daß ich keine Papiere hätte. Und sie +waren alle so nett, gaben mir zu essen, gaben mir einen warmen, +trockenen Winkel, um zu schlafen, und gaben mir gute Ratschläge, wie +ich der Polizei am besten aus dem Wege gehen könnte. +</p> + +<p> +Es ist recht sonderbar. Keiner liebt die Polizei. Und man ruft bei einem +Einbruch die Polizei auch nur darum, weil einem nicht erlaubt ist, +dem Einbrecher das Leder selbst zu versohlen und ihm den Raub wieder +abzunehmen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-11"> +9 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> dreißig Franken umgewechselt in holländische +Gulden gaben nicht viel her. Aber auf Geld +kann man sich ja überhaupt nicht verlassen, +wenn man sonst nichts nebenbei hat. +</p> + +<p> +Das Nebenbei kam an einem Nachmittag, gleich +darauf. +</p> + +<p> +Ich strollte am Hafen entlang, und da sah ich +zwei Mann daherkommen. Als sie nahe bei mir +waren, schnappte ich etwas von ihrem Geschwätz auf. Es ist ja so +urkomisch, wenn man einen Engländer reden hört. Die Engländer +behaupten immer, wir könnten nicht richtig Englisch sprechen; aber +was die Leute reden, das ist sicher kein Englisch. Das ist überhaupt +keine Sprache. Na, ganz egal. Ich kann sie ja nicht riechen, die Rotköppe. +Aber uns können sie ja auch nicht verdauen. Da gleicht sich das +wieder aus. Das geht nun schon so seit hundertfünfzig und ich weiß +nicht wieviel Jahren. +</p> + +<p> +Nun ist natürlich die ganze Suppe erst recht wieder übergekocht, seit +die große Schweinerei im Gange war. +</p> + +<p> +Da kommt man nun in einen Hafen, wo sie dicke sitzen wie die Brombeeren. +In Australien, oder vielleicht in China oder Japan. Wie es gerade +trifft. Man will einen heben gehen und rutscht in eine Hafenschenke. +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Da sitzen sie und stehen sie nun, und kaum hat man ein Wort +’raus, gleich geht das Vergnügen los: „Eh, Yank.“ +</p> + +<p> +Man kümmert sich gar nicht um die Bullköppe, man trinkt seinen +Kleinen und will gehen. +</p> + +<p> +Mit einem Male rasselt es aus einer Ecke: „Who won the war? Wer hat +den Krieg gewonnen, Yank?“ +</p> + +<p> +Möchte wissen, was mich das angeht. Ich habe ihn nicht gewonnen, das +weiß ich einmal ganz genau. Und die ihn wirklich gewonnen zu haben +meinen, die haben auch nichts zu lachen und wären froh, wenn niemand +davon überhaupt sprechen möchte. +</p> + +<p> +„He, Yank, who won the war?“ +</p> + +<p> +Was soll man nun sagen, wenn man ganz allein ist, und da sind zwei +Dutzend Rotköppe drin? Sagt man: „Wir!“, dann gibt es Senge. Sagt +man: „Die Franzosen!“, dann gibt es Senge. Sagt man: „Ich!“, dann +lachen sie, aber Senge gibt es trotzdem. Sagt man: „The Dominians, +Kanada, Australien, Neuseeland, Südafrika!“ dann gibt es Senge. Sagt +man gar nichts, so heißt das: „Wir Amerikaner!“, und es gibt Senge. Zu +sagen: „Ihr habt ihn gewonnen!“, das wäre eine unverschämte Lüge, +und lügen möchte man nicht. Also gibt es Senge, und da kann man nicht +dran vorbei. So sind die Bullen, und dann heißt es immer noch: die +„Vettern von drüben“. Meine nicht. Da wundern sie sich noch, wenn man +sie nicht riechen kann. +</p> + +<p> +Aber was wollte ich denn machen? +</p> + +<p> +„Auf welchem Eimer seid ihr denn?“ frage ich. +</p> + +<p> +„Na, Yankchen, was machst du denn hier? Wir haben doch gar keinen +Yank hier gesehen.“ Sie fühlen sich, weil sie schon Zimt riechen. +</p> + +<p> +„Ich bin achtern abgekantet und kann jetzt nicht Anker hieven.“ +</p> + +<p> +„Keine Versicherungspolice, hä?“ +</p> + +<p> +„Erraten.“ +</p> + +<p> +„Willst du jetzt wegstauen?“ +</p> + +<p> +„Muß. Kiel sitzt auf. Brennt.“ +</p> + +<p> +„Wir sind auf einem Schotten.“ +</p> + +<p> +„Wo geht ihr denn ’raus jetzt?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Boulogne. Bis dahin können wir dich stauen. Weiter geht’s aber nicht. +Der Bos’n, der Bootsmann, ist ein Hund.“ +</p> + +<p> +„Gut, dann mache ich nach Boulogne. Wann ebbt ihr ab?“ +</p> + +<p> +„Am besten, du kommst ’rauf um acht. Da ist der Bos’n saufen. Wir +stehen an der Schanze. Wenn ich die Mütze in den Nacken schiebe, ist +alles klar; wenn ich nichts mache, wartest du noch eine Weile. Lauf +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +nicht soviel gerade vor der Nase herum. Wenn du aber gewischt wirst, +läßt du dir eher das Maul breitschlagen, ehe du sagst, wer dich gelotst +hat. Ehrensache, verstanden?“ +</p> + +<p> +Um acht war ich da. Die Mütze wurde in den Nacken geschoben. Der +Bos’n war besoffen und wurde vor Boulogne nicht nüchtern, und da +stieg ich aus und war in Frankreich. +</p> + +<p> +Ich wechselte mein Geld in französische Franken um. Dann ging ich +zum Bahnhof, und da stand der Expreß für Paris. Ich nahm eine Karte +für die erste Station und setzte mich in den Zug. +</p> + +<p> +Die Franzosen sind zu höflich, als daß sie einen während der Fahrt belästigen +würden. +</p> + +<p> +Und da war ich mit einem Male in Paris. Aber da wurden die Karten +kontrolliert, und ich hatte keine für Paris. +</p> + +<p> +Wieder Polizei. Natürlich, wie könnte es auch ohne Polizei gehen? Es +wurde ein grausames Radebrechen. Ich ein paar Brocken Französisch, +die Leute jeder einen Brocken Englisch. Das meiste hatte ich zu erraten. +Wo ich herkäme? Von Boulogne. Wie ich nach Boulogne gekommen sei? +Mit einem Schiff. Wo meine Seemannskarte sei? Habe keine. +</p> + +<p> +„Was, Sie haben keine Seemannskarte?“ +</p> + +<p> +Diese Frage würde ich jetzt sogar verstehen, wenn man sie zu mir +Hindostanisch sagte. Denn die Geste und der Tonfall sind so genau +die gleichen, daß man sich nie irren könnte. +</p> + +<p> +„Paß habe ich auch nicht. Ich habe auch keine Identitätskarte. Ich habe +überhaupt keine Papiere. Nie Papiere gehabt.“ +</p> + +<p> +Das sage ich gleich in einem Atemzuge. Nun können sie wenigstens +diese Fragen nicht stellen und sich damit die Zeit vertreiben. In der Tat +werden Sie ein wenig verblüfft, weil sie nun ganz aus der Reihe gekommen +sind. Für eine Weile weiß keiner, was er fragen oder sagen soll. +Glücklicherweise bleibt ihnen ja die Fahrkarte, die ich nicht hatte. Und +am nächsten Tage ist wieder ein Verhör. Ich lasse sie ruhig verhören und +reden und fragen. Ich verstehe nichts. Am Schluß wird mir aber klar, +daß ich zehn Tage Gefängnis weghabe wegen Eisenbahnbetrugs oder so +etwas Ähnlichen. Was weiß ich. Es ist mir auch gleichgültig. Aber das +war meine Ankunft in Paris. +</p> + +<p> +Diese Gefängnislaufbahn war recht drollig. +</p> + +<p> +Erster Tag: Einlieferung, Baden, Untersuchung, Wäscheausteilung, +Zellenverteilung. Der erste Tag war vorbei. +</p> + +<p> +Zweiter Tag: Quittieren kommen beim Kassenverwalter über die +Summe, die ich bei meiner Verhaftung im Besitz hatte. Abermalige +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +Personenfeststellung und Eintragung in dicke Bücher. Nachmittag: +Empfang beim Gefängnisgeistlichen. Er sprach gut Englisch. Behauptete +er. Das muß aber das Englisch gewesen sein, als William der Eroberer +noch nicht in England gelandet war, denn ich verstand von diesem guten +Englisch nicht ein einziges Wort, ließ es mir aber nicht anmerken. Wenn +er von Gott sprach, sagte er immer „Goat“, und ich war der Meinung, er +rede von einer Ziege. Damit ging auch der zweite Tag herum. +</p> + +<p> +Dritter Tag: Vormittags werde ich gefragt, ob ich schon mal Schürzenbänder +angenäht hätte. Ich sagte nein. Nachmittags wurde mir mitgeteilt, +daß ich in die Schürzenabteilung eingereiht würde. Damit ging +der dritte Tag zu Ende. +</p> + +<p> +Vierter Tag: Vormittags wurde mir Schere, Nadel, eine ganze Nähnadel, +Zwirn und ein Fingerhut gegeben. Der Fingerhut paßte nicht. Aber mir +wurde gesagt, einen andern hätten sie nicht. Nachmittags wurde mir gezeigt, +wie ich die Schere, die Nähnadel und den Fingerhut immer sichtbar +auf den Schemel zu legen und den Schemel in die Mitte der +Zelle zu stellen habe, wenn ich die Zelle für den Rundgang verlasse. +Außen neben der Tür wurde ein Plakat angeschlagen mit der Aufschrift: +„Besitzt eine Schere, eine Nähnadel und einen Fingerhut.“ Damit +war der vierte Tag herum. +</p> + +<p> +Fünfter Tag: Sonntag. +</p> + +<p> +Sechster Tag: Vormittags werde ich in die Arbeitshalle geführt. Nachmittags +wird mir ein Platz in der Arbeitshalle angewiesen. Der sechste +Tag ist ’rum. +</p> + +<p> +Siebenter Tag: Vormittags wird mir der Gefangene gezeigt, der mich +lehren soll, wie Schürzenbänder angenäht werden sollen. Nachmittags +sagt mir der Gefangene, ich solle meine Nähnadel schon mal einfädeln. +Der siebente Tag ist ’rum. +</p> + +<p> +Achter Tag: Der Lehrmeister zeigt mir, wie er die Schürzenbänder annäht. +Nachmittags ist Baden und Wiegen. Der achte Tag ist rum. +</p> + +<p> +Neunter Tag: Vormittags muß ich zum Direktor kommen. Mir wird mitgeteilt, +daß morgen meine Zeit um sei, und ich werde gefragt, ob ich Beschwerden +vorzubringen hätte. Dann muß ich meinen Namen ins Fremdenbuch +schreiben. Nachmittags wird mir gezeigt, wie ich ein Schürzenband +anzunähen habe. Der neunte Tag ist ’rum. +</p> + +<p> +Zehnter Tag: Vormittags nähe ich ein Schürzenband an. Mein Lehrmeister +betrachtet sich das angenähte Band einundeinehalbe Stunde +und sagt dann, es sei nicht gut angenäht, er müsse es wieder abtrennen. +Nachmittags nähe ich wieder ein Schürzenband an. Als ich das eine Ende +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +gerade angenäht habe, werde ich zur Abfertigung gerufen. Ich werde +gewogen, untersucht, bekomme meine Zivilsachen, die ich anziehen darf, +und kann dann im Hof spazierengehen. Der zehnte Tag ist ’rum. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen um sechs werde ich gefragt, ob ich noch Frühstück +haben wolle. Ich sage nein, werde zum Kassenverwalter geführt, wo +ich eine Weile warten muß, weil er noch nicht da ist. Dann kriege ich +doch Frühstück, und endlich kommt der Kassenverwalter, der mir mein +Geld zurückgibt, was ich wieder zu quittieren habe. Dann erhalte ich +fünfzehn Centimes für Arbeitsleistung, war entlassen und konnte gehen. +Verdient hat der französische Staat nicht viel an mir, und ob die Eisenbahn +sich nun einbilden darf, bezahlt zu sein, ist auch noch die Frage. +Draußen wurde ich aber gleich wieder von der Polizei in Empfang +genommen. +</p> + +<p> +Ich wurde verwarnt. Innerhalb fünfzehn Tagen hätte ich das Land +zu verlassen, auf demselben Wege, auf dem ich hereingekommen sei. +Würde ich nach Ablauf von fünfzehn Tagen noch innerhalb der Landesgrenzen +gefunden, so würde nach Maßgabe der Gesetze mit mir verfahren +werden. Also mit mir verfahren werden. Was das bedeutete, war +mir nicht klar. Vielleicht hängen oder auf dem Scheiterhaufen schmoren. +Warum nicht. In dieser Zeit der vollendeten Demokratien ist ein Paßloser +und damit also auch ein Nichtwahlberechtigter ein Ketzer. Jede +Zeit hat ihre Ketzer, und jede Zeit hat ihre Inquisition. Heute sind der +Paß, das Visum, der Einwanderungsbann die Dogmen, auf die sich die +Unfehlbarkeit des Papstes stützt, an die man zu glauben hat, oder man +muß die verschiedenen Grade der Folterungen über sich ergehen lassen. +Früher waren die Fürsten die Tyrannen, heute ist der Staat der Tyrann. +Das Ende der Tyrannen ist immer Entthronung und Revolution, ganz +gleich, wer der Tyrann ist. Die Freiheit des Menschen ist zu urwüchsig +mit seinem ganzen Dasein und Wollen verknüpft, als daß der Mensch +irgendeine Tyrannei lange ertragen könnte, selbst wenn die Tyrannei +in dem sammetweichen Lügenmantel des Mitbestimmungsrechtes erscheinen +sollte. +</p> + +<p> +„Sie müssen doch aber irgendein Papier haben, lieber Freund“, sagte +der Offizier, der mich verwarnte. „Ohne Papier können Sie gewiß nicht +immer herumlaufen.“ +</p> + +<p> +„Ich könnte vielleicht einmal zu meinem Konsul gehen.“ +</p> + +<p> +„Zu Ihrem Konsul?“ +</p> + +<p> +Der Ton war mir bekannt. Es scheint, daß mein Konsul in der ganzen +Welt bekannt ist. +</p> + +<p> +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +„Was wollen Sie denn bei Ihrem Konsul? Sie haben doch keine Papiere. +Der glaubt Ihnen keine Silbe, wenn Sie keine Papiere haben. Er gibt +nur auf Papiere etwas. Besser, Sie gehen gar nicht hin, sonst werden wir +Sie nie wieder los und haben Sie für das ganze Leben auf dem Halse.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Wie sagten die Römer? Die Konsuln sollen darauf bedacht sein, daß der +Republik nichts Übles widerfahre. Und es könnte der Republik sicher +sehr viel Übles widerfahren, wenn die Konsuln nicht verhindern würden, +daß jemand, der keine Papiere hat, sein Heimatland wiedersieht. +</p> + +<p class="ibr"> +„Aber irgendein Papier müßten Sie doch haben. Sie können doch nicht +gut den Rest Ihres Lebens ohne Papiere herumlaufen.“ +</p> + +<p> +„Ja, das glaube ich auch, daß ich ein Papier haben müßte.“ +</p> + +<p> +„Ich kann Ihnen kein Papier geben. Worauf denn? Alles, was ich Ihnen +geben kann, ist ein Entlassungsschein aus dem Gefängnis. Mit dem +Schein ist nicht viel los. Dann schon besser gar nichts. Und bei jedem +andern Papier kann ich nur einsetzen, der Vorzeiger behauptet, der +und der zu sein und von da und da herzukommen. Ein solches Papier +ist aber wertlos, denn es ist kein Beweis; es sagt nur das aus, was Sie +aussagen. Und Sie können natürlich erzählen, was Sie wollen, ob es +wahr ist oder nicht. Selbst wenn es wahr ist, es muß bewiesen werden +können. Es tut mir sehr leid, ich kann Ihnen nicht helfen. Ich habe Sie +amtlich verwarnt, und Sie müssen das Land verlassen. Gehen Sie doch +nach Deutschland. Das ist auch ein sehr schönes Land.“ +</p> + +<p> +Warum sie mich alle nach Deutschland schicken, das möchte ich wissen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-12"> +10 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> blieb ich erst einmal einige Tage in Paris, um +abzuwarten, was geschehen würde. Geschehnisse +können <a id="corr-4"></a>einem manchmal besser voranhelfen als die +schönsten Pläne. Ich hatte ja jetzt ein gutes Recht, +mir Paris anzusehen. Meine Fahrkarte war bezahlt, +meine Verpflegung im Gefängnis hatte ich abverdient, +so war ich dem französischen Staat nichts mehr +schuldig, und ich durfte sein Pflaster ablaufen. +</p> + +<p> +Wenn man nun so gar nichts zu tun hat, kommt man auf allerlei überflüssige +Gedanken. Einen so überflüssigen Gedanken bekam ich eines +guten Tages, und er führte mich zu meinem Konsul. Daß es ganz hoffnungslos +war, wußte ich im voraus. Aber ich dachte, es schadet doch nie +etwas, wenn man Erfahrungen über Menschen sammelt. Alle Konsuln +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +sind in dieselbe Form gegossen wie fast alle Beamten. Sie gebrauchen +wörtlich denselben Redeschatz, den sie bei ihren Prüfungen vorweisen +mußten, sie werden würdevoll, ernst, befehlshaberisch, devot, gleichgültig, +gelangweilt, interessiert und tieftraurig bei denselben Gelegenheiten, +und sie werden heiter, lustig, freundlich und geschwätzig bei denselben +Gelegenheiten, ob sie im Dienste Amerikas, Frankreichs, Englands +oder Argentiniens stehen. Zu wissen, genau zu wissen, wann sie +eine dieser Gefühlsäußerungen zu zeigen haben, ist die ganze Weisheit, +die ein solcher Beamter benötigt. Ab und zu vergißt aber jeder Beamte +einmal seine Weisheit und wird für eine halbe Minute Mensch. Dann +kennt man ihn gar nicht wieder, dann fängt er an, die innere Haut nach +außen zu kehren. Der interessanteste Moment aber ist, wenn er plötzlich +empfindet, daß die innere Haut bloßliegt und er sie rasch wieder +verkrustet. Um diesen Moment zu erleben, und um eine Erfahrung reicher +zu werden, ging ich zum Konsul. Die Gefahr bestand, daß er mich verleugnete, +mich der französischen Polizei offiziell übergab und mir dann +die Möglichkeit genommen wurde, frei meiner Wege zu gehen, weil ich +dann unter Polizeiaufsicht geriet und ich über jeden meiner Schritte, +den ich tat oder zu tun gedachte, Rechenschaft abzulegen hatte. +</p> + +<p> +Zuerst konnte ich einmal den ganzen Vormittag warten. Dann wurde +geschlossen. Am Nachmittag kam ich auch nicht an die Reihe. Unsereiner +muß ja immer warten, wohin er auch kommt. Denn wer kein Geld +besitzt, von dem nimmt man an, daß er wenigstens unermeßlich viel +Zeit hat. Wer Geld besitzt, kann es mit Geld abmachen; wer kein Geld +zum Hinlegen hat, muß mit seiner Zeit bezahlen und mit seiner Geduld. +Denn wird man gar aufsässig oder äußert man seine Ungeduld in einer +Weise, die unbeliebt ist, so weiß der Beamte so viele Wege zu gehen, +daß man viermal mehr an Zeit bezahlen muß. So beläßt man es bei der +Zeitstrafe, die einem auferlegt wird. +</p> + +<p> +Es saßen da eine ganze Reihe solcher, die ihre Zeit zu opfern hatten. +Einige saßen schon Tage. Andre waren bereits sechsmal hin und her +geschickt worden, weil dies fehlte und jenes nicht die vorschriftsmäßige +Form oder richtiger Uniform trug. +</p> + +<p> +Da kam eine kleine, unglaublich dicke Dame hereingeschossen. So unglaublich +fett. Es war nicht auszudenken, wie fett sie war. In diesem +Raume, wo die dürren Gestalten wartend auf den Bänken saßen, mit +ihren Hinterköpfen beinahe das an die Wand geheftete Sternenbanner +berührend, dessen Dimension so riesenhaft war, daß es die ganze Wand +ausfüllte, in diesem Raume, wo unschuldige, willige und arbeitsgewohnte +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Menschen wartend saßen mit einem Ausdruck auf den Gesichtern, +als würden hinter jenen zahlreichen Türen in diesem Augenblick +ihre Todesurteile unterschrieben, wirkte die fette Dame wie eine +niederträchtige Beleidigung. Sie hatte pechschwarze, ölige, lockige +Haare, eine auffallend krumme Nase und sehr krumme Beine. Ihre +braunen Augen standen so glotzend in dem fetten Teiggesicht, als ob sie +im selben Augenblick aus den Höhlen quellen wollten. Sie war gekleidet +in dem Besten, was Reichtum nur kaufen kann. Sie keuchte und +schwitzte, und unter der Last ihrer Perlenketten, Goldbehänge und +Brillantvorstecknadeln schien sie beinahe zusammenzubrechen. Wenn +sie nicht so viele schwere Platinringe an den Fingern gehabt hätte, +wären die Finger sicher auseinandergeplatzt. +</p> + +<p> +Kaum hatte sie die Tür aufgemacht, da schrie sie schon: „Ich habe +meinen Paß verloren. Wo ist der Mister Konsul? Ich muß gleich einen +neuen Paß haben.“ +</p> + +<p> +Ei, sieh da, auch andre Leute können ihren Paß verlieren. Wer hätte das +gedacht? Ich hatte geglaubt, das kann nur einem Seemann zustoßen. +Well, Fanny, du kannst dich freuen, der Mister Konsul wird dir gleich +was erzählen, von wegen neuen Paß. Vielleicht nähst du das andre Ende +des Schürzenbandes an. So unangenehm mir die Dame war, ihres aufdringlichen +Wesens wegen, ich empfand für sie Sympathie, die Sympathie +derer, die in derselben Galeere angeschmiedet sind. +</p> + +<p> +Der Empfangssekretär sprang gleich auf: „Aber gewiß, M’me, nur +einen Augenblick. Bitte!“ +</p> + +<p> +Er nahm einen Stuhl und bat unter Verbeugung die Dame, sie möge +Platz nehmen. Er brachte drei Formulare, sprach leise mit der Dame +und schrieb in den Formularen. Die dürren Gestalten hatten die Formulare +alle selbst ausfüllen müssen, manche vier- oder fünfmal, weil sie +nicht gut ausgefüllt waren. Aber die Dame konnte offenbar nicht schreiben, +und so war es nur ein Zeichen von Hilfsbereitschaft, daß der Sekretär +ihr diese kleine Mühe abnahm. +</p> + +<p> +Als die Formulare ausgefüllt waren, sprang er auf und trug sie durch +eine der Türen, hinter denen die Todesurteile unterzeichnet werden. +</p> + +<p> +Er kam sehr rasch zurück und sagte halblaut und sehr höflich zu der +Fetten: „Mr. Grgrgrgs wünscht Sie zu sehen, M’me. Haben Sie drei +Photographien zur Hand?“ +</p> + +<p> +Die fette Schwarzhaarige hatte die Photographien zur Hand und gab +sie dem hilfsbereiten Sekretär. Dann verschwand sie hinter der Tür, wo +die Schicksale der Welt entschieden werden. +</p> + +<p> +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +Nur ganz altmodische Leute glauben heute noch daran, daß die Schicksale +der Menschen im Himmel entschieden werden. Das ist ein beklagenswerter +Irrtum. Die Schicksale der Menschen, die Schicksale von +Millionen von Menschen werden von den amerikanischen Konsuln entschieden, +die Sorge dafür zu tragen haben, daß der Republik kein +Schaden widerfahre. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Die Dame war nicht lange in jenem Zimmer der Geheimnisse. Als sie +herauskam, schloß sie ihr Handtäschchen. Sie schloß es mit einem starken +energischen Knipsen. Und das Knipsen schrie gellend: „Gott, wir haben’s +ja dazu, leben und leben lassen.“ +</p> + +<p> +Der Sekretär stand sofort auf, kam halb hinter seinem Tisch hervor und +rückte an jenem Stuhl, auf dem die Dame gesessen hatte. Die Dame +setzte sich nur mit einer Kante auf den Stuhl, öffnete ihre Handtasche, +kramte eine Weile herum, nahm ein Puderdöschen hervor und ließ die +geöffnete Tasche auf dem Tisch liegen, während sie sich puderte. Warum +sie sich schon wieder pudern mußte, obgleich sie sich eine Minute vorher +gepudert haben mußte, war nicht ganz klar. +</p> + +<p> +Der Sekretär tastete nun mit seinen Händen auf dem ganzen Tisch +herum, um irgendein Blatt Papier zu suchen, das er weit verlegt haben +mußte. Endlich hatte er das Blatt gefunden, und da die Dame inzwischen +auch wieder aufgepudert war, nahm sie die Tasche an sich, steckte das +Puderdöschen hinein und knipste die Tasche abermals so zu, daß die +Tasche denselben gellenden Schrei ausstieß wie kurz vorher. +</p> + +<p> +Die Dürren auf den Bänken hatten den gellenden Schrei nicht gehört. +Sie alle schienen Auswanderungslustige zu sein, die die Weltsprache +des Knipsens noch nicht verstanden, weil sie nichts zum Knipsen hatten. +Deshalb mußten sie ja auch auf den Bänken sitzen. Deshalb wurde +ihnen ja auch kein Stuhl angeboten unter Verbeugungen. Deshalb mußten +sie ja auch warten, bis sie an die Reihe kamen, genau nach der +Nummerfolge. +</p> + +<p> +„Können Sie in einer halben Stunde noch mal hier vorsprechen, M’me +oder sollen wir den Paß zu Ihrem Hotel schicken?“ +</p> + +<p> +Höflich ist man auf einem amerikanischen Konsulat. +</p> + +<p> +„Ich komme vorgefahren in einer Stunde. Unterschrieben habe ich den +Paß ja schon drin.“ +</p> + +<p> +Die Dame stand auf. Als sie nach einer Stunde wiederkam, saß ich +immer noch da. Aber die fette Dame hatte ihren Paß. +</p> + +<p> +Hier endlich bekam ich meinen Paß. Das wußte ich. Der Sekretär +brauchte ihn mir nicht in mein Hotel schicken, ich würde ihn gleich +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +selber mitnehmen. Und hatte ich erst wieder einen Paß, so bekam ich +auch wieder ein Schiff, wenn kein heimatliches Schiff, dann sicher ein +englisches oder holländisches oder dänisches. Wenigstens bekam ich wieder +Arbeit und hatte die Aussicht, doch mal ein heimatliches Schiff in +irgendeinem Hafen anzutreffen, wo ein Deckarbeiter gebraucht wurde. +Ich konnte ja nicht nur anstreichen, ich verstand auch Messing zu +putzen; denn wenn man nichts anstreichen kann, dann wird immer +Messing geputzt. +</p> + +<p> +Ich war wirklich zu voreilig in meinem Urteil. Die amerikanischen +Konsuln sind besser als ihr Ruf, und was mir die belgische, die holländische +und die französische Polizei über die Konsuln gesagt hatte, war +nichts als nationale Eifersucht. +</p> + +<p> +Endlich kam dann doch der Tag und die Minute, wo meine Nummer +fällig war und ich gerufen wurde. Meine dürren Bankgenossen hatten +alle durch eine andre Tür zu gehen, um den Todesstreich zu empfangen. +Ich machte eine Ausnahme. Ich wurde zu Mr. Grgrgrgs oder wie der +Mann heißen mochte, gerufen. Das war der Mann, den ich in meinem +Herzen zu sehen gewünscht hatte; denn er war der, der die Nöte eines +Menschen, dessen Paß verlorenging, zu würdigen weiß. Wenn mir niemand +auf der ganzen weiten Welt helfen würde, er wird es tun. Er hat +der Goldbehangenen geholfen, um wieviel mehr und rascher wird er mir +helfen. Es war ein guter Gedanke, der mich verleitet hatte, mein Glück +doch noch einmal zu versuchen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-13"> +11 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">er</span> Konsul ist ein kleiner, hagerer Mann, ausgetrocknet +im Dienst. +</p> + +<p> +„Setzen Sie sich“, sagt er und deutet auf einen +Stuhl vor seinem Schreibtisch. „Womit kann ich +dienen?“ +</p> + +<p> +„Ich möchte einen Paß haben.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie Ihren Paß verloren?“ +</p> + +<p> +„Nicht meinen Paß, aber meine Seemannskarte.“ +</p> + +<p> +„Ah so, Sie sind ein Seemann?“ +</p> + +<p> +Mit diesem Satz hat er seinen Ton geändert. Und dieser neue Ton, der +mit einem so merkwürdigen Mißtrauen gemischt ist, hält nun eine Weile +an und bestimmt den Charakter unsrer Unterhaltung. +</p> + +<p> +„Ich habe mein Schiff verloren.“ +</p> + +<p> +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +„Wohl betrunken gewesen?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich trinke nie einen Tropfen von diesem Gift. Ich bin knochentrocken.“ +</p> + +<p> +„Sie sagten doch, Sie seien Seemann?“ +</p> + +<p> +„Das bin ich auch. Mein Schiff ist drei Stunden früher abgefahren als +angesagt war. Sie sollte mit der Flut rausgehen, aber weil sie keine +Ladung hatte, so brauchte sie auf die Flut keine Rücksicht nehmen.“ +</p> + +<p> +„Nun sind Ihre Papiere also an Bord geblieben?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Das konnte ich mir denken. Welche Nummer hatte Ihre Karte?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht.“ +</p> + +<p> +„Wo war sie denn ausgestellt?“ +</p> + +<p> +„Das kann ich so genau nicht sagen. Ich habe Küstenschiffe gefahren, +Bostoner, N’Yorker, Balter, Philier, Golfer und sogar Wester. Ich kann +mich nicht mehr erinnern, wo die Karte ausgestellt war.“ +</p> + +<p> +„Das konnte ich mir denken.“ +</p> + +<p> +„Man guckt sich doch seine Karte nicht jeden Tag an. Ich habe sie nie +angeguckt, solange ich sie hatte.“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Sie hat immer in meiner Tasche gesteckt.“ +</p> + +<p> +„Naturalisiert?“ +</p> + +<p> +„Nein. Im Lande geboren.“ +</p> + +<p> +„Registriert worden, die Geburt?“ +</p> + +<p> +„Weiß ich nicht, da war ich noch zu klein, als ich geboren wurde.“ +</p> + +<p> +„Also nicht registriert.“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht, habe ich gesagt.“ +</p> + +<p> +„Aber ich weiß es.“ +</p> + +<p> +„Dann brauchen Sie mich doch nicht fragen, wenn Sie alles wissen.“ +</p> + +<p> +„Will ich vielleicht einen Paß haben?“ fragt er darauf. +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht, Sir, ob Sie einen Paß haben wollen.“ +</p> + +<p> +„Sie wollen doch einen haben, nicht ich. Und wenn ich Ihnen einen geben +soll, so werden Sie mir doch wohl erlauben müssen, daß ich Fragen an +Sie stelle. Nicht wahr?“ +</p> + +<p> +Der Mann hat recht. Die Leute haben immer recht. Das ist auch ganz +leicht für sie. Zuerst machen sie die Gesetze, und dann werden sie hingestellt, +um den Gesetzen das Leben einzuflößen. +</p> + +<p> +„Haben Sie eine feste Adresse drüben?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich wohne auf meinen Schiffen oder, wenn ich keine habe, wohne +ich in den Seemannsheimen und Herbergen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +„Also keine feste Wohnung. Mitglied eines eingetragenen Klubs?“ +</p> + +<p> +„Wer, ich? Nein.“ +</p> + +<p> +„Eltern?“ +</p> + +<p> +„Nein. Gestorben.“ +</p> + +<p> +„Verwandte?“ +</p> + +<p> +„Dank dem Himmel, nein. Wenn ich welche hätte, würde ich sie abschwören.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie gewählt?“ +</p> + +<p> +„Nein. Nie.“ +</p> + +<p> +„Stehen Sie also auch nicht in den Wähler-Registern.“ +</p> + +<p> +„Sicher nicht. Ich würde auch nicht wählen, wenn ich an Land wäre.“ +</p> + +<p> +Er sieht mich nun eine ganze Weile an, ziemlich dumm und sehr ausdruckslos. +Die ganze Zeit hat er gelächelt und, wie sein Kollege in Rotterdam, +mit einem Bleistift gespielt. Was würden die Leute nur machen, +wenn es keine Bleistifte mehr gäbe? Aber dann gibt es sicher ein Lineal, +oder einen Löscher, oder die Telephonstrippe, oder die Brille, oder ein +paar Blätter Papier oder Formulare, die man auf- und zufaltet. Eine +Amtsstube hat ja so gut vorgesorgt, daß der Insasse sich nie langweilt. +Gedanken, mit denen er sich beschäftigen kann, hat er nicht; +und wenn er welche bekommt, hört er für gewöhnlich auf, Beamter +zu sein und wird ein umgänglicher Mensch. Könnten die Finger eines +Tages nicht mehr mit den Utensilien spielen, die auf der Inventarliste +stehen, würden sie vielleicht an den Fundamenten spielen und +bohren und das möchte den Fundamenten nicht bekommen. +</p> + +<p> +„Also ich kann Ihnen keinen Paß geben.“ +</p> + +<p> +„Warum nicht?“ +</p> + +<p> +„Auf was denn? Auf Ihre bloßen Aussagen hin? Das kann ich nicht. Das +darf ich nicht einmal. Ich muß doch Unterlagen vorweisen können. Ich +muß doch Rechenschaft ablegen, auf Grund welcher Beweise ich den +Paß ausgestellt habe. Wie können Sie denn beweisen, daß Sie Amerikaner +sind, daß ich überhaupt verpflichtet bin, mich mit Ihnen hier +zu befassen?“ +</p> + +<p> +„Aber das können Sie doch hören?“ +</p> + +<p> +„Woran? An der Sprache?“ +</p> + +<p> +„Natürlich.“ +</p> + +<p> +„Das ist kein Beweis. Nehmen Sie hier den Fall Frankreich. Hier leben +Tausende, die Französisch sprechen und keine Franzosen sind. Hier gibt +es Russen, Rumänen, Deutsche, die ein besseres und reineres Französisch +sprechen als der Franzose selbst. Hier sind Tausende, die hier geboren +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +sind und keine Staatsbürger sind. Anderseits sind drüben Hunderttausende, +die kaum Englisch sprechen können und über deren amerikanische +Staatsbürgerschaft auch nicht der geringste Zweifel besteht.“ +</p> + +<p> +„Aber ich bin doch im Lande geboren.“ +</p> + +<p> +„Dann freilich können Sie Bürger sein. Aber auch dann müßten Sie erst +noch beweisen, ob nicht Ihr Vater für Sie eine andre Staatsbürgerschaft +vorbehalten hat, die Sie nicht abgeändert haben, als Sie volljährig +wurden.“ +</p> + +<p> +„Meine Urgroßeltern waren schon Amerikaner und deren Eltern auch +schon.“ +</p> + +<p> +„Beweisen Sie mir das, und ich bin verpflichtet, Ihnen einen Paß auszustellen, +ob ich will oder nicht. Bringen Sie die Urgroßeltern oder nur die +Eltern her. Ich will aber viel näher kommen, beweisen Sie mir, daß Sie +drüben geboren sind.“ +</p> + +<p> +„Wie soll ich denn das beweisen, wenn die Geburt nicht registriert +worden ist.“ +</p> + +<p> +„Das ist sicher nicht meine Schuld.“ +</p> + +<p> +„Vielleicht bestreiten Sie mir gar, daß ich überhaupt geboren bin?“ +</p> + +<p> +„Richtig. Das bestreite ich. Die Tatsache, daß Sie hier vor mir stehen, ist +kein Beweis für mich, daß Sie geboren sind. Ich habe es zu glauben. Wie +ich zu glauben habe, daß Sie Amerikaner sind, daß Sie Bürger sind.“ +</p> + +<p> +„Also Sie glauben nicht einmal, daß ich geboren bin? Das ist aber doch +die Grenze alles Möglichen.“ +</p> + +<p> +Der Konsul lächelte sein schönstes Amtslächeln: „Daß Sie geboren sind, +muß ich ja wohl glauben; denn ich sehe Sie hier mit meinen Augen. +Wenn ich Ihnen nun einen Paß ausstelle und ihn der Regierung daheim +damit rechtfertige, daß ich in meinen Bericht schreibe: Ich habe den +Mann gesehen und glaube, daß er Bürger ist! so kann es leicht geschehen, +daß ich gesackt werde. Denn was ich glaube, will die Regierung +daheim nicht wissen. Sie will nur wissen, was ich bestimmt weiß. Und +was ich bestimmt weiß, muß ich immer beweisen können. Ihre Staatsbürgerschaft +und Ihre Geburt kann ich nicht beweisen.“ +</p> + +<p> +Man möchte manchmal bedauern, daß wir noch nicht aus Papiermaché +gemacht sind; denn dann könnte man an dem Stempel sehen, ob man +in der Fabrik U. S. A. oder in der Fabrik Frankreich oder in der Fabrik +Spanien angefertigt worden ist, und den Konsuln wäre die Mühe erspart, +ihre wertvolle Zeit mit so törichten Dingen zu vertrödeln. +</p> + +<p> +Der Konsul hat den Bleistift hingeworfen, ist aufgestanden, geht zur +Tür und ruft einen Namen hinaus. Ein Sekretär kommt herein, und der +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +Konsul sagt zu ihm: „Sehen Sie mal nach. Wie ist der Name?“ Er wendet +sich mir zu. „Ach ja, es fällt mir schon wieder ein, Gale, richtig. Ja, sehen +Sie also nach, sofort.“ +</p> + +<p> +Der Mann läßt die Tür halb offen, und ich sehe, daß er an einem +Schranke, wo Tausende von gelben Karten aufgestapelt sind, das G +heraussucht und nach meinem Namen forscht. Die Karten der Deportierten, +der Unerwünschten, der Pazifisten und der bekannten +Anarchisten. +</p> + +<p> +Der Sekretär kommt wieder zurück. Der Konsul, der während der Zeit +am Fenster gestanden hat und hinuntergesehen hat, dreht sich um: +</p> + +<p class="ibr"> +„Na?“ +</p> + +<p> +„Ist nicht drin.“ +</p> + +<p> +Das wußte ich vorher. Jetzt kriege ich meinen Paß. So schnell nicht. +Der Sekretär ist wieder gegangen und hat die Tür hinter sich zugemacht. +Der Konsul sagt nichts, setzt sich wieder an seinen Schreibtisch, +sieht mich eine Weile an und weiß nicht mehr, was er fragen soll. +Seine Prüfungsaufgaben scheinen nur bis hierher gereicht zu haben. +Nun steht er auf und verläßt das Zimmer. Jedenfalls holt er sich Rat +aus einem der andern heiligen Räume. +</p> + +<p> +Ich habe nichts weiter zu tun und sehe mir die Bilder an der Wand an. +Alles bekannte Gesichter, mein eigner Vater ist mir nicht so vertraut in +seinem Gesicht als diese Gesichter. Washington, Franklin, Grant, Lincoln. +Männer, denen Bureaukratismus so verhaßt war wie einem Hunde +die Katzen. „Das Land soll für immer sein das Land der Freiheit, wo +der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet, sofern er guten Willens +ist.“ „Dieses Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ +</p> + +<p> +Aber freilich, das kann ja nicht so fort gehen bis in alle Ewigkeit. „Das +Land soll gehören denen, die es bewohnen.“ Das puritanische Gewissen +ließ nicht zu, daß kurz und bündig gesagt wurde: „Das Land gehört uns, +den Amerikanern.“ Denn da waren die Indianer, denen das Land von +Gott gegeben war, und Gottes Gesetz hat der Puritaner zu beachten. +„Wo der Verfolgte und der Gehetzte Zuflucht findet.“ Ganz gut, wenn +alle, die da wohnen, Verfolgte und Gehetzte sind aus allen möglichen +Ländern. Und die Nachfahren jener Verfolgten und Gehetzten sperren +das Land ab, das allen Menschen gegeben wurde. Und um die Absperrung +ganz vollkommen zu machen, damit auch nicht eine Maus +durchschlüpfen kann, sperren sie die eignen Söhne ab. Denn es könnte +ja unter der Verkleidung des eignen Sohnes sich der Sohn eines Nachbars +einschleichen. +</p> + +<p> +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +Der Konsul kommt zurück und setzt sich wieder. Er hat eine neue Frage +gefunden. +</p> + +<p> +„Sie können ja vielleicht ein entwichener Sträfling sein oder jemand, +der eines schweren Verbrechens wegen gesucht wird. Und ich würde +Ihnen einen Paß ausstellen auf den von Ihnen genannten Namen und +würde Sie durch den Paß vor der gerechten Verfolgung schützen.“ +</p> + +<p> +„Ja, das würden Sie. Ich sehe nun ein, daß mein Kommen ganz und gar +zwecklos war.“ +</p> + +<p> +„Es tut mir wirklich leid, Ihnen nicht helfen zu können. Meine Machtbefugnisse +sind nicht weitreichend genug, um Ihnen den Paß oder irgendein +Papier, das Ihnen zur Legitimation dienen könnte, auszustellen. +Sie hätten mit Ihrer Seemannskarte vorsichtiger sein müssen. Solche +Dinge verliert man nicht in dieser Zeit, wo der Paß notwendiger ist als +sonst irgend etwas.“ +</p> + +<p> +„Nun möchte ich aber doch gern eins wissen.“ +</p> + +<p> +„Ja?“ +</p> + +<p> +„Da war hier eine sehr dicke Dame mit vielen Brillantringen, die sie +kaum noch schleppen konnte, die hatte ihren Paß doch auch verloren +und Sie haben ihr sofort einen gegeben. Das hat nur eine halbe Stunde +gedauert.“ +</p> + +<p> +„Aber das war doch die Frau Sally Marcus aus New York, werden Sie +doch schon gehört haben den Namen. Das große Bankgeschäft,“ sagte +er mit einer Geste und einer Betonung, als ob er gesagt hätte: Das war +doch der Prince of Wales und nicht ein Seemann, dem das Schiff fortgefahren +ist. +</p> + +<p> +Er mußte wohl an meinem Gesichtsausdruck erkennen, daß ich das nicht +so schnell fassen konnte, denn er fügte hinzu: „Sie werden den Namen +doch schon gehört haben? Das große Bankgeschäft in New York?“ +</p> + +<p> +Ich zweifelte noch immer und sagte: „Ich glaube aber kaum, daß die +Dame Amerikanerin ist, ich würde viel eher glauben, daß sie in Bukarest +geboren ist.“ +</p> + +<p> +„Woher wissen Sie das? Die Frau Marcus ist allerdings in Bukarest +geboren worden. Aber sie ist amerikanischer Bürger.“ +</p> + +<p> +„Hatte sie denn ihren Bürgerbrief bei sich?“ +</p> + +<p> +„Natürlich nicht. Warum?“ +</p> + +<p> +„Woher haben Sie denn dann gewußt, daß sie Bürger ist? Richtig +sprechen hat sie noch nicht gelernt.“ +</p> + +<p> +„Da brauche ich keinen Beweis. Der Bankier Marcus ist doch bekannt. +Sie ist doch Luxuskabine auf der Majestic herübergekommen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +„Jetzt endlich verstehe ich. Ich bin nur in einer Forecastle-Bunk, auf +einem Frachteimer herübergekommen als Deckarbeiter. Und das beweist +gar nichts. Großes Bankgeschäft und Luxuskabine beweist alles.“ +</p> + +<p> +„Der Fall liegt eben ganz anders, Mr. Gale. Ich habe Ihnen gesagt, ich +kann nichts für Sie tun. Ich darf nicht einmal etwas für Sie tun. Papiere +darf ich Ihnen nicht geben. Ich persönlich glaube Ihnen, was Sie mir +gesagt haben. Aber wenn die Polizei Sie hierher bringen sollte, damit +wir Sie anerkennen und aufnehmen sollen, leugne ich Sie glatt ab und +bestreite Ihre Staatsangehörigkeit. Ich kann nichts andres tun.“ +</p> + +<p> +„Dann kann ich hier einfach untergehen in fremdem Lande.“ +</p> + +<p> +„Ich habe nicht die Machtvollkommenheit, Ihnen beizustehen, selbst +wenn ich persönlich gern möchte. Ich werde Ihnen eine Karte für ein +Hotel geben für drei Tage mit voller Verpflegung. Sie dürfen sich nach +Ablauf eine zweite und auch eine dritte holen.“ +</p> + +<p> +„Nein, ich danke sehr. Bemühen Sie sich nicht.“ +</p> + +<p> +„Vielleicht ist Ihnen besser gedient mit einer Fahrkarte nach der nächsten +größeren Hafenstadt, wo Sie vielleicht ein Schiff bekommen können, +das unter andrer Flagge fährt.“ +</p> + +<p> +„Nein, danke. Ich hoffe, meinen Weg allein zu finden.“ +</p> + +<p> +„Ja dann –. Good-bye und viel Glück!“ +</p> + +<p> +Aber da sind wieder die großen Gegensätze zwischen den amerikanischen +Beamten und den Beamten andrer Länder. Als ich auf der Straße +war und nach einer Uhr blickte, sah ich, daß es fünf Uhr vorbei war. Die +Geschäftsstunden des Konsuls waren um vier Uhr zu Ende; jedoch er +hatte nicht ein einziges Mal irgendein Zeichen von Ungeduld geäußert +oder fühlen lassen, daß seine Zeit längst vorüber war. +</p> + +<p> +Nun erst hatte ich mein Schiff wirklich verloren. +</p> + +<p> +Ade, mein sonniges New Orleans. Good-bye and good luck to ye! +</p> + +<p> +Mädel, mein liebes Mädel in New Orleans, jetzt kannst du warten auf +deinen Jungen; auf dem Jackson Square kannst du sitzen und heulen. +Dein Junge kommt nicht mehr heim. Das Meer hat ihn verschluckt. +Gegen Sturm und Wellen konnte ich kämpfen, mit Farbe und mit harten +Fäusten; gegen Paragraphen, Bleistifte und Papier nicht. Nimm dir +beizeiten einen andern, Liebchen. Verplempere deine rosige Jugend +nicht mit Warten auf den Vaterlandslosen und Nichtgeborenen. Leb’ +wohl! Süß waren deine Küsse und glühend, weil wir keine Heiratslizenz +geholt hatten. +</p> + +<p> +Schiet das Mädel. Hoiho! Wind kommt auf. Boys, get all the canvas +set. Alles, was Leinwandfetzen heißt, raus damit und hoch. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-14"> +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +12 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">xpress</span> Paris-Limoges. Ich sitze drin und habe +keine Karte. Diesmal wurde kontrolliert. Aber ich +verschwand spurlos. Limoges-Toulouse. Ich sitze +drin und habe auch keine Karte. +</p> + +<p> +Was die nur immerfort zu kontrollieren haben. Es +muß doch in der Tat zu viele Eisenbahnschwindler +geben, daß so oft kontrolliert wird. Aber die haben +ganz recht, wenn jeder ohne Karte fahren wollte, +wer sollte denn dann die Dividenden bezahlen. Das geht doch nicht. +Ich verschwinde spurlos. Als die Kontrolle vorbei ist, setze ich mich wieder +auf meinen Platz. Plötzlich kommt der Kontrolleur zurück, geht entlang +und sieht mich an. Ich sehe ihn auch an. Ganz dreist. Er geht weiter. +Man muß nur wissen, wie man Kontrolleure anzusehen hat, dann hat +man auch schon gewonnen. Er dreht sich um und kommt auf mich zu. +</p> + +<p class="ibr"> +„Bitte, wo wollten Sie umsteigen?“ +</p> + +<p> +Ein ganz gerissener Bursche, dieser Kontrolleur. +</p> + +<p> +Ich verstehe nur das Umsteigen in diesem Augenblick, weil ich die +übrigen Worte erst in Gedanken übersetzen muß. Aber dazu komme ich +gar nicht, denn er sagt gleich darauf: „Bitte, lassen Sie doch mal Ihre +Karte sehen, wenn ich sehr bitten darf.“ +</p> + +<p> +Na, Freund, wenn du noch so höflich bist und noch so höflich bittest, es +tut mir sehr leid, ich kann dir deinen Wunsch nicht erfüllen. +</p> + +<p> +„Ich habe es gewußt“, sagt er ganz ruhig und unauffällig. Ich bin überzeugt, +die übrigen Fahrgäste haben gar nicht beachtet, was für eine +Tragödie sich hier abspielt. +</p> + +<p> +Der Mann nimmt sein Notizbuch, schreibt etwas und geht dann weiter. +Vielleicht hat er ein gutes Herz und vergißt mich. Aber in Toulouse auf +dem Bahnhof werde ich schon erwartet. Ohne Blechmusik, aber mit +einem Auto. +</p> + +<p> +Es ist ein sehr gutes Automobil, feuer- und einbruchsicher, und ich kann +während der Fahrt nicht hinausfallen und sehe von meinem Fenster +nur einen Teil der obersten Stockwerke der Häuser, an denen wir vorübersausen. +Es ist ein Spezialauto für Gäste, die man hier bewillkommnen +möchte, denn aller Verkehr hat meinem Auto Platz zu machen, +so daß es unbehindert durchfahren kann. Auf jeden Fall sind die Autos +in Toulouse eine Marke, die ich noch nicht kenne. Weder Ford noch +Dodge Brothers werden hier auf Absatz rechnen können, oder sie müßten +sich den hiesigen Ansprüchen besser anpassen. +</p> + +<p> +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +Aber ich weiß schon, wo ich landen werde. Wenn mir irgendetwas merkwürdig +vorkommt an den Sitten und Gebräuchen in europäischen Ländern, +dann bin ich immer auf dem Wege zu einer Polizeistation oder +unter den Fittichen von Cops. Ich habe daheim nie in meinem Leben je +etwas mit der Polizei oder mit dem Gericht zu tun gehabt. Hier kann +ich ruhig auf einer Kiste sitzen oder unschuldig im Bett liegen oder über +eine Wiese spazierengehen oder in einem Eisenbahnzuge fahren, immer +lande ich auf einer Polizeistation. Kein Wunder, daß Europa vor die +Hunde geht. Die Leute haben ja gar keine Zeit zu arbeiten, sieben Achtel +ihres Lebens haben sie auf Polizeistationen oder mit Polizisten zu vergeuden. +Darum sind die Leute auch immer so gereizt und machen so +gern Krieg, weil sie sich ewig mit der Polizei herumzanken müssen und +die Polizei sich mit ihnen herumzankt. Wir sollten den europäischen +Ländern keinen Nickel mehr pumpen, sie geben es ja doch bloß aus, um +ihre Polizei noch weiter zu vermehren. Keinen Nickel mehr, no, Sir. +</p> + +<p> +„Von wo kommen Sie?“ +</p> + +<p> +Der Hohepriester sitzt wieder vor mir. Sie sind alle gleich. In Belgien, +in Holland, in Paris, in Toulouse. Immer müssen sie fragen, und immer +wollen sie alles wissen. Und selber begeht man immer wieder den großen +Fehler, daß man überhaupt antwortet. Man sollte ganz still sein, gar +nichts sagen und die raten lassen. Dann kämen sie alle bald ins Irrenhaus, +oder sie würden die Folter wieder einführen. Aber würde man +nie antworten, dann würden die Cops ja noch dümmer werden, als sie +schon sind. +</p> + +<p> +Das soll man aber auch erst aushalten, da zu sitzen oder zu stehen und +immerfort gefragt werden und nichts antworten. Das verfluchte Maul +redet ganz von selbst, sobald einem eine Frage entgegengeschleudert +wird. Das macht die lange Gewohnheit. Es ist unerträglich, einen Fragesatz +schwebend in der Luft hängen zu lassen, ohne ihn durch eine Antwort +wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Eine unbeantwortete Frage +läßt einem keine Ruhe, läuft immer hinter einem her, drängt sich in die +Träume und raubt einem die Ruhe zum Arbeiten und zum Denken. Das +eine Wort „Warum?“ mit einem Fragezeichen dahinter ist der Zentralpunkt +aller Kultur, Zivilisation und Entwicklung. Ohne dieses eine +Wort sind die Menschen nichts weiter als Affen, und wenn man den +Affen dieses Zauberwort gibt, werden sie sofort Menschen. Yes, Sir. +</p> + +<p> +„Von wo Sie kommen, will ich wissen!“ +</p> + +<p> +Da habe ich nun mal den Versuch gemacht, nicht zu antworten, aber +jetzt halte ich es schon nicht mehr aus. Ich muß ihm etwas erzählen. Soll +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +ich nun sagen, daß ich von Paris käme? Oder soll ich lieber sagen, ich +käme von Limoges. Wenn ich Limoges sage, machen sie es vielleicht acht +Tage billiger, weil Limoges ja nicht so weit ist wie Paris. +</p> + +<p> +„Ich bin in Limoges eingestiegen.“ +</p> + +<p> +„Das ist nicht richtig, Mann, Sie sind in Paris eingestiegen.“ +</p> + +<p> +Sieh mal an, wie gut die raten können. +</p> + +<p> +„Nein, ich bin nicht in Paris eingestiegen, sondern nur in Limoges.“ +</p> + +<p> +„Aber Sie haben doch hier eine Bahnsteigkarte von Paris in der Tasche.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Da haben sie also schon wieder meine Taschen durchsucht. Ich habe das +gar nicht gemerkt, weil ich schon so daran gewöhnt bin, daß es mir gar +nicht mehr auffällt. +</p> + +<p> +„Oh, die Bahnsteigkarte habe ich schon lange.“ +</p> + +<p> +„Wie lange?“ +</p> + +<p> +„Sechs Wochen wenigstens.“ +</p> + +<p> +„Das ist aber merkwürdig. Die Karte hat das Datum von gestern vormittag.“ +</p> + +<p> +„Dann ist sie irrtümlicherweise vordatiert worden“, sage ich. +</p> + +<p> +„Offenbar. Also Sie sind in Paris eingestiegen.“ +</p> + +<p> +„Aber von Paris bis Limoges habe ich bezahlt.“ +</p> + +<p> +„Jedenfalls. Und Sie sind ein so guter Bezahler, daß Sie außer Ihrer +Fahrkarte auch noch die Bahnsteigkarte gekauft haben, die Sie gar nicht +brauchten, wenn Sie eine Fahrkarte hatten. Wenn Sie aber eine Karte +bis Limoges hatten, wo ist dann diese Karte.“ +</p> + +<p> +„Die habe ich in Limoges abgegeben,“ antworte ich. +</p> + +<p> +„Dann hätten Sie aber doch eine Bahnsteigkarte von Limoges haben +müssen. Aber lassen wir das. Wollen wir erst einmal die Personalien +festhalten.“ +</p> + +<p> +Gut, wenn sie nur die Personalien festhalten, das ist mir lieber, als +wenn sie mich mit festhalten. +</p> + +<p> +„Nationalität?“ +</p> + +<p> +Eine heikle Frage jetzt. Ich habe so ein Ding nicht mehr, seitdem ich +nicht beweisen kann, daß ich geboren bin. Ich könnte es eigentlich mit +Franzose versuchen. Der Konsul hat mir ja erzählt, daß es Tausende von +Franzosen gäbe, die nicht französisch sprechen können und doch Franzosen +sind, soweit ihre Staatsangehörigkeit in Frage kommt. Glauben +wird er es mir ja sicher nicht. Er wird ja auch Beweise sehen wollen. +Wissen möchte ich nur, für wen es billiger ist, ohne Fahrkarte auf der +Eisenbahn zu fahren, für Franzosen oder für Ausländer? Aber der Ausländer +kann ja denken, in Frankreich brauche man keine Fahrkarten +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +und er habe in gutem Glauben gehandelt. Geld haben sie in meinen +Taschen aber nicht gefunden, und das ist dann schon verdächtig. +</p> + +<p> +„Ich bin ein Deutscher“, platze ich nun raus; denn mir kam ganz plötzlich +die Idee, daß ich doch mal sehen möchte, was sie mit einem Boche +machen, wenn sie ihn ohne Paß und ohne Fahrkarte in ihrem Lande +finden. +</p> + +<p> +„Also ein Deutscher. Sieh an. Wohl auch noch von Potsdam?“ +</p> + +<p> +„Nein, nur von Wien.“ +</p> + +<p> +„Das ist Österreich. Aber das ist ja alles dasselbe. Also Deutscher. +Warum haben Sie denn keinen Paß?“ +</p> + +<p> +„Den habe ich verloren.“ +</p> + +<p> +Nun ging die ganze Reihe wieder herunter. In jedem Lande haben sie +genau dieselben Fragen. Hat einer vom andern abgeschrieben. Erfunden +wurden sie wahrscheinlich in Preußen oder in Rußland, denn alles, was +sich um Einmischung in die Privatverhältnisse eines Menschen handelt, +kommt aus einem der beiden Länder. Da sind die Leute am geduldigsten +und lassen sich alles gefallen, und vor einem blanken Knopf nehmen +sie die Mütze ab. Denn in jenen Ländern ist der blanke Knopf der böse +Gott, den man verehren und anbeten muß, damit er sich nicht rächt. +</p> + +<p> +Zwei Tage später bekam ich vierzehn Tage Gefängnis wegen Eisenbahnbetrugs. +Hätte ich gesagt Amerikaner, so würden sie vielleicht herausgekriegt +haben, daß ich bereits vorbestraft war wegen Eisenbahnbetrugs, +und dann wäre es teurer geworden. Aber meinen Namen erzählte +ich ihnen ja auch nicht. Es hat seine Vorteile, wenn man keinen Paß und +keine Seemannskarte hat, die jemand in den Taschen finden könnte. +</p> + +<p> +Als die Tage der Vorbereitungen abgelaufen waren, wurde ich der +Arbeitskolonne zugewiesen. Da waren kleine merkwürdige Dinger, die +aus Weißblech gestanzt waren. Wozu die gebraucht wurden, wußte kein +Mensch, nicht einmal die Aufsichtsbeamten wußten es. Manche behaupteten, +es sei ein Teil eines Kinderspielzeugs, andre sagten, es sei ein Teil +eines Panzerschiffes, wieder andre waren überzeugt, daß es zu einem +Auto gehöre, und einige schworen und verwetteten hereingeschmuggelten +Tabak, daß dieser Blechschnipsel ein wichtiges Stück von einem +lenkbaren Luftschiff sei. Ich war der festen Meinung, daß es zu einer +Taucherausrüstung gehören müsse. Wie ich zu dieser Auffassung kam, +weiß ich nicht. Aber die Idee hatte sich in mir festgesetzt, und ich hatte +auch irgendwo einmal gelesen, daß an Taucherausrüstungen eine ganze +Anzahl von Dingen gebraucht würde, die man sonst nirgends gebrauchen +könne. +</p> + +<p> +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +Von diesen merkwürdigen Blechschnipseln hatte ich immer hundertvierundvierzig +abzuzählen und auf einen Haufen zu legen. Wenn ich +einen Haufen fertig abgezählt und neben mir liegen hatte und einen +andern Haufen anfangen wollte, kam der Aufsichtsbeamte und fragte +mich, ob ich auch ganz genau wüßte, daß dies hundertvierundvierzig +Schnipselchen seien, und ob ich mich auch ja nicht etwa verzählt hätte. +</p> + +<p class="ibr"> +„Ich habe ganz genau gezählt, es sind genau hundertvierundvierzig.“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Ist das auch ganz bestimmt, kann ich mich ganz bestimmt darauf +verlassen?“ +</p> + +<p> +Er sah mich so sorgenvoll an, als er diese Frage an mich stellte, daß ich +aufrichtig zu zweifeln begann, ob das auch wirklich und wahrhaftig +hundertvierundvierzig Schnipselchen seien, und ich sagte, es sei vielleicht +doch besser, ich zähle sie nochmal nach. Darauf sagte der Beamte, +das sollte ich nur tun, es sei auf jeden Fall besser, damit auch ja kein +Irrtum vorkomme; denn wenn sie nicht ganz genau gezählt seien, so +gäbe das eine Mordsschweinerei, und er könnte vielleicht gar seinen +Posten hier verlieren, was ihm sehr unangenehm wäre, weil er drei +Kinder und eine alte Mutter zu versorgen hätte. +</p> + +<p> +Als ich nun das Häufchen das zweite Mal durchgezählt hatte und gefunden +hatte, daß die Summe stimmte, kam gerade wieder der Beamte +heran. Ich sah, daß er sein Gesicht wieder in besorgte Falten legte, und +um ihm den Kummer zu sparen und ihm zu zeigen, wie sehr ich an +seinen Sorgen teilnahm, sagte ich, ehe er Zeit hatte, den Mund aufzutun: +„Ich glaube, ich zähle lieber noch mal nach; ich könnte mich vielleicht +doch um einen oder gar zwei verzählt haben.“ +</p> + +<p> +Über sein sorgenvolles Gesicht huschte da ein so verklärtes Lächeln, als +ob ihm jemand erzählt hätte, er bekäme in vier Wochen eine Erbschaft +von fünfzigtausend Franken ausgezahlt. +</p> + +<p> +„Ja, tun Sie das nur, um Gottes willen, zählen Sie lieber nochmal genau +nach. Denn wenn da ein Schnipsel zu viel wäre oder eines zu wenig und +der Herr Direktor würde mich zum Rapport kommandieren, ich weiß +nicht, was ich da täte. Ich würde ganz sicher meinen Posten verlieren, +und da sind die armen Würmer, und meine Frau ist auch nicht ganz +wohlauf, und da ist noch meine alte Mutter. Oh, zählen Sie nur ganz +genau hundertvierundvierzig, genau zwölf Dutzend. Vielleicht zählen +Sie die Schnipselchen überhaupt Dutzendweise, da können Sie sich +nicht so leicht verzählen.“ +</p> + +<p> +An dem Tage, als ich entlassen wurde und meine Zeit abgedient hatte, +hatte ich alles in allem drei Häufchen Schnipselchen gezählt. Ich weiß +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +heute noch nicht, ob ich mich nicht doch vielleicht bei einem verzählt +haben mag. Aber ich hege die stille Hoffnung, daß der treue Beamte und +brave Versorger seiner Familie die drei Häufchen noch einmal zwei +Wochen lang hat nachzählen lassen, so daß ich also nicht die Verantwortung +zu tragen habe, wenn der Mann vielleicht doch zum Rapport +kommandiert wird. +</p> + +<p> +Ich bekam vierzig Centimes Arbeitslohn ausbezahlt. Eins ist sicher, +wenn ich noch zweimal ohne Fahrkarte auf einer französischen +Bahn fahre und erwischt werde, muß der französische Staat unweigerlich +bankrott machen. Das hält kein Staat aus, auch wenn er viel günstiger +dastände als Frankreich. +</p> + +<p> +Das möchte ich diesem Staate auch nicht antun, und ich möchte mir auch +nicht nachsagen lassen, daß ich vielleicht gar schuld sei, wenn der französische +Staat seine gepumpten Gelder nicht verzinsen kann. +</p> + +<p> +Darum mußte ich raus aus diesem Lande. +</p> + +<p> +Das heißt, ich will nicht verschweigen, daß es nicht nur meine Sorge um +das Wohlergehen und das geregelte Zinsenbezahlen des französischen +Staates war, was mich veranlaßte, an eine beschleunigte Abreise zu +denken. Bei meiner Entlassung war ich wieder einmal verwarnt worden. +Diesmal sehr ernsthaft. Wäre ich innerhalb vierzehn Tagen +nicht raus aus dem Lande, dann bekäme ich ein Jahr und Deportation +nach Deutschland. Das hätte den armen Staat wieder allerlei gekostet, +und ich bekam aufrichtiges Mitleid mit diesem geplagten Lande. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-15"> +13 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> wanderte südlich, auf Pfaden, die so alt sind wie die Geschichte +der europäischen Völker. Ich blieb nun bei meiner +neuen Nationalität. Und wenn mich jemand fragte, sagte ich +ganz trocken: „Boche.“ Es nahm mir niemand übel, ich bekam +überall zu essen und überall ein gutes Nachtquartier, +bei jedem Bauern. Es schien, daß ich instinktiv das Richtige +getroffen hatte. Niemand konnte die Amerikaner leiden. +Jeder schimpfte und fluchte auf sie. Sie seien die Räuber, +die aus dem Blute französischer Söhne ihre Dollar gemünzt hätten, +und sie seien die Halsabschneider und Wucherer, die nun aus den +Sorgen und Tränen der übriggebliebenen Väter und Mütter abermals +Dollar herausmünzen wollen, weil sie nie den Rachen vollkriegen +könnten, obgleich sie im Golde schon erstickten. Wenn wir nur einen +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +hier hätten, einen von diesen amerikanischen Wucherern, wir schlügen +ihn mit dem Dreschflegel tot wie einen alten Hund, weil er wahrhaftig +nichts Besseres verdient. +</p> + +<p> +Verflucht nochmal, da habe ich aber Glück gehabt. +</p> + +<p> +„Dagegen die Boches. Gut, wir haben Krieg mit ihnen gehabt, einen +ehrlichen und richtigen Krieg. Wir haben ihnen Elsaß wieder abgenommen. +Da sind sie auch ganz damit einverstanden, das haben sie eingesehen. +Nun aber geht es den armen Teufeln genau so dreckig wie uns. +Auch die hat der amerikanische Hund am Schlafittchen und holt noch +den letzten abgenagten Knochen heraus. Die verhungern ja alle, die +armen Boches. Wir würden ihnen so gern etwas abgeben, aber wir haben +ja selber nur noch das nackte Leben, weil der Teufel von Amerikaner +uns schon das Hemd vom Leibe gezogen hat. Warum ist er überhaupt +rübergekommen nach Europa? Uns zu helfen? Prost Mahlzeit! Um uns +den letzten Faden noch vom Leibe zu ziehen. Denn wir müssen ja alles +bezahlen. Wir und die armen Boches.“ +</p> + +<p> +„Sieht man ja an Ihnen, wie dreckig es den armen Boches geht. Ganz +verhungert sehen Sie aus. Essen Sie nur tüchtig, langen Sie zu. Nehmen +Sie sich das beste Stück. Wenn es Ihnen nur schmeckt. Wenn sie drüben +alle so verhungert sind wie Sie, dann gute Nacht. Aber wir haben ja +selber nicht viel. Wo wollen Sie denn nun hin? Nach Spanien? Das ist +recht. Das ist vernünftig. Die haben noch etwas mehr als wir. Die haben +keinen Krieg gehabt. Aber die hat ja der Amerikaner auch so reingelegt +mit Kuba und mit den Philippinen. Da sehen Sie es ja schon wieder. +Immer stiehlt er uns arme Europäer aus. Als ob er drüben nicht genug +hätte. Nein, er muß hier stehlen und wuchern kommen. Langen Sie nur +tüchtig zu. Lassen Sie sich durch uns nicht stören, daß wir schon aufhören. +Wir haben ja noch ein bißchen was und können uns wenigstens +hin und wieder mal satt essen. Aber, ihr armen Boches da drüben, +euch verhungern ja die kleinen Würmchen in der Wiege.“ +</p> + +<p> +„Und wenn nun gar hier ein armer Teufel sich das Geld zusammengespart +hat und will rüber zu den Amerikanern, um sich ein paar Dollar +zu verdienen, die er seinen Eltern schicken will, da machen sie die +Türe zu, diese Banditen. Erst stehlen sie das Land von den armen +Indianern, und wenn sie es haben, dann lassen sie keinen mehr rein, nur +damit sie ja ganz im Fett ersticken können, die verfluchten Hunde. Als +ob sie dem, der überfährt, was schenken würden. Arbeiten muß er, aber +feste. Die schlechteste Arbeit, die kein Amerikaner anfassen will, die +können dann unsre Jungens machen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +„Wissen Sie was, Sie könnten eigentlich hier ein paar Wochen ganz gut +arbeiten. Da können Sie sich ordentlich herausfüttern, daß Sie wieder +zu Kräften kommen, denn Spanien ist noch weit. Mon dieu, viel bezahlen +können wir ja nicht, dreißig Franken den Monat, acht Franken +die Woche und die Kost und das Schlafen. Vor dem Kriege war der +Lohn nur drei Franken die Woche, aber es ist ja jetzt alles so sündhaft +teuer. Wir haben auch während des Krieges einen Boche hier gehabt. +Einen Kriegsgefangenen. Er war ein so fleißiger Mann, wir waren alle +recht traurig, als er wieder heim mußte. Sag, Antoine, der Wil’em, der +Boche, der war doch ein sehr fleißiger Mann. Der hat tüchtig gearbeitet. +Wir haben ihn auch alle sehr gern gehabt, und die andern Leute haben +auch immer geredet, daß wir ihn zu gut behandeln, aber wir haben ihm +doch alles gegeben, was wir konnten. Er hat dasselbe Essen gehabt wie +wir, da haben wir keinen Unterschied gemacht ...“ +</p> + +<p> +Da arbeitete ich also nun, und ich lernte bald erfahren, daß der Wil’em +wirklich ein tüchtiger Arbeiter gewesen sein muß. Denn ich hörte jeden +Tag ein halbes dutzendmal: „Ich weiß nicht, der Wil’em muß aus einer +ganz andern Gegend gewesen sein als Sie. So können Sie nicht arbeiten +wie der Wil’em. Habe ich nicht recht, Antoine?“ +</p> + +<p> +Und Antoine bestätigte: „Ja, er ist sicher aus einer ganz andern Gegend, +denn so kann er nicht arbeiten, wie der Wil’em es konnte. Aber es gibt +wohl auch unter den Boches Unterschiede, genau so wie bei uns.“ +</p> + +<p> +Der ewige Vergleich mit dem tüchtigen Wil’em, der sicher mehr von der +Landwirtschaft verstand als ich, und der gewiß auch darum so „tüchtig“ +arbeitete, weil er lieber hier bei den Bauersleuten blieb als in das Internierungslager +zurückgeschickt werden oder in Algier Straßen pflastern +wollte, fiel mir bald auf die Nerven. Selbst wenn ich nur halb soviel +gearbeitet hätte, wäre es noch um das Dreifache zuviel gewesen. So +billig bekam der Bauer nie wieder einen Arbeiter. Acht Franken in der +Woche. Andre Bauern hatten zwanzig, fünfundzwanzig, dreißig Franken +die Woche zu zahlen. Ich bekam acht. Ich war ja auch der verhungerte +Boche, der herausgefüttert werden sollte. +</p> + +<p> +Als ich dann abzog, weil ich erklärte, ich müßte nun unbedingt nach +Spanien, ich könne auf keinen Fall mehr länger warten, und vielleicht +käme gar noch die Polizei, die es mir verbieten würde, hier zu arbeiten, +da bekam ich für meine Arbeit von sechs Wochen im ganzen zehn +Franken. Der Bauer sagte mir, daß er nicht mehr Geld habe. Wenn ich +vielleicht nach Neujahr zurückkommen wolle, dann könne er mir den +Rest zahlen, weil er dann das Geld bekäme für die Ernte, aber jetzt +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +habe er weiter kein Geld. Ich sähe jetzt auch wieder ganz gesund aus, +es habe mir doch gut getan, dieses kräftige Essen, das ich hier bekommen +habe, und totgearbeitet hätte ich mich ja auch nicht, der Wil’em –. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte ich darauf, „der Wil’em war auch aus Westfalen, ich bin +aber aus Südfalen und da braucht man nicht so hart arbeiten, weil alles +von selbst wächst, da ist man so schwere Arbeit nicht gewöhnt.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja dann ganz verständlich“, sagte der Bauer. „Von Südfalen +habe ich auch schon viel gehört. Das ist doch das Großherzogtum, wo die +vielen Bernsteinbergwerke sind?“ +</p> + +<p> +„Richtig,“ sagte ich, „das ist der Landesteil, wo die vielen Hochöfen sind, +in denen der Königsberger Klops geschmolzen wird.“ +</p> + +<p> +„Was? Der Königsberger Klops wird aus Eisen gemacht? Ich habe immer +geglaubt, der wird aus gemahlener Steinkohle hergestellt.“ +</p> + +<p> +„Das ist der gefälschte. Der wird allerdings aus gemahlener Steinkohle +gemacht“, erwiderte ich. „Da haben Sie durchaus recht, aus gemahlener +Steinkohle mit eingedicktem Schwefelteer. Aber der richtige, der echte +Königsberger Klops, der wird in Hochöfen geschmolzen, der ist viel +härter als der härteste Stahl. Damit haben ja unsre Generale die +Torpedos gefüllt, mit denen sie die Panzerschiffe versenkten. Ich habe +selbst an einem solchen Hochofen gearbeitet.“ +</p> + +<p> +„Ihr seid doch schlaue Leute, das muß ich schon sagen“, erwiderte der +Bauer. „Wir haben ja nun den Krieg gewonnen, und das nehmen wir +euch nicht übel. Und der Krieg ist ja jetzt auch vorbei. Warum sollen +wir da noch böse miteinander sein. Dann lassen Sie es sich nur recht gut +gehen in Spanien.“ +</p> + +<p> +Gelegentlich will ich doch einen Deutschen fragen, was eigentlich +Königsberger Klops ist. Jeder, den ich gefragt habe, hat mir immer +etwas andres erzählt, aber freilich keiner war ein Deutscher. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-16"> +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +14 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Gegend wurde ziemlich einsam, alles Gebirgsland. +Klettern und Klettern. Die Bauern wurden +immer geringer und die Hütten immer ärmlicher. +Wasser reichlich und das Essen knapp +und dürftig. Nachts recht hübsch kalt und selten +eine Decke und oft nicht einmal einen Sack. Der +Einmarsch in Sonnenländer ist immer mühselig, +das haben nicht nur einzelne Menschen, sondern +ganze Völker erfahren. „Die Grenze ist jetzt nicht mehr weit“, +war mir am Morgen gesagt worden, als ich den Hirten verließ, in dessen +elender Hütte ich geschlafen hatte, und der sein bißchen Käse, Zwiebeln, +Brot und dünnen Wein mit mir geteilt hatte. +</p> + +<p> +Dann war ich auf einer Straße, die an den Bergen hochklomm und +wieder hinunterging in die Täler, nur um abermals hochzuklimmen und +wieder hinunterzuführen. +</p> + +<p> +Und auf dieser Straße kam ich endlich an ein großes hochgewölbtes +Tor, das sehr altertümlich aussah. Zu beiden Seiten des Tores zog sich +eine Mauer hin, die ebenso graugelb und alt aussah wie das Tor. Es +schien, daß diese Mauer ein großes Gut einschlösse. Die Straße führte +direkt unter dem Torbogen her. +</p> + +<p> +Um auf der Straße weiterzukommen, gab es gar keinen andern Weg, +als durch das Tor zu gehen. Ich hoffte, daß die Straße über den Gutshof +führe, an der gegenüberliegenden Seite ein ähnliches Tor sein werde, +durch das man dann wieder auf die Straße komme. +</p> + +<p> +Ich ging drauf los, ging durch das Tor und wanderte geradeaus weiter, +ohne jemand zu sehen. +</p> + +<p> +Plötzlich aber kommen zwei französische Soldaten mit Gewehr und +aufgepflanztem Bajonett aus irgendeinem Winkel hervor, kommen auf +mich zu und fragen mich nach einem Paß. Hier scheinen also sogar die +Soldaten nach der Seemannskarte zu fragen. +</p> + +<p> +Ich erkläre ihnen, daß ich keinen Paß hätte. Dann sagen sie aber, daß +sie nicht meinen Reisepaß sehen wollten, der kümmere sie nicht, sie +möchten lediglich meinen Paß sehen, der vom französischen Kriegsministerium +in Paris ausgefertigt sei und mir das Recht gebe, hier in den +Festungswerken ohne Begleitung herumzulaufen. +</p> + +<p> +„Das habe ich nicht gewußt, daß dies hier Festungswerke sind“, sage +ich, „ich bin immer auf der Straße geblieben und habe geglaubt, das sei +der Weg zur Grenze.“ +</p> + +<p> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +„Die Straße zur Grenze biegt eine Stunde vorher rechts ab. Da war ein +Schild. Haben Sie das nicht gesehen?“ +</p> + +<p> +„Nein. Das Schild habe ich nicht gesehen.“ +</p> + +<p> +Ich erinnere mich jetzt, daß ich eine Straße rechts abbiegen sah. Ich +erinnere mich aber auch, daß ich eine ganze Anzahl von Straßen in den +letzten Tagen rechts und links abbiegen sah. Aber ich hielt es für besser, +immer in der geraden Richtung fortzugehen, die nach Süden führt. Das +war für mich die Zielrichtung. Ich habe so viele Schilder gesehen. Aber +was gingen mich denn die Schilder alle an? Wenn sie die Namen eines +Ortes nannten, so wußte ich ja nicht, ob der Ort näher zur Grenze lag +oder weiter. Am Ende wäre ich immer im Kreise herumgelaufen und +nie nach Spanien gekommen, wenn ich allen Schildern nachgelaufen +wäre. Eine Karte, auf der ich die Ortsnamen hätte ablesen können, besaß +ich ja nicht. +</p> + +<p> +„Wir müssen Sie zum wachthabenden Offizier bringen.“ Die beiden +Soldaten nahmen mich in ihre Mitte und führten mich ab. +</p> + +<p> +Der wachthabende Offizier war ein noch junger Mann. Er wurde sehr +ernst, als er hörte, was los sei. +</p> + +<p> +Dann sagte er: „Sie müssen erschossen werden. Innerhalb vierundzwanzig +Stunden. Laut Kriegsgrenzgesetz. Artikel –“, hier nannte er +eine Nummer, die mich nicht interessierte. +</p> + +<p> +Als der junge Offizier das sagte, wurde er ganz bleich und konnte kaum +die Worte hervorbringen. Er mußte sie hervorwürgen. +</p> + +<p> +Ich durfte mich setzen, aber die beiden Soldaten mit aufgepflanztem +Bajonett blieben neben mir stehen. Der junge Offizier nahm einen +Bogen Papier her und versuchte zu schreiben. Aber er war zu aufgeregt +und mußte es sein lassen. Endlich nahm er sich aus seinem silbernen +Etui eine Zigarette. Er wollte sie in den Mund stecken, aber sie fiel ihm +herunter, und ich sah, wie seine Hände zitterten. Um es zu verbergen, +nahm er abermals eine Zigarette heraus und brachte sie nun mit einer +ganz steifen langsamen Armbewegung in den Mund. Das Zündholz ging +ihm dreimal aus. Ehe er das vierte anstrich, fragte er mich: „Rauchen +Sie?“ Dann drückte er auf einen Knopf, und es kam eine Ordonnanz, der +er den Befehl gab, zwei Pakete Zigaretten aus der Kantine zu holen, auf +seinen Namen. Ich bekam dann die Zigaretten und durfte rauchen, +während die beiden Soldaten neben mir standen wie Götzenbilder und +sich nicht rührten. +</p> + +<p> +Als sich der Offizier beruhigt hatte, nahm er ein Buch, suchte darin +herum und las einzelne Stellen. Dann nahm er wieder ein andres Buch +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +und las auch in diesem, verschiedene Stellen aufsuchend und sie mit +andern vergleichend. +</p> + +<p> +Es war merkwürdig. Ich, der ich doch das Opfer war, empfand nicht +eine Spur von Aufregung. Als der Offizier mir sagte, daß ich innerhalb +vierundzwanzig Stunden erschossen werden müsse, machte das auf mich +keinen tieferen Eindruck, als ob er gesagt hätte: „Machen Sie, daß Sie +hier herauskommen, aber schleunigst.“ +</p> + +<p> +Es ließ mich kalt wie Pflasterstein. +</p> + +<p> +Im Grunde und ganz ohne Scherz gesprochen, war ich ja schon lange +tot. Ich war nicht geboren, hatte keine Seemannskarte, konnte nie im +Leben einen Paß bekommen, und jeder konnte mit mir machen, was er +wollte, denn ich war ja niemand, war offiziell überhaupt gar nicht auf +der Welt, konnte infolgedessen auch nicht vermißt werden. Wenn mich +jemand erschlug, so war kein Mord verübt worden. Denn ich fehlte +nirgends. Ein Toter kann geschändet, beraubt werden, aber nicht +ermordet. +</p> + +<p> +Das freilich sind konstruierte Einbildungen, die gar nicht möglich, ja +sogar ein Zeichen von Wahnsinn wären, wenn es keinen Bureaukratismus, +keine Grenzen, keine Pässe gäbe. Im Zeitalter des Staates sind +noch ganz andre Dinge möglich und können noch ganz andre Dinge aus +dem Universum ausgewischt werden als ein paar Menschen. Die intimsten, +die ursprünglichsten Gesetze der Natur können ausgewischt und +abgeleugnet werden, wenn der Staat seine innere Macht vergrößern und +vertiefen will auf Kosten des einen, des einzelnen, der das Fundament +des Universums ist. Denn das Universum ist aufgebaut aus Individuen, +nicht aus Herden. Es besteht durch das Gegeneinanderwirken von Individuen. +Und es bricht zusammen, wenn die freie Beweglichkeit der +einzelnen Individuen beschränkt wird. Die Individuen sind die Atome +des Menschengeschlechts. +</p> + +<p> +Vielleicht auch blieb die angekündigte Erschießung darum ohne jeden +Eindruck auf mich, weil ich das schon einmal durchgekostet hatte und +damals mit allen Grauen, die damit verknüpft sind. Aber Wiederholungen +schwächen ab, selbst wenn es sich um wiederholte Todesurteile +handelt. Einmal davongekommen, kommst du immer davon. +</p> + +<p> +Was auch das Motiv meiner schwachen Empfindung gegenüber der angedrohten +Todesstrafe sein mochte, jedenfalls war es mir ganz ausgelaugter +Kaffeesatz. +</p> + +<p> +„Haben Sie Hunger?“ fragte jetzt der Offizier. +</p> + +<p> +„Aber tüchtig, das können Sie mir glauben“, sagte ich. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Der Offizier wurde über und über rot und fing laut an zu lachen. +</p> + +<p> +„Sie haben Nerven!“ sagte er unter Lachen. „Haben Sie geglaubt, ich +scherze?“ +</p> + +<p> +„Womit?“ fragte ich. „Doch nicht etwa mit dem angebotenen Essen? Das +wäre mir gar nicht lieb.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ antwortete der Leutnant, und er wurde ein wenig ernster, „mit +dem Erschießen.“ +</p> + +<p> +„Das habe ich so ernst genommen, wie Sie es meinten. Wortwörtlich. +Wenn das in Ihrem Gesetz steht, dann müssen Sie das auch tun. Aber +Sie haben doch auch gesagt, laut Gesetz innerhalb vierundzwanzig +Stunden. Jetzt ist doch erst eine Viertelstunde um, und Sie denken doch +nicht etwa, daß ich die übrigen dreiundzwanzig und dreiviertel Stunden +hungere, nur des Erschießens wegen. Wenn Sie mich erschießen wollen, +können Sie mir auch etwas Gutes zu essen geben. Das will ich Ihrem +Staat denn doch nicht schenken.“ +</p> + +<p> +„Sie sollen was Gutes zu essen haben. Werde ich anordnen. Sonntagsessen +für Offiziere, Doppelportion.“ +</p> + +<p> +Da will ich doch sehen, was französische Offiziere Sonntags essen. Mich +zu vernehmen oder mich nach meiner Seemannskarte zu fragen, hielt +der Offizier für nicht nötig. Endlich hatte ich einmal einen Menschen +getroffen, der nichts über meine Privatverhältnisse wissen wollte. Nicht +einmal meine Taschen wurden durchsucht. Aber der Leutnant hatte +recht, wenn das Erschießen feststand, so lohnte es nicht die Mühe, Vernehmungen +zu machen und Taschen durchzuwühlen. Das Resultat war +ja immer dasselbe. +</p> + +<p> +Es dauerte eine gute Weile, ehe ich mein Essen bekam. Dann wurde ich +in einen andern Raum geführt, wo ein Tisch stand, der mit einer Tischdecke +bedeckt war, auf der die Gerätschaften in verlockender Weise aufgestellt +waren, die mir das Essen erleichtern und verschönern sollten. +Es war nur für eine Person gedeckt, aber Teller, Gläser, Messer, Gabeln +und Löffel waren in einer solchen Menge vorhanden, daß sie gut für +sechs Personen reichen konnten. +</p> + +<p> +Meine Wachtposten waren inzwischen abgelöst worden; ich hatte zwei +neue bekommen. Einer stand jetzt an der Tür und einer hinter meinem +Stuhl. Beide mit aufgepflanztem Bajonett, Gewehr bei Fuß. Draußen +vor den Fenstern sah ich aber auch noch zwei auf und ab patrouillieren +mit geschultertem Gewehr. Ehrenwachen. +</p> + +<p> +Sie brauchten keine Angst zu haben, sie hätten ruhig Karten spielen +gehen können in die Kantine; denn solange ich nicht das Sonntagsessen +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +für Offiziere, Doppelportion, innerhalb meines Leders hatte, +wäre ich nicht einen Schritt fortgegangen. +</p> + +<p> +Nach den vielen verschiedenen Messern, Gabeln, Löffelchen, großen +Tellern, kleinen Tellern, Glastellerchen und großen und kleinen Wein- +und Likörgläsern zu urteilen, die vor mir standen, mußte ich ja etwas +erwarten, wovon mich auch eine dreifache Todesstrafe nicht hätte verscheuchen +können. Verglichen mit jenem Napf, in dem ich meine belgische +Henkersmahlzeit vorgesetzt bekommen hatte, stand mir hier kein +Kartoffelsalat mit Leberwurst bevor. Ich hatte nur eine einzige Sorge, +und das war die, ob ich auch alles werde essen können, ob ich nicht etwa +werde irgend etwas liegen lassen müssen, das mir die letzte Stunde +meines Daseins mit den Folterqualen bitterer Reue anfüllen könnte, +weil ich unausgesetzt daran denken müßte, wie es nur möglich war, daß +ich gerade das liegen ließ. +</p> + +<p> +Endlich wurde es ein Uhr und endlich auch einundeinhalb Uhr. Und +da tat sich die Tür auf und das Fest begann. +</p> + +<p> +Zum ersten Male in meinem Leben lernte ich erfahren, was für Barbaren +wir sind, und was für kultivierte Leute die Franzosen sind, und ich +lernte ferner erfahren, daß die Nahrungsmittel des Menschen nicht gekocht, +gebraten, geschmort, geröstet oder gebacken werden dürfen, sondern +daß sie zubereitet werden müssen, und daß dieses Zubereiten eine +Kunst ist, ach nein, keine Kunst, es ist eine Gabe, die einem Begnadeten +und Auserlesenen in die Wiege gelegt wird, wodurch er Genie wird. +</p> + +<p> +Auf der Tuscaloosa war das Essen gut, vorzüglich. Aber nach dem Essen +konnte ich immer sagen, was es gegeben hatte. Das konnte ich hier nicht. +Was es hier gab, und wie es schmeckte, das war wie ein Gedicht, bei dem +man träumt, und bei dem man in Seligkeiten versinkt, und wenn man +später gefragt wird: „Wovon handelte es denn?“ man zu seinem größten +Erstaunen bekennen muß, daß man darauf nicht geachtet habe. +</p> + +<p> +Der Künstler, der dieses Gedicht geschaffen hatte, war fürwahr ein +großer Künstler. Er ließ kein Gefühl der Reue übriggebliebener Verszeilen +wegen in mir zurück. Jedes Gericht war so sorgfältig abgewogen +und abgeschätzt in allen seinen Nähr- und Genußwerten, daß man kein +Gabelspitzchen voll übrigließ, den nächsten Gang mit erhöhtem Genuß +erwartete, und wenn er kam, mit Fanfaren zu begrüßen gedachte. Dieses +Fest dauerte etwa einundeineviertel Stunde oder mehr, es hätte dauern +können vier Stunden lang, und ich hätte nichts übriggelassen. Immer +wieder kam noch ein solcher Bissen, dann noch ein solcher Happen, dann +wieder eine solche kandierte Frucht, dann wieder eine Creme, und nach +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +jedem Gang wollte man einen weiteren sehen. Als aber dann endlich +alles vorüber war – Schönes geht ja viel schneller zu Ende als Trübes – +als auch alle die Liköre, Weine, Weinchen und Tröpfchen den Weg aller +guten Tropfen gegangen waren, als endlich der Kaffee, süß wie ein +Mädel am ersten Abend, heiß wie sie am siebenten und schwarz wie +die Flüche der Mutter, wenn sie es erfährt, vorüber war, fühlte ich mich +aufgefüllt wie ein Sack, aber ich fühlte mich wohlig und paradiesisch +satt mit einer leisen, zart angedeuteten Sehnsucht auf das Abendessen. +Meine Herren! Das war ein Essen, das nenne ich Kunstwerk. Dafür lasse +ich mich jeden Tag zweimal mit Freuden erschießen. +</p> + +<p> +Ich rauchte eine Importe, aus der ich alle Düfte und Sonnentänze Westindiens +sog. Dann legte ich mich auf das Feldbett, das in dem Raume +stand, und sah den blauen Wolken nach. +</p> + +<p> +Oh, was ist das Leben schön! Wunderschön! So schön, daß man sich mit +einem dankbaren Lächeln auf den Lippen erschießen läßt, ohne durch +Murren oder Wimmern die Harmonie des Lebens zu stören. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-17"> +15 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">inige</span> Stunden waren vergangen, als der Leutnant +hereinkam. Ich stand auf, aber er sagte mir, daß +ich nur ruhig liegen bleiben möge, er wolle mir nur +mitteilen, daß der Kommandant nicht erst morgen +abend zurückkommen werde, wie er angesagt hätte, +sondern schon morgen früh, also vor Ablauf meiner +vierundzwanzig Stunden. Er habe dadurch die Möglichkeit, +die Angelegenheit dem Kommandeur selbst +zu übertragen. – „Freilich“, fügte er hinzu, „an Ihrem Schicksal ändert +das nichts. Das Kriegsgesetz ist hier sehr eindeutig und läßt keine +Lücke offen.“ +</p> + +<p> +„Der Krieg ist doch aber vorbei, Mr. Leutnant“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Gewiß. Aber wir befinden uns noch im Kriegszustande, und wahrscheinlich +solange, bis alle Verträge endgültig geregelt sind. Unsre +Grenzforts haben ihre Reglements noch nicht um einen Punkt geändert, +sie sind zur Stunde genau noch so, wie sie während der Dauer +des Krieges waren. Die spanische Grenze wird wegen der bedrohlichen +Verhältnisse in unsrer nordafrikanischen Kolonie augenblicklich vom +Kriegsministerium als größere Gefahrzone bezeichnet als unsre östliche +Grenze.“ +</p> + +<p> +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +Mich interessierte das sehr wenig, was er mir über Gefahrzonen und +Reglements erzählte. Was kümmerte mich denn die französische Politik. +Mich interessierte nach meinem gesunden Mittagsschlaf ganz etwas +andres, und das wollte ich ihn auch gleich wissen lassen. +</p> + +<p> +Er wollte gehen, sah mich aber noch an und fragte dann lächelnd: „Ich +hoffe, Sie fühlen sich den Umständen angemessen entsprechend wohl. +Ist Ihnen das Essen bekommen?“ +</p> + +<p> +„Ja, danke.“ +</p> + +<p> +Nein, ich konnte es nicht ungesagt lassen: +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich auch wieder Abendessen?“ +</p> + +<p> +„Natürlich. Glauben Sie denn, wir lassen Sie verhungern. Selbst wenn +Sie auch ein Boche sind, verhungern lassen wir Sie doch nicht. In +wenigen Minuten bekommen Sie Ihren Kaffee.“ +</p> + +<p> +Ich druckste ein wenig, man möchte doch gegen seinen Gastgeber nicht +unhöflich sein. Aber schiet, was braucht ein zum Tode Verurteilter noch +länger höflich sein. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, Herr Leutnant, bekomme ich wieder Offiziersessen. +Doppelportion?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich. Was dachten Sie denn? Das ist in der Verordnung. +Es ist Ihr letzter Tag. Wir werden Sie doch nicht mit einem schlechten +Andenken an unser Fort zu – zum – also hinwegschicken.“ +</p> + +<p> +„Seien Sie unbesorgt, Herr Leutnant, ich behalte das Fort in gutem Andenken. +Sie können mich ruhig erschießen. Nur nicht gerade in dem +Augenblick, wo das Offiziersessen, Doppelportion, auf dem Tisch steht. +Das wäre eine barbarische Handlung, die ich Ihnen nie vergessen würde, +und die ich oben auch gleich bei meiner Ankunft melden müßte.“ +</p> + +<p> +Eine Weile sah mich der Offizier an, als hätte er mich nicht richtig verstanden. +Es war ja auch nicht so leicht, sich aus meinen Brocken klarzumachen, +was ich meinte. Aber plötzlich begriff er und verstand er. Und +da lachte er so, daß er zum Tisch kommen mußte, um sich festzuhalten. +Die beiden Soldaten hatten wohl etwas verstanden, jedoch den wahren +Sinn nicht begriffen. Sie standen ganz starr da wie Puppen. Aber von +dem Lachen ihres Leutnants wurden sie schließlich doch angesteckt und +lachten mit, ohne zu wissen, worum es ging, und wer die Kosten dieses +Lachens trug. – +</p> + +<p> +Der Kommandeur war sehr früh zurückgekommen, und um sieben Uhr +morgens wurde ich ihm vorgeführt. +</p> + +<p> +„Haben Sie denn die Schilder nicht gesehen?“ +</p> + +<p> +„Was für Schilder?“ +</p> + +<p> +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +„Nun, jene Schilder, auf denen geschrieben steht, daß dies hier militärisches +Gebiet ist, und daß, wer innerhalb dieses Gebietes angetroffen +wird, nach Kriegsrecht behandelt wird. Das bedeutet, daß Sie ohne +Gerichtsverhandlung zum Tode verurteilt sind und erschossen werden.“ +</p> + +<p> +„Das weißt ich bereits.“ +</p> + +<p> +„Also die Schilder haben Sie nicht gesehen?“ +</p> + +<p> +„Nein. Und wenn ich sie gesehen habe, so habe ich nicht darauf geachtet. +Ich kann auch gar nicht lesen, was darauf steht. Lesen kann ich es zwar, +aber nicht verstehen.“ +</p> + +<p> +„Sie sind Holländer, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich bin ein Boche.“ +</p> + +<p> +Wenn ich gesagt hätte, ich bin der Teufel und komme soeben auf direktem +Wege aus der Hölle, um den Kommandanten persönlich abzuholen, +er hätte kein erstaunteres Gesicht machen können. +</p> + +<p> +„Ich habe geglaubt, Sie seien Holländer. Sie sind Offizier in der deutschen +Armee oder sind es wenigstens gewesen, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich war nie Soldat in der deutschen Armee.“ +</p> + +<p> +„Warum nicht?“ +</p> + +<p> +„Ich bin ein C. O., ein Mann, der die ganze Zeit, während der Krieg +dauerte, im Gefängnis saß.“ +</p> + +<p> +„Wegen Spionage?“ +</p> + +<p> +„Nein, weil die Deutschen glaubten, ich würde den Krieg nicht erlauben. +Und da hatten sie solche Angst, daß sie mich und noch ein halbes +Dutzend Leute, die den Krieg auch nicht erlauben wollten, ins Gefängnis +steckten.“ +</p> + +<p> +„Da hätten Sie und das halbe Dutzend Ihrer Mitgefangenen den Krieg +also verhindern können?“ +</p> + +<p> +„Wenigstens die Boches glaubten das von mir. Vorher hatte ich nicht +gewußt, daß ich ein so starker Mann bin. Aber dann erfuhr ich es, weil +sie mich ja sonst nicht hätten einsperren brauchen.“ +</p> + +<p> +„In welchem Festungsgefängnis haben Sie denn da gesessen?“ +</p> + +<p> +„In – in – in Südfalen.“ +</p> + +<p> +„In welcher Stadt?“ +</p> + +<p> +„In Deutschenburg.“ +</p> + +<p> +„Den Ort habe ich nie gehört.“ +</p> + +<p> +„Ja, da wird nur wenig davon gesprochen. Das ist eine ganz geheime +Festung, die sogar die Boches selber nicht kennen.“ +</p> + +<p> +Der Kommandant wandte sich nun an den Leutnant: „Wußten Sie, daß +der Mann ein Deutscher ist?“ +</p> + +<p> +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +„Jawohl, er hat es mir sofort gesagt.“ +</p> + +<p> +„Sofort gesagt, ohne erst Ausflüchte zu machen?“ +</p> + +<p> +„Jawohl.“ +</p> + +<p> +„Hat er einen photographischen Apparat gehabt, Karten, Bilder, Zeichnungen, +Pläne oder etwas derart?“ +</p> + +<p> +„Nein, offen nicht. Ich habe ihn nicht durchsuchen lassen, er war immer +unter Aufsicht und konnte nichts verbergen.“ +</p> + +<p> +„Das war richtig. Wir werden sehen, was er hat.“ +</p> + +<p> +Nun kamen zwei Korporale, und die durchsuchten mich. Aber sie hatten +kein Glück. Alles, was sie fanden, waren ein paar Franken, ein zerrissenes +Taschentuch, ein kleines Kämmchen und ein Stück Seife. Die +Seife trug ich bei mir als Legitimation, daß ich einer zivilisierten Rasse +angehöre, denn an meinem Äußern hätte man das nicht immer erkennen +können. Und eine Legitimation mußte ich ja schließlich doch wohl +haben. +</p> + +<p> +„Schneiden Sie die Seife auf,“ wurde dem Korporal angeordnet. Aber +auch inwendig war nichts andres als Seife. Der Kommandant hatte +offenbar geglaubt, daß innen Schokolade wäre. +</p> + +<p> +Dann mußte ich Stiefel und Strümpfe ausziehen, und die Sohlen meiner +Stiefel wurden durchsucht. +</p> + +<p> +Aber wenn schon alle die vielen Polizisten das nicht gefunden hatten, +was die Leute alle gern von mir haben wollten, und die hatten doch +auch gut verstanden, wie durchsucht werden muß, so fanden es die +Korporale noch viel weniger. Wenn die Leute doch nur sagen wollten, +was sie immer suchen, dann würde ich ihnen ja gern sagen, ob ich es +habe oder nicht. Dann könnten sie sich die Mühe sparen. Freilich dann +hätten sie wieder keine Arbeit. +</p> + +<p> +Es muß ein sehr wertvolles Ding sein, was die in allen Ländern in +meinen Taschen suchen. Vielleicht die Pläne einer verschütteten Goldmine +oder eines versandeten Diamantenfeldes. Der Kommandant hätte +sich beinahe verraten, denn er sprach schon von Plänen; aber rasch fiel +ihm ein, daß er das große tiefe Geheimnis, das nur Cops und Soldaten +wissen dürfen, nicht verraten darf. +</p> + +<p> +„Ich verstehe nur eins nicht,“ wandte sich der Kommandant wieder an +den Leutnant, „wie es möglich war, daß er die Posten an den Außenwerken +passieren konnte, ohne gesehen zu werden und ohne aufgehalten +zu werden?“ +</p> + +<p> +„Um diese Stunde ist nur wenig Verkehr auf den zuführenden Straßen. +Ich hatte, dem Befehl des Herrn Kommandanten Folge leistend, für die +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +Zeit Exerzieren in einem gegenüberliegenden Werk angeordnet, und es +blieben hier nur Patrouillen zurück, die an den Straßen die Zugänge zu +beobachten haben. Er ist dann sicher zwischen zwei Patrouillen durchgeschlüpft. +Wenn ich mir erlauben darf, möchte ich aus dieser Erfahrung +heraus dem Herrn Kommandanten den Vorschlag unterbreiten, +die Übungen nur in drittel Formationsstärke abzuhalten, um die +Wachen nicht zu schwächen.“ +</p> + +<p> +„Wir hatten geglaubt, es sei keine Annäherung möglich. Ich hatte mich +an die gegebenen Vorschriften zu halten, deren Lücken ich, wie Sie sich +wohl erinnern, rapportiert habe. Ich habe nun eine starke Stellung, +unsern Entwurf durchzudrücken. Das ist etwas wert. Meinen Sie nicht?“ +</p> + +<p class="ibr"> +Was mich das eigentlich anging, welchen Entwurf sie für besser hielten. +Warum sie nur das alles in meiner Gegenwart ausmachten? Aber warum +sollten sie auch ein Blatt vor den Mund nehmen, vor einem Toten? +</p> + +<p> +„Wo kommen Sie denn her?“ fragte mich nun der Kommandant. +</p> + +<p> +„Von Limoges.“ +</p> + +<p> +„Wo sind Sie denn über die Grenze gegangen?“ +</p> + +<p> +„In Straßburg.“ +</p> + +<p> +„In Straßburg? Das liegt doch gar nicht an der Grenze.“ +</p> + +<p> +„Ich meine da, wo die amerikanischen Truppen liegen.“ +</p> + +<p> +„Sie meinen im Moselgebiet? Dann sind Sie also im Saargebiet herübergekommen?“ +</p> + +<p> +„Ja, das wollte ich sagen. Ich habe Straßburg mit Saarsburg verwechselt.“ +</p> + +<p> +„Was haben Sie denn hier die ganze Zeit in Frankreich gemacht? Herumgebettelt?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich habe gearbeitet. Bei Bauern. Und wenn ich wieder ein wenig +Geld hatte, habe ich mir eine Fahrkarte gekauft und bin wieder ein +Stück weitergefahren, bis ich wieder bei einem Bauern gearbeitet habe +und wieder eine Fahrkarte kaufen konnte.“ +</p> + +<p> +„Wo wollten Sie denn jetzt hin?“ +</p> + +<p> +„Nach Spanien.“ +</p> + +<p> +„Was wollen Sie denn in Spanien?“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie, Herr Kommandeur, nun kommt bald der Winter, und ich +habe kein Feuerungsmaterial angespart. Da habe ich denn gedacht, ich +gehe besser beizeiten nach Spanien, da ist es auch im Winter schön warm, +und da braucht man kein Feuerungsmaterial, da kann man sich ruhig +in die Sonne setzen und den ganzen Tag Apfelsinen und Weintrauben +essen. Die wachsen da ja wild im Chausseegraben, man braucht sie nur +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +abzupflücken, und die Leute sind froh, wenn man sie abpflückt, weil +das für die Spanier nur Unkraut ist, das sie nicht haben wollen.“ +</p> + +<p> +„Also nach Spanien wollen Sie?“ +</p> + +<p> +„Wollte ich. Jetzt geht es ja nicht mehr.“ +</p> + +<p> +„Warum?“ +</p> + +<p> +„Weil ich doch erschossen werde.“ +</p> + +<p> +„Wenn ich Sie jetzt nicht erschießen lasse und Ihnen sage, Sie gehen auf +dem schnellsten Wege zurück nach Deutschland, und Sie können frei +gehen unter der Bedingung, daß Sie sofort nach Deutschland zurückkehren, +würden Sie mir das versprechen?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Nein?“ Er sah den Leutnant merkwürdig an. +</p> + +<p> +„Lieber erschießen. Nach Deutschland gehe ich nicht. Ich bezahle keine +Schulden mit. Aber davon abgesehen. Ich habe mir vorgenommen, daß +ich nach Spanien gehen will, und ich gehe nach Spanien und nirgendwo +anders hin. Wenn ich wohin gehen will, gehe ich da hin. Wenn ich erschossen +werde, kann ich nicht hingehen. Spanien oder den Tod. Nun +können Sie mit mir machen, was Sie wollen.“ +</p> + +<p> +Nun lachte der Kommandant, und auch der Leutnant lachte. Und der +Kommandant sagte lachend: „Lieber Junge, das hat Sie gerettet. Ich +will Ihnen nicht sagen, warum, damit es nicht mißbraucht wird. Aber +Sie haben mich davon überzeugt, daß ich Sie frei gehen lassen darf, +ohne daß ich meine Pflicht verletze. Was sagen Sie, Leutnant?“ +</p> + +<p> +„Ich halte die Auffassung des Herrn Kommandanten für die allein richtige, +und ich finde nichts, was mein Gewissen oder meine Ehre belasten +könnte.“ +</p> + +<p> +Der Kommandant sagte nun: „Sie werden jetzt sofort unter Bedeckung +zur Grenze gebracht und der spanischen Grenzwache übergeben. Ich +brauche Sie wohl nicht noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu +machen, daß, wenn Sie je wieder hier in der Nähe, auch wenn es nicht +auf rein militärischem Gebiete ist, gesehen werden sollten, daß dann +keine Frage mehr besteht, in welcher Form sich Ihr Schicksal innerhalb +der nächsten zwei Stunden nach dem Ergreifen gestaltet. Haben Sie +genau verstanden, was ich damit meine?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, Herr Kommandant.“ +</p> + +<p> +„Gut, das ist alles. Sie gehen sofort.“ +</p> + +<p> +Ich blieb aber stehen und trat von einem Fuß auf den andern. +</p> + +<p> +„Noch was?“ fragte der Kommandant. +</p> + +<p> +„Darf ich eine Frage an den Herrn Leutnant richten?“ +</p> + +<p> +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +Nicht nur der Kommandant schien zu erstarren, sondern erst recht der +Leutnant. Der Kommandant warf einen Blick auf den Leutnant, als ob +er ihn schon vor dem Kriegsgericht sähe. Er vermutete richtig: der +Leutnant war in der Tat im Bunde mit mir. +</p> + +<p> +„Bitte, richten Sie Ihre Frage an den Herrn Leutnant.“ +</p> + +<p> +„Verzeihen der Herr Leutnant, ich habe noch nicht gefrühstückt.“ +</p> + +<p> +Der Kommandant und der Leutnant platzten in ein schallendes Gelächter +aus, und der Kommandant brüllte rüber zum Leutnant: „Nun +ist wohl kein Zweifel mehr, daß der Mann unverdächtig ist.“ +</p> + +<p> +„Der Zweifel war mir gestern schon geschwunden,“ sagte der Leutnant, +„als ich ihn fragte, ob er Hunger habe.“ +</p> + +<p> +„Gut, Sie sollen auch ein Frühstück haben“, sagte der Kommandant noch +immer lachend. +</p> + +<p> +Aber ich hatte noch etwas auf dem Herzen. +</p> + +<p> +„Herr Leutnant, da es doch schon mein letztes Essen, mein Abschiedsessen +ist, darf ich um Offiziersfrühstück, Doppelportion, bitten? Ich +möchte doch das Fort so gern in einem recht guten Andenken behalten.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Der Kommandant und der Leutnant brüllten vor Lachen, daß das ganze +Fort zu erzittern schien. +</p> + +<p> +Und unter seinem bärenhaften Lachen schrie der Kommandant die +Worte hervor, die er nur mühselig in Reihe halten konnte, weil sie +immer wieder von seinem schreienden, brüllenden Lachen abgehackt +wurde: „Das ist der echte verhungerte Boche, wenn er schon am Ersaufen +ist, wenn ihm schon der Strick um den Hals gelegt ist, will er +erst noch essen und essen und nochmal essen. Diese verfressene Teufelsbrut +kriegen wir nie unter.“ +</p> + +<p> +Ich hoffe, daß die Boches für diese gute Meinung, die ich zwei französischen +Offizieren über sie eingeflößt habe, mir ein anständiges Denkmal +errichten werden. Nur nicht in der Siegesallee, dann lieber nicht. +Da würde ich den schlechten Geschmack im Munde nie los, und unzulängliche +Revolutionen würden mir als Gespenster erscheinen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-18"> +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +16 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_z.jpg" alt="Z"><span class="hidden">Z</span></span><span class="postfirstchar">wei</span> Mann mit aufgepflanztem Seitengewehr begleiteten +mich. So wanderte ich in das sonnige Spanien +ein. Mit allen militärischen Ehren. Die Soldaten brachten +mich zur Grenzwache, und dort wurde ich den +spanischen Grenzbeamten übergeben. +</p> + +<p> +„Papiere hat er keine“, sagte der mich begleitende +Korporal. – „Es aleman?“ fragte der Spanier. +</p> + +<p> +„Si, Senjor,“ sagte ich. „Seien Sie willkommen!“ antwortete +darauf der Spanier, und zu dem Korporal sagte er, es sei gut, +er würde mich hierbehalten. Der Korporal sah nach seiner Uhr und +schrieb dann etwas auf einen Rapportzettel. Dann machten die beiden +Soldaten kehrt und zogen ab. – „Good-bye, France!“ +</p> + +<p> +Die Grenze Frankreichs entschwand meinen Blicken. +</p> + +<p> +Der spanische Beamte schleifte mich nun gleich in die Wachtstube, wo +ich von allen Beamten sofort umringt wurde, die mir alle die Hand +schüttelten und mich umarmten. Einer wollte mich sogar auf die Backen +küssen. „Mach Krieg mit dem Amerikaner, und du findest keinen +bessern Freund auf der ganzen Erde als den Spanier!“ Hätten sie gewußt, +wer ich bin, daß ich ihnen Kuba und die Philippinen abgenommen +und manches andre zugefügt habe, würden sie mich zwar nicht erschlagen, +und sie würden mich auch nicht zurückgeschickt haben in jenes +Fleckchen, wo ich mich nie wieder sehen lassen durfte, aber sie wären +kühl gewesen wie nasse Jacken und gleichgültig wie altes Bettstroh. +</p> + +<p> +Erst kriegte ich einmal Wein eingeschenkt, dann gab es Eier und feinen +Käse. Dann gab es zu rauchen und wieder Wein zu trinken und wieder +Eier und feinen Käse, und dann wurde mir gesagt, nun gäbe es bald +Mittagessen. Die Beamten, die draußen im Dienst waren, kamen nach +und nach herein. Und nun ging keiner mehr hinaus. Ganze Schmugglerzüge +hätten jetzt kommen können, das wäre ihnen ganz gleichgültig +gewesen. Hier war ein Deutscher, und dem hatte man zu zeigen, was +man von Deutschland und den Deutschen dachte. Und um das auch ganz +genau zu zeigen, wurde ihm zu Ehren aller Dienst eingestellt. +</p> + +<p> +Äußerlich betrachtet, war ich kein glorreiches Beispiel des so sauberen +und adretten deutschen Landes und seiner so frischgewaschenen und +adretten Bewohner. Seit meine Tuscaloosa abgesegelt war, hatte ich +weder meinen Anzug, noch meine Stiefel, noch meinen Hut gewechselt, +und meine Wäsche sah so aus, wie sie eben aussehen kann, wenn man +sie an Bächen und Flüssen, an denen man vorüberkommt, mit mehr oder +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +weniger Seife mehr oder weniger sorgfältig wäscht, dann auf einen +Strauch hängt, selbst ein Bad nimmt und endlich so lange wartet, bis +die Wäsche wieder trocken ist, oder bis man sie noch naß anziehen muß, +weil es zu regnen anfängt. +</p> + +<p> +Mein Aussehen schien aber der beste Beweis für sie zu sein, daß ich +direkt ohne Aufenthalt von Deutschland kam. So hatten sie sich vorgestellt, +wie ein Deutscher, der den Krieg verloren hat, den die Amerikaner +bis aufs Hemd ausgeplündert und die Engländer ausgehungert +haben, aussehen müsse. Und meine Erscheinung deckte sich mit ihren +Vorstellungen so vollkommen, daß, wenn ich gesagt hätte, ich bin Amerikaner, +sie mich für einen unverschämten Lügner angesehen hätten, der +sie zum Narren halten wolle. +</p> + +<p> +Daß jemand, der direkt ohne Aufenthalt aus Deutschland kommt, einen +entsetzlichen Hunger haben muß, der sich nicht innerhalb fünf Jahre +stillen läßt, war ihnen klar. Beim Mittagessen bekam ich so viel aufgehäuft, +daß ich die fünf Jahre Hungerns ohne Mühe einholen konnte. +</p> + +<p> +Dann brachte einer ein Hemd, einer Stiefel, einer einen Hut, einer ein +halbes Dutzend Strümpfe, einer Taschentücher, einer Kragen, einer +seidene Schlipse, einer eine Hose, einer eine Jacke, und so ging das in +einem <a id="corr-9"></a>fort. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt +besessen hatte, fortwerfen. +</p> + +<p> +Nachmittags wurden Karten gespielt. Diese Karten kannte ich nicht, +aber sie lehrten es mich, und ich spielte bald so gut, daß ich ihnen ein +hübsches Sümmchen abgewann, was sie sehr erfreute und sie veranlaßte, +immer weiterzuspielen. +</p> + +<p> +Durch diese Station war noch nie ein Deutscher gekommen, und deshalb +wurde ich als der Vertreter, als der erste echte Vertreter jenes hier so +sehr beliebten Volkes entsprechend gefeiert. +</p> + +<p> +O sonniges Spanien! Das erste Land, das ich traf, wo man nicht nach +meiner Seemannskarte fragte, wo man nicht meinen Namen, mein Alter, +meine Körperlänge, meine Fingerabdrücke wissen wollte. Wo man +nicht meine Taschen durchsuchte, wo man mich nicht bei Nacht zu einer +Grenze schleppte und mich hinausjagte wie einen ausgedienten Hund, +wo man nicht wissen wollte, wieviel Geld ich habe, und wovon ich die +letzten Monate gelebt hätte. +</p> + +<p> +Nein, sie steckten mir die Taschen noch voll, damit endlich einmal jemand +in meinen Taschen etwas finden möge. Den ersten Tag war ich +in der Wache, die erste Nacht mußte ich im Hause des einen Beamten +schlafen, den darauffolgenden Tag wurde ich in seinem Hause verpflegt. +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +Am Abend wurde ich von einem andern abgeholt. Und nie wollte mich +einer herausgeben, bei jedem sollte ich eine Woche bleiben. Das gab +aber der, der jetzt an der Reihe war, nicht zu. Und als die Reihe herum +war und wieder von vorn anfangen sollte, kamen die Bewohner des +ganzen Grenzörtchens der Reihe nach an und erhoben Anspruch auf +mich, und ich hatte jeden Tag bei einem andern Bürger zuzubringen. +Die Konkurrenz, daß ich von jedem fortgehen sollte mit dem Gefühl, +er habe mich bei weitem besser bewirtet als der Nachbar, zwang mich, +eines Nachts die Flucht zu ergreifen. Ich bin fest davon überzeugt, +die Leute alle behaupten heute, eine solche Undankbarkeit hätten sie +nicht von mir erwartet. Aber der Tod durch Erschießen oder Erhängen +war ja ein Lustspiel gegenüber dem qualvollen Tode, der mich hier erwartete, +und dem ich durch nichts andres als durch eine nächtliche Flucht +entgehen konnte. Durch solche Mißverständnisse werden Menschen verdorben. +Ich lebe in ihrer Erinnerung als jemand, der sicher ein entlaufener +Zuchthaussträfling gewesen sein müsse, weil er sich so heimlich +zur Nachtzeit aus dem Staube machte. Es ist durchaus möglich, wenn +wieder ein fremder Mann dorthin kommt, diesmal vielleicht ein echter +Deutscher, daß ihm kaum eine warme Suppe vorgesetzt wird, oder wenn +sie ihm gegeben wird, dann mit hochgezogenen Augenbrauen und mit +einer Miene, die deutlich sagt: Verhungern lassen wir keinen, und wenn +es der Satan selber wäre. Aus Liebe kann nicht nur Haß werden, sondern, +was viel schlimmer ist, aus Liebe kann Sklaverei werden. Hier +war sie Sklaverei mit Totschlag. Nicht einmal auf den Hof konnte ich +gehen, ohne daß mir sofort ein Familienmitglied nachgelaufen kam mit +der besorgten Frage, ob ich auch weiches Papier hätte. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Das kann kein Mensch ertragen oder nur ein Paralytiker. Hätte ich eine +Andeutung gemacht, daß ich abreisen wolle, die Leute hätten mich in +Ketten gelegt. Ich denke, daß ein Vernünftiger unter jenen Leuten lebt, +der meine Untat in einem milderen Lichte sehen wird. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-19"> +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +17 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">obald</span> es mir in Sevilla zu langweilig wurde, zog +ich ab nach Cadiz, und sobald mir in Cadiz die Luft +nicht mehr bekam, wanderte ich wieder nach Sevilla, +und wenn mir in Sevilla die Nächte wieder nicht gefielen, +machte ich mich auf nach Cadiz. Dabei verging +der Winter, und meine Sehnsucht nach New Orleans +konnte ich glatt für einen Quarter verkaufen, ohne +daß ich Gewissensbisse empfunden hätte. Warum +muß es denn gerade New Orleans sein? +</p> + +<p> +Ich hatte auch nicht ein winziges Papier mehr in der Tasche als an jenem +weit zurückliegenden Tage, an dem ich in dieses Land eingezogen kam. +Und nie interessierte sich jemals ein Cop um meine Papiere oder um +mein Woher, Wohin oder Wozu. Die hatten andre Sorgen. Paßlose arme +Teufel waren ihre geringste Sorge. Wenn ich kein Schlafgeld für die Herberge +hatte und mich in irgendeine Ecke legte, so lag ich am andern +Morgen genau noch so ruhig und unschuldig da, wie ich mich am Abend +hingelegt hatte. Und hundertmal war der Cop vorbeigewandert, und +hundertmal hatte er gut aufgepaßt, daß mich auch niemand etwa aus +Versehen stehlen möchte. Ich wage gar nicht daran zu denken, was aus +andern Ländern wohl werden würde, wenn ein armer Bursche oder gar +eine ganze Familie in einem Torweg schliefe oder auf einer Bank die +Nacht verbrächte, ohne verhaftet zu werden und wegen Herumtreibens +und Obdachlosigkeit im Gefängnis oder im Arbeitshaus zu verschwinden. +Deutschland würde sicher sofort von einem Erdbeben und England +von einer Sintflut vernichtet werden, wenn der Mann, der es wagt, obdachlos +zu sein, nicht verhaftet und ordentlich verknackst wird. Denn +es gibt eine ganze Anzahl von Ländern, wo obdachlos und mittellos zu +sein ein Verbrechen ist; und es sind zufällig dieselben Länder, wo ein +tüchtiger Raubzug, bei dem man nicht erwischt wird, kein Verbrechen +ist, sondern die erste Stufe, um ein geachteter Bürger zu werden. +</p> + +<p> +Es kam vor, daß ich auf einer Bank lag und ein Cop mich aufweckte, +um mir zu sagen, daß es gleich regnen würde, und daß ich besser täte, +unter jenen Torweg da drüben zu gehen oder in den Schuppen am +andern Ende der Straße, wo Stroh sei, wo ich besser schlafen könnte, +und wo es nicht hineinregne. +</p> + +<p> +Wenn ich hungrig war, ging ich in einen Bäckerladen und sagte dem +Manne oder der Frau, daß ich kein Geld hätte, dafür aber um so mehr +Hunger, und ich bekam Brot. Niemand verekelte mir das Dasein mit +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +der langweiligen Frage: „Warum arbeiten Sie nicht, Sie sind doch ein +starker gesunder Bursche!“ +</p> + +<p> +Das hätten sie als grobe Unhöflichkeit angesehen. Denn wenn ich nicht +arbeitete, so mußte ich wohl meine guten Gründe dafür haben; und +diese Gründe aus mir herauszuforschen, hielten sie für unanständig. +</p> + +<p> +Was gingen da für Schiffe raus! Manchen Tag gleich ein halbes Dutzend. +Sicher war da Arbeit auf dem einen oder dem andern. Aber ich sorgte +mich nicht darum. Ich lief der Arbeit nicht nach. Warum auch? Der +spanische Frühling war da. +</p> + +<p> +Um Arbeit sollte ich mich sorgen? Ich war auf der Welt, ich lebte, ich war +lebendig, ich atmete die Luft. Das Leben war so wundervoll schön, die +Sonne war so golden und so warm, das Land so märchenhaft lieblich, +alle Menschen so freundlich, auch wenn sie in Lumpen gingen, alle Leute +so höflich, und über alles das war so viel echte Freiheit. Kein Wunder, +das Land hatte ja an dem Kriege für die Freiheit und die Demokratie +der Welt nicht teilgenommen. Deshalb hatte der Krieg hier die Freiheit +nicht gewonnen und die Menschen hatten sie nicht verloren. +</p> + +<p> +Es ist so unerhört lächerlich, daß alle die Länder, die von sich behaupten, +sie seien die freisten Länder, in Wahrheit ihren Bewohnern die +geringste Freiheit gewähren und sie das ganze Leben hindurch unter +Vormundschaft halten. Verdächtig ist jedes Land, wo so viel von Freiheit +geredet wird, die angeblich innerhalb seiner Grenzen zu finden +sei. Und wenn ich bei einer Einfahrt in den Hafen eines großen Landes +eine Riesenstatue der Freiheit sehe, so braucht mir niemand zu erzählen, +was hinter der Statue los ist. Wo man so laut schreien muß: Wir sind +ein Volk von freien Menschen! da will man nur die Tatsache verdecken, +daß die Freiheit vor die Hunde gegangen ist, oder daß sie von Hunderttausenden +von Gesetzen, Verordnungen, Verfügungen, Anweisungen, +Reglungen und Polizeiknüppeln so abgenagt worden ist, daß nur noch +das Geschrei, das Fanfarengeschmetter und die Freiheitsgöttinnen übriggeblieben +sind. In Spanien spricht kein Mensch von Freiheit, und in +einem andern Lande, wo man auch nicht von Freiheit spricht, habe ich +einmal das Wort Unfreiheit erwähnen hören. Dieses Wort fiel bei einer +Riesendemonstration. Die Demonstration, an der die ganze Bevölkerung +teilnahm, wo ehrsame Bürger sich nicht fürchteten, hinter den +Flaggen der Kommunisten und Anarchisten zu gehen, und die Kommunisten +sich nicht für zu vornehm hielten, hinter den Flaggen des +Heimatlandes zu marschieren, war ein Protest gegen die Polizei, die versuchte, +nach preußischem Muster eine Art Meldepflicht der Bewohner +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +einzuführen. Das heißt, sie hatte nur vorgeschlagen, daß jeder Bürger +einmal im Jahre seine Adresse auf der Polizei angeben sollte, seinen +Namen, sein Alter und seinen Beruf. Aber die Bevölkerung witterte sofort +den Pferdefuß und wußte beim ersten Wort, daß dies nur der +Anfang der Meldepflicht sei. +</p> + +<p> +Es gibt heute keinen Menschen auf der Erde, der nicht wüßte, was +Deutschland bedeutet. Der Krieg mit England und Amerika war die +beste Reklame für Deutschland und für deutsche Arbeit. Daß Preußen +ein Land ist, wissen nur wenige Menschen auf Erden. Wenn man in +Amerika und in vielen andern Ländern das Wort „Preußen“ hört, ist es +nie mit dem Lande Preußen oder mit seinen Bewohnern verknüpft, +sondern es ist ein Synonym für eine Abwürgung der Freiheit und für +polizeiliche Bevormundung. +</p> + +<p> +Als ich in Barcelona war, kam ich eines Tages an einem großen Gebäude +vorbei, und ich hörte Schreien, Heulen und Wimmern von Menschen aus +jenem Gebäude dringen. +</p> + +<p> +„Was ist denn da los?“ fragte ich einen Mann, der gerade vorüberging. +</p> + +<p> +„Das ist das Militärgefängnis“, sagte er mir. +</p> + +<p> +„Aber warum schreien denn die Leute da so herzzerreißend?“ +</p> + +<p> +„Die Leute? Aber das sind doch die Kommunisten.“ +</p> + +<p> +„Die brauchen doch nicht zu schreien, wenn sie Kommunisten sind.“ +</p> + +<p> +„Ja, verstehen Sie denn nicht? Die werden jetzt geprügelt und gefoltert.“ +</p> + +<p> +„Warum denn aber?“ +</p> + +<p> +„Das sind doch Kommunisten.“ +</p> + +<p> +„Das haben Sie mir nun schon dreimal erzählt.“ +</p> + +<p> +„Darum werden sie doch totgeschlagen. Abends werden sie dann rausgeschafft +und vergraben.“ +</p> + +<p> +„Sind denn das Verbrecher?“ +</p> + +<p> +„Nein, aber Kommunisten.“ +</p> + +<p> +„Darum werden sie gefoltert und totgeschlagen?“ +</p> + +<p> +„Ja, die wollen alles anders machen. Denen ist das alles nicht gut genug. +Die wollen uns zu Sklaven machen, daß wir nicht mehr tun dürfen, was +wir wollen. Der Staat soll alles allein machen, und wir sollen nur noch +alle Arbeiter des Staates sein. Das wollen wir aber nicht. Wir wollen +arbeiten, wann wir wollen, wie wir wollen, wo wir wollen, und was wir +wollen. Und wenn wir nicht arbeiten, sondern verhungern wollen, so +wollen wir auch nicht, daß sich da jemand hereinmischt. Aber die +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Kommunisten wollen sich in unser ganzes Leben hineinmischen, und +der Staat soll alles kommandieren. Ganz recht, daß man sie totschlägt.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Soll ich darum Spanien verdammen? Ich denke nicht daran. Jedes Zeitalter +und jedes Land, mag es noch so zivilisiert sein, hat seine Christenverfolgungen, +seine Ketzerverbrennungen und Hexenfolterungen. In +Amerika werden die Ketzer nicht besser behandelt als in Spanien. Das +Traurige, das Beklagenswerte, aber echt Menschliche ist, daß diejenigen, +die gestern noch selber die Verfolgten waren, heute die bestialischsten +Verfolger sind. Und unter den bestialischen Verfolgern sind +heute auch schon die Kommunisten. Die Nachdränger, die Weiterdränger +werden immer verfolgt. Der Mann, der vor fünf Jahren in Amerika +eingewandert ist und gestern sein zweites Bürgerpapier erhalten hat, +ist heute der Mann, der am wildesten schreit: „Macht die Grenzen fest +zu, laßt niemand mehr herein.“ Und doch sind sie alle nur Einwanderer +und Söhne von Einwanderern, der Präsident nicht ausgeschlossen ... +</p> + +<p> +Warum soll ich der Arbeit nachlaufen? Da steht man vor dem, der die +Arbeit zu vergeben hat, und wird behandelt wie ein zudringlicher Bettler. +„Ich habe jetzt keine Zeit, kommen Sie später wieder.“ Wenn der +Arbeiter aber einmal sagt: „Ich habe jetzt keine Zeit oder keine Lust, +für Sie zu arbeiten“, dann ist es Revolution, Streik, Rüttelung an den +Fundamenten des Gemeinwohls, und die Polizei kommt und ganze Regimenter +von Miliz rücken an und stellen die Maschinengewehre auf. +Fürwahr, es ist manchmal weniger beschämend, um Brot zu betteln als +um Arbeit zu fragen. Aber kann der Skipper seinen Eimer allein fahren, +ohne den Arbeiter? Kann der Ingenieur seine Lokomotiven allein bauen, +ohne den Arbeiter? Aber der Arbeiter hat mit dem Hute in der Hand +um Arbeit zu betteln, muß dastehen wie ein Hund, der geprügelt werden +soll, muß auf den blöden Witz, den der Arbeitvergebende macht, +lachen, obgleich ihm gar nicht zum Lachen zumute ist, nur um den +Skipper oder den Ingenieur, oder den Meister, oder den Vorarbeiter +oder wer immer das Machtwort „Sie werden eingestellt!“ zu sagen die +Befugnis hat, bei guter Laune zu halten. +</p> + +<p> +Wenn ich so untertänig um Arbeit betteln muß, um sie zu erhalten, kann +ich auch um übriggebliebenes Mittagessen in einem Gasthof betteln. +Der Hotelkoch behandelt mich nicht so wegwerfend, wie mich schon +Leute behandelt haben, bei denen ich um Arbeit nachfragte. +</p> + +<p> +Also wozu der Arbeit nachrennen, wenn die Sonne so golden scheint, +überall ein Platz zum Schlafen ist und alle Menschen freundlich und +höflich sind, kein Polizist etwas von mir erfahren will, und kein Cop +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +meine Taschen durchsucht nach dem verlorengegangenen Rezept, wie +man biegsames Glas machen könne. +</p> + +<p> +Ich bekam Appetit auf Fisch, und ich dachte, die einfachste Art, Fisch +zu essen, ist, ihn zu haben; und um ihn zu haben, mußte ich ihn fangen. +Brot, Suppe und ein Hemd konnte man sich schon leicht verschaffen; +aber um Angelgerätschaften betteln zu gehen, das schien mir doch zu +modern zu sein. Ich paßte deshalb auf, als ein Passagierschiff ankam +und die Reisenden das Zollhaus verließen. Da bekam ich einen Koffer +in die Hand gedrückt, und als ich diesen Koffer seinem Besitzer im Hotel +wieder ablieferte, bekam ich drei Peseta in die Hand ausbezahlt. +</p> + +<p> +Mit diesem Geld ging ich in einen Laden und kaufte eine Angelschnur +und Haken. Das machte so ziemlich einen Peseta aus. So nebenbei erzählte +ich dem Verkäufer, daß ich ein Seemann sei, der sein Schiff verloren +habe. Da lachte der Verkäufer, wickelte meine Sachen recht sorgfältig +in Papier und überreichte sie mir mit einem „Favor!“ Ich wollte +nach meinem Zahlzettel greifen, aber der Verkäufer lächelte, zerriß mit +einer eleganten Geste den Zettel, warf ihn mit einer andern eleganten +Geste über seine Schulter hinweg, verbeugte sich höflich und sagte: „Ist +bezahlt, danke sehr! Viel Vergnügen beim Fischen, mein Herr.“ +</p> + +<p> +Und in diesem Lande sollte ich hinter der Arbeit herlaufen? Dieses +Land sollte ich verlassen? Ich wäre ja nicht wert, daß mich die spanische +Sonne bescheint. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-20"> +18 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> saß auf der Kaimauer und hielt meine Schnur ins Wasser. +Kein Fisch biß an, obgleich ich sie so gut mit Blutwurst +fütterte, die ich von einem holländischen Schiff mitgebracht +hatte, wo ich zum Abkochen, zum Essen mit der Mannschaft, +gewesen war. Dieses „Abkochen gehen“ auf die Schiffe, das +Mitessen mit der Mannschaft eines Schiffes, das im Hafen +liegt, ist auch nicht immer eine sehr würdige Sache. Der Arbeiter, +der gute Arbeit hat oder wenigstens glaubt, in guter +Stellung zu sein, fühlt sich gegenüber dem Arbeiter, der keine Arbeit +hat, zuweilen sehr überlegen. Und diese Überlegenheit läßt er den +Arbeitslosen auch fühlen. Der Arbeiter ist des Arbeiters größter Teufel. +</p> + +<p class="ibr"> +„Na, ihr Beachcombers, ihr Herumtreiber, habt ihr wieder nischt zu +fressen? Da wollt ihr wohl wieder hier raufkommen auf unsern Kasten, +und da sollen wir euch wohl wieder was zu fressen geben, hä? Aber +bloß zwei dürfen rauf. Ihr macht uns zu viel Schweinerei.“ +</p> + +<p> +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +Da durften wir dann nicht in das Quartier kommen, oft genug. Nein, +wir mußten vor der Tür stehenbleiben. Dann schütteten die Mitproletarier +alles, was sie auf den Tellern übrighatten, und was sie manchmal +schon im Munde gehabt hatten, in die große Blechschüssel, in der die +Suppe geholt worden war, dann schoben sie uns die Schüssel raus, und +wir mußten auf dem Verdeck essen, wo wir auf dem Boden zu hocken +hatten. Wenn wir dann um einen Löffel bitten mußten – ich hatte, +durch lange Erfahrung gewitzigt, immer meinen eignen in der Tasche –, +dann sagten sie, Löffel bekämen wir nicht. Wir fischten dann mit den +Fingern in dem Brei herum. Oder aber sie warfen uns ein paar Löffel +zu und warfen sie so geschickt, daß sie in den Brei fielen, so daß wir +sie mit unsern dreckigen Fingern herausfischen mußten, was den +Leuten ein höllisches Vergnügen zu bereiten schien. +</p> + +<p> +Und diese Mannschaften waren noch nicht die schlimmsten. Da waren +welche, die uns hinunterjagten vom Schiff, weil wir Spitzbubengesindel +seien. Oder andre, die vor unsern Augen die schönsten Schüsseln voll +Fleisch, Gemüse und Kartoffeln ins Meer schütteten und ganze Brote +hinterher warfen, nur um uns zu ärgern. Es war dann zuweilen ganz +lieblich zu erleben, wenn einer oder der andre durch irgendeinen Umstand +entweder entlassen wurde oder achtern abgekantet war, dann +mit uns an der Beach, am Ufer lag, mit uns dann zum Abkochen gehen +mußte und dabei lernte, wie gut es tut, in der Weise von seinen eignen +Klassengenossen behandelt zu werden. +</p> + +<p> +Nicht alle waren so. Ich habe manchen Peseta freiwillig von Schiffsproleten +bekommen, habe ganze Büchsen voll Corned Beef oder Leberwurst +oder Blutwurst bekommen, Büchsen voll Gemüse, ganze Kilo +Kaffee von den Köchen, ganze Brote, Kuchen und Puddings. Einmal +zwölf, sage und wiederhole zwölf gebratene Hühnchen, von denen ich +zehn selber wegwerfen mußte, weil ich sie nicht essen und nicht verwahren +konnte, denn ich hatte ja keinen Eisschrank in meiner Hosentasche. +Alles, was man besitzt auf der Welt, hat man bei sich und hat +man an sich. +</p> + +<p> +Wenn man in spanischen, afrikanischen, ägyptischen, indischen, chinesischen, +australischen und südamerikanischen Häfen an der Beach liegt, +lernt man allerlei Menschen kennen und allerlei Methoden, mit deren +Hilfe man sich am Leben erhält. Aber niemand läßt einen mit solcher +Kaltblütigkeit verhungern wie in vielen Fällen der Arbeiter. Und der +Arbeiter der eignen Nationalität ist der schlimmste aller Teufel. Während +ich als Amerikaner von den amerikanischen Schiffen heruntergejagt +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +wurde von der Mannschaft, habe ich als Deutscher auf französischen +Schiffen wie ein Fürst gelebt. Die Mannschaft lud mich ausdrücklich +ein, zu jedem Frühstück, zu jedem Mittagessen und zu jedem +Abendessen auf dem Schiff zu erscheinen, solange es im Hafen, es war +in Barcelona, läge. Und ich bekam das Beste, was nur ins Quartier kam, +während mir auf deutschen Schiffen Mannschaften gleich auf der Falltreppe +mit einem großen Schild entgegensprangen „Zutritt verboten!“ +Die deutschen Schiffe sind die einzigen Schiffe, die ich kenne, die zuweilen +ein großes Schild im Hafen aushängen mit der Inschrift „Zutritt +verboten!“ in deutscher Sprache und in der Sprache des Landes, in +dessen Hafen sie liegen. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Als ich in Barcelona lag, wurde mir erzählt, in Marseille lägen viele +amerikanische Schiffe, die keine Mannschaft bekommen könnten, weil +zu viele ausgerückt seien. Die Mannschaft eines Kohlendampfers nahm +mich mit nach Marseille. Aber es war falscher Alarm. Es lag auch nicht +ein einziges amerikanisches Schiff im Hafen, und auf den paar andern, +die dort lagen, war auch nichts zu machen. +</p> + +<p> +Ganz verzweifelt schlich ich durch die Gassen im Hafenviertel. Ich ging +in eine Hafenkneipe, wo viele Seeleute verkehren, um zu sehen, ob ich +nicht vielleicht einen Bekannten treffen möchte, der mir aushelfen +könnte; denn ich hatte keinen Copper in meiner Tasche. +</p> + +<p> +Als ich hineinkam und mich umsah nach einem Stuhl, näherte sich mir +die Kellnerin, ein nettes junges Mädchen, und fragte, was ich trinken +wolle. Ich sagte ihr, ich hätte kein Geld und wolle nur sehen, ob nicht +ein Bekannter drin sei, von dem ich vielleicht etwas bekommen könne. +Sie fragte mich, was ich sei. Ich sagte: „Deutscher Seemann.“ +</p> + +<p> +Da sagte sie: „Setzen Sie sich, ich bringe Ihnen zu essen!“ +</p> + +<p> +Ich erwiderte: „Ich habe aber doch kein Geld.“ +</p> + +<p> +„Das macht nichts“, sagte sie. „Sie werden gleich genug Geld haben.“ +</p> + +<p> +Ich verstand das nicht und wollte mich aus dem Staube machen, weil ich +glaubte, es sei irgendeine Falle. +</p> + +<p> +Nachdem ich gegessen und eine Flasche Wein vor mir stehen hatte, rief +das Mädchen plötzlich ganz laut durch die Schenke: „Meine Herren, +hier ist ein armer deutscher Seemann, der kein Schiff hat. Möchten Sie +ihm denn nicht etwas geben?“ +</p> + +<p> +Ich fühlte, daß ich totenbleich wurde, denn ich dachte jetzt, das sei die +Falle, und man wolle einen Spaß haben dadurch, daß man mir hier eine +Abreibung geben würde, die nicht von schlechten Eltern sei. Aber nichts +dieser Art geschah. Die Leute hörten nur alle auf zu reden und drehten +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +sich nach mir um. Einer stand auf, kam mit seinem Glas und stieß mit +mir an: „Auf Ihr Wohl, Deutscher!“ Er sagte nicht einmal „Boche“ dabei. +Dann nahm das Mädchen einen Teller und ging rund, und als sie den +Teller dann vor mir ausschüttete, zählte ich siebzehn Franken und +einige sechzig Centimes. Nun konnte ich mein Essen und meinen Wein +gut bezahlen, und als ich mit dem Kohler zwei Tage später wieder nach +Barcelona fuhr, hatte ich sogar noch etwas übrig von den Franken. +</p> + +<p> +Ich glaube nicht daran, daß es irgendeine Feindschaft zwischen Völkern +gäbe, wenn sie nicht künstlich erzeugt und dann tüchtig geschürt würde. +Man sollte eigentlich meinen, daß Menschen vernünftiger seien als +Hunde. Hunde lassen sich manchmal gegen ihresgleichen hetzen, manchmal +aber auch nicht. Menschen dagegen lassen sich immer aufeinander +hetzen und das „Ksch-ksch“ braucht gar nicht einmal geschickt gemacht +zu werden. Es braucht nur überhaupt gemacht zu werden, da gehen sie +auch schon aufeinander los wie blödsinnig geworden ... +</p> + +<p> +Verflucht nochmal, es beißt auch nicht ein einziges Luder an und die +Büchse Blutwurst ist gleich alle. Das kommt davon, wenn man döst +und seine Gedanken woanders hat, statt auf das Geschäft zu achten. +Sobald ich eine Portion beieinander habe, gehe ich raus, mache mir ein +Feuer an und brate die Fische an einem Stock. Es ist einmal etwas +andres als die immer in Öl gebackenen Fische. +</p> + +<p> +Wieder nichts dran und die Wurst abgebissen. Wie lange sitze ich hier? +Sicher schon drei Stunden. Aber Fischen beruhigt die Nerven. Man hat +nicht das Gefühl, daß man seine Zeit verplempert. Es ist nützliche +Arbeit, die man verrichtet: man trägt seinen Teil zur Volksernährung +bei, denn wenn ich die Fische esse, die ich hier jetzt fange, brauche ich +nicht woanders die Nudelsuppe aufessen. Die kann dann gespart werden, +und am Ende des Jahres findet man die gesparte Nudelsuppe in +irgendeiner Statistik wieder, wo die Zeile, in der die gesparte Nudelsuppe +erwähnt ist, mehr kostet als alle weggeschütteten Suppen des +ganzen Landes zusammengenommen. +</p> + +<p> +Ich könnte die Fische aber auch verkaufen gehen. Vielleicht kriege ich +soviel zusammen, daß ich zwei Peseta machen kann. Dann könnte ich +wieder einmal zwei Nächte in einem Bett schlafen. +</p> + +<p> +Siehst du, mein Freundchen, da habe ich dich doch endlich erwischt. Du +bist es, der mir die ganze Blutwurst abgefressen hat. Schwer ist er ja +nicht. Ein halbes Kilo. Ich glaube, nicht ganz. Dreihundertfünfzig +Gramm. Da zappelst du aber schön. Ich kann das nachfühlen. Ich habe +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +auch schon verschiedene Male so gezappelt, wenn mich ein Cop am +Kragen hatte. Aber es hilft nichts, ich habe Appetit auf Fische. +</p> + +<p> +Ja, das Wasser ist so schön kühl und die Sonne so schön warm. Hier hat +mich auch noch kein Cop am Kragen gehabt. Und ich weiß, wie es tut. +Die dreihundertfünfzig Gramm tun es auch nicht. Wenn du wenigstens +ein Kilo hättest. Und weil du doch angebissen hast und mir die Freude +machtest, mich hier nicht so vergeblich sitzen zu lassen, und weil ich +liebe, frei zu sein, viel mehr liebe, als satt zu essen zu haben, und weil +die Sonne lacht und das Wasser blaut, und weil du ein spanisches Fischlein +bist: Hoppla, wirst nicht erschossen, schwimm wieder lustig los und +freue dich deines munteren Lebens. Lauf nicht gleich einem andern ins +Netz. Zieh ab und grüß dein Mädel. +</p> + +<p> +Da plätschert er und schwimmt er und lacht, daß ich es bis auf die +Mauer höre. Grüß’ dein Mädel! ... Ach schiet ... +</p> + +<p> +„Sie sind mir aber auch ein Fischersmann“, sagt da jemand hinter mir. +Ich drehe mich um und sehe einen Zollbeamten stehen, der mir die ganze +Zeit zugesehen hat und jetzt laut lacht. +</p> + +<p> +„Aber da sind doch mehr Fische drin, das Wasser ist ja nicht so klein“, +sage ich, während ich wieder Blutwurst an den Haken spieße. +</p> + +<p> +„Sicher sind da mehr drin. Das war doch aber ein ganz guter dicker +Fisch.“ +</p> + +<p> +„Sicher war er das, er hatte ja meine ganze Büchse Blutwurst im Magen, +da soll er nicht dick sein.“ +</p> + +<p> +„Warum fischen Sie denn da überhaupt, wenn Sie so gute Fische wieder +hineinwerfen?“ +</p> + +<p> +„Damit, wenn mich heute abend jemand fragen sollte, was ich den +ganzen Tag getan habe, ich sagen kann, ich hätte gefischt.“ +</p> + +<p> +„Dann fischen Sie nur weiter“, sagt der Zollbeamte und geht. +</p> + +<p> +Daß Fischen betätigte Philosophie ist, verstehen die wenigsten Menschen. +Es ist doch nicht des Habens wegen, daß man lebt, sondern des +Wünschens, des Wagens, des Spielens wegen, daß man lebt. +</p> + +<p> +Da schon wieder einer. Hätte ich nur den vorigen nicht gehen lassen, +dann wäre nun schon bald eine Portion zusammen. Aber ich werde doch +keine Klassenunterschiede einführen. Den andern habe ich frei gelassen, +nun kann ich doch diesen nicht seiner Dummheit wegen zum Tode +verurteilen. Das heißt, Dummheit verdient eigentlich immer und überall +die Todesstrafe, vorläufig wird sie nur mit Sklaverei bestraft. Wenn ich +wüßte, ich bekäme noch drei solche wie du einer bist, dann müßtest du +hier dran glauben. Ich habe Appetit auf Fische. Aber du bist ein +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +köstliches kleines lebendiges Wunder, na, gehe schon wieder rein in das +weite Meer. Hoppla, Freiheit ist doch das Größte und Beste am Leben. +Ja, Teufel nochmal, soll ich euch denn allen hier die Hand geben? Schon +habe ich abermals einen in der Hand. Ich weiß genau, wenn ich dich +jetzt hier behalte, beißt kein einziger mehr an, weil sie dann alle wissen, +sie können sich auf mich nicht verlassen. Und mit dir allein kann ich +nichts anfangen. Es würde sich gar nicht lohnen, rauszugehen und ein +Feuer deinetwegen anzuzünden. Wie lange hat das liebe Leben an dir +gebaut, um dich zu dieser unwichtigen Größe zu bringen? Sechs Jahre, +vielleicht sieben. Nun soll ich dich in einer Sekunde mit einem Hieb +töten und dein Leben beenden? Zieh ab, freue dich des blauen Meeres +und deiner Gefährten. Da schwänzelt er lustig vondannen. Gelt, +Bürschchen, du weißt, was Freiheit wert ist, freue dich ihrer, schätze sie +und sei glücklich. +</p> + +<p> +Das ist aber ein recht merkwürdiger Eimer, der da angeschwommen +kommt ... Sie macht gerade los und kommt nicht gut ab. Sie schleppt +und schlittert und kratzt am Kai entlang. Offenbar will sie nicht raus, +sie ist wasserscheu. Aber ganz gewiß, man kann sich drauf verlassen, es +gibt auch wasserscheue Schiffe, yes, Sir. Das ist überhaupt der Fehler, +der so oft gemacht wird, daß man den Schiffen die Persönlichkeit abstreitet. +Die haben ihre Persönlichkeit, ihre Launen genau so gut wie +ein Mensch. Diese alte Tante hier hatte eine Persönlichkeit. Das sah ich +auf den ersten Hieb. Mit der war nicht gut Salz lecken. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-21"> +19 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">anches</span> Schiff habe ich gefahren, das wissen +die Götter. Und tausend Schiffe habe ich gesehen, +das glaubt mir Thomas. Aber nie vorher habe ich +ein Schiff gesehen, das diesem gleich gewesen +wäre. Der ganze Rahmen, um damit gleich zu +beginnen, war nicht nur ein guter Spaß, nein, +der war eine Unmöglichkeit. Wenn man diesen +Eimer ansah, zweifelte man, daß sie je auf dem +Wasser schwimmen könnte. Viel eher schon glaubte man, daß sie ein +gutes Transportmittel durch die Wüste Sahara sein müsse und mit +Leichtigkeit die besten Kamele schlagen könnte. Ihre Form war weder +modern noch mittelalterlich. Es wäre ein ganz vergebliches Bemühen +gewesen, sie in irgendeine Periode der Schiffsbaukunst einzureihen. +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +Am Bug trug sie den Namen „Yorikke“. Aber der Name war so dünn +und so verwaschen, als ob sie sich schämte, so zu heißen. Achtern sollte +der Seevorschrift gemäß ihr Heimatsort zu lesen sein. Aber wo sie her +war, das wollte sie niemand verraten, wahrscheinlich schämte sie sich +auch ihres Wohnortes. Auch ihre Nationalität hielt sie streng geheim, +offenbar war ihr Paß nicht ganz in Ordnung. Jedenfalls war die +Nationalitätsflagge, die auf dem Flaggenstock am Stern auswehte, so +bleich, daß sie für jede Farbe aufnahmefähig war. Außerdem war die +Flagge ganz ausgefranst, als ob sie in allen Seeschlachten der letzten +viertausend Jahre den kämpfenden Flotten vorangeweht hätte. +</p> + +<p> +Welche Farbe ihr Kleid hatte, konnte ich nicht ergründen, obgleich das +ja in mein Spezialfach schlug. Allem Anschein nach zu urteilen, war das +Röckchen einmal, in einer fern zurückliegenden Zeit, schneeweiß gewesen, +weiß wie die Unschuld eines neugeborenen Kindleins. Aber das +muß sehr lange her sein, das muß gewesen sein in dem Jahr, als sich +Abraham mit der Sarah verlobte in Ur in Chaldäa. Die Kanten der +Reeling waren einmal grün gewesen. Auch das war lange, lange her. +Seit jenen fernen Tagen hatte die Yorikke einige hundert neue Anstriche +erlebt, wie es ja dem Laufe der Zeiten entsprach. Aber die Deckarbeiter +hatten sich nie die Mühe gemacht, die alte Farbe abzuklopfen. +Wahrscheinlich war ihnen das untersagt worden. Jedenfalls war der +neue Anstrich immer wieder auf den alten gekommen, dadurch hatte +die Yorikke nun einen Umfang erhalten, der sie doppelt so groß erscheinen +ließ, als sie in Wirklichkeit war. Hätte man sich die Arbeit gemacht, +die einzelnen Anstriche sorgfältig abzupellen, dann hätte man +genau feststellen können, welche Art von Farbe jedes einzelne Jahrhundert +verwandte. +</p> + +<p> +Selbstverständlich, um nicht der Übertreibung angeschuldigt zu werden, +hätte man die Farbe nicht nur an dem Außenkleid abpellen dürfen, +wo die Yorikke verhältnismäßig noch am jüngsten war, weil man sie +ab und zu in ein Verschönerungsinstitut geschickt hatte. Nein, man +hätte die Farbe an allen Teilen des Schiffes, insbesondere also an den +Inneneinrichtungen abziehen müssen, um zu erfahren, in welchen Farben +die große Festhalle Nebukadnezars gehalten war, worüber wir ja +heute noch im unklaren sind, was uns sehr viele Sorgen bereitet. +</p> + +<p> +Das Kleid sah zum Höllenerbarmen niederträchtig aus. Da waren große +Flächen, wo die Deckarbeiter es mit einem schönen saftigen Bolschewistenrot +versucht hatten. Dann aber schien der Eigentümer oder der +Kapitän diese Farbe nicht zu lieben, und man malte weiter mit Adelsblau. +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +Das Rot hatte Geld gekostet, und man ließ es ruhig stehen, Anstrich +war Anstrich, und dem fressenden Salzwasser ist es gleichgültig, +ob es Bolschewistenrot oder Freiheitsgrün zu fressen hat, die Hauptsache +ist, daß Wind und Wogen etwas zu fressen kriegen, sonst fressen +sie das Schiff. Der nächste Besitzer wieder dachte, daß ein schwarzes +Schiff schöner sei und ein fettes Schwarz die mißtrauischen Augen der +Versicherungsgesellschaften besser verkleistern möchte als irgendeine +andre Farbe. Aber nie wagte jemand sich so hoch in die Kosten zu versteigen, +daß er das, was einmal gestrichen war, mit der neuen Farbe +überstrichen hätte, um dem ganzen Kleid eine einheitliche Nuance zu +geben. Nur keine überflüssigen Ausgaben, es war ja ein – halt, das +will ich noch nicht sagen, denn ich weiß es noch nicht. Aber ein alter +Salzwasserfisch riecht frühzeitig, und ich bin ein alter Salzwasserfisch, +wenn es aufs Riechen ankommt. +</p> + +<p> +Wenn nun Yorikke auf Fahrt war oder in einem Hafen lag, reichte die +Farbe nicht mehr, und es wurde mit den Farben weitergemalt, die gerade +noch da waren. Der Skipper schrieb nur immer an: „Farbe gekauft. +Farbe gekauft. Farbe gekauft.“ Niemand kann von seinem Lohn +allein leben. Aber die Farbe wurde nicht gekauft, sondern alles, was da +war, wurde aufgebraucht, ob es braun, grün, violett, zinnober, gelb oder +orange war. +</p> + +<p> +Also so sah die Yorikke von draußen aus. Mir wäre vor Schreck bald die +Angelschnur aus der Hand geflitscht, als ich dieses Meerungeheuer zum +ersten Male sah. +</p> + +<p> +Das kommt aber davon, wenn man den Deckarbeitern im Hafen keinen +Tagesurlaub gibt, aus lauter Geiz. Der Erste Offizier weiß nicht, was er +mit ihnen machen soll, und dann müssen sie anstreichen von morgens +um sieben bis nachmittags um fünf, streichen, streichen, streichen, solange +noch ein Pinselstiel auf der Welt ist und noch eine alte Blechbüchse +an den Rändern eine Schicht verdickter und verkrusteter +Farbe hat. +</p> + +<p> +Nun müssen die Deckarbeiter beim Streichen draußen an der Bordwand +hängen an Tauen, oder sie sitzen auf schmalen Brettern, die an Tauen +heruntergelassen werden. Kommt es nun vor, daß der ganze Kasten +plötzlich einen gehörigen Schubs kriegt, sei es durch eine unerwartete +große Welle oder durch das Aufrühren eines großen vorbeifahrenden +Rieseneimers, oder weil beim Gezeitwechsel den Fangtauen +nicht richtig nachgegeben wurde, dann fliegt der Anstreicher mit seiner +Todesschaukel los von der Bordwand. Weil er nun lieber sein Leben +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +retten will als den Farbeimer, so geht natürlich der Farbeimer über +Stag und die bunte Tunke läuft an der Bordwand herunter. Der +Eimer ist zwar gerettet und der Mann auch, der Eimer hing an +einem Tau und der Mann angelte noch rechtzeitig ein Tau. Aber +die Farbe! Aber die Farbe! An der Yorikke konnte man außer +den verschiedenen Farbversuchen noch ganz genau alle Püffe nachzählen, +die das gute Schifflein während des Anstreichens in den letzten +zehn Jahren erlebt hatte. Diese Farbenergüsse zu überstreichen, +wäre Verschwendung gewesen. Es war Farbe, und der Zweck, mit Farbe +die mancherlei Schönheitsfehler der Yorikke zartfühlend zu verdecken, +war ja durch den Puff erfüllt worden. An und für sich war es schon +teuer genug, weil ja nicht alle Farbe bei dieser Gelegenheit auf der +Yorikke blieb, sondern ein Teil im Meer verschwand und der andre +Teil auf den Hosen des Deckarbeiters hängen blieb, wo er ganz überflüssig +war. Mit diesen angestrichenen Hosen, die man jetzt hinstellen +kann, ohne daß sie umfallen, ist das Ereignis keineswegs beendet. Nun +kommt erst noch die Auseinandersetzung mit dem Ersten Offizier, der +die Meinung vertritt, daß die Farbe wertvoller sei als der Mann, und +statt an sein unwichtiges Leben zu denken, hätte er zuerst an die wertvolle +Farbe denken sollen. Deckarbeiter kann er auf dem Straßenpflaster +auflesen oder unter dem Galgen wegholen, aber Farbe kostet +Geld, und der Skipper wird ihm einen Mordsspektakel machen, weil er +nun wieder nicht mit dem Farbenbuch und mit der Rubrik „Farbe gekauft“ +zurechtkommt. Häufig endet dieses Gespräch, nachdem die +üblichen Fluchkanonaden alle Munition verschossen haben, damit, daß +der gerettete Deckarbeiter sich seinen Lohn geben läßt, den Sack vollpfropft, +über die Planke geht und dem Schiff Großfeuer in den Kohlenbunkern +wünscht, wenn es fünfzehnhundert Meilen „off the coast“ ist. +Einen verrückten Menschen erkennt man oft schon am Äußern, am +Aussehen seines Gesichts, an der Zusammenstellung seiner Kleidung. +Je verrückter er ist, um so auffallender wird sein Aussehen sein. Man +konnte nicht gut sagen, daß die Yorikke einem vernünftigen Schiffe, +einem geistig normalen Schiffe gleich oder auch nur ähnlich gesehen +hätte. Das wäre eine Beleidigung für alle andern Schiffe der sieben +Meere gewesen. Ihr Aussehen stimmte so vortrefflich mit ihrem Geist, +mit ihrer Seele, mit ihrem Wesen und mit ihrem Betragen überein, daß +man an der geistigen Gesundheit der Yorikke mit Recht zweifeln mußte. +Es war ja nicht nur das äußere Kleid, nicht nur die Farbe. Alles, was +man von dem Boote sehen konnte, stand in vollem, ungetrübtem Gleichklang +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +mit der Haut und dem Gesicht. Die Lademasten standen wie +dürre Äste fuchtelnd in der Luft. Wenn durch den Schornstein der +Länge nach eine Kugel geschossen worden wäre, auch wenn es nur eine +Revolverkugel gewesen wäre, sie wäre nie am andern Ende herausgekommen. +Aber Rauch geht je auch um Ecken, andernfalls hätte die +Yorikke nie rauchen können. Aus dem Schornstein jedenfalls nicht. Wie +die Brücke mit dem übrigen Schiff in Verbindung stand, konnte ich nicht +herausfinden. Es sah so aus, daß, wenn das Schiff abfuhr, es nach einer +Stunde wieder umkehren mußte, um die Kommandobrücke abzuholen, +die im Hafen zurückgeblieben war; denn der Skipper hätte es von seinem +Standort aus nicht bemerken können, daß das Schiff schon eine Stunde +unterwegs war, und nur wenn der Steward auf die Brücke gegangen +wäre, um dem Skipper zu sagen, daß sein Essen in der Messe sei, hätte +man herausgefunden, daß die Brücke mit dem Skipper drauf nicht mitgekommen +war, sondern irgendwo im letzten Hafen schwebte oder festgeklemmt +war. +</p> + +<p> +Als ich nun da auf der Mauer saß, so emsig mit Fischefangen beschäftigt, +und ich sah die Yorikke, da lachte ich, da lachte ich so laut und so ungeheuerlich, +daß die gute Yorikke einen Schreck bekam und um eine halbe +Schiffslänge zurückglitt. Sie wollte nicht raus ins Wasser und wollte +nicht. Sie kratzte und schrammte am Kai, daß es einen Hund jammern +konnte und man Mitleid bekam mit dem beklagenswerten Tantchen, +das da wieder hinausgetrieben werden sollte in die grausame Welt +wilder Mächte und Elemente. +</p> + +<p> +Aber niemand empfand Mitleid mit ihr. +</p> + +<p> +Ich hörte das Knarren und Quietschen der Wintschen und das Hin- und +Herlaufen und wußte, die werden jetzt das Tantchen gründlich vermöbeln +und bös einheizen, und dann muß sie eben doch hopsen. Was +kann schließlich ein alleinstehendes Mädchen gegen so viele rauhe +Fäuste auf die Dauer machen? Sie kann kratzen und beißen, aber sie +muß hervor hinter dem Zaun und muß mit zum Tanz gehen, ob ihr +danach zumute ist oder nicht. Wenn so ein sprödes Dämchen erst einmal +die Musik hört, dann ist sie die Tollste von allen. So war es sicher auch +mit der Yorikke. Erst mal glücklich drin im Wasser, dann würde sie +rennen wie ein junger Teufel, um nur schnell wieder in einem andern +Hafen zu sein, wo sie sich ausruhen kann und von vergangenen Zeiten +träumen, als man sie nicht so herumjagte wie in diesen hastigen Tagen. +Sie ist doch schließlich keine Junge mehr und schon ein wenig schwer +auf den Beinen. Wäre sie nicht so dick angezogen, würde sie sicher auch +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +noch frieren in dem kalten Wasser, denn das Blut rennt nicht mehr so +frisch durch die Adern wie damals als sie den Begrüßungsfestlichkeiten +zusah, die von Cleopatra zu Ehren Antonius’ veranstaltet wurden. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-22"> +20 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">ach</span> dem Aussehen eines Schiffes kann man genau +die Beköstigung und die Behandlung der Mannschaft +beurteilen, sobald man erst einmal eine Weile +Salzwasser gerochen hat. Da bildet sich manch einer +ernsthaft ein, daß er vom Meere, von Schiffen und +Seeleuten etwas verstünde, wenn er ein dutzendmal +auf einem Passagierschiff, vielleicht sogar Staatskabine, +über Ozeane gefahren ist. Aber ein Fahrgast +lernt weder etwas vom Meer, noch etwas von einem Schiff und noch +viel weniger etwas vom Leben der Mannschaft. Die Stewards sind keine +Mannschaft, und die Offiziere sind auch keine Mannschaft. Die einen +sind nur Kellner und Hausdiener, und die andern sind nur Beamte mit +Pensionsberechtigung. +</p> + +<p> +Der Skipper kommandiert das Schiff, aber er kennt es nicht. Wer auf +dem Kamel reitet und den Ort angibt, wo er hinreiten will, weiß nichts +von dem Kamel. Der Kameltreiber allein kennt das Kamel, zu ihm +spricht das Kamel, und er spricht zu dem Kamel. Er allein kennt seine +Sorgen und seine Schwächen und seine Wünsche. +</p> + +<p> +So ist es auch mit einem Schiff. Der Skipper ist der Kommandant, der +Vorgesetzte, der immer anders will, als das Schiff will. Ihn haßt das +Schiff, wie alle Vorgesetzte und Kommandanten gehaßt werden. Wenn +Kommandanten wirklich einmal geliebt werden, oder es wird gesagt, +daß sie geliebt seien, so werden sie nur darum geliebt, weil man so am +besten mit ihnen und mit ihren Schrullen zurechtkommt. +</p> + +<p> +Aber die Mannschaft ist es, die das Schiff liebt. Die Mannschaft sind die +echten und wahren Kameraden des Schiffes. Sie putzen an dem Schiff +herum, sie streicheln es, sie kosen es, sie küssen es. Die Mannschaft hat +häufig kein andres Heim als das Schiff; der Kommandant hat ein +schönes Haus irgendwo auf dem Lande, er hat seine Frau, er hat seine +Kinder. Es haben auch manche Seeleute eine Frau oder Kinder, aber +ihre Arbeit mit dem Schiff und auf dem Schiff ist so hart und ermüdend, +daß sie nur an das Schiff denken können und die Familie daheim ganz +vergessen, weil sie keine Zeit haben, an Hause zu denken. Denn wenn +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +sie anfangen wollen, an das Zuhause zu denken, dann beginnen sie +gleich zu schlafen, weil sie zu müde sind. +</p> + +<p> +Das Schiff weiß ganz genau, daß es keinen Schritt gehen könnte, wenn +die Mannschaft nicht wäre. Ohne Skipper kann ein Schiff laufen, ohne +Mannschaft nicht. Der Skipper könnte nicht mal dem Schiff etwas zu +essen geben, weil er nicht versteht, wie er aufschmeißen muß, damit die +Feuer nicht ausgehen und doch die meiste Hitze geben, ohne Verdauungsstörungen +zu erzeugen. +</p> + +<p> +Mit der Mannschaft spricht das Schiff, mit dem Skipper und den Offizieren +nie. Der Mannschaft erzählt das Schiff Märchen und wunderschöne +Geschichten. Alle meine Seegeschichten haben mir die Schiffe erzählt +und keine Menschen. Das Schiff läßt sich auch gern etwas erzählen +von der Mannschaft. Ich habe gehört, daß Schiffe lachten und kicherten, +wenn die Mannschaft Sonntag nachmittags auf Deck saß und sich Witze +erzählte. Ich habe Schiffe weinen sehen, wenn traurige Geschichten erzählt +wurden. Und ich habe ein Schiff bitterlich schluchzen hören, weil +es wußte, daß es auf der nächsten Fahrt untergehen würde. Es kam auch +nie wieder und stand später bei Lloyds auf der Liste „Verschollen“. +</p> + +<p> +Das Schiff ist immer auf seiten der Mannschaft, nie auf seiten des Skippers. +Der Skipper arbeitet nicht für das Schiff, er arbeitet für die Kompanie. +Die Mannschaft weiß häufig gar nicht, zu welcher Kompanie das +Schiff gehört; sie macht sich keine Gedanken darüber. Sie kümmert sich +nur darum, was das Schiff selbst angeht. Wenn die Mannschaft unzufrieden +ist oder rebelliert, rebelliert das Schiff sofort mit. Streikbrecher +haßt das Schiff mehr als den Boden des Meeres; und ich habe ein Schiff +gekannt, das mit einer ganzen Horde von Streikbrechern auf der ersten +Ausfahrt, beinahe noch in Sicht der Küste, glatt auf den Boden ging. +Keiner kam mehr zurück. Es ging lieber selber unter, als von Streikbrechern +begrapscht zu werden. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Wird die Mannschaft schlecht beköstigt oder schlecht behandelt, das +Schiff nimmt sofort Partei für die Mannschaft und schreit in jedem Hafen +die Wahrheit so laut hinaus, daß sich der Skipper die Ohren zuhalten +muß und oft genug eine Hafenkommission aus dem Schlafe gescheucht +wird und nicht eher Ruhe findet, bis sie eine Untersuchung angestellt hat. +Ich glaube sicher, daß man mich für ein ganz verfressenes Subjekt hält. +Aber für den Seemann ist ja das einzige, womit er sich außer seiner Beschäftigung +mit dem Schiff befassen kann, das Essen. Andre Freuden hat +er nicht, und hart arbeiten verursacht einen gesunden Hunger. Das +Essen ist ein wichtiger Bestandteil seines Lohnes. +</p> + +<p> +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Auf der Yorikke aber, wie sie auch laut genug hinausschrie, wurde +der elendeste Fraß für die Mannschaft gegeben, den eine geizige +Kompanie und ein Skipper, der auf Nebenverdienste sehen mußte, nur +herstellen konnte, um die Mannschaft eben gerade noch am Leben zu +erhalten. Wie der Skipper selbst beschaffen war, verriet Yorikke jedem, +der die Sprache eines Schiffes verstand. Er trank gern, aber nur gute +Tropfen; er aß gern, aber nur gute Dinge; er stahl, wo er nur stehlen +konnte; er machte Nebengeschäfte, mit wem er nur konnte und auf +wessen Kosten er nur konnte. Im übrigen war ihm alles sehr gleichgültig, +und er belästigte die Mannschaft persönlich nur wenig. Er belästigte sie +auf dem Umwege über die Offiziere und die Ingenieure. Die Ingenieure +hätten auf Schiffen, die nicht verrückt waren, sondern normal, nicht +einmal als Öler arbeiten können. +</p> + +<p> +Wie war es nur möglich, daß Yorikke eine Mannschaft bekam und eine +Mannschaft halten konnte? Wie war es möglich, daß sie aus einem +spanischen Hafen, aus diesem gesegneten Lande des Sonnenscheins und +der Freiheit, ausfahren konnte mit voller Mannschaft? Da war ein Geheimnis +verborgen. Sie war doch nicht etwa gar ein –? +</p> + +<p> +Aber vielleicht doch. Vielleicht war sie doch ein Totenschiff. Da! Da ist +es endlich heraus. Ein Totenschiff. Verflucht nochmal, o Sperlingsschwänze +und Fischflossen! Jawohl, sie ist ein Totenschiff. +</p> + +<p> +Aber daß ich das nicht gleich auf den ersten Hieb gemerkt habe. Ich +habe eben gedöst. +</p> + +<p> +Richtig, da ist kein Zweifel mehr. +</p> + +<p> +Aber da war wieder etwas andres herum, daß sie es auch nicht sein +mochte. Da ist ein Geheimnis dahinter. Mich soll doch gleich ein Eisbär +am Hintern kratzen, wenn ich das nicht rauskriege, was mit dem Eimer +los ist. +</p> + +<p> +Sie hatte sich nun doch endlich entschlossen zu gehen, freiwillig und +gutwillig zu gehen. Ich hatte sie unterschätzt. Sie war wasserscheu aus +guten Gründen. Der Skipper war ein Esel, yes, Sir. Yorikke war viel +klüger als ihr Kapitän. Sie brauchte überhaupt keinen Kapitän, das +sah ich jetzt. Sie war wie ein gutes altes Rassepferd, das man allein +gehen lassen muß, wenn es den richtigen Weg gehen soll. Ein Kapitän +braucht nur ein unterstempeltes und unterschriebenes Zeugnis vorzulegen, +daß er ein Examen bestanden hat, und gleich wird ihm ein Eimer +anvertraut und noch dazu ein so delikater wie die Yorikke einer ist. Gebt +einem erfahrenen Deckarbeiter den Lohn, den der Skipper bekommt, +und er wird einen Eimer wie die Yorikke besser über den Froschteich +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +bringen als ein konzessionierter Kapitän, der nichts weiter tut, als den +ganzen Tag herumzulaufen und darüber nachzudenken, wie und wo +er die Kost für die Mannschaft noch etwas mehr beschneiden könnte, +um für die Kompanie und für seine Tasche noch einen Nickel mehr herauszuschinden. +</p> + +<p> +Strömung und Wind waren gegen Yorikke auf dem Wege, den zu gehen +der Skipper sie zu zwingen suchte. Ein so delikates Weibchen darf man +nicht zwingen, wie und wohin sie gehen soll, dabei kann sie nur auf Abwege +geraten. Der Lotse war nicht zu tadeln. Der Lotse kennt seinen +Hafen gut, aber er kennt nicht das Schiff. Dieser Skipper aber kannte +das Schiff noch viel weniger. +</p> + +<p> +Sie kroch quietschend an dem Kai entlang, und ich mußte jetzt die Beine +hochziehen, sonst hätte sie die mitgenommen. Und so sehr versessen +darauf, meine Beine nach Marokko zu schicken, während ich in Cadiz +blieb, war ich denn doch nicht. +</p> + +<p> +Achtern strampelte sie mit der Quirlflosse, und hier an den Seiten +spuckte und pißte sie wie besessen, als ob sie wer weiß wieviel gesoffen +hätte, und als ob sie es wer weiß wie schwer hätte, auf den Weg +zu kommen, ohne die Laternenpfähle mitzunehmen. +</p> + +<p> +Endlich glückte es dem Skipper, vom Kai klarzukommen. Aber ich war +überzeugt, daß es Yorikke war, die einsah, daß sie sich nun um sich +selber zu bekümmern habe, wenn sie mit heiler Haut davonkommen +wollte. Vielleicht auch wollte sie ihrem Eigentümer ein paar Eimer +Farbe sparen. +</p> + +<p> +Je näher sie kam, desto unerträglicher wurde ihr Aussehen. Und es +kam mir der Gedanke, wenn jetzt der Henker hinter mir her wäre mit +der offnen Schlinge, und ich könnte ihm entwischen allein nur dadurch, +daß ich auf der Yorikke anmustere, ich würde die Schlinge vorziehen +und zu dem Henker sagen: „Lieber Freund, nehmen Sie mich und +machen Sie ja recht rasch, damit ich vor dieser Nagelkiste bewahrt +bleibe.“ Denn jetzt sah ich etwas, das schlimmer war als alles, was ich je +in dieser Hinsicht erblickt habe. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-23"> +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +21 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">uf</span> dem Vordeck standen die Mannschaften, die auf +Freiwache waren, und guckten über die Reeling hinunter +auf den Kai, um ja noch mit ihren Augen alles +an fester Erde auf die lange Fahrt mitzunehmen, +was sie in diesen letzten Momenten erhaschen konnten. +Ich habe verlumpte, abgerissene, verkommene, verdreckte, +verlauste und verschwärte Seeleute genug +in meinem Leben und in asiatischen und südamerikanischen +Häfen in überreicher Vollkommenheit gesehen, aber solche +Mannschaft und noch dazu eine, die nicht von einem Schiffbruch +nach tagelangem Herumirren auf eine Küste geworfen wird, sondern +die sich auf einem hinausfahrenden Dampfer befindet, je gesehen +zu haben, konnte ich mich nicht erinnern. Daß so etwas denkbar +wäre, hätte ich nicht für möglich gehalten. Ich sah gewiß nicht elegant +aus, und wenn ich ehrlich sein soll, ich war dem Abgerissensein viel +näher als dem Nichtzerlumptsein. Doch dieser Mannschaft gegenüber +sah ich aus wie der Scheik eines Chormädchens der Ziegfeld-Follies in +New York. Das war kein Totenschiff. Gott mag mir die Sünde vergeben. +Das waren ja Seeräuber vor ihrer ersten Beute; Piraten, die seit +sechs Monaten von den Kriegsschiffen aller Nationen verfolgt werden; +Buccaneers, die so tief gesunken sind, daß sie keinen andern Ausweg +mehr sehen, als chinesische Gemüse-Dschunken auf dem Meer zu überfallen +und auszurauben. +</p> + +<p> +Heilige Seeschlange, waren die zerlumpt, waren die dreckig! Einer hatte +keine Mütze auf, weil er weder Hut noch Mütze besaß, sondern hatte +ein Stück von einem grünen Unterrock wie einen Turban um den Kopf +gewickelt. Ein andrer hatte, meine Herren! nein, Sie werden es nicht +glauben, aber ich will doch gleich auf einem Auslegerboot als Kesselheizer +angemustert werden, wenn es nicht wahr ist, einer hatte sogar +einen Zylinderhut auf. Stellen Sie sich das vor, ein Seemann mit einem +Zylinderhut. Hat die Welt so etwas je erlebt? Vielleicht war er die letzte +halbe Stunde vor der Ausfahrt noch Schornsteinfeger gewesen. Oder er +hatte hier auf dem Eimer den Schornstein gefegt. Vielleicht war das eine +besondere Anordnung auf der Yorikke, daß der Schornstein nur im +Zylinderhut gefegt werden darf. Ähnliche merkwürdige Anordnungen +habe ich auf Schiffen erlebt. Aber die Yorikke gehörte nicht zu jenen +Schiffen, wo man merkwürdige Anordnungen einführte; die Yorikke +war ein Schiff, wo man mit den Anordnungen, die tausend Jahre alt +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +sind, genug zu tun hat, um den Eimer in Gang zu halten. Nein, dieser +Zylinder war nur darum im Gebrauch, weil der Mann keine andre +Kopfbedeckung hatte, und wenn er sie gehabt hätte, offenbar Geschmack +genug besaß, daß er zu der Frackweste, die er auf dem Leibe trug, nicht +gut eine Tellermütze aufsetzen konnte. Es schien gar nicht so unmöglich +zu sein, daß er von seiner eignen Hochzeit entsprungen war in jenem +verhängnisvollen Augenblick, als es anfing, ernst zu werden. Und weil er +keinen andern Zufluchtsort vor den Megären fand, er in seiner letzten +Not die Yorikke erwischte, wo man ihn mit offnen Armen willkommen +hieß. Hier suchte ihn keine der Megären, sicher nicht einen, der in Frack +und Zylinder der Braut die Hacken zeigte. +</p> + +<p> +Hätte ich gewußt, daß sie wirklich Seeräuber wären, ich hätte sie angefleht, +mich mitzunehmen zu Ruhm und Gold. Aber wenn man kein +Unterseeboot hat, ist Seeräuberei heute nicht mehr lohnend genug. +</p> + +<p> +Nein, da es keine Seeräuber sind, dann schon lieber den Henker, als hier +gezwungen sein, die Yorikke zu fahren. Das Schiff, das mich von dem +sonnigen Spanien fortlocken kann, das muß schon eins sein, doppelt so +gut wie die Tuscaloosa. Ach, wie lang ist das her. Ob sie noch in New +Orleans zu Hause ist? New Orleans, Jackson Square, Levee und ach – +na, wollen wir mal wieder Blutwurst aufspießen; sobald der bunte Eimer +vorüber ist, werden wir ja vielleicht noch einen Zweipfünder machen. +Wenn nicht, ist es auch gut; dann wollen wir mal sehen, was die Nudelsuppe +macht, oder was es drüben auf dem Holländer zum Abendessen +gibt. +</p> + +<p> +Wie eine Schnecke, die sich überfressen hat, sich aber gleichzeitig trainieren +muß für das nächste Schneckenwettlaufen, so zog Yorikke vorüber. +</p> + +<p> +Als die Köpfe der Buschräuber gerade über mir waren, rief einer von +ihnen herunter zu mir: „Hey, ain’t ye sailor?“ +</p> + +<p> +„Yesser.“ +</p> + +<p> +„Want a dschop?“ Auf sein Englisch braucht er sich nichts einzubilden, +aber für enge Familienverhältnisse reicht es aus. +</p> + +<p> +Ob ich Arbeit haben will. +</p> + +<p> +Ei, orgelspielender Grizzlybär, der wird das doch nicht etwa ernst +meinen? +</p> + +<p> +Ob ich Arbeit haben will? +</p> + +<p> +Nun bin ich verloren. Da ist diese Frage, die ich mehr gefürchtet hatte +als die Posaune des Erzengels Michael am Auferstehungstage. Es ist +doch üblich, daß man selbst um Arbeit nachfragen gehen muß. Das ist +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +doch ewiges unveränderliches Gesetz, solange es nun schon Arbeiter +gibt. Und ich bin nie fragen gegangen, immer aus Angst, es hätte einmal +jemand ja sagen können. +</p> + +<p> +Wie alle Seeleute bin ich abergläubisch. Auf dem Schiff und auf dem +Meer ist man auf Zufälle und also auch auf Aberglauben angewiesen, +sonst hielte man es nicht aus und würde verrückt. Und dieser Aberglaube +ist es, der mich zwingt, ja zu sagen, wenn mich jemand fragt, ob +ich Arbeit haben will. Denn würde ich nein sagen, so würde ich mein +Glück verschwören, würde nie wieder im Leben ein Schiff bekommen +und am allerwenigsten bekommen, wenn ich es so bitter notwendig +brauchte. Manchmal glückt das Erzählen einer Geschichte, aber manchmal +glückt es nicht, und der Mann brüllt „Polizei! Betrüger!“ Wenn man +dann nicht schnell ein Schiff zur Hand hat, glaubt die Polizei jenem +Manne, der keinen Spaß versteht und keine Ideen hat. +</p> + +<p> +Dieser Aberglaube hat mir schon manchen bösen Streich gespielt und +mir Beschäftigungen auf den Hals gebracht, von denen ich nie geglaubt +hätte, daß solche überhaupt in der Welt vorhanden seien. Er war die +Ursache, daß ich Totengräbergehilfe in Guayaquil in Ecuador wurde, +und daß ich auf einem Jahrmarkte in Irland mit meinen eignen Händen +helfen mußte, das Kreuz, an dem unser Herr und Heiland Jesus +Christus seinen letzten irdischen Seufzer aushauchte, splitterweise zu +verkaufen. Jeder Splitter kostete eine halbe Krone, und das Vergrößerungsglas, +das die Leute dazu kaufen mußten, um den Splitter auch zu +sehen, kostete eine andre halbe Krone. Zu solcher Beschäftigung, die mir +zweifellos nicht gut angeschrieben werden wird, kommt man aber, wenn +man abergläubisch ist. Seitdem mir das in Irland zugestoßen ist, habe +ich auch nichts mehr drum gegeben, ein braver und guter Mensch zu +bleiben, denn ich wußte, daß ich nun alles Zukünftige verspielt hatte. +Es war ja nicht, daß ich die Splitter hatte verkaufen helfen. Nein, das +war nicht so schlimm, das wäre mir vielleicht gar als ein Verdienst angerechnet +worden. Viel schlimmer war, daß ich auch geholfen hatte, mit +dem Geschäftsinhaber in einem Hotelzimmer die Splitter aus einem +alten Kistendeckel anzufertigen. Aber auch das wäre noch nicht so unverzeihlich +gewesen, wenn ich nur nicht vor den Leuten meine Seele +verschworen hätte, daß ich die Splitter selbst aus Palästina mitgebracht +hätte, wo sie mir ein alter, zum Christentum bekehrter Araber, in +dessen Familienbesitz die Splitter seit achtzehnhundert Jahren gewesen +waren, anvertraut hätte mit der feierlichen Versicherung, daß +ihm Gott im Traume erschienen sei und ihm anbefohlen habe, diese +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +Splitter nur nach Irland und sonst nirgend woanders hin gelangen zu +lassen. Die in arabischen Zeichen geschriebenen Dokumente konnten wir +vorweisen und auch eine Übersetzung in Englisch, aus der hervorging, +daß in dem Dokumente wirklich das drin stünde, was wir auf dem +Jahrmarkte erzählten. Solche Streiche kann einem der Aberglaube +spielen, yes, Sir. +</p> + +<p> +Hätten wir das eingenommene Geld wenigstens an ein Kloster oder an +den Papst abgeschickt, dann wäre es ja auch nicht so schlimm gewesen +und ich hätte Hoffnung, daß mir vergeben würde. Aber wir verbrauchten +das Geld für uns, und ich war sehr bedacht darauf, daß ich auch +meine richtigen Prozente und Tantiemen bekam. Aber ich war keineswegs +ein Betrüger, ich war nur ein Opfer des Aberglaubens, meines +Aberglaubens. Denn die guten Leute glaubten mir, die waren nicht +abergläubisch. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-24"> +22 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> war es ganz natürlich, daß, als ich gefragt wurde, +ob ich Arbeit haben wollte, ich ja sagte. Ich war innerlich +gezwungen, ja zu sagen, und ich konnte diesem +Zwange nicht entweichen. Ich bin sicher, daß ich bleich +wurde vor Todesangst, auf diesen Eimer zu müssen. +</p> + +<p> +„A. B.?“ fragte der Mann. +</p> + +<p> +Glück zu, da war die Rettung. Die brauchten einen +A. B., und ich war kein A. B. Ich hütete mich weislich, +nun zu sagen: „Plain“, denn im Notfalle kann ein Deckarbeiter auch +am Rade stehen, besonders wenn das Wetter ruhig ist und keine großen +Kursveränderungen sind. +</p> + +<p> +Deshalb antwortete ich: „Nosser, no A. B. Black gang. Schwarze Bande.“ +</p> + +<p> +„Fein!“ schrie der Mann herunter. „Das ist ja, was wir brauchen. Mach +hurtig voran. Hopp auf.“ +</p> + +<p> +Nun wurde mir alles klar. Sie nahmen, was sie kriegten, und woher sie +es kriegten, weil sie um soundsoviele Mann zu kurz waren. Ich hätte +sagen können: Koch, oder ich hätte rufen können: Zimmermann oder +Boss’n, sie würden immer gerufen haben: „Hopp auf!“ Da war etwas +nicht in Ordnung. Verflucht, sollte sie doch ein –, nein, trotz aller verdächtigen +Begleitumstände, die Yorikke schien doch kein Totenschiff +zu sein. +</p> + +<p> +Ich mußte die letzten Karten spielen. +</p> + +<p> +„Where ’re ye bound? Wohin geht ihr raus?“ +</p> + +<p> +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +„Wo wollen Sie hin?“ +</p> + +<p> +Die sind geeicht. Da ist kein Entrinnen. Ich kann rufen Südpol, ja, ich +kann rufen Genf, sie werden mir, ohne zu zucken, entgegenrufen: „Da +gehen wir hin.“ +</p> + +<p> +Aber ich wußte ein Land, wo der Eimer nicht wagen dürfte, hinzugehen, +das war England. Deshalb sagte ich: „England.“ +</p> + +<p> +„Mann, was für ein Glück haben Sie!“ schrie die Stimme. „Wir haben +Ladung, Stückgut für Liverpool. Sie können da abmustern.“ +</p> + +<p> +Da hatten sie sich verraten. Das einzige Land, wo ich nicht abmustern +konnte und auch kein andrer Seemann, der nicht auf einem englischen +Boot fuhr, das war England. Aber dieser Antwort Liverpool konnte ich +nicht ausweichen. Ich konnte ihnen doch nicht beweisen, daß sie +schwindeln. +</p> + +<p> +Es scheint so lächerlich zu sein. Es konnte mich natürlich niemand +zwingen, anzuzeichnen für irgendein Boot, auf keinen Fall, solange +ich hier auf festem Boden stand und nicht unter der Gerichtsbarkeit und +Gesetzesgewalt des Skippers. Aber das ist ja immer so: wenn man sich +zu wohl und zu glücklich fühlt, dann möchte man es noch besser haben, +läge dieses Besser-haben-Wollen auch nur darin versteckt, daß man sich +nach einem Landschaftswechsel sehnt und eine stille ewige Hoffnung +pflegt und nährt, daß jeder Wechsel zu Besserem führen müsse. Ich +glaube, seit Adam sich im Paradiese langweilte, ist es der Fluch der +Menschen, sich nie vollkommen glücklich zu fühlen und immer auf der +Jagd nach einem größern Glück zu sein. Wenn ich an England denke +mit seinem ewigen Nebel, seiner ewigen naßkalten Witterung, seiner +Fremdenhetzerei, seines ewig stupid lächelnden Kronprinzen, dem die +Maske angefroren ist, und es vergleiche mit diesem freien, sonnigen +Lande und seinen freundlichen Bewohnern und mir nun vorstelle, daß +ich alles dies zurücklassen soll, so ist mir aber doch in der Tat zum +Sterben zumute. +</p> + +<p> +Aber da war das Schicksal. Ich hatte ja gesagt, ich hatte nun als guter +Seemann, der zu seinem Wort steht, anzuzeichnen für den Eimer, und +wenn er direkt auf den Meeresboden führe; mit diesem Boot, das ich +ausgelacht, laut und heulend ausgelacht hatte, als ich es zum ersten +Male gesehen, und das zu fahren ich nicht gedacht hatte, auch wenn ich +den letzten Atemzug dadurch hätte aufhalten können. Nicht mit diesem +Schiff und nicht mit dieser Mannschaft. Yorikke rächte sich dafür, daß +ich sie ausgelacht hatte. Aber es geschah mir im Grunde ganz recht, +warum war ich hier hinuntergegangen und hatte mich von ausfahrenden +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +Schiffen sehen lassen. Da soll man mit der Nase wegbleiben, ausfahrende +Eimer gehen einen gar nichts an, wenn es nicht der eigne ist, +man soll sie in Ruhe lassen und nicht hinter ihnen herspucken wollen. +Das ist immer Pech. Das können die nicht vertragen. +</p> + +<p> +Ein Seemann soll nicht von Fischen träumen, und er soll nicht an Fische +denken, das ist nicht gut. Und ich war hierhergegangen und wollte +sogar welche fangen. Jeder Fisch oder seine Mutter hat schon an einem +ertrunkenen Seemann genascht, darum soll sich ein Seemann vor +Fischen hüten. Wenn ein Seemann Fische essen will, soll er sie sich von +einem ordentlichen Fischersmann kaufen. Fische fangen ist dessen Geschäft, +dem tun sie nichts; wenn der von Fischen träumt, bedeutet +es Geld. +</p> + +<p> +Ich schoß die letzte Frage, die möglich war: „Was wird gezahlt?“ +</p> + +<p> +„Englisch Geld.“ +</p> + +<p> +„Wie ist das Essen?“ +</p> + +<p> +„Reichlich.“ +</p> + +<p> +Nun war ich umzingelt. Nicht eine schmale Ritze blieb offen. Es gab +für mein Gewissen auch nicht eine einzige Entschuldigung, mein Yes +zurückzunehmen. +</p> + +<p> +Sie warfen ein Tau rüber, ich fing das Tau auf, schwang mich mit voran +gestreckten Füßen gegen die Bordwand, und während sie von Deck aus +das Tau einholten, stieg ich an der Wand empor und sprang oben über +die Verschanzung. +</p> + +<p> +Als ich nun auf dem Deck stand, kam Yorikke merkwürdig rasch in +volle Fahrt, und während ich das versinkende Spanien mit meinen +Augen liebkoste, hatte ich das Gefühl, daß ich jetzt durch jenes große +Tor geschritten war, über dem die schicksalsschweren Worte stehen: +</p> + +<p class="center"> +Wer hier eingeht,<br> +Dess’ Nam’ und Sein ist ausgelöscht,<br> +Er ist verweht! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-2"> +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +ZWEITES BUCH +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="epi" id="chapter-2-1"> +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +INSCHRIFT +ÜBER DEM MANNSCHAFTSQUARTIER +DES TOTENSCHIFFES +</h3> + +</div> + +<p class="center"> +WER HIER EINGEHT,<br> +DESS’ NAM’ UND SEIN IST AUSGELÖSCHT.<br> +ER IST VERWEHT<br> +VON IHM IST NICHT EIN HAUCH ERHALTEN<br> +IN DER WEITEN, WEITEN WELT.<br> +ER KANN ZURÜCK NICHT GEHN,<br> +NICHT VORWÄRTSSCHREITEN,<br> +DA, WO ER STEHT, IST ER GEBANNT.<br> +IHN KENNT NICHT GOTT UND KEINE HÖLLE.<br> +ER IST NICHT TAG, ER IST NICHT NACHT.<br> +ER IST DAS NICHTS, DAS NIE, DAS NIMMER.<br> +ER IST ZU GROSS FÜR DIE UNENDLICHKEIT<br> +UND IST ZU WINZIG FÜR DAS SANDKÖRNLEIN,<br> +DAS SEINE ZIELE HAT IM WELTENALL.<br> +ER IST DAS NIEGEWESEN<br> +UND DAS NIEGEDACHT! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-2"> +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +23 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> betrachtete ich mir die Haifischjäger in der Nähe. +Der Eindruck, den ich von draußen gewonnen hatte, +wurde keineswegs besser. Er wurde nicht einmal +schlimmer, sondern er wurde einfach vernichtend. +Ich hatte ursprünglich geglaubt, daß einige der Leute +Neger und einige Araber wären. Aber jetzt erkannte +ich, daß sie nur unter Kohlenstaub und Dreck so +aussahen. Der Deckarbeiter steht ja nun auf keinem +Schiff, die russischen Bolschewistenschiffe vielleicht ausgenommen, in +der gleichen menschlichen Rangstufe mit dem Skipper. Wo sollte das +aber auch hinführen? Man könnte die beiden ja eines schönen Tages +miteinander verwechseln und herausfinden, daß der Deckarbeiter ein +ebenso intelligenter Mensch ist wie der Skipper. Zuweilen wäre das +sogar noch nicht einmal ein Beweis, daß der Deckarbeiter überhaupt +Intelligenz besitzt. +</p> + +<p> +Hier gab es zweifellos sogar noch unter den Deckarbeitern Rangstufen. +Da waren Deckarbeiter ersten Grades, Deckarbeiter zweiter, dritter +und vierter Ordnung. Jene beiden Taschendiebe, die da standen, +schienen Deckarbeiter fünften Grades zu sein. Ich weiß nicht, welches +augenblicklich die unzivilisierteste Menschenrasse ist. Das wechselt ja +mit jedem Jahre, je nachdem, wie wertvoll oder wie wertlos, für andre, +das Land ist, wo diese Menschenrasse lebt. Aber diese beiden Deckarbeiter +würden bei jener unzivilisierten Rasse wohl noch nicht einmal +gebraucht werden können, um Kokosnüsse aufzuschlagen. So viele Deckarbeiter, +daß jeder Grad seinen rechtmäßigen Vertreter hier haben +konnte, hatte man für die Yorikke nicht auftreiben können. Infolgedessen +waren die Deckarbeiter des ersten, des zweiten, des dritten und +des vierten Grades nicht vertreten, nur zwei des fünften und drei des +sechsten Grades. Die Vertreter des fünften Grades habe ich geschildert, +die des sechsten kann ich nicht beschreiben, da ich sie mit nichts vergleichen +kann, was sich sonst auf Erden findet. Sie waren durchaus +Original, und ich muß mich damit begnügen, zu sagen, sie waren würdig +vertreten, und man glaubte es ihnen ohne Legitimation, daß sie der +sechsten Ordnung angehörten. +</p> + +<p> +„Gauten Tahk!“ Der Anführer der Taschendiebe und der Jahrmarktsbetrüger +– halt, ich wollte sagen: der Anführer der Taschendiebe und +der Roßtäuscher kam auf mich zu. „Ich bing da zwiehte Inkscheneer. +Disser hier, was miehn Nachtbur ist, disser iehst da Dunkymänn.“ Das +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +war ein Englisch! – Ich muß es wohl zukünftig mehr in eine besser +lesbare Sprache übersetzen, um es verständlich zu machen. Er wollte mir +mitteilen, daß er der Zweite Ingenieur und damit mein direkter Vorgesetzter +sei, seit ich zur Schwarzen Bande gehörte, und daß sein Nachbar, +der an seiner Seite stand, der Donkeyman sei, also mein Unteroffizier. +</p> + +<p> +„Und ich,“ stellte ich mich nun selbst vor, „ich bin der Generaldirektor +der Kompanie, die diesen Eimer besitzt, und ich bin an Bord gekommen, +um euch Burschen ordentlich Beine zu machen.“ +</p> + +<p> +Denn wenn die beiden glaubten, sie könnten mich aufziehen, dann +müssen sie sich schon einen andern suchen, nicht gerade einen, der schon +als Küchenjunge fuhr, als seine Altersgenossen noch das Abc lernten. +Mit solcher Vanille müßt ihr mir nun nicht kommen, dann haben wir +den rechten Ton gleich von der ersten Wache an und werden nicht viel +gewürzte Schokolade miteinander trinken. +</p> + +<p> +Aber er hatte nicht begriffen, was ich gesagt hatte; denn er sprach +weiter: „Gehen Sie zum Quartier und suchen Sie sich Ihre Bunk.“ +</p> + +<p> +Ja, da fallen mir aber doch die Holzschindeln vom Dach, der wird doch +nicht etwa im Ernst geredet haben und ist tatsächlich der Zweite Ingenieur +und mein Vorgesetzter, dieser ausgebrochene Galeerensträfling? +Als hätte mich jemand mit einer Keule über den Schädel gehauen, so +torkelte ich nun zum Forecastle, zum Quartier. +</p> + +<p> +Ein paar Mann lagen faul in ihrer Bunk. Als ich hereinkam, sahen sie +mich schläfrig an, ohne irgendein Interesse oder irgendein Erstaunen +zu zeigen. Solche unerwarteten Auffrischungen der Mannschaft schienen +zu oft vorzukommen, als daß sie wert gewesen wären, sie zu beachten. +Ich habe später einmal gehört, daß in einem Dutzend Häfen, die +Yorikke gelegentlich anzulaufen pflegte, immer zwei oder drei Mann +am Ufer lagen, die aus diesem oder jenem Grunde kein andres Schiff +kriegen konnten oder unbedingt fort mußten, weil die Kaie zu heiß +wurden, und nun täglich beteten: „O Herr der Schiffe und Heerscharen, +laß’ die gute alte Yorikke hereinkommen!“ Denn auf der +Yorikke fehlten immer zwei oder drei Mann, und ich bin sicher, daß die +Yorikke noch nie in ihrem urlangen Leben jemals mit voller Mannschaft +gefahren ist. Man sagte der Yorikke auch sonst noch etwas Häßliches +nach. Es wurde behauptet, ihr Skipper sei schon viele, viele Male +zu den Galgen gegangen und habe die Gehenkten untersucht, ob nicht +noch ein Fünkchen Leben in ihnen zurückgeblieben sei und sie noch so +viel Atem hätten, um ein Ja zu flüstern und angemustert zu werden für +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +die Yorikke. Diese Nachrede ist häßlich, das weiß ich, aber sie ist nicht +aus der Luft gegriffen und keiner Katze aus dem Ohrläppchen gesaugt. +Ich fragte nach einer leeren Bunk. Einer der Leute deutete mit dem +Kopfe nach einer oberen Schachtel. Ich fragte, ob auch niemand drin +verreckt sei. Der Mann nickte und sagte dann: „Die untere Kommode +ist auch frei.“ +</p> + +<p> +So nahm ich die untere. Der Mann verlor jegliches Interesse an mir und +meinem Tun. +</p> + +<p> +In der Bunk war keine Matratze, kein Strohsack, kein Kissen, keine +Decke, kein Bettuch. Nichts. Nur das nackte wurmstichige Holz. Und sogar +an dem Holze hatte man jeden Millimeter gespart, der nur gerade +noch abzusparen war, damit man den Koffer für menschliche Gebeine +noch Bunk nennen könne und nicht etwa einen Schirmkoffer. In jedem +der beiden Bunks, die meinem gegenüber lagen, der eine oben der andre +unten, lagen Lumpen und zerrissene alte Säcke. Das waren die +Matratzen für die Mannschaften, die jetzt auf Wache waren oder auf +dem Deck herumlungerten. Als Kissen hatten sie altes Tauwerk. Daß +man auf altem Tauwerk schlafen könnte, mußte also doch keine Sage +aus fernen Zeiten sein. In der Bunk, die über der meinen lag, in der also +einer kürzlich verreckt war, vielleicht gestern erst, lagen keine Lumpen. +Wenn ich auf meiner Bunk saß, so konnte ich die gegenüberliegende +Bunk erreichen, ohne daß ich die Beine hätte lang ausstrecken brauchen. +Ich stieß bereits mit den Knien an, während ich hier saß. Der Schiffsbauer +war ein guter Rechner gewesen. Er hatte ausgerechnet, daß auf +einem Schiff immer ein Drittel oder manchmal gar die Hälfte der Mannschaft +auf Wache ist in der Zeit, wo die Bunks im Gebrauch sind. Aber +es traf sich, daß wir drei Mann, die wir in diesem Abteil wohnten, alle +dieselbe Wache hatten, so daß wir alle zu gleicher Zeit uns hier in +diesem Raum, der zwischen den Bunks kaum einen halben Meter breit +war, aus- und ankleiden mußten. Dieses Gewimmel von sich bewegenden +Armen, Beinen, Köpfen und Schultern wurde noch unübersichtlicher, +als in einem Nachbarquartier ein Mann mit seiner Bunk herunterbrach +und die gebrauchen mußte, wo der eine verreckt war. Wie +sich das ja immer so fügt, so war es auch hier; der neue Quartierbewohner +gehörte mit zu unsrer Wache, und nun waren die Einzelheiten +des Gewimmels beim An- und Auskleiden überhaupt nicht mehr +zu unterscheiden. Wenn es gar zu arg durcheinanderging, so daß die +Schiffsglocke schon die Wache ausrief, dann schrie der eine oder der +andre plötzlich ein brüllendes Halt! aus, bei dem nach stillem Übereinkommen +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +jeder von uns still hielt für die Dauer einer Sekunde. Dieses +Halt! durfte nicht unnützlich geführt werden, sondern nur dann, wenn +einer in höchster Not war, daß er seinen linken Arm verloren hatte oder +sein rechtes Bein sich mit dem linken Bein eines der andern Insassen so +vertauscht hatte, daß man ohne dieses Halt! nie herausgefunden hätte, +daß der Martin mit dem rechten Bein des Bertrand auf Wache ging, +während Bertrand erst bei Tagesanbruch merkte, daß er die ganze +Wache hindurch mit der rechten Hand des Martin und mit der linken +des Henrik das Ruderrad gequirlt hatte, während ich die Hände Bertrands +verdreckte und überhaupt nicht wußte, wer meine abnutzt. +</p> + +<p> +Ernstere Folgen hatte es schon, wenn im trüben Halbschlummer der +rußenden Quartierlampe Bertrand mit seinem rechten Bein in das +linke Bein seiner eignen Hose stieg, während er mit seinem linken Bein +voll angezogen im rechten Bein der Hose Henriks steckte. Manchmal +kostete es zwei halbe Hosen, manchmal kostete es nach allen Seiten +herumfliegende Püffe, manchmal eine eingebrochene Bunk oder eine +durchstoßene Tür. Immer aber kostete es eine ganze Freiwache +Streitens und Zankens, um festzustellen, wer zuerst in das falsche +Hosenbein gestiegen sei, wodurch der Unschuldige gezwungen wurde, +sich rasch nach einem freien Hosenbein umzusehen, damit er nicht etwa +mit einem unbekleideten Beine auf die Wache zu gehen gezwungen war. +Es ist in der Tat zweimal vorgekommen, daß ein Hosenbein im Quartier +zurückblieb, das beidemal von seinem rechtmäßigen Besitzer erst vermißt +wurde als der Morgen aufkam. Es wäre ja vielleicht gegangen, +wenn man sich geeinigt hätte. Aber wer sollte denn der Ausgestoßene +sein, der eine Minute früher aufzustehen verdammt wurde? Beim Aufstehen +begann ja gleich der wütende Streit darüber, daß eine halbe +Stunde zu früh geweckt worden sei, wodurch gleich alle in die nötige +Stimmung versetzt wurden, um jede Einigungsverhandlung auszuschließen +und im Keime zu ersticken. Dieses Streiten und Wüten und +Androhen, daß man der Wache das Zufrühwecken schon anstreichen +wolle, erreichte seinen Höhepunkt gerade immer dann, wenn die Schiffsglocke +die Wache aufrief. Dann paarte sich die Wut mit Nervosität, daß +man nicht fertig würde, und gleich mit einem Anranzer die Wache beginnen +müsse, weil der Hund wieder einmal zu spät geweckt habe, was +er aus reinem Schabernack täte, wenn man an und für sich schon mit +dem Zweiten nicht gut steht. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-3"> +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +24 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">lektrisches</span> Licht hatte die Yorikke nicht; sie +wußte offenbar in ihrer Unschuld auch gar nicht einmal, +daß es so etwas gäbe. Das Quartier war erleuchtet +von einer Petroleumlampe. Man muß diesen +Leuchtapparat schon so nennen. Es war ein verbeulter +Blechbehälter mit einer Kranzverschraubung, die +aus Eisenblech war, die man aber durch betrügerische +Mittel so behandelt hatte, daß man glauben sollte, sie +sei aus reinem Messing. Vielleicht hat es eine Zeit gegeben, wo dieser Betrug +aufrechterhalten werden konnte. Aber weil jedes Kind weiß, daß +Messing nicht rostet und von jenem Messingkranz nur noch Rost übriggeblieben +war, der durch eine lange Gewohnheit in der Form eines +Zylinderkranzes zusammenhielt, so war der Betrug herausgekommen, +freilich zu einer Zeit, als die Lampe nicht mehr umgetauscht werden +konnte, weil die Garantie abgelaufen war. Die Lampe hatte auch einmal +einen Zylinder gehabt. Der winzige Rest dieses Zylinders konnte allein +nur dadurch als Überbleibsel eines brauchbaren Lampenzylinders +zweifelsfrei festgestellt werden, weil zuweilen die Frage durch das +Quartier schwirrte: „Wer ist denn heute dran, den Zylinder zu putzen?“ +Es war nie jemand dran, und es ging auch nie jemand dran. Diese Frage +wurde auch nur aus alter Gewohnheit gestellt, um uns in dem Glauben +zu lassen, wir besäßen einen Lampenzylinder. Ich habe nie jemand gesehen, +der so viel Mut besessen hätte, „dran“ zu gehen. Er wäre nicht +mehr davongekommen. Eine leise direkte Berührung des Zylinders +hätte ihn in Staub zerfallen lassen, der Missetäter wäre dafür verantwortlich +gewesen, man hätte ihm den Zylinder von der Heuer abgezogen, +und auf diesem Wege hätte die Kompanie einen neuen Zylinder bekommen. +Das Schiff noch lange nicht. Irgendwo hätte sich schon ein +Glasscherben gefunden, der durch die Frage: „Wer ist denn heute dran?“ +die Form eines Zylinders bekommen hätte. Die Lampe selbst war eine +der Lampen, die jene sieben Jungfrauen getragen hatten, als sie auf der +Hut waren. Unter solchen Umständen durfte man nicht gut erwarten, +daß sie ein Seemannsquartier auch nur notdürftig erleuchten konnte. +Der Docht war auch noch derselbe, den eine Jungfrau aus ihrem wollenen +Unterrock geschnitten hatte. Das Öl, das wir für die Lampe faßten, +und das aus betrügerischen Gründen Petroleum, manchmal sogar +Diamantöl genannt wurde, war schon ranzig, als die Jungfrauen Öl auf +ihre Lampen gossen. In der Zwischenzeit war es nicht besser geworden. +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +Bei dem traulichen, zu traulichen Schein dieser Lampe, die laut Vorschrift +die ganze Nacht hindurch im Quartier zu brennen hatte und die +erstickend schlechte Luft noch mehr verdickte, weil sie nie brannte, +sondern stets nur schmökte, sich an- und auszukleiden, entweder müde +zum Zusammenbrechen oder völlig schlaftrunken durch ein handfestes +Aufgerissenwerden, hätte in diesem engen Raum zu größeren Katastrophen +geführt als ich zu erzählen für gut befunden habe, wenn nicht +in den meisten Fällen abschwächende Umstände vorhanden gewesen +wären. Es werden ja selten Dinge auf die äußerste Spitze getrieben. +Um die Wahrheit zu gestehen, in den meisten Fällen wurde weder ausgekleidet, +noch angekleidet. Nicht etwa, daß wir nichts zum An- und +Auskleiden gehabt hätten. Das war es nicht. Etwas war schon immer +noch vorhanden, daß wir wenigstens den guten Willen zeigen konnten. +Aber was dann, wenn man weder eine Matratze, noch eine Decke, noch +sonst etwa etwas Ähnliches hat? +</p> + +<p> +Als ich ankam, hatte ich in der Erinnerung an normale Boote gefragt: +</p> + +<p class="ibr"> +„Wo ist denn die Matratze für meine Bunk?“ +</p> + +<p> +„Wird hier nicht geliefert.“ +</p> + +<p> +„Kissen?“ +</p> + +<p> +„Wird hier nicht geliefert.“ +</p> + +<p> +„Decke?“ +</p> + +<p> +„Wird hier nicht geliefert.“ +</p> + +<p> +Mich wunderte nur, daß die Kompanie überhaupt das Schiff lieferte, +das wir zu fahren hatten; und ich wäre nicht erstaunt gewesen, wenn man +mir gesagt hätte, das Schiff muß jeder selber mitbringen. Ich war an +Bord gekommen mit einem Hut, einer Jacke, einer Hose, einem Hemd +und einem Paar – als sie noch neu waren, hatten sie Stiefel geheißen. +Heute konnte man sie nicht gut so nennen, man würde es mir nicht geglaubt +haben. Da waren aber andre an Bord, die nicht so reich waren. +Einer hatte überhaupt keine Jacke, ein andrer überhaupt kein Hemd +und ein Dritter hatte keine Schuhe, sondern eine Art Mokassins, die er +sich aus alten Säcken, Kistendeckeln und Tauwerk gemacht hatte. Später +erfuhr ich, daß die, die am wenigsten hatten, beim Skipper am höchsten +angesehen wurden. Sonst ist es gewöhnlich andersherum. Aber hier, je +weniger jemand hatte, desto weniger unternahm er das Wagnis, auszusteigen +und die gute Yorikke ihrem Schicksal zu überlassen. +</p> + +<p> +Meine Bunk war an der Korridorwand befestigt. Die gegenüberliegenden +Bunks waren an einer Holzwand befestigt, die das Quartier in zwei +Kammern teilte. An der andern Seite dieser Holzwand waren gleichfalls +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +zwei Bunks und diesen beiden Bunks gegenüber an der äußeren +Bordwand waren abermals zwei Bunks. Dadurch war es möglich gemacht +worden, daß dieses Quartier, das für vier ausgewachsene Menschen +schon reichlich knapp war, nun acht Leuten zum ständigen Wohnaufenthalt +zu dienen hatte. Jene Holzwand, die das Quartier in zwei +Kammern teilte, war aber nicht durch das ganze Quartier gezogen, weil +sonst die Leute, die in der äußeren, der Bordwandkammer lagen, zur +Seitenluke hätten herauskriechen müssen, die aber auch nicht groß +genug war, daß sich jemand hätte hindurchzwängen können. Diese +Wand war also nur in zwei Drittel Länge mitten durch den Raum gezogen, +und da, wo diese Wand aufhörte, begann der Meßraum, der +Speisesalon. Laut Vorschrift muß der Meßraum von den Schlafkammern +getrennt sein. Das war hier vollkommen geglückt. Alle drei Räume +waren derselbe Raum, durch die Wand aber war dieser Raum in drei +Räume geteilt, wo eben nur die Türen immer offen waren. So hatte man +sich das zu denken, denn die Kammern hatten keine besondere Tür, das +Quartier hatte eine gemeinschaftliche Tür, die in den Korridor führte. +In jenem Meßraum stand der rohe Eßtisch, und an jeder Längsseite des +Tisches war eine rohe Bank. In einer Ecke, neben dem Eßtisch, stand +ein alter verbeulter Blecheimer, der immer leckte. Er war Wascheimer, +Badewanne, Scheuereimer alles in einer Gestalt. Außerdem diente er +noch andern Zwecken, darunter auch solchen, um schwerbesoffene Seeleute +um einige Kilo zu erleichtern, in den Fällen, wo der Eimer rechtzeitig +erreicht wurde. Wurde er zu spät erreicht, wachte gewöhnlich ein +Unbeteiligter in seiner Bunk auf, weil er von einem Wolkenbruch heimgesucht +worden war, der alles mögliche in die Bunk gebracht hatte, das +auf und unter der Erde erzeugt wird, mit der einzigen Ausnahme: +Wasser. Wasser war nicht dabei, bei diesem Wolkenbruch, no, Sir. +</p> + +<p> +Da waren vier Kleiderspinde in diesem Quartier. Wäre es nicht der +verrotteten Lumpen und alten Säcke wegen gewesen, die darin hingen, +so hätte man die Spinde leer nennen können. Acht Mann lagen in diesem +Quartier, aber es waren nur vier Spinde drin. Vier Spinde zuviel, denn +wenn man nichts zum Reinhängen hat, braucht man auch kein Spind. +Das war ja auch der Grund, weshalb nur vier vorhanden waren. Es war +von vornherein ausgemacht, daß fünfzig Prozent der Mannschaft, die +auf der Yorikke fahren, nichts haben, das sich lohnen möchte, in einem +Spinde aufbewahrt zu werden. Türen hatten die vier Spinde nicht mehr, +woraus zu schließen war, daß hundert Prozent der Mannschaft keine +Spinde benötigten. +</p> + +<p> +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +Die Bullaugen waren auffallend klein und trübe. Die Frage, wer sie zu +putzen hatte, tauchte zuweilen auf, aber niemand beantwortete sie mit +„ich“, und wenn sie einer mit „Sie“ oder mit „du“ beantwortete, so wurde +das unter Wutausbrüchen bestritten, bis man sich auf „er“ einigte. Wer +immer auch dieser Er sein mochte: wenn er genannt wurde, war er auf +Wache, konnte also an der Abstimmung dieser Frage nicht teilnehmen +und hätte jetzt übrigens auch gar keine Zeit gehabt, sich um ungeputzte +Bullaugen zu kümmern. Das Putzen des einen kam ja sowieso nicht in +Frage, weil das Glas ausgebrochen und die leere Stelle mit Zeitungspapier +verklebt worden war. +</p> + +<p> +Das war der Grund, weshalb selbst bei hellem Sonnenschein das Quartier +in mysteriöse Dämmerung gehüllt war. Die beiden Bullaugen, die +zum Deck hinausführten, durften bei Nacht nicht geöffnet werden, weil +das Lampenlicht des Quartiers die Wache auf der Brücke störte. Deshalb +stand in dem Quartier die Luft still wie festgerammt, weil kein +Durchzug war. +</p> + +<p> +Jeden Tag wurde das Quartier gefegt von einem, der im Dreck stecken +blieb und seine Füße nicht mehr herausziehen konnte oder eine Nähnadel +oder einen Knopf verloren hatte. Einmal in der Woche wurde das +Quartier mit Salzwasser überflutet, was wir scheuern und schrubben +nannten. Es gab weder Seife, noch Soda, noch Bürsten. Wer sollte sie +liefern? Die Kompanie nicht. Und die Mannschaft hatte nicht einmal +Seife, um sich ein Hemd zu waschen. Man war schon selig, wenn man +eine Krume Seife in der Tasche trug, um sich das Gesicht zuweilen +waschen zu können. Liegen lassen durfte man die Krume nicht. Wenn +sie wie ein Stecknadelknopf groß gewesen wäre, irgend jemand hätte +sie gefunden, behalten und nie zurückgegeben. +</p> + +<p> +Der Dreck war so dick und so hübsch festgetrocknet, daß man eine Axt +gebraucht hätte, ihn loszukriegen. Hätte ich je die Kraft gefunden, das +zu tun, ich würde mich darüber hergemacht haben. Nicht aus übertriebenen +Reinlichkeitsgefühlen, die gingen auf der Yorikke bald verloren, +sondern aus wissenschaftlichen Gründen. Ich trug in mir die feste +Überzeugung, und diese Überzeugung habe ich heute noch, daß, wenn +ich nicht zu müde gewesen wäre und den Dreck schichtweise abgemeißelt +hätte, dann hätte ich in den tieferen Schichten Geldmünzen der +Phönizier gefunden. Was für Schätze ich gefunden hätte, wenn ich noch +einige Schichten tiefer gedrungen wäre, wage ich gar nicht auszudenken. +Vielleicht lagen da die abgeschnittenen Fingernägel des Urgroßvaters +des Neandertalmenschen, die solange schon und so vergebens gesucht +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +werden, und die so ungemein wichtig sind, um festzustellen, ob der +Höhlenmensch schon etwas von Mr. Henry Ford aus Detroit gehört +hätte, oder ob er imstande gewesen wäre, auszurechnen, wieviel Dollar +Mr. Rockefeller jede Sekunde verdient, wenn er seine blaue Brille +putzt, denn die Universitäten können nur dann auf einen Privatzuschuß +rechnen, wenn sie einen Teil der Reklame zu übernehmen gewillt sind. +Wenn man das Quartier verlassen wollte, so hatte man einen dunklen +lächerlich schmalen Korridor zu durchwandern. An der gegenüberliegenden +Seite unsers Quartiers lag ein ähnliches Quartier, nicht genau +so, nur ähnlich, weil es noch verdreckter, noch muffiger und noch dunkler +war als unsres. Das eine Ende des Korridors führte auf das Deck, das +andre zu einer Fallgrube. Ehe man diese Fallgrube erreichte, waren zu +beiden Seiten noch je eine winzig kleine Kammer, die für den Zimmermann, +den Bootsmann, den Donkeyman und noch einen -mann bestimmt +waren, die alle im Unteroffiziersrange standen, und die deshalb +ihre eignen Quartiere hatten, damit sie nicht dieselbe Luft wie die gewöhnliche +Mannschaft zu atmen verpflichtet waren, was der Autorität +hätte schaden können. +</p> + +<p> +Die Fallgrube führte zu zwei Kammern, die eine war die Ketten- und +Rüstkammer, während die andre die Schreckenskammer genannt +wurde. Es war niemand auf der Yorikke, der behaupten konnte, er sei +je in der Schreckenskammer gewesen oder habe je einen Blick hineingeworfen. +Sie war immer fest verschlossen. Als einmal aus irgendeinem +Grunde, ich weiß nicht mehr zu sagen, welches dieser unerhörte Grund +war, nach dem Schlüssel für die Schreckenskammer gefragt wurde, +stellte es sich heraus, daß niemand wußte, wo der Schlüssel sei, und daß +die Offiziere behaupteten, der Skipper habe den Schlüssel. Der Skipper +aber verschwor seine Seele und seine noch ungeborenen Kinder, daß er +den Schlüssel nicht habe, und daß er strengstens verbiete, daß jemand +die Kammer öffne oder gar hineingehe. Jeder Skipper hat seine Schrullen. +Er hatte viele, unter andern jene, nie die Quartiere der Mannschaft +zu inspizieren, was er jede Woche einmal zu tun, laut Vorschrift, verpflichtet +war. Er begründete die Schrulle damit, daß er es nächste Woche +ja tun könne, daß er sich gerade heute nicht den Appetit verderben +wolle und auch das Besteck noch nicht gesetzt habe, was er jetzt zuerst +einmal tun müsse. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-4"> +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +25 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> waren aber doch einmal Leute in jener Schreckenskammer +gewesen und hatten sich alles angesehen, +was drin war. Diese Leute waren jetzt nicht mehr auf +der Yorikke, sie waren sofort runtergefeuert worden, +als es herauskam, daß sie es gewagt hatten, in jene +Kammer einzudringen. Aber ihre Erzählung hatte +sich doch auf der Yorikke erhalten. Solche Erzählungen +erhalten sich immer, auch wenn die gesamte +Mannschaft entlassen wird auf einen Ruck, besonders in jenen Fällen, +wenn der Eimer auf einige Monate ins Trockendock muß. +</p> + +<p> +Die Mannschaft mag das Schiff verlassen. Die Erzählungen verlassen +ein Schiff nie. Wenn das Schiff die Erzählung gehört hat, bleibt die Erzählung +auch drauf. Sie dringt in das Eisen, in das Holz, in die Bunks, +in die Ladeschächte, in die Kohlenbunker, in den Kesselraum. Und dort +erzählt das Schiff in den Nachtstunden seinen Kameraden, den Mannschaften, +die Geschichten wieder, Wort für Wort, genauer als wenn die +Geschichten gedruckt wären. +</p> + +<p> +Auch diese Geschichten über die Schreckenskammer waren erhalten geblieben. +In der Kammer hatten die beiden Eindringlinge mehrere +menschliche Skelette gesehen. Wieviele es waren, hatten sie in ihrem +grausigen Schreck nicht zählen können. Es wäre auch nur schwer möglich +gewesen, weil die Skelette auseinandergefallen und durcheinandergeschüttelt +worden waren. Es war aber eine ganze Anzahl. Es wurde +auch bald festgestellt, wer die Skelette waren, oder richtiger, wem sie +ursprünglich gehörten. Die Skelette waren die Überreste ehemaliger +Mitglieder der Yorikke-Mannschaft, die von Ratten aufgefressen worden +waren, die die Größe sehr großer Katzen hatten. Diese überlebensgroßen +Ratten waren wiederholt gesehen worden, wenn sie aus irgendwelchen +Löchern der Schreckenskammer herauswischten. +</p> + +<p> +Warum diese bedauernswerten Opfer den Ratten zum Fraße vorgeworfen +worden waren, stand zuerst nicht zweifelsfrei fest. Es kamen +Gerüchte in Umlauf, die sich schließlich aber auf eines kristallisierten. +Diese armen Männer waren geopfert worden, um die Fahrtkosten für +die Yorikke niedrigzuhalten und die Dividenden der Kompanie oder +des Einzelbesitzers der Yorikke hochzuhalten. Wenn nämlich in einem +Hafen ein Mann abmusterte und er wagte es, die Bezahlung der Überstunden +zu verlangen, wie es laut Vereinbarung getan werden soll, so +wurde er kurzerhand in die Schreckenskammer gebracht. +</p> + +<p> +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +Dem Skipper blieb ja kein andrer Ausweg. Die Bezahlung der Heuer +und die Abmusterung wurden im Hafen vorgenommen. Dort konnte +der Skipper den Mann, der seine Überstunden bezahlt haben wollte, +nicht gut über Bord werfen; denn das hätten die Hafenbehörden sehen +können und den Skipper wegen Hafenverunreinigung mit Geldstrafe +belegt. Was er mit seinem Manne tat, darum hatten sich die Behörden +nicht zu kümmern, nur was er mit dem Hafen und dem Hafenwasser +tat. Hätte der Skipper nun den Mann einfach vom Boot gehen lassen, +so wäre der Mann zur Polizei gegangen oder zum Konsul oder zu einer +Seemannsgewerkschaft, und der Skipper hätte die Überstunden bezahlen +müssen. Um das zu vermeiden, wurde der Mann kurz entschlossen +in die Schreckenskammer eingeschlossen. +</p> + +<p> +Wenn das Schiff nun auf hoher See war, so ging der Skipper runter, um +den Mann wieder rauszulassen, denn nun war er ja nicht mehr gefährlich. +Aber die Ratten wollten den Mann jetzt nicht mehr hergeben, sie +hatten schon angefangen, an ihm zu essen, und eine Anzahl von Paaren +wartete bereits mit Heiratslizenzen, weil die Gelegenheit so günstig +war, ein ganz ausgezeichnetes Hochzeitsessen geben zu können. Der +Skipper brauchte den Mann bitter notwendig zum Arbeiten, und er +mußte sich in einen Kampf mit den Ratten einlassen. Bei diesem Kampfe +aber zog der Skipper jedesmal den Kürzeren und mußte endlich, um +sein eignes Leben zu retten, die Kammer verlassen, ohne den Mann +mitzukriegen. Hilfe konnte der Skipper ja nicht herbeirufen, dann +wäre das alles herausgekommen, und er hätte von nun an die Überstunden +bezahlen müssen. +</p> + +<p> +Seitdem ich auf der Yorikke gewesen bin und sie gefahren habe, glaube +ich nicht mehr an die herzzerreißenden Geschichten der Sklaven und der +Sklavenschiffe. So dicht, wie wir gepackt waren, sind Sklaven nie gepackt +worden. So hart, wie wir arbeiten mußten, haben Sklaven nie +arbeiten brauchen. So müde und so hungrig, wie wir immer waren, sind +Sklaven nie gewesen. Sklaven waren Handelsware, für die bezahlt worden +war, und für die man hohe Bezahlung erwartete. Diese Ware mußte +sorgfältig behandelt werden. Für abgerackerte, ausgehungerte und +übermüdete Sklaven bezahlte niemand auch nur die Transportkosten, +geschweige denn einen Preis, daß der Händler noch tüchtig daran verdienen +konnte. +</p> + +<p> +Aber Seeleute sind keine Sklaven, für die bezahlt worden ist, und die +als kostbare Handelsware hoch versichert sind. Seeleute sind freie Menschen. +Sie sind frei, verhungert, verlumpt, übermüdet, arbeitslos und +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +darum gezwungen zu tun, was von ihnen verlangt wird, und zu arbeiten, +bis sie zusammenfallen. Dann werden sie über Bord geworfen, weil sie +das Futter nicht mehr wert sind. Da gibt es zu dieser Stunde noch Schiffe +zivilisierter Völker, auf denen die Seeleute gepeitscht werden dürfen, +wenn sie sich weigern, die Arbeit von zwei Wachen dauernd zu übernehmen +und von der dritten Wache noch die Hälfte, weil der Schiffsbesitzer +so schlechte Löhne zahlt, daß die Mannschaft immer um ein +Drittel zu kurz ist. +</p> + +<p> +Und der Seemann hat zu essen, was ihm vorgesetzt wird, ob der Koch +gestern noch Schneider war, weil ein richtiger Koch für die Heuer nicht +zu haben war, oder ob der Skipper an der Mannschaftskost so viel zu +ersparen trachtet, daß die Mannschaft nie satt wird. +</p> + +<p> +Die Seegeschichten erzählen viel über Schiffe und über Matrosen. Wenn +man diese Schiffe aber ein wenig aufmerksam betrachtet, dann sieht +man, daß es Sonntag-Nachmittags-Schiffe sind, und die Matrosen in +jenen Seegeschichten sind immer lustige Operettensänger, die sich die +Hände maniküren und ihren Liebeskummer hätscheln. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-5"> +26 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> den schläfrigen Leuten im Quartier hatte ich +alles in allem kaum zehn Worte gewechselt. Als +ich meine Bunk hatte und mir gesagt war, daß es +hier weder Decken noch Matratzen gäbe, war der +Gesprächsstoff erschöpft. +</p> + +<p> +Über mir hörte ich das übliche Rattern und Knattern +der Ketten, das dröhnende Hämmern des +Ankers, der gegen die Bordwand schlug, ehe er +zur Ruhe kam, das Rasseln der Wintschen, das Herumlaufen, Herumtrampeln, +das Kommandieren, das Fluchen, das alles notwendig ist, damit +ein Schiff rausgehen kann. Dasselbe Geräusch hört man, wenn das +Schiff reinkommt. +</p> + +<p> +Mich ärgert dieses Geräusch immer und macht mich mißmutig. Ich fühle +mich nur wohl, wenn der Eimer draußen auf hoher See schwimmt. Ganz +gleich, ob er heim geht oder raus. Aber ich will draußen sein mit dem +Schiff. Ein Schiff im Hafen ist kein Schiff, sondern eine Kiste, die gepackt +wird, in die eingepackt oder aus der ausgepackt wird. Im Hafen +ist man auch gar kein Seemann auf dem Schiff; man ist eben gerade +Tagelöhner. Die dreckigste Arbeit wird im Hafen gemacht, und man +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +arbeitet, als ob man in einer Fabrik wäre, aber nicht auf einem Schiff. +Solange ich das Rasseln und Kommandieren hörte, verließ ich das +Quartier nicht. Wo gearbeitet wird, da soll man nicht nahe gehen. Denn +steht man erst einmal in der Nähe, dann kann leicht etwas für einen +dabei abfallen: „He, langen Sie doch da rasch mal zu.“ Ich denke ja +gar nicht daran. Wozu denn? Ich kriege es ja nicht bezahlt. Da hängen +sie in jedes Bureau und in jeden Fabriksaal ein Plakat mit der Aufforderung: +„Do more!“ oder „Tu mehr!“ Die Erklärung wird einem +kostenfrei gegeben auf einem Handzettel, der einem auf den Arbeitsplatz +gelegt wird: „Tu mehr! Denn wenn du heute mehr tust, als man +von dir fordert, wenn du heute mehr arbeitest, als wofür du bezahlt +wirst, dann wird man dir auch eines Tages das bezahlen, was du +mehr tust.“ +</p> + +<p> +Mich hat noch nie jemand damit fangen können, darum bin ich ja auch +nicht Generaldirektor der Pacific Railway and Steamship Co. Inc. geworden. +Man kann es immer wieder in den Sonntagsblättern lesen und +in den Zeitschriften und in den Bekenntnissen erfolgreicher Männer, +daß allein durch dieses freiwillige Mehrarbeiten, das Ehrgeiz, Strebsamkeit +und den Wunsch, kommandieren zu dürfen, verrät, schon manch +einfacher schlichter Arbeitsmann Generaldirektor oder Milliardär geworden +sei, und daß jedem, der diesen Spruch gewissenhaft befolgt, der +gleiche Weg zum Generaldirektorposten offenstehe. Aber soviel Generaldirektorstellen +und soviel Milliardärposten sind in ganz Amerika +nicht frei. Da kann ich erst mal dreißig Jahre lang immer mehr und +immer noch mehr arbeiten, ohne mehr bezahlt zu bekommen, weil ich +ja doch Generaldirektor werden soll. Wenn ich dann gelegentlich einmal +nachfrage: „Na, wie ist es denn nun mit dem Generaldirektorposten, +ist noch nichts frei?“ so wird mir gesagt: „Bedaure sehr, momentan +noch nicht, wir haben Sie aber vorgemerkt, arbeiten Sie noch eine +Weile tüchtig so weiter, wir werden Sie nicht aus dem Auge verlieren.“ +Früher hieß es: „Jeder meiner Soldaten trägt den Marschallstab in +seinem Tornister“, heute heißt es: „Jeder unsrer Arbeiter und Angestellten +kann Generaldirektor werden.“ Ich habe als Junge ja auch +Zeitungen ausgeschrien und Stiefel geputzt und mir mit elf Jahren +schon meinen Lebensunterhalt verdienen müssen, aber ich bin bis heute +weder Generaldirektor noch Milliardär geworden. Die Zeitungen, die +jene Milliardäre als Jungen ausgerufen haben, und die Stiefel, die sie +geputzt haben, müssen ganz andre Zeitungen und Stiefel gewesen sein, +als die, mit denen ich in Berührung gekommen bin. +</p> + +<p> +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +Wenn man des Nachts so auf dem Ausguck steht, und es ist alles ruhig, +kommen einem allerlei schnurrige Gedanken. So habe ich mir schon ausgemalt, +was geschehen wäre, wenn die Soldaten Napoleons plötzlich alle +ihren Marschallstab aus ihren Tornistern genommen hätten. Wer macht +denn dann die Nieten warm in der Kesselschmiede? Die frischgeadelten +Generaldirektoren natürlich. Wer sonst? Es ist ja niemand sonst +übriggeblieben, der es machen könnte, und der Kessel soll doch fertig +werden, und die Schlacht soll geschlagen werden, weil man sonst weder +Generaldirektoren noch Marschälle braucht. Der Glaube füllt leere Säcke +mit Gold, macht Zimmermannssöhne zu Göttern und Artillerieleutnants +zu Kaisern, deren Namen Jahrtausende überstrahlt. Mach’ die Menschen +gläubig, und sie prügeln ihren lieben Gott zum Himmel hinaus und +setzen dich auf seinen Thron. Der Glaube versetzt Berge, aber der Unglaube +zerbricht alle Sklavenketten. +</p> + +<p> +Als das Gerassel endlich einschlief und ich bereits Deckarbeiter müßig +herumstehen sah, verließ ich das Quartier und ging hinaus aufs Deck. +Gleich hoppte der Taschendieb, der sich mir als Zweiten Ingenieur vorgestellt +hatte, auf mich zu und sagte in seinem unsagbar komischen +Englisch zu mir: „Der Skipper will mit Ihnen sprechen, kommen +Sie mit.“ +</p> + +<p> +Die Redewendung „Kommen Sie mit“ bereitet in neunzehn von zwanzig +Fällen nur den Satz vor: „Wir werden Sie für eine gute Weile hierbehalten.“ +</p> + +<p> +Auch wenn in diesem Ausnahmefalle der zweite Satz nicht gesprochen +worden wäre, so war seine Folge doch schon entschieden. Yorikke lief +bereits wie das leibhaftige Donnerwetter auf hoher See. Der Lotse +hatte das Boot verlassen, und der Erste Offizier hatte die Wache übernommen. +</p> + +<p> +Der Skipper war ein noch junger Mann, sehr gut genährt, mit einem gesunden, +roten und glattrasierten Gesicht. Er hatte wässerig blaue Augen, +und in seinem gelbbraunen Haar waren brandrote Farbtöne. Er war +außerordentlich gut gekleidet, beinahe überelegant. Die Zusammenstellung +der Farben des Anzuges, der Krawatte, der Strümpfe und der +eleganten Halbschuhe waren gut gewählt. Nach seinem Aussehen würde +man ihn nicht für den Kapitän eines kleinen Frachtdampfers, nicht einmal +für den eines großen Passagierschiffes gehalten haben. Er sah nicht +aus, als ob er einen Eimer auch nur von einer offnen Reede zu einer +andern offnen Reede bringen könnte, ohne dabei auf der andern Seite +der Erdoberfläche zu landen. Er sprach ein gutes reines Englisch, wie +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +man es in einer sehr guten Schule in einem nicht englisch sprechenden +Lande lernen mag. Die Worte wählte er sehr sorgfältig aus, es machte +den Eindruck, als ob er sehr geschickt, aber sehr rasch während des +Sprechens nur solche Worte auswählte, die er fehlerfrei aussprechen +konnte. Um dies mit Erfolg tun zu können, machte er im Sprechen +Pausen, wodurch er die Vorstellung erweckte, daß er ein Denker sei. +Der Kontrast zwischen dem Skipper und dem Zweiten Ingenieur, der +ja ebenfalls Offizier war, hatte nichts Komisches an sich, sondern war +so erschütternd, daß, wenn ich je im Zweifel gewesen wäre, wo ich war, +ich es aus diesem Kontrast sofort gewußt hätte. +</p> + +<p> +„So, Sie sind der neue Kohlenzieher?“ grüßte er mich, als ich in seine +Kabine trat. +</p> + +<p> +„Ich? Kohlenzieher? No, Sir, I am fireman, ich bin Heizer.“ Mir kam +schon der Leuchtturm in Sicht. +</p> + +<p> +„Von Heizer habe ich nichts gesagt“, mischte sich jetzt der Taschendieb +ein. „Ich habe gefragt Heizpersonal, nicht wahr, das habe ich doch +gefragt?“ +</p> + +<p> +„Das ist richtig,“ erwiderte ich, „das haben Sie gefragt, und das habe +ich mit ja beantwortet. Aber nie in meinem Leben habe ich dabei an +Kohlenzieher gedacht.“ +</p> + +<p> +Der Skipper machte ein gelangweiltes Gesicht und sagte zu dem Roßtäuscher: +„Das ist nun Ihre Sache, Mr. Dils. Ich habe geglaubt, das sei +in Ordnung.“ +</p> + +<p> +„Ich will sofort das Boot verlassen, Skipper. Ich denke mit keiner Idee +daran, als Kohlenzieher zu zeichnen. Sofort ausbooten. Ich protestiere, +und ich werde mich beim Hafenamt beschweren wegen versuchten +Shanghaiing.“ +</p> + +<p> +„Wer hat Sie shanghaied?“ fuhr jetzt der Roßtäuscher auf. „Ich? Das +ist eine unverschämte Lüge.“ +</p> + +<p> +„Dils,“ sagte der Kapitän jetzt sehr ernst, „damit will ich nichts zu tun +haben. Dafür bin ich nicht verantwortlich. Das haben Sie auszubaden, +das erkläre ich gleich hier. Machen Sie das draußen miteinander ab.“ +</p> + +<p> +Der Taschendieb ließ sich aber nicht verwirren. „Was habe ich gefragt? +Habe ich nicht gefragt: Kesselgang?“ +</p> + +<p> +„Richtig, das haben Sie gefragt, aber Sie haben nicht gesagt –“ +</p> + +<p> +„Gehört der Kohlenzieher zur Schwarzen Bande oder nicht?“ fragte der +Ingenieur nun lauernd. +</p> + +<p> +„Allerdings gehört der Kohlenzieher dazu,“ bestätigte ich der Wahrheit +gemäß, „aber ich habe –“ +</p> + +<p> +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +„Dann ist es ganz in Ordnung“, sagte nun der Skipper. „Wenn Sie +Heizer meinten, so hätten Sie das ausdrücklich sagen müssen, dann +hätte Mr. Dils Ihnen schon gesagt, daß wir keinen Heizer zu kurz sind. +Also gut, dann können wir ja nun schreiben.“ +</p> + +<p> +Er nahm die Mannschaftslisten und fragte nach meinem Namen. +</p> + +<p> +Unter meinem guten Seemannsnamen auf einem Totenschiff? Niemals. +So tief bin ich noch nicht gesunken. Ich kriege ja nie wieder in meinem +Leben einen ehrenhaften Eimer. Lieber das Entlassungszeugnis aus +einem anständigen Gefängnis, das ist besser als das Quittungsbuch +eines Totenschiffes. +</p> + +<p> +So gab ich meinen guten Namen auf und sagte mich von meinen Familienbanden +los. Ich hatte keinen Namen mehr. +</p> + +<p> +„Geboren in und wann?“ +</p> + +<p> +Der Name war weg, aber ich hatte meine Heimat noch. +</p> + +<p> +„Geboren in und wann?“ +</p> + +<p> +„In – in –“ +</p> + +<p> +„In wo?“ +</p> + +<p> +„Alexandria.“ +</p> + +<p> +„In U. S.?“ +</p> + +<p> +„Nein in Ägypten.“ +</p> + +<p> +Nun war auch die Heimat weg; denn von nun hatte ich das Quittungsbuch +der Yorikke als einzigen Ausweis für den Rest meines Lebens. +</p> + +<p> +„Nationalität? Britisch?“ +</p> + +<p> +„No. Ohne Nationalität.“ +</p> + +<p> +Ich sollte meinen Namen und meine Nationalität in den Listen der +Yorikke für ewige Zeiten registriert wissen? Ein gutgewaschener Amerikaner, +zivilisiert, ausgerüstet mit dem Evangelium der Zahnbürste und +der Wissenschaft des täglichen Füßewaschens, sollte je eine Yorikke gefahren, +je eine Yorikke bedient, gescheuert, angestrichen haben? Meine +Heimat, nein, nicht meine Heimat, aber die Vertreter meiner Heimat +hatten mich zwar ausgestoßen und verleugnet. Aber kann ich die Erde +verleugnen, deren Hauch ich mit meinem ersten Atemzuge trank? Nicht +der Vertreter wegen und nicht seiner Flagge wegen, aber der Liebe zur +Heimat wegen, ihr zuliebe, ihr zu Ehren, habe ich sie abzuschwören. +Auf der Yorikke fährt kein ehrlicher amerikanischer Junge, selbst +wenn er dem Henker entlaufen sein sollte. +</p> + +<p> +„No, Sir, keine Nationalität.“ +</p> + +<p> +Nach Seemannskarte, Heuerbuch, Paß oder sonst etwas Ähnlichem fragte +er nicht. Er wußte, daß Leute, die zur Yorikke kommen, nicht nach +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +solchen Dingen gefragt werden dürfen. Sie könnten ja sagen: „Ich habe +keine Papiere.“ Was dann? Dann dürfte er sie nicht zeichnen lassen, und +Yorikke würde keine Mannschaft haben. Beim nächsten Konsul mußte +die Liste ja amtlich bestätigt werden. Aber dann war nichts mehr zu +ändern, der Mann war bereits angemustert, hatte bereits gefahren, da +war es nicht mehr möglich, ihm die konsulare Bestätigung zu verweigern. +Der Konsul kennt amtlich keine Totenschiffe und nichtamtlich +glaubt er nicht daran. Konsul zu sein, erfordert Talente. Die Konsuln +glauben auch nicht an das Geborensein von Menschen, wenn der Geburtsschein +das Geborensein nicht schwarz auf weiß beurkundet. +</p> + +<p> +Was blieb von mir noch übrig, nachdem Name und Heimat verspielt +waren? Die Arbeitskraft. Das allein war es, das zählte. Das allein +wurde bezahlt. Nicht zum vollen Werte. Aber etwas, damit nicht die +Erschlaffung den Spaß verdirbt. +</p> + +<p> +„Die Heuer für die Kohlenzieher ist siebzig Peseta“, sagte der Skipper +so wie nebenbei, während er in die Liste schreibt. +</p> + +<p> +„Wa–a–a–s?“ schreie ich. „Siebzig Peseta?“ +</p> + +<p> +„Ja, haben Sie das nicht gewußt?“ fragt er mit einer müden Geste. +</p> + +<p> +„Ich habe angemustert für englische Heuer“, verteidige ich nun meinen +Lohn. +</p> + +<p> +„Mr. Dils?“ fragt der Skipper. „Was ist das, Mr. Dils?“ +</p> + +<p> +„Habe ich Ihnen englische Heuer versprochen?“ sagt der Roßtäuscher +grinsend zu mir. +</p> + +<p> +Ich könnte diesem Hund gleich so eine in die Fresse hauen, aber hier +will ich doch nicht in Eisen liegen. Nicht auf der Yorikke, wo mich die +Ratten lebendig anfressen würden, wenn man sich nicht wehren kann. +„Jawohl, Sie haben mir englische Heuer versprochen“, schrie ich nun in +Wut auf den Gauner ein. Es ist ja das Letzte, was ich zu verteidigen +habe, meinen Arbeitslohn. Den Hundelohn. Je schwerer die Arbeit, +desto geringer der Lohn. Der Kohlenzieher hat die schwerste und +teuflischste Arbeit auf dem Eimer und meist den schäbigsten Lohn. +Englische Heuer ist ja auch nicht berühmt, aber wo in der Welt bekommt +denn der Arbeiter seinen vollen Lohn? Wer den Arbeiter seinen +Lohn nicht zahlt, ist ein Bluthund. Aber man braucht den Lohn mit dem +Arbeiter, der die Arbeit so bitter benötigt, nur vorher ausmachen, dann +ist es sein Lohn. Sein Lohn, und man ist kein Bluthund mehr. Gäbe es +keine Gesetze, dann würde es auch keine Milliardäre geben. Worte +kann man kneten, darum werden Gesetze in Worten niedergeschrieben. +Dem Hungernden ist das Kneten bei Todesstrafe verboten; bei etwa +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +mildernden Umständen ist Freiheitsstrafe vorgesehen, um Gnade üben +zu können und die Menschlichkeit der Gesetze zu beweisen. +</p> + +<p> +„Jawohl, das haben Sie, Sie haben mir englische Heuer zugesagt“, +schreie ich noch einmal. +</p> + +<p> +„Schreien Sie nicht so“, sagt der Kapitän und sieht von der Liste auf. +„Wie ist das nun, Dils? Ich bin das endlich leid. Wenn Sie Leute annehmen, +will ich doch, daß alles in Ordnung ist.“ +</p> + +<p> +Der Skipper spielt fein. Yorikke darf stolz sein auf ihren Meister. +</p> + +<p> +„Von englischer Heuer habe ich gar nicht gesprochen“, sagt der Roßtäuscher. +</p> + +<p> +„Doch haben Sie das. Das kann ich beschwören.“ Das winzige Eckchen +Recht, das mir noch geblieben ist, will ich verteidigen bis zum Äußersten. +</p> + +<p> +„Beschwören? Begehen Sie nur ja keinen Meineid, Mann. Ich weiß genau, +was ich alles zu Ihnen gesagt habe, und ich weiß ganz genau, was +Sie geantwortet haben. Ich habe hier genug Zeugen an Bord, die bei mir +standen, als ich Sie anmusterte. Ich habe gesagt ‚englisches Geld‘, aber +von englischer Heuer habe ich kein Wort gesagt.“ +</p> + +<p> +Der Hund hat recht. Er hat in der Tat englisches Geld gesagt und das +Wort Heuer gar nicht erwähnt. Ich hatte natürlich darunter englische +Heuer verstanden. +</p> + +<p> +„Dann ist das ja wohl nun auch in Ordnung“, sagte der Skipper ruhig. +„Sie bekommen natürlich ihre Heuer in englischen Pfunden und Schillings +ausgezahlt. Für Überstunden werden fünf Pence bezahlt. Und wo +wollen Sie abmustern?“ +</p> + +<p> +„Im nächsten Hafen, den wir anlaufen.“ +</p> + +<p> +„Das können Sie nicht“, sagt der Roßtäuscher grienend. +</p> + +<p> +„Jawohl, das kann ich.“ +</p> + +<p> +„Können Sie nicht“, wiederholte er. „Sie haben gemustert für Liverpool.“ +</p> + +<p> +„Das meine ich ja auch“, sage ich. „Liverpool ist ja der nächste Hafen, +den wir anlaufen.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ antwortet der Skipper, „wir haben deklariert Griechenland, +aber ich habe meine Absichten geändert und mache Nordafrika.“ +</p> + +<p> +Deklariert und während der Fahrt Kurswechsel. Ei, lieber Freund, du +bist deutlich. Marokko und Syrien bezahlen gute Preise für – –. Und +wenn du das Geld noch schnell glücklich drin hast, dann wird angemustert +auf große lange Fahrt. He? Einen Salzwasserfisch, der in so +vielen Meeren geschwommen ist, dem kannst du nichts verstecken. Das +wäre nicht der erste Blender, den ich fahre. +</p> + +<p> +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +„Sie haben mir gesagt Liverpool, und Sie haben ausdrücklich erwähnt, +daß ich in Liverpool abmustern darf“, rufe ich erregt dem Taschendieb +zu. +</p> + +<p> +„Kein Wort wahr, Skipper“, sagt der gerissene Bursche. „Ich habe gesagt, +wir haben Stückgut für Liverpool, und er könne dort abmustern, +wenn wir Liverpool machen.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja dann alles in Ordnung“, bestätigt nun der Kapitän. „Wir +haben acht Kisten Ölsardinen für Liverpool, Stückgut, weit unter +Frachtsatz. Lieferungsgrenze achtzehn Monate. Ich werde doch nicht +dieser acht Kisten wegen, die als Nebengut gehen, Liverpool machen. +Die sind Gelegenheitsgut, die keine Fracht kosten sollen. Wenn ich mehr +aufnehme, daß es sich lohnt, gehe ich natürlich schon innerhalb der +nächsten sechs Monate rauf.“ +</p> + +<p> +„Das konnten Sie doch aber gleich sagen, daß es nicht Stückgut sei, +sondern Schnappgut, das Sie für Liverpool haben.“ +</p> + +<p> +„Das haben Sie ja nicht gefragt“, widerspricht der Roßtäuscher. +</p> + +<p> +Eine feine Gesellschaft. Schmuggeln, Deklarierungen fälschen, Häfen +täuschen, Kurse schwindeln und Totenschiffe fahren. Denen gegenüber +ist ein zünftiger Seeräuber ein Edelmann. Einen Seeräuber fahren, ist +keine Schande, da würde ich weder Namen noch Nationalität abschwören. +Seeräuber fahren, ist Ehrensache. Diesen Eimer fahren, ist +eine Schmach, an der ich lange zu würgen haben werde, bis sie geschluckt +und verdaut sein wird. +</p> + +<p> +„Wollen Sie hier Ihren Namen untersetzen.“ +</p> + +<p> +Der Skipper reicht mir einen Federhalter. +</p> + +<p> +„Darunter? Nie! nie!“ Ich rufe es in Empörung. +</p> + +<p> +„Wie Sie wollen. Mr. Dils, bitte, schreiben Sie hier als Zeuge hin.“ +</p> + +<p> +Dieser Taschendieb, dieser Roßtäuscher, dieser Gauner, dieser Betrüger, +dieser Shanghaier, dieser Mann, für den der Strick, mit dem +zwei Dutzend Raubmörder gehenkt worden sind, zu anständig und zu +ehrenhaft wäre, soll da für mich unterschreiben. Dieses Aas soll nicht +einmal unter meinem ausgedachten Namen seine aussätzige Hand hinlegen +dürfen. +</p> + +<p> +„Geben Sie her, Skipper, ich unterschreibe selbst, es ist ja nun doch +alles schon Schiet mit Rotz.“ +</p> + +<p> +„Helmont Rigbay, Alexandria (Ägypten).“ +</p> + +<p> +Da steht es. Fest und sicher. Nun, Yorikke, hoiho! Geh’ zur Hölle +meinetwegen. Jetzt ist alles, alles egal. Ausgelöscht aus den Lebenden. +Verweht. Kein Hauch von mir ist mehr in der Welt. +</p> + +<div class="poem-container"> +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Holla–he! Holla–he! Hoiho!</p> + <p class="verse">Ich liege nicht an einem Riff,</p> + <p class="verse">Ich fahre auf dem Totenschiff</p> + <p class="verse1">So fern vom sonn’gen New Orleans,</p> + <p class="verse1">So fern vom lieben Louisiana.</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Holla–he! Morituri salutant! Die modernen Gladiatoren grüßen dich, +o Cäsar Augustus Capitalismus. Morituri salutant! Die Totgeweihten +grüßen dich, o Cäsar Augustus Imperator, wir sind bereit zu sterben +für dich, für die heilige und glorreiche Versicherung. +</p> + +<p> +O Zeiten, o Sitten! Die Gladiatoren zogen in glänzenden Rüstungen +in die Arena. Fanfaren schmetterten und Zimbeln klangen. Schöne +Frauen winkten ihnen zu von den Brüstungen und ließen ihre goldgestickten +Tüchelchen fallen; die Gladiatoren hoben sie auf, preßten sie +an ihre Lippen, atmeten den berückenden Hauch, und ein süßes Lächeln +dankte ihnen und grüßte sie. Unter dem begeisterten Beifallsgeschrei +einer erregten Menge, unter den Klängen rauschender Kriegsmusik, +hauchten sie ihren letzten Atem aus. +</p> + +<p> +Wir aber, die Gladiatoren von heute, wir verkommen im Dreck. Wir +sind zu müde, um uns zu waschen. Wozu auch waschen? Wir verhungern, +weil wir vor der Schüssel einschlafen. Wir verhungern, +weil die Kompanie sparen muß, um die Konkurrenz auszuhalten. Wir +sterben in Lumpen, schweigend, auf einem gesuchten Riff, tief im Kesselraum. +Wir sehen das Wasser kommen, und wir können nicht mehr rauf. +Wir hoffen, daß der Kessel explodiert, um es kurz zu machen, weil die +Hände eingeklemmt sind, die Feuertüren aufgerissen sind und die +glühende Kohle an unsern Füßen und Schenkeln langsam frißt. Der +Kesselbums? Der ist dran gewöhnt. Dem macht das Verbrennen und +Verbrühen nichts aus. +</p> + +<p> +Wir sterben ohne Fanfarenmusik, ohne das Lächeln schöner Frauen, +ohne das Beifallsrauschen einer erregten, festlich gestimmten Menge. +Wir sterben schweigend und in Lumpen, für dich, o Cäsar Augustus! +Heil dir, Imperator, wir haben keinen Namen, wir haben keine Nationalität. +Wir sind niemand, wir sind nichts. +</p> + +<p> +Heil dir, Cäsar Augustus Imperator, du hast keinen Witwen und +Waisen Pension zu zahlen. Wir, o Cäsar, sind die getreuesten deiner +Diener. Die Totgeweihten grüßen dich! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-6"> +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +27 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> war halb sechs, als ein Neger das Abendbrot in das +Quartier brachte. Das Abendbrot war in zwei verbeulten +und fettigen Blechkumpen. Eine dünne +Erbsensuppe, Pellkartoffeln und heißes braunes +Wasser in einer zerhämmerten Emaillekanne. Das +braune Wasser hieß: Der Tee. +</p> + +<p> +„Wo ist denn das Fleisch?“ fragte ich den Neger. +</p> + +<p> +„Nichts von Fleisch heute“, sagte er. +</p> + +<p> +Ich sah ihn an und bemerkte, daß er kein Nigger war, sondern ein +Weißer. Er war der Kohlenzieher einer andern Wache. +</p> + +<p> +„Abendessen holen ist deine Sache“, wandte sich der Mann mir zu. +</p> + +<p> +„Ich bin hier nicht als Meßboy, als Moses, damit du das nur gleich +weißt“, sagte ich darauf. +</p> + +<p> +„Hier gibt es keine Meßboy.“ +</p> + +<p> +„Na?“ +</p> + +<p> +„Das müssen hier die Kohlenzieher machen.“ +</p> + +<p> +Die Hiebe setzen schon. Das kann ja nett werden. Ich sehe schon, warum +und wozu. Das Schicksal will seinen Lauf haben. +</p> + +<p> +„Abendessen holt der Kohlenzieher der Rattenwache.“ +</p> + +<p> +Der zweite Hieb. Jetzt zähle ich nicht mehr die Hiebe. Laß sie kommen +und fallen. Mach das Fell dick. +</p> + +<p> +Also Rattenwache. Das war ja vorauszusehen. Wache von zwölf bis +vier, die niederträchtigste Wache, die erfunden wurde, um Seeleute zu +martern. Um vier kommt man von Wache. Man wäscht sich. Dann holt +man Abendessen für die ganze Bande. Dann wäscht man das Geschirr +für die ganze Bande, weil ja kein Meßboy da ist und die Kohlenzieher +alles mitzumachen haben. Dann legt man sich in die Bunk. Da es bis +zum nächsten Morgen um acht nichts mehr zu essen gibt, man aber in der +Nacht auf Wache zu gehen hat und nicht nur zu gehen, sondern zu +arbeiten und wie, so muß man tüchtig Abendbrot reinhauen, weil man +sonst in der Nacht klappt. Mit dem vollen Magen kann man aber nicht +schlafen. Bis um zehn manchmal sitzen auch noch die Freiwachen auf +und spielen Karten oder erzählen sich etwas. Da sie keinen andern +Raum haben, wo sie hingehen können, so sitzen sie hier. Man kann ihnen +das Geplauder doch nicht verbieten, sie verlernen ja sonst die Sprache, +und sie reden doch schon leise, um den schlafenden Mitarbeiter nicht zu +stören. Aber das leise Reden stört noch mehr als das laute. Um elf fängt +man an, einzuschlafen. Zwanzig vor zwölf kommt die Wecke. Raus und +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +runter. Um vier kommt man von Wache. Wäscht sich. Vielleicht. Man +fällt in die Bunk. Um halb sechs geht der Tageslärm auf dem Boot schon +los. Um acht wird man aus dem Schlaf gerissen: „Frühstück ist da!“ Den +ganzen Vormittag wird auf dem Boot gehämmert, genagelt, gesägt, +kommandiert. Um zwanzig vor zwölf kommt keine Wecke, weil ja nicht +angenommen wird, daß jemand um diese Zeit schlafen könne. Man ist +schon auf und fällt in seine Wache. Und so fort, um vier – ja und immer +so weiter. +</p> + +<p> +„Wer wäscht denn das Geschirr, wenn kein Meßboy da ist?“ +</p> + +<p> +„Die Kohlenzieher.“ +</p> + +<p> +„Wer scheuert denn die Aborte?“ +</p> + +<p> +„Der Kohlenzieher.“ +</p> + +<p> +Das ist ja eine durchaus ehrenwerte Beschäftigung, wenn man sonst +nichts weiter zu tun hat. In diesem Falle ist es Schweinerei. Und wer +die Aborte gesehen hätte, der würde gesagt haben: „Das ist die größte +Schweinerei, die ich je in meinem Leben oder in einem Schützengraben +gesehen habe.“ Aber ich habe erfahren gelernt, daß die Schweine +saubere Tiere sind, die dem Pferde an Sauberkeit nichts nachgeben. +Wenn ich den Bauer oder den Schweinezüchter in einen finstern Stall +stecke, der zwei Schritte lang und zwei Schritte breit ist, ihn überfüttere, +nie hinauslasse, nur ab und zu ein paar Hälmchen Stroh hinwerfe und +die alten vermanschten nicht oder nur selten herausnehme, weil er sich +ja in dem Mist so wohl fühlt, dann möchte ich einmal sehen, wie der +Bauer in diesem Stall nach zwei Wochen aussieht, und wer das größere +Dreckschwein ist, der Bauer oder sein Dickerchen. Unbesorgt, alles wird +an den Menschen heimgezahlt werden, alles, was er Pferden, Hunden, +Schweinen, Fröschen und Vögeln angetan hat. Dafür wird er einmal +mehr büßen müssen, als was er seinen eignen Mitmenschen tat. Man +kann keinen Abort scheuern, wenn man zu müde ist, um den Löffel mit +Reis in den Mund zu bringen, no, Sir. +</p> + +<p> +Sonniges Spanien, das ist die Strafe, weil ich dich, du freundliche +Wirtin, verließ! +</p> + +<p> +Auf einem guten Schifflein ist ein Nauke; ein Tagarbeiter, der so als +Knochenbeilage mitgenommen wird, sich nie überarbeitet, immer überall +da sein soll, um zuzufassen, seinen Deckarbeiterlohn bekommt und +im großen und ganzen ein ganz angenehmes Leben führt. Nauke ist der +Mann für alles. Und alles, was verkehrt geht, wird stets auf Nauke +zurückgeführt. Er ist an allem schuld. Wenn in den Bunkern Feuer ausbricht, +Nauke ist schuld, obgleich er nie in die Bunker darf, aber er hat +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +die Luken nicht regelmäßig gehoben. Wenn dem Koch das Essen anbrennt, +Nauke kriegt den Krach, obgleich er nie in die Küche darf, aber +er hat an den Wasserkränen geschraubt, als er sie putzte. Wenn das +Schiff untergeht, Nauke ist schuld, weil er, weil er – nun ja, weil er +Nauke ist. +</p> + +<p> +Auf der Yorikke waren die Kohlenzieher die Nauken, und der Nauke +der Nauken war – richtig geraten: der Kohlenzieher der Rattenwache. +Wenn irgend etwas Dreckiges, Unangenehmes, Lebensgefährliches zu +tun war, sagte es der Erste Ingenieur dem Zweiten, daß er es tun solle. +Der sagte es dem Donkeyman, der dem Putzer und Öler, der dem +Heizer und der Heizer sagte: „Das ist keine Heizerarbeit, das ist Kohlenziehers +Sache.“ Und der Kohlenzieher der Rattenwache tat es, weil er +es tun mußte. +</p> + +<p> +Kam der Kohlenzieher dann heraus mit blutenden und aufgeschlagenen +und zerschrammten Knochen und mit zwanzig Brandwunden bedeckt, +und hatte er an den Beinen hervorgezogen werden müssen, weil er sonst +verbrüht worden wäre, dann ging der Heizer zum Öler und sagte: „Ich +habe es getan.“ Der Öler zum Donkeyman: „Ich.“ Der Donkeyman +zum Zweiten Ingenieur: „Ich.“ Und der Zweite zum Ersten, und der Erste +Ingenieur ging zum Alten und sagte: „Ich möchte das im Journal rapportiert +haben: ‚Der Erste Ingenieur hat, während die Kessel über vollen +Feuern lagen, um die Fahrt nicht nachzubüßen, unter Lebensgefahr +einen Rohrbruch ersten Grades ausgeheilt. Schiff konnte ungeschwächte +Fahrt beibehalten‘.“ Die Kompanie liest das Journal, und der Direktor +sagt: „Wir müssen dem Ersten Ingenieur der Yorikke ein größeres Schiff +geben, der Mann ist Besseres wert.“ Der Kohlenzieher hat die Narben, +die er nie wieder los wird, und ist gekrüppelt. Aber warum mußte es +denn der Kohlenzieher tun? Er konnte doch auch sagen wie die andern: +„Das tu ich nicht, da komme ich nicht mehr lebendig heraus.“ Aber das +konnte er eben nicht sagen. Er mußte, mußte es tun. „Ja, Mann, wollen +Sie denn das ganze Schiff untergehen lassen und alle Ihre Kameraden +dabei ertrinken lassen? Können Sie das vor Ihrem Gewissen verantworten?“ +Die Deckarbeiter konnten es ja nicht tun, die verstanden ja +nichts von Kesseln. Der Kohlenzieher verstand auch nichts von Kesseln, +er verstand nur Kohle zu schleppen. Der Ingenieur verstand etwas von +den Kesseln, er wurde dafür ja als Erster Ingenieur bezahlt, weil er +etwas von Kesseln verstand und bei seinen Prüfungen solche Dinge +machen mußte. Aber der Kohlenzieher arbeitete vor den Kesseln und +neben den Kesseln und hinter den Kesseln, und er war der Kohlenzieher, +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +und er war der Mann, der die Verantwortung für den Tod so vieler +Menschen nicht tragen wollte, auch wenn sein Leben dabei in die Kehrichttonne +ging. Das Leben eines dreckigen Kohlenziehers ist kein +Leben, niemand zählt es. Es ist weg und Schluß, reden wir nicht mehr +davon. Eine Fliege kann man ja schließlich aus der Milch fischen und ihr +das kleine Leben schenken, aber ein Kohlenzieher ist nicht einer Fliege +gleich. Der Kohlenzieher ist Dreck, Staub, Scheuerlappen; er ist eben +gerade gut genug, die Kohle zu ziehen. +</p> + +<p> +„Kohlenzieher, he!“ ruft der Erste Ingenieur, „wollen Sie einen Rum +trinken?“ +</p> + +<p> +„Ja, Chef.“ +</p> + +<p> +Aber das Schnapsglas fällt ihm aus der Hand, der Rum ist weg. Die +Hand ist verbrüht, yes, Sir. +</p> + +<p> +Das Abendessen stand auf dem Tisch. Hungrig war ich inzwischen auch +geworden, und ich dachte, daß ich ganz gut etwas essen könnte. Das war +meine Absicht. Aber die Absicht haben und die Absicht ausführen, sind +zwei Dinge. Ich sah mich nach einem Teller und nach einem Löffel um. +</p> + +<p class="ibr"> +„Laß den Teller stehen, das ist meiner.“ +</p> + +<p> +„Ja, wo kriege ich denn da einen Teller her?“ +</p> + +<p> +„Wenn du dir keinen mitgebracht hast, dann wirst du wohl ohne Teller +hier leben müssen.“ +</p> + +<p> +„Wird denn hier kein Geschirr geliefert?“ +</p> + +<p> +„Nur was du selber hast, das kannst du dir liefern.“ +</p> + +<p> +„Wie soll ich denn da essen, ohne Teller, ohne Gabel und Löffel?“ +</p> + +<p> +„Deine Sache.“ +</p> + +<p> +„Höre, du Neuer,“ rief einer aus seiner Bunk heraus, „du kannst +meinen Teller, meine Tasse und mein Geschirr haben. Hast es aber +immer zu putzen dafür.“ +</p> + +<p> +Da war einer, der hatte nur einen zerbrochenen Teller, aber keine Tasse; +ein andrer eine Gabel, aber keinen Löffel. Wenn nun das Essen ins +Quartier kam, entstand zuerst immer ein Streit darüber, wer zuerst den +Löffel oder die Tasse oder den Teller gebrauchen dürfe; denn wer zuerst +in den Besitz des Tellers oder des Löffels gelangte, fischte sich natürlich +das Beste heraus. Niemand kann es ihm übelnehmen. +</p> + +<p> +Das, was Tee genannt wurde, war heißes braunes Wasser. Oft war es +nicht heiß, sondern lauwarm. Das, was Kaffee genannt wurde, gab es +zum Frühstück und um drei Uhr. Diesen Drei-Uhr-Kaffee habe ich nie +gesehen. Grund: Rattenwache. Von zwölf bis vier war ich auf Wache. +Um drei gab es den Kaffee. Um vier, wenn ich abgelöst wurde, war auch +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +nicht ein Tropfen mehr von diesem Kaffee vorhanden. Manchmal war +noch heißes Wasser in der Galley, aber wenn man keine eignen Kaffeebohnen +hatte, so konnte man sich keinen Kaffee bereiten. +</p> + +<p> +Je weiter Kaffee oder Tee von wahrem Kaffee oder Tee entfernt sind, +desto mehr hat man das Bedürfnis, ihn mit Zucker und Milch zu verschönern, +um die Phantasie anzuregen. Alle drei Wochen erhielt jeder +Mann eine kleine Büchse kondensierte und gezuckerte Milch und jede +Woche ein halbes Kilo Zucker; denn Kaffee und Tee wurden von der +Galley schlicht geliefert, also ohne Milch und Zucker. +</p> + +<p> +Hatte man die Milch gefaßt, so öffnete man die Büchse und nahm als +sparsamer Mensch ein Löffelchen voll heraus, um dem Tee ein Wölkchen +zu geben. Dann stellte man seine Büchse sorgfältig fort, um sie erst +wieder beim nächsten Kaffee zu gebrauchen. Aber während man sich +auf Wache befand, wurde die Büchse nicht gestohlen, aber von andern +aufgebraucht bis auf den letzten Rest. Da die sichersten Verstecke am +leichtesten gefunden werden, passierte mir das nur beim erstenmal, daß +meine Milch verschwand. Als ich das zweitemal Milch faßte, löffelte ich +sie auf einem Sitz völlig aus, das einzige Mittel, meine Ration zu retten, +ein Mittel, das alle anwandten. +</p> + +<p> +Mit dem halben Kilo Zucker machte man es genau ebenso, er wurde sofort +nach dem Fassen auf einen Ruck aufgegessen. Wir kamen einmal +zu einer Einigung. Der Zucker des ganzen Quartiers wurde in eine gemeinsame +Büchse geschüttet, und jeder sollte sich einen Löffel herausnehmen, +wenn der Kaffee oder Tee kam. Die Folge dieser Einigung war, +daß der ganze Zucker am zweiten Tage verschwunden war und mich +nur die leere Büchse angähnte. +</p> + +<p> +Frisches Brot gab es jeden Tag. Und jede Woche bekam das Quartier +eine Büchse Margarine, die gut reichen konnte. Aber niemand konnte +sie essen, weil Schmierseife besser schmeckte. +</p> + +<p> +An Tagen, wo wir das Maul zu halten und die Augen zuzumachen +hatten, gab es für jeden Mann zwei Glas Rum und eine halbe Tasse +Marmelade. Das waren die Tage, an denen geblendet wurde. +</p> + +<p> +Zum Frühstück gab es Graupen mit Pflaumen oder Reis mit Blutwurst +oder Kartoffeln und Hering oder schwarze Bohnen und Salzfisch. Alle +vier Tage fing das wieder mit Graupen und Pflaumen an. +</p> + +<p> +Sonntag gab es zum Mittag Rindfleisch mit Mostrichsoße oder Cornedbeef +mit Wasserbrühe, Montag Salzfleisch, das nie jemand aß, weil es +nur Salz und Schwarte war, Dienstag getrockneten Salzfisch, Mittwoch +Trockengemüse und Backpflaumen in einer blauwäßrigen Schleimerei +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +aus Kartoffelstärke. Die Schleimerei hieß: Der Pudding. Donnerstag +begann es wieder mit Salzfleisch, das nie jemand aß. +</p> + +<p> +Das Abendessen war eines der genannten Frühstücke oder Mittagessen. +Zu jeder Mahlzeit gab es Pellkartoffeln, von denen nur die Hälfte gebraucht +werden konnten. Der Skipper kaufte nie Kartoffeln. Sie wurden +aus der Ladung genommen, wenn wir Südkartoffeln fuhren. Solange +sie neu und jung waren, machten diese Kartoffeln einem Spaß +und waren Leckerbissen, aber wenn wir lange keine Kartoffeln gefahren +hatten, dann kamen die an die Reihe, von denen ich sprach. +</p> + +<p> +Als Blendladung fuhren wir manchmal nicht nur Kartoffeln, sondern +auch Tomaten, Bananen, Ananas, Datteln, Kokosnüsse. Diese Ladungen +allein machten es möglich, daß wir bei dem Essen bestehen konnten und +nicht an Eßekel verreckten. Wer einen Weltkrieg mitgemacht hat, der +hat vielleicht gelernt, was ein Mensch ertragen kann, ohne zu krepieren, +wer aber auf einem echten Totenschiff oder auf einer echten Blendlaterne +gefahren ist, der weiß es ganz sicher, wieviel ein Mensch aushalten +kann. Das Ekeln gewöhnt man sich bald ganz ab. +</p> + +<p> +Das Geschirr, das mir so opferwillig zum Gebrauch angeboten wurde, +war nicht ganz komplett, es bestand nur aus einem Teller. Als ich das +notwendige Geschirr beisammen hatte, gebrauchte ich die Gabel von +Stanislaw, die Tasse von Fernando, das Messer von Ruben, und den +Löffel hätte ich von Hermann haben können, aber einen Löffel besaß +ich selbst. Für diese Opferwilligkeit hatte ich das Geschirr aller hübsch +sauber zu putzen, zweimal für jede Mahlzeit. Zuerst, wenn ich es übernahm, +und dann, nachdem ich es gebraucht hatte. +</p> + +<p> +Als das Abendessen vorüber war, hatte ich die Kumpen zu waschen, also +die verbeulten Blechwaschbecken, in denen das Essen aus der Galley +geholt wurde. Zu diesem Waschen brauchte weder ich noch sonst jemand +Seife, Soda oder Bürste, weil solche Dinge nicht vorhanden +waren. Wie die Kumpen dann aussahen, wenn wieder das frische Essen +hineingeschüttet wurde, braucht nicht erzählt zu werden. +</p> + +<p> +In diesem Dreck konnte ich nicht leben. Ich ging daran, das Quartier zu +scheuern. Die Burschen waren nach dem Essen sofort in ihre Bunks gefallen +wie tot. Während des Essens war kaum gesprochen worden. Es +ging zu, als ob Schweine an einem Trog stehen. Drei Tage später erkannte +ich diesen Vergleich nicht mehr. Die Fähigkeit, Vergleiche zu +ziehen oder deutliche Erinnerungen aus einem früheren Leben zu erwecken, +war erloschen. +</p> + +<p> +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +„Seife wird nicht geliefert“, wurde mir brummend aus einer Bunk zugerufen. +„Schrubber oder Bürsten auch nicht. Und nun halte Ruhe mit +deinem Herumwirtschaften, wir wollen schlafen.“ +</p> + +<p> +Ich sofort mittschiffs und zur Ingenieurskabine, wo ich anklopfte. +</p> + +<p> +„Ich will das Quartier scheuern und verlange Seife und eine kräftige +Schrubberbürste.“ +</p> + +<p> +„Was denken Sie denn von mir? Sie wollen doch nicht damit sagen, +daß ich Ihnen Seife oder Bürsten zu kaufen habe? Nichts zu machen.“ +</p> + +<p> +„Ja, aber nun ich selbst. Ich habe keine Seife für mich selbst. Und ich +soll doch vor den Kesseln arbeiten.“ Das wollte ich doch sehen, ob ich +keine Seife bekäme. +</p> + +<p> +„Das ist Ihre eigne Sache, wenn Sie sich waschen wollen, müssen Sie auch +Seife haben. Seife gehört zu einer anständigen Seemannsausrüstung.“ +</p> + +<p> +„Kann sein, mir ist das neu. Toiletteseife ja, aber nicht Arbeitsseife, und +für Kesselbande hat der Ingenieur die Seife zu stellen oder der Skipper +oder die Kompanie. Das ist mir gleichgültig, wer die Seife zu stellen hat. +Ich will aber Seife haben. Was ist das überhaupt für eine Sauerei? Auf +jedem anständigen Eimer wird alles gestellt, Matratze, Kissen, Bettuch, +Decke, Handtuch, Arbeitsseife und vor allem Eßgeschirr. Das gehört +zur Ausrüstung des Schiffes und nicht zur Ausrüstung des Mannes.“ +</p> + +<p> +„Nicht bei uns. Wenn es Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja gehen.“ +</p> + +<p> +„Sie unverschämter Patron, Sie.“ +</p> + +<p> +„Raus aus meiner Kabine oder ich rapportiere zum Skipper und laß +Sie festlegen.“ +</p> + +<p> +„Das wäre mir ganz recht.“ +</p> + +<p> +„Nicht wie Sie denken, Mann. So besoffen sind wir nicht. Ich brauche +den Kohlenschlepper. Nein, ich lasse Sie festlegen mit einer vollen +Monatsheuer, wenn Sie mir noch mal so kommen.“ +</p> + +<p> +„Feine Leute, das muß ich sagen. Auch noch die paar Groschen abtricken.“ +</p> + +<p> +Der Gauner saß da und grinste. Bei Klopperei kommt nie etwas heraus, +und er trickt mir zwei Monatsheuern ab. +</p> + +<p> +„Erzählen Sie doch das alles Ihrer Urgroßmutter“, sagte er. „Sie wird +sich das ruhig mit anhören. Aber ich nicht. Raus jetzt, aber flott. Vorwärts +ins Bett, um elf haben Sie auf Wache zu gehen.“ +</p> + +<p> +„Meine Wache fängt um zwölf an. Zwölf bis vier.“ +</p> + +<p> +„Nicht bei uns und nicht mit den Kohlschleppern. Die Kohlschlepper +fangen um elf an und ziehen von elf bis zwölf Asche, und um zwölf +fängt die Arbeitswache an.“ +</p> + +<p> +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +„So. Von elf bis zwölf ist wohl keine Arbeitswache?“ +</p> + +<p> +„Asche ziehen, das haben die Kohlschlepper bei uns nebenbei zu +machen.“ +</p> + +<p> +„Aber Überstunden werden angeschrieben.“ +</p> + +<p> +„Nicht bei uns. Und nicht für Ascheheben.“ +</p> + +<p> +In welchem Jahrhundert lebte ich denn? Unter welche Menschenrasse +war ich geraten? Halb im Dusel torkelte ich zum Quartier. +</p> + +<p> +Da war das Meer, das blaue herrliche Meer, das ich so sehr liebte, und +in dem als anständiger Seemann zu versinken ich nie mit Grauen angesehen +hatte. War es doch die große festliche Vermählung mit dem Weibe, +das so launenhaft war, das so wütend rasen konnte, so viel herrliches +Temperament hatte, das so berückend lächeln, so bezaubernde Schlaflieder +singen konnte und so wunderschön, ach, so über alle Maßen +schön war. +</p> + +<p> +Es war dasselbe Meer, auf dem tausende und tausende ehrlicher, gesunder +Schiffe fuhren. Und nun hatte mich das Schicksal ausersehen, +mich ein Schiff fahren zu lassen, das an Lepra erkrankt war, und das +nur noch fuhr mit der Hoffnung, daß das Meer Erbarmen mit ihm haben +möge. Aber es sah ganz so aus, ich hatte es im Gefühl, daß die See das +mit Lepra behaftete Schiff nicht aufnehmen wollte, um sich nicht verpesten +zu lassen. Noch nicht. Seine Zeit war noch nicht gekommen. Noch +wartete das Meer, noch hoffte es, daß es diese Pest nicht zu erdulden +haben werde, das dieses Meeresgeschwür irgendwo auf dem Lande oder +in einem verschmierten Winkelhafen zerplatzen und vergehen würde. +Noch war Yorikkes Zeit nicht gekommen. Ich hatte noch kein Todesahnen, +an meine Bunk hatte der Gast noch nicht geklopft. Denn als ich +jetzt an der Reeling stand, über mir den sternenblinkenden Himmel +und vor mir das grünlich flickernde Meer, an mein verlorenes New +Orleans und an mein sonniges Spanien dachte, da überkam es mich: +Hopp drüber Junge, schiet sie an mit dem Kohlschlepper und mach ein +flottes sauberes Ende, damit du nicht deinen Rest verlierst. Aber dann +war ja nur ein andrer armer müder, verlumpter, verhungerter, verdreckter +und gehetzter Kohlschlepper, der Doppelwache bekam und mir +die letzte Reise so schwer machte und ich immer wieder hoch kommen +mußte. +</p> + +<p> +Ei zum Teufel nochmal, beiß zu und schiet. Die Yorikke kann dich, +mein Junge, nicht unterkriegen. Nicht die Konsuln. Nicht die Yorikke. +Nicht der Taschendieb. Bist ja von New Orleans, Junge. Rin in die +Schiet und durchgeschwommen. Es gibt auch wieder mal Wasser und +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Seife. Der Gestank ist nur äußerlich. Patsch rin, daß es spritzt. Weg +von der Reeling, und dem Biest, das dich unterkriegen will, eins in die +Zähne gehauen! Spuck noch mal runter und nun weg in die Bunk! +</p> + +<p> +Als ich weg war von der Reeling, wußte ich, daß ich zwar auf einem +Totenschiff und auf einer Blendkaroline war, aber daß es nicht mehr mein +Totenschiff war. Mit der Yorikke half ich keine Versicherung fahren. +Auf ihr wurde ich kein Gladiator. Ich spucke dir ins Gesicht, Cäsar +Augustus Imperator. Spare deine Seife und fresse sie, ich brauche sie +nicht mehr. Aber du sollst mich nicht mehr winseln sehen. Ich spucke dir +ins Angesicht, dir und deinem Gezücht. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-7"> +28 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">inschlafen</span> konnte ich nicht. Ich lag auf den +blanken Brettern meiner Bunk wie ein eingelieferter +Spitzbube auf der nackten Pritsche in einer Polizeiwache. +Die schmökende Petroleumlampe füllte den +Raum mit einem Dunst, daß Atmen eine Qual wurde. +Da ich ja keine Decke hatte, fröstelte ich, denn die +Nächte auf dem Meere können ganz verteufelt kalt +werden. Gerade war ich in einen dämmernden Halbschlaf +gefallen, als ich plötzlich mit kräftigen und ungeduldigen +Händen so gerüttelt und gestoßen wurde, als sollte ich durch die Wand +geworfen werden. +</p> + +<p> +„Raus du. Ist halb elf.“ +</p> + +<p> +„Halb erst? Warum kommst du nicht um dreiviertel?“ +</p> + +<p> +„Ich bin gerade oben, weil ich für den Heizer Trinkwasser hole. Ich +kann nicht nochmal raufkommen. Mußt raus. Zehn vor zwölf weckst +du deinen Heizer und holst ihm Kaffee.“ +</p> + +<p> +„Kenn ihn nicht. Weiß seine Bunk nicht.“ +</p> + +<p> +„Komm raus. Ich zeig dir.“ +</p> + +<p> +Ich stand auf, und mir wurde die Bunk des Heizers gezeigt, der zu +meiner Wache gehörte. +</p> + +<p> +„Mach voran. Rasch. Geh gleich zu der Aschenwintsche. Wir haben verflucht +viel Asche.“ Der Mann verschwand wie ein Geist. +</p> + +<p> +Es war fast finster in dem Quartier, weil die Lampe kein Licht gab. +</p> + +<p> +Beim Licht einer zerbrochenen kleinen verräucherten Laterne zeigte +mir der Kohlenzieher der Vorwache, es war Stanislaw, wie die Wintsche +gehandhabt werden muß. +</p> + +<p> +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +„Höre mal, Stanislaw, das verstehe ich nicht“, sagte ich. „Ich kenne doch +nun auch etwas von Salzkrusten, aber das habe ich noch nicht erlebt, +daß die Kohlschlepper Wache aufzubüßen haben. Warum?“ +</p> + +<p> +„Weiß ich gut. Ich bin auch nicht gerade aus den Windeln gerutscht. +Woanders hat der Heizer beim Aschehieven zu helfen. Aber hier wird +ja der Heizer allein nicht fertig, und wenn ihm der Schlepp nicht manchmal +hilft, fällt er runter auf hundertzwanzig, daß es nur so rasselt, und +der Eimer sackt und steht wie eine Böckchenpinne. Auf andern Eierkisten, +auch wenn es Särge sind, hat die Wache zwei Heizer oder wenigstens +einundeinenhalben. Aber ich denke doch, du weißt jetzt schon, +wo du bist, mein Seemannsengelchen.“ +</p> + +<p> +„Ich engele nicht. Da kannst du Zinnober drauf schlucken.“ +</p> + +<p> +„Willst du achtern kanten? Glückt nicht. Wirst du schon noch lernen. +Setz dich nur lieber gleich richtig in die Wolle und such dir das Boot +aus, mit dem du klippen willst. Der Koch hier ist der Großvater. Der +erzählt dir was, wenn du mit ihm angewärmt bist. Der Hund hat zwei +Westen in seiner Bunk liegen.“ +</p> + +<p> +„Haben wir denn keine Westen?“ fragte ich erstaunt. +</p> + +<p> +„Nicht mal ein Ring ist da. Vier Dekorationsringe mit Goldbronze. Aber +ich rate dir, nimm keinen davon. Wenn du da den Kopf durchsteckst, +nimm lieber einen Mühlstein. Mit dem Mühlstein hast du vielleicht noch +Hoffnung, mit den Dekorationswürsten nicht.“ +</p> + +<p> +„Wie kann der Hund denn das machen? Da muß doch in jeder Bunk +eine Weste sein. Ich bin das so gewöhnt, daß ich das gar nicht beachtet +habe, daß keine da ist.“ +</p> + +<p> +Stanislaw lachte und sagte: „Du hast so eine Kanne noch nicht gefahren. +Darum. Yorikke ist meine vierte Leichenkanne. Die sind ja jetzt zum +Aussuchen.“ +</p> + +<p> +„He–ho, Lawski!“ schrie sein Heizer den Aschenschacht hinauf. +</p> + +<p> +„Was ist los, Heizer?“ fragte Stanislaw runter. +</p> + +<p> +„Zieht ihr denn heute keine Asche, oder was ist los?“ blökte der Heizer +rauf. Es war Martin. +</p> + +<p> +„Natürlich ziehen wir. Aber ich muß doch den Neuen anlernen. Der +kennt doch die Wintsche nicht.“ +</p> + +<p> +„Dann mach zu und komm runter. Mir ist ein Rost raus.“ Der Heizer +schrie es rauf. +</p> + +<p> +„Erst muß die Asche gezogen werden. Der Rost hat Zeit. Ich muß den +Neuen anlernen“, schrie Stanislaw wieder runter. +</p> + +<p> +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +„Nein, was Leichenkannen anbetrifft – wie heißt du denn eigentlich, +Neuer?“ +</p> + +<p> +„Ich? Pippip.“ +</p> + +<p> +„Hübscher Name. Bist du Türke?“ +</p> + +<p> +„Ägypter.“ +</p> + +<p> +„Das ist gut. Ägypter hat gefehlt. Wir haben hier alle Nationen auf +der Kanne.“ +</p> + +<p> +„Alle? Auch Yanks?“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, du schläfst noch. Die beiden einzigen, die nie auf einer +Leichenkanne fahren, das sind Yanks und Kommse.“ +</p> + +<p> +„Kommse?“ +</p> + +<p> +„Ach tu doch nicht so unschuldig, du Schaf. Bolsches. Kommunisten. +Yanks kommen nicht, weil die in dem Dreck den ersten Tag verrecken +würden, und weil denen auch immer von ihren Konsuln geholfen wird. +Der winkt ihnen schon die Weisheit über die Eimer.“ +</p> + +<p> +„Und die Komms?“ +</p> + +<p> +„Die sind zu schlau, die riechen, was los ist, wenn sie nur den Mastknopf +sehen. Kannst dich drauf verlassen. Die sind gekocht. Wo ein +richtiger Komms drauf ist, kann keine Versicherung fahren. Die beerdigen +dir jede Versicherungspolice, und wenn sie noch so fein gezuckert +ist. Die haben dir Riecher, da können wir alle nicht mit. Und +die haben auch immer gleich die schönste Sauerei mit der Inspektion. +Aber nun kann ich dir auch erzählen, wenn da ein gesunder Eimer ist, +wo nicht nur Yanks drauf sind, sondern Yanks, die Komms sind, Mann, +das ist Honig. Das ist –. Ich kann es dir ja sagen, ich fahre überhaupt +nur, um mal auf einen solchen Eimer zu kommen. Da gehe ich nie wieder +runter. Da mache ich sogar den Nauke. Mir ganz egal. Wenn du mal +einen Eimer sehen solltest, der von New Orleans ist oder da herum. Das +ist eine Sache.“ +</p> + +<p> +„So ein Schiff habe ich noch nicht gesehen“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Kommst du auch nicht drauf, und wenn du hundert Jahre alt wirst und +alles ausgestiegen ist. Du nicht. Ein Ägypter überhaupt nicht, und wenn +er einen Paß hat wie Zucker. Jetzt ist es für mich auch vorbei. Wer die +Yorikke gefahren hat, kommt nie wieder auf einen gesunden Eimer. +Jetzt wollen wir mal dran gehen.“ +</p> + +<p> +„Hängt er drin?“ schrie Stanislaw in den Schacht. +</p> + +<p> +„Hiev up!“ +</p> + +<p> +Stanislaw schaltete den Hebel ein, und die Aschkanne rasselte rauf. Als +sie in Reichhöhe war, warf er den Hebel wieder herum. Die Kanne +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +ruckte noch mal rauf und noch mal runter und hing dann in der +Schachtluke. +</p> + +<p> +„Nun hängst du die Kanne aus und trägst sie zur Schanze und schüttest +sie aus. Da gib aber gut Achtung, daß dir die Kanne nicht mit über +Stag geht. Dann sitzt du da. Dann können wir mit einer arbeiten, und +wir können zwei Stunden früher aufstehen. Daß du’s weißt.“ +</p> + +<p> +Die Kanne war glühend heiß, und obenauf lagen die rotglühenden +Schlacken. Ich konnte sie kaum anfassen, aber es mußte sein. Und +schwer war die Kanne. Sicher ihre fünfzig Kilo. Nun hatte ich die +Kanne vor der Brust quer über das vier Meter breite Gangdeck zu +schleppen und in den Holzschacht zu schütten, durch den die Asche ins +Meer fiel und dort zischend verschwand. Dann trug ich die Kanne +zurück, und ich hängte sie wieder in die Hievketten. +</p> + +<p> +„Das ist doch ganz klar, warum die Westen gegangen sind. Ich bin +sicher, der Skipper hat sie verkauft, um nebenbei was zu machen“, sagte +Stanislaw. „Aber des Verkaufens wegen war es nicht. Siehst du, wenn +keine Westen da sind, kommen auch keine Zeugen vor das Seemannsgericht. +Verstehst du jetzt den Zimt? Auf Zeugen kann man sich +schlecht verlassen. Manchmal haben sie doch was gesehen oder gemerkt, +und die Versicherung ist ja auch immer gleich dahinterher und schnappt +sich die Leute. Die Boote mußt du dir mal bei Tage betrachten – wie +war doch gleich dein Name? Ja, also die Boote mußt du dir mal bei Tage +betrachten, Pippip. Da kannst du deine Stiefel durchschmeißen. Aber +glatt. Noch weniger Zeugen.“ +</p> + +<p> +„Na rede keinen Seetang, hä?“ sagte ich zur Antwort. „Der Skipper +will doch auch runter.“ +</p> + +<p> +„Sorge dich nur nicht um den Skipper. Denk zuerst an deine Haut. Der +Skipper kommt schon runter. Wenn du alles so gut weißt, wie das, dann +fehlt dir nichts mehr.“ +</p> + +<p> +„Du bist doch aber auch schon von drei Leichenkannen runtergekommen +oder etwa nicht?“ +</p> + +<p> +„Auf zweien bin ich richtig ausgestiegen und habe den letzten Hafen +nicht im Stich gelassen. Und beim dritten – aber du Esel, Glück mußt +du eben auch haben. Wenn du kein Glück hast, dann bleibe nur überhaupt +vom Wasser weg, sonst fällst du in die Waschschüssel und kommst +nicht mehr hoch.“ +</p> + +<p> +„Lawski! Mensch! Was ist denn los da oben?“ schrie nun wieder der +Heizer rauf. +</p> + +<p> +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +„Die Ketten haben sich ausgehakt, verflucht nochmal“, blökte Stanislaw +runter. +</p> + +<p> +„Das gibt heute eine lange Asche, wenn ihr so weiter macht“, kam wieder +die Stimme aus der Tiefe. +</p> + +<p> +„So, nun probiere mal die Wintsche, aber sei vorsichtig, die haut wie das +Donnerwetter. Die haut dir glatt den Schädel ab, wenn du nicht alle +Gedanken beieinander hast.“ +</p> + +<p> +Die schwere Kanne kam rauf und sauste oben gegen den Deckel, daß ich +glaubte, sie würde den ganzen Schacht in Trümmer schlagen, aber ehe +ich den Hebel herum hatte, setzte die Wintsche von selbst mit der Konterwirkung +ein, und der Eimer raste wieder den Schacht hinunter. Er +schlug unten mit einem fürchterlichen Getöse auf, die Schlacken spritzten +herum, der Heizer schrie wie verrückt, und im selben Augenblick +setzte abermals die Konterwirkung ein, und die Kanne, jetzt halb leer, +raste wie wahnsinnig ein zweitesmal gegen die Deckung des Schachtes, +schlug herum mit donnerndem Krachen, und mit einem entsetzlichen Geprassel +fielen die Schlacken den Schacht hinunter, beim Fallen gegen die +Eisenwände des Schachtes schlagend und das Getöse und Geratter so +vermehrend, daß man glauben konnte, das ganze Schiff splittert auseinander. +Die Kanne war schon wieder am Heruntersausen, als Stanislaw +jetzt eingriff und den Hebel packte. Sofort stand die Kanne so brav +da, als ob sie ein totes Geschöpf sei. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte Stanislaw, „so einfach ist das nicht. Das muß gelernt sein. +Da brauchst du zwei Wochen, bis du den Dreh heraus hast. Geh besser +runter und schippe ein, dann werde ich die Wintsche bedienen. Ich zeige +es dir morgen mittag, bei Tage, da kriegst du das dann schon besser. +Wenn die Wintsche in die Wicken gehauen wird, dann können wir die +Asche mit der Hand hieven. Und das wünsche ich dir nicht und uns +nicht. Dann laufen wir nicht mehr, dann kriechen wir nicht mehr, dann +rollen wir nur noch von einem Platz zum andern.“ +</p> + +<p> +„Laß es mich noch mal versuchen, Lawski. Ich will mal gnädige Frau +zu ihr sagen. Vielleicht tut sie es dann.“ +</p> + +<p> +Dann rief ich runter: „Hopp an.“ +</p> + +<p> +„Hiev up!“ kam der Schrei. +</p> + +<p> +„Na, Frau Gräfin, wollen wir jetzt?“ +</p> + +<p> +Der Prophet weiß, sie tat es, sie tat es so sanft, so zart. Sie stand auf +den Millimeter. Ich glaube, daß ich Yorikke besser kannte als ihr +Skipper oder der Großvater. Die Wintsche gehörte zu jenen Teilen des +Schiffes, die schon in der Arche Noah mitgewirkt hatten und noch aus +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +der Zeit vor der Sintflut stammten. In dieser Dampfwintsche waren alle +Geister und Geisterchen zusammen, die in den übrigen Ecken und Winkeln +der Yorikke nicht mehr Platz fanden, weil ihre Zahl zu groß war. +Darum auch hatte die Wintsche ihre Persönlichkeit, die respektiert werden +wollte. Stanislaw erwarb sich den Respekt durch eine langgeübte +Hand, ich mußte es durch Worte machen. +</p> + +<p> +„Euer königliche Gnaden, noch mal, bitte.“ +</p> + +<p> +Sieh da, abermals glitt die Aschkanne wie mit Sammetpfötchen gestreichelt. +Aber freilich, oft genug noch, spielte sie toll und machte Splittereffekte, +jedoch nur, wenn ich vergaß, sie mit Höflichkeit zu behandeln. +Es waren manchmal recht ergötzliche Fangversuche, die ich anzustellen +hatte, um den rauf- und runterrasenden Behälter zu schnappen. Bald +sauste er oben durch, bald raste er runter und gleich wieder hoch. Wenn +der Hebel nicht genau, aber haargenau gehalten wurde, schlug der +Konterhub ein. +</p> + +<p> +Stanislaw war runtergegangen und schippte und rief die „Hiev-ups“ +aus. Und ich hängte meine Kannen aus und ein, schleppte sie glühend +heiß, wie sie waren, über das Gangdeck und schüttete sie in den Aschenschacht. +</p> + +<p> +Als fünfzig Kannen gehievt waren, schrie Stanislaw, daß wir den Rest +lassen wollten für die nächste Wache, weil es zu spät sei. Ich dachte, daß +ich nun zusammenbrechen würde, von diesem atemlosen Schleppen der +unglaublich schweren Kannen. Aber ehe ich Zeit hatte, umzuklappen, +schrie Stanislaw herauf: „He, mach voran, zwanzig vor zwölf.“ +</p> + +<p> +Ich schleppte mich zum Quartier. Das Deck war nicht erleuchtet, um das +Petroleum zu sparen; und ich schlug mir viermal die Schienenbeine auf, +ehe ich bis zum Forecastle kam. Was da alles auf dem Deck herumlag, +läßt sich nur dadurch näher beschreiben, daß ich sage: „Da lag alles auf +dem Deck herum.“ Alles, was die Erde hervorbringt, je hervorgebracht +hat. Unter diesem alles lag sogar ein schwerbesoffener Schiffszimmermann, +der der Zimmermann der Yorikke war; sich in jedem Hafen sinnlos +besoff und den ersten Tag auf Fahrt nicht einmal als Besenstiel gebraucht +werden konnte. Der Skipper war nur froh, wenn ihm nicht +jedesmal die A. B.s dabei Gesellschaft leisteten und wenigstens einer +der A. B.s noch genug Leben zurückbehalten hatte, um am Ruder zu +stehen. Der Zimmermann, die drei A. B.s und noch ein paar andre +hätten ruhig Westen bekommen dürfen. Sie hätten keine Versicherung +vermanscht, anders, sie hätten die wackligste Versicherung gerettet, +ohne zu wissen, was man von ihnen wollte. Sie hatten auch die meiste +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +Aussicht, mit in Boot eins zu kommen, das der Skipper brauchte, um +das wohlgepflegte Journal zu retten und die Lizenz zu behalten mit +Auszeichnung für Pflichteifer trotz Lebensgefahr. +</p> + +<p> +Ich hatte jetzt die Kaffeekanne zu nehmen, damit zur Galley zu gehen, +wo der Kaffee auf dem Kochherd stand, und sie zu füllen. Dann hatte +ich den Weg zum drittenmal zu machen, über das Verdeck, wo kein +Licht brannte. Meine Schienbeine bluteten fürchterlich. Aber da war +keine Handapotheke an Bord, und wenn wirklich der Erste Offizier +irgendwo etwas versteckt hielt für erste Hilfe, wegen solcher Kleinigkeiten +durfte man ihm nicht kommen. +</p> + +<p> +Jetzt bearbeitete ich meinen Heizer, um ihn hochzukriegen. Er wollte +mich ermorden, daß ich es wagte, ihn schon zu wecken. Und als die +Glocke ausrief und er den heißen Kaffee noch nicht hatte schlucken +können, wollte er mich ein zweites Mal ermorden, weil ich ihn zu spät +geweckt hatte. Sich zu streiten, ist Kraftvergeudung. Nur Narren streiten +sich. Sag’ deine Meinung, wenn du überhaupt eine hast, was selten genug +der Fall ist, und dann halt’s Maul und laß den andern reden, bis +ihm das Maul aus den Angeln fällt. Sage immer ja zu der Meinung des +andern, und wenn er dann fertig ist und nicht mehr japsen kann und +dich fragt: „Na, habe ich nicht recht?“ dann erinnere ihn so nebenbei +daran, daß du ihm deine Meinung ja schon längst gesagt hättest, daß +er aber im übrigen durchaus recht habe. Eine Woche lang Heizer der +Rattenwache wecken, macht jemand auf Jahre hinaus unfähig, Politik +zu begreifen. +</p> + +<p> +Der Kaffee war heiß, schwarz und bitter. Kein Zucker, keine Milch. Brot +war vorhanden, aber man mußte es trocken essen, weil die Margarine +stank. Der Heizer kam zum Tisch, fiel auf die Bank, richtete sich hoch, +und während er die Kaffeetasse an den Mund führen wollte, fiel sein +Kopf herunter und schlug auf die Tasse, daß sie umkippte. Er schlief +schon wieder und tastete träumerisch nach dem Brot, um sich ein Stück +abzureißen, weil er das Messer nicht halten konnte vor Müdigkeit. Jede +seiner Bewegungen wurde vom ganzen Körper ausgeführt, nicht nur +mit den Händen, den Armen, den Fingern, den Lippen oder dem Kopfe. +Die Glocke rief aus, er bekam einen Wutanfall, des Kaffees wegen, und +sagte: „Geh’ runter, ich komme gleich. Kümmere dich um Schlackenwasser.“ +</p> + +<p> +Als ich an der Galley vorbeikam, sah ich Stanislaw im Dunkeln da +herumwirtschaften. Er versuchte, Seife zu stehlen, die der Koch vielleicht +irgendwie versteckt haben mochte. Der Koch stahl die Seife vom +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Steward, und der Steward stahl die Seife aus dem Koffer des Skippers. +</p> + +<p class="ibr"> +„Zeig mir doch mal den Weg runter in die Stokehold, in den Kesselraum, +Lawski“, sagte ich zu ihm. +</p> + +<p> +Er kam raus, und wir hatten auf eine höhere Etage zu klimmen, die das +Halbdeck vom Mittschiff war. Er zeigte mir einen schwarzen Schacht. +„Da gehen die Leitern runter. Du kannst nicht fehlgehen“, sagte er und +ging wieder zurück zur Galley. +</p> + +<p> +Aus der tiefschwarzen und doch so glänzend klaren Meeresnacht blickte +ich hinunter in den Schacht. In einer unendlich erscheinenden Tiefe sah +ich eine flackernde, dunstige, rauchige Helle. Diese Helle war rötlich von +dem Widerschein der Kesselfeuer. Mir war, als sähe ich in die Unterwelt. +In diesen rötlichen, dunstigen Schein trat jetzt eine nackte menschliche +Gestalt, verrußt und mit glitzernden Streifen rieselnden Schweißes. +Die Gestalt stand da, die Arme verschränkt und starrte bewegungslos +auf die Quelle des rötlichen Scheines. Dann bewegte sich die Gestalt, +ergriff ein langes schweres Schüreisen und stellte es an die Rückwand, +nachdem sie unschlüssig damit herumgewirtschaftet hatte. Die Gestalt +ging jetzt vor, bückte sich, und einen Augenblick darauf war es, als sei +sie von Flammen umlodert. Dann reckte sich die Gestalt hoch, die +Flammen waren verlöscht und übrig blieb nur der gespenstische rötliche +Schein. +</p> + +<p> +Ich wollte die Leiter hinuntergehen. Als ich aber einen Fuß auf die +oberste Sprosse gesetzt hatte, schlug mir eine entsetzliche Säule von +Hitze, erstickendem Ölgestank, Kohlenstaub, Flugasche, dickem Petroleumqualm +und Wasserdampf entgegen. Ich fiel zurück, und mit einem +lauten Japser schnappte ich nach frischer Luft, weil ich glaubte, meine +Lungen könnten nicht mehr arbeiten. +</p> + +<p> +Aber es half nichts. Ich mußte da hinunter. Da war ein Mann unten. Ein +lebender Mensch, der sich bewegen kann. Und wo ein andrer Mensch +sein kann, da kann auch ich sein. Ich kletterte rasch fünf oder sechs +Sprossen, dann aber ging es nicht mehr. Mit einem Rasen sauste ich +wieder hoch, um Luft zu bekommen. +</p> + +<p> +Die Leiter war aus Eisen, die Sprossen aus fingerdickem Rundeisen. +Nur an der einen Seite war ein Geländer, die andre Seite, die äußere +Seite, war ohne Geländer, also just die Seite war offen, wo man in den +Schacht abstürzen konnte, während die Seite, die an der Wand der +Maschinenhalle war, mit einem Geländer gesichert war. +</p> + +<p> +Als ich meine Lungen wieder aufgefüllt hatte, machte ich den dritten +Versuch, und ich kam auf eine Plattform. Drei Schritte über die Plattform, +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +die nur einen halben Schritt breit war, führten zum Ende der +Platte, wo eine zweite Leiter tiefer in den Schacht ging. Diese drei +Schritte konnte ich aber nicht machen. In Gesichtshöhe war hier die +Aschenhievwintsche, und das Dampfrohr der Wintsche hatte einen +langen, aber ganz dünnen Riß. Durch diesen Riß zischte ein brühend +heißer Wasserdampf, scharf und schneidend wie eine Stichflamme. Der +Riß lag so, daß selbst, wenn man sich bückte, man diesem schneidenden +Dampfstrahl nicht ausweichen konnte. Ich versuchte, mich hochzurecken, +aber dann wurden die Arme und die Brust angefressen und verbrüht. +Inzwischen mußte ich hoch, um Luft zu schöpfen. +</p> + +<p> +Ich war auf falschem Wege. Das war nicht der meine. Ich ging wieder +zur Galley, wo Stanislaw immer noch nach Seife suchte. +</p> + +<p> +„Ich gehe mit dir runter, komm los“, sagte er bereitwillig. +</p> + +<p> +Als wir auf dem Wege waren, sagte er: „Du bist doch nie Kesselbums +gewesen, nicht wahr? Habe ich doch gleich gesehen. Zu einer Wintsche +sagt man doch nicht guten Tag, der haut man eins auf den Schädel und +fertig.“ +</p> + +<p> +Ich war nicht in der Laune, ihm jetzt zu erzählen, wie man mit Dingen +umzugehen hat, die eine Seele haben. +</p> + +<p> +„Recht hast du, Lawski, bin nie beim Kessel gewesen, habe noch nie da +überhaupt reingeguckt. War Deckarbeiter, Steward, Kabinenjunge, seit +ich meinen ersten Eimer gesehen habe. Nie schwarzen Gang gerochen, +war mir immer zu stickig. Sag’, willst du mir nicht für die erste Wache +eine Krume zur Hand gehen?“ +</p> + +<p> +„Rede nicht lange. Freilich. Komm nur voran. Wir werden die Kohlsuppe +schon kochen. Kenne deine Sorgen. Dein erster Leichenwagen. Ich +kenne die Särge, kannst mir glauben. Aber manchmal dankst du Himmel +und Hölle, daß dir eine Yorikke quer vor’n Bug kommt, und du hoppst +drauf mit einem Wonnegefühl, als ob – ja, hab’ nur keine Bange. Wenn +was krumm geht, ruf mich nur. Ich zieh dich schon raus aus dem Dreck. +Wenn wir auch alle miteinander Tote sind, nur nicht verzagen. Schlimmer +kann es nicht kommen.“ +</p> + +<p> +Es kam aber schlimmer. Man kann ein Totenschiff fahren. Man kann ein +Toter sein, ein Toter zwischen Toten. Ausgelöscht kann man sein aus der +Reihe der Lebenden, hinweggeweht von der Oberfläche der Welt, und +kann dennoch gezwungen sein, entsetzliche Qualen zu erdulden, denen +man nicht entgehen kann, weil man schon tot ist, weil einem kein weiterer +Weg zur Flucht offen gelassen ist. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-8"> +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +29 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> sah Stanislaw zu dem Schacht gehen, den ich soeben verlassen +hatte, weil ich glaubte, ich hätte mich im Wege geirrt. +Er kletterte die Leiter ohne zu zögern hinunter, und ich folgte +ihm. Als wir am Ende der ersten Leiter waren und auf die +Platte kamen, die unter dem heißen Dampfstrahl lag, sagte +ich: „Da können wir nicht durch. Da wird uns die Haut bis +auf die Knochen abgeledert.“ +</p> + +<p> +„Meist gibt es was ab. Ich kann dir morgen meine Arme +zeigen. Aber wir müssen durch“, sagte Stanislaw. „Hilft uns nichts. +Kein andrer Weg zu den Kesseln für uns. Die Ingenieure lassen uns +nicht durch die Maschinenhalle gehen, wir sind zu dreckig, und es ist +gegen die Vorschrift.“ +</p> + +<p> +Während er das noch sagte, sah ich, wie er plötzlich seine Arme um den +Kopf schlug, sich so Gesicht, Ohren und Nacken schützend. Nun drehte, +quetschte und reckte er sich zwischen die glühend heißen Dampfrohre, +wo die Schutzpackungen längst abgefault und abgerissen waren, und +der glühend heißen Kesselwand hindurch wie eine geölte Zitterschnecke. +Das konnte ihm kein Schlangenmensch nachmachen, dachte ich, als ich +das sah. Aber ich erfuhr nun, daß der ganze Kesselbums das so zu +machen hatte, und ich verstand auch mit einemmal, warum es auf der +Yorikke so viele Dinge zu essen gab, die kein Mensch essen konnte und +die über Bord flankiert wurden. Das Flankieren durfte der Koch nicht +sehen, dann gab es einen Mordskrach, weil alle Salzschwarten und alles +Ungenießbare, das nicht in den Magen hineinwollte, weil der Magen +sich sträubte, in die Küche zurückgebracht werden mußte, damit daraus +Irish Stew, Frikandellen, Gulasch, Haschee und ähnliche Delikatessen +gemacht werden konnten. +</p> + +<p> +„Hast du nun gesehen, Sohn, wie das gemacht wird? Besinne dich nicht +lange. Wenn du dich erst besinnst und dir das anguckst und darüber +nachdenkst, daß du an der einen Seite verbrüht werden magst und an +der andern Seite hinuntersausen kannst in den Schacht, dann geht’s gar +nicht. Arme um den Kopf, sieh so – und dann Schlange gemacht. Kann +dir eines Tages von Nutzen sein, wenn du andern Leuten zu tief in die +Taschen gelinst hast und man dir eiserne Vorhänge an die Fenster gehängt +hat. Bin ich auch schon durchgekommen. Immer gut, wenn man in +der Übung bleibt, du weißt nie, wie du es gebrauchen kannst. Hopp an.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Schwupp! da war ich durch. Ich fühlte Heißes an meinen Armen, aber +das war sicher nur Einbildung. +</p> + +<p> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +Am andern Ende der Platte ging eine lange eiserne Leiter weiter hinunter, +zu den Grundmauern der Unterwelt. Diese zweite Leiter war so +heiß, daß mein Taschentuch, das ich bisher benutzt hatte, wertlos wurde. +Ich mußte mich mit den gebogenen Ellbogen in das Geländer hängen, +um Halt an der Leiter zu greifen. Je tiefer ich kam, desto dicker wurde +die Luft, desto heißer, qualmiger, öliger und unerträglicher. Die Hölle, +die ich nun endlich nach meinem Tode erreicht hatte, konnte das nicht +sein. In der Hölle hatten ja auch die Teufel zu leben, hier aber konnten +keine Teufel leben, das war undenkbar. +</p> + +<p> +Doch da stand ein Mensch, ein nackter, schwitzender Mensch, der Heizer +der Vorwache. Menschen konnten hier auch nicht leben. Aber sie mußten. +Sie waren Tote. Ausgelöschte. Landlose. Paßlose. Heimatlose. Die +mußten, ob sie konnten oder nicht. Teufel konnten hier nicht leben, denn +ein Rest von Kultur ist selbst den Teufeln gelassen, das weiß Goethe. +Aber Menschen mußten hier nicht nur leben, sie mußten hier arbeiten, +und sie mußten hier so schwer arbeiten, daß sie alles vergaßen, zuletzt +sogar, nachdem sie lange vorher sich selbst vergessen hatten, sogar vergaßen, +daß hier zu arbeiten unmöglich sei. +</p> + +<p> +Mir ist oft, ehe ich gestorben wurde, und ehe ich zu den Toten kam, unverständlich +gewesen, wie Sklaverei möglich sein kann, wie Militärdienst +möglich sein kann, wie es möglich ist, daß Menschen, gesunde und vernünftige +Menschen, sich ohne Protest vor Kanonen und Kartätschen +jagen lassen, daß Menschen nicht tausendmal lieber Selbstmord begehen, +als Sklaverei, Militärdienst, Galeerenketten und Peitschenhiebe +zu ertragen. Seit ich bei den Toten war, seit ich selbst ein Toter bin, seit +ich ein Totenschiff fuhr, ist auch dieses Geheimnis für mich gelöst, wie +sich ja alle Geheimnisse erst nach dem Tode offenbaren. So tief kann +kein Mensch sinken, als daß er nicht immer noch tiefer sinken könnte, +so Schweres kann kein Mensch erdulden, als daß er nicht noch Schwereres +ertragen könnte. Hier ist es, wo der Geist des Menschen, der ihn über +das Tier erhebt, ihn tief unter das Tier erniedrigt. Ich habe Packzüge +von Kamelen, von Lamas, von Eseln und von Maultieren getrieben. Ich +habe Dutzende unter diesen Tieren gesehen, die sich hinlegten, wenn +sie nur mit einem Kilogramm überladen waren, die sich hinlegten, wenn +sie sich schlecht behandelt glaubten, und die sich klaglos hätten zu Tode +peitschen lassen – und auch das habe ich gesehen – als aufzustehen, +die Last zu übernehmen oder die schlechte Behandlung weiter zu erdulden. +Ich habe Esel gesehen, die zu Leuten verkauft worden waren, +die Tiere schändlich peinigten, und die Esel hörten auf zu fressen und +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +starben weg. Nicht einmal Mais vermochte ihren Entschluß zu ändern. +Aber der Mensch? Der Herr der Schöpfung? Er liebt es, Sklave zu sein, +er ist stolz, Soldat sein zu dürfen und niederkartätscht zu werden, er +liebt es, gepeitscht und gemartert zu werden. Warum? Weil er denken +kann. Weil er sich Hoffnung denken kann. Weil er hofft, daß es auch +wieder besser gehen wird. Das ist sein Fluch und nie sein Segen. Mitleid +mit Sklaven? Mitleid mit Soldaten und mit Soldatenkrüppeln? Haß +gegen Tyrannen? Nein! Nein! Nein! +</p> + +<p> +Wäre ich über die Reeling gesprungen, dann würde ich jetzt nicht in +einer Hölle sein, wo es selbst die Teufel nicht aushalten können. Aber +ich sprang nicht und habe nun kein Recht, mich zu beklagen oder gar +andre anzuklagen. Laß den Bettler verhungern, wenn du den Menschen +in ihm achtest. Ich habe kein Recht, mein trauriges Schicksal zu beklagen. +Warum sprang ich nicht? Warum springe ich jetzt nicht? Warum +lasse ich mich peitschen und martern? Weil ich hoffe, ins Leben zurückkehren +zu können. Weil ich hoffe, New Orleans wiederzusehen. Weil ich +hoffe, und weil ich lieber durch die Schiet schwimme, als meine gehätschelte +und getätschelte Hoffnung in die Schiet zu werfen. +</p> + +<p> +Imperator, du wirst niemals um Gladiatoren verlegen sein; die schönsten +und stolzesten Männer werden dich anflehen: „O angebeteter, o bewunderungswürdiger +Imperator, laß mich dein Gladiator sein!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-9"> +30 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">atürlich</span> kann ich hier arbeiten. Da arbeiten ja +auch andre. Das sehe ich ja mit eignen Augen. Was +ein andrer kann, das kann ich auch. Der Nachahmungstrieb +des Menschen macht Helden und macht +Sklaven. Wenn der nicht an den Peitschenhieben +stirbt, dann werde ich sie wohl auch überleben +können. „Siehst du, der da, der geht direkt drauf +los auf das Maschinengewehrfeuer, Donnerwetter +nochmal, das ist ein Kerl, verflucht nochmal, vor dem muß man Achtung +haben, das ist ein Kerl, der hat Mumm in den Knochen.“ Natürlich kann +ich das auch. So geht der Krieg voran, und so fahren die Totenschiffe, +alles nach demselben Rezept. Die Menschen haben nur eine Schablone, +nach der sie alles machen; das geht so glatt, daß sie ihr Hirn gar nicht +anstrengen brauchen, um ein andres Rezept auszudenken. Man geht +nichts lieber als ausgetretene Pfade. Da fühlt man sich so schön sicher. +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +Der Nachahmungstrieb ist schuld daran, daß die Menschheit innerhalb +der letzten sechstausend Jahre keine Fortschritte gemacht hat, sondern +trotz Radio und Fliegerei in derselben Barbarei lebt wie am Anfang +der europäischen Periode. So hat es der Vater gemacht, und so hat es der +Sohn nachzumachen. Schluß. Was für mich, den Vater, gut genug war, wird +für dich, du Rotznase, wohl erst recht gut genug sein. Die heilige Konstitution, +die für George Washington und die Revolutionskämpfer gut genug +war, ist erst recht gut genug für uns. Und die Konstitution ist gut, denn sie +hat hundertfünfzig Jahre schon ausgehalten. Aber auch Konstitutionen, +die einmal junges feuriges Blut in den Adern hatten, bekommen mit der +Zeit Adernverkalkung. Die beste Religion ist eines Tages heidnischer +Aberglaube, und keine Religion macht hiervon eine Ausnahme. Allein +das, was anders gemacht wurde, als bisher, allein das, was unter Protest +der Väter und Heiligen und Verantwortlichen anders gedacht wurde, +hat der Menschheit neue Ausblicke verschafft und ihr den Glauben +gegeben, daß eines fernen Tages doch ein Fortschreiten wird beobachtet +werden können. Dieser ferne Tag wird in Sicht sein, wenn die Menschen +nicht mehr an Institutionen glauben und nicht an Autoritäten ... +</p> + +<p> +„Was stehst du denn rum? Wie heißt du überhaupt, Schlepp?“ +</p> + +<p> +Mein Heizer war runter gekommen und brummte übelgelaunt herum. +</p> + +<p> +„Pippip ist mein Name.“ +</p> + +<p> +Das schien seine Laune ein wenig zu verbessern. +</p> + +<p> +„Dann bist du wohl ein Perser?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich bin Abessinier. Meine Mutter war Parse. Die werfen ihre +Leichen den Geiern vor.“ +</p> + +<p> +„Wir den Fischen. Da scheint deine Mutter eine ganz anständige Frau +gewesen zu sein. Meine war eine alte verfluchte Hure. Aber wenn du +Hurensohn zu mir sagst, dann gibt es eins in die Fresse.“ +</p> + +<p> +Also er war Spanier. Wenn die drei Worte sprechen, dann sind zwei +davon „Hurensohn“. Es kommt auf den Grad der Freundschaft an, ob +man zu jemand sagen darf, daß seine Mutter eine Groschenhure war. +Je näher man dabei der Wahrheit kommt, desto mehr Aussicht hat man, +sich plötzlich ein Messer aus den Rippen ziehen zu können. Je weiter +man von der Wahrheit entfernt ist, desto früher hört man die Antwort: +„Muchas gracias, Senjor, vielen Dank, bitte, genieren Sie sich nicht, +stets zu Ihren Diensten.“ Niemand hat ein so zartes und so albernes +Ehrgefühl wie der dreckigste Prolet. Und wenn die dreckigen Proleten +eines Tages das Ehrgefühl dort haben werden, wo es wirklich hingehört, +dann sind sie die Lacher. Heute haben sie ihr Ehrgefühl da, wo es +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +die andern bei ihnen gerne sehen, weil sich dann so gut damit spielen +läßt, zum Vorteil der andern. Was brauchst du Ehre, Prolet? Lohn +brauchst du, guten Lohn, dann kommt die Ehre von selbst. Und wenn +du auch noch die Fabrik hast, dann kannst du die Ehre ruhig den andern +dauernd überlassen; dann erst wirst du erfahren, wie wenig sich die +draus machen ... +</p> + +<p> +Der Heizer der Vorwache zog jetzt einen glühenden dicken Bolzen aus +dem Feuer und steckte ihn in einen Eimer mit Frischwasser. In Seewasser +kann man sich ja nicht waschen, das ist kaum gut genug zum +Schlackenkühlen. Dann begann er sich zu waschen mit Sand und Asche, +weil er ja keine Seife hatte. +</p> + +<p> +Der Kesselraum war durch zwei Lampen erhellt. Eine dieser beiden +Lampen hing vor dem Dampfmeter, damit der Dampfdruck gelesen +und von dem Heizer geregelt werden konnte. Die andre Lampe hing in +einer Ecke und wartete auf den Schlepp. In dieser Welt der Toten wußte +man nichts von einer Erde, wußte man nichts davon, daß es Azetylenlampen, +Kunstgaslampen, Gasolinlaternen, Spirituslaternen gab, gar +nicht zu reden von Elektrizität, die sich durch Ankoppelung einer +Dynamo leicht hätte erzeugen lassen. Aber jeder Cent, ausgegeben für +die Yorikke, war verschwendetes Geld. Die Fische mit Geld zu füttern, +wäre närrisch, sie sollen zufrieden sein mit der Mannschaft. Diese +Lampen hier waren bei den Ausgrabungen des alten Karthago gefunden +worden. +</p> + +<p> +Wer die Form dieser Lampen kennen lernen will, gehe in ein Museum, +sehe sich die römische Abteilung an, wo er unter den Töpferwaren +auch diese Lampen, die wir hatten, finden wird. Es war ein Gefäß +mit einer Tülle. In der Tülle steckte ein Ballen Putzwolle. Das +Gefäß wurde gefüllt mit jener Flüssigkeit, die auch für die Jungfrauenlampe +im Quartier zu dienen hatte, und die den auf Irrwege +führenden Namen Petroleum trug. Viermal in einer Stunde mußte die +Putzwolle weiter herausgezerrt werden, weil sie kohlte und den Kesselraum +mit einem undurchsichtigen dicken schwarzen Rauch erfüllte, in +dem die Rußflocken so dicht flogen wie Heuschrecken in Argentinien +während einer Plage. Die Putzwolle mußte man mit den bloßen Fingerspitzen +herauspulen, deshalb hatte man nach der ersten Wache abgeschmorte +Fingernägel und angeschmorte Fingerspitzen. Wenn man mit +seiner Lampe in den Kohlenbunkern saß, konnte man nicht die Lampe +erst ausmachen, weil man ja sonst in den Kesselraum runter gemußt +hätte, um sie wieder anzustecken. +</p> + +<p> +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +Stanislaw hatte heute bereits eine Doppelwache gerissen. Was das bedeutet, +wird noch klar werden. Trotzdem er kaum noch kriechen konnte, +blieb er doch mit mir noch eine volle Stunde im Kesselraum, um mir beizustehen. +</p> + +<p> +Neun Feuer mußten von dem Heizer bedient werden. Und um diese +neun Feuer zu füttern, hatte der Schlepp die Kohle heranzuschaffen. +Ehe aber mit dem Heranschaffen der Kohle begonnen werden konnte, +waren andre Arbeiten zu verrichten. Da die Feuer selbst auf diese +Arbeiten keine Rücksicht nahmen und sie jede Vernachlässigung sofort +am Meter herausbrüllten oder gar auf der Brücke herausheulten, so +mußte ein erheblicher Vorrat von Kohle im Kesselraum angeschichtet +sein, der für diese Zeit der Nebenarbeiten langte. Diesen großen Vorrat +mußte die abzulösende Wache für die neuantretende Wache hinterlassen, +und diese neue Wache hatte, wenn sie abgelöst wurde, einen +gleichen Vorrat der nächsten zu übergeben. Dieser Vorrat konnte nur +geschaffen werden durch eine unmenschlich erscheinende Kraftanstrengung +in der Zeit der beiden mittleren Stunden einer Wache, also bei +meiner Wache von eins bis drei. Von zwölf bis eins kamen die Vorarbeiten +und um drei begann das Aschehieven mit dem Schlepp der +neuen Wache. In zwei Stunden also mußte alle die Kohle herbeigeschafft +werden, die neun Feuer eines in voller Fahrt befindlichen Dampfers in +vier Stunden verschlingen. Liegt die Kohle in den Bunkern in Front der +Feuer, so ist das Heranschaffen der Kohle die kräftige Arbeitsleistung +eines gesunden, starken und gutgenährten Arbeiters. Liegt die Kohle +aber da, wo sie meist auf der Yorikke lag, so ist es die Arbeit von drei +oder vier starken Männern. Hier hatte diese Arbeit einer zu tun. Und +er tut sie. Er ist ja ein Toter. Der kann alles. Und niemand versteht +besser anzutreiben, niemand versteht höhnischer zu sagen: „Schlapper +Hund! Solltest mich mal sehen!“ als der Mit-Tote, als der Mit-Prolet, +als der Mit-Hungernde, als der Mit-Gepeitschte. Auch die Galeerensklaven +haben ihren Stolz und ihr Ehrgefühl, sie haben den Stolz, gute +Galeerensklaven zu sein und „nun einmal zu zeigen“, was sie können. +Wenn das Auge des Auspeitschers, der mit der Peitsche die Reihen entlanggeht, +wohlgefällig auf ihm ruht, so ist er beglückt, als hätte ihm ein +Kaiser persönlich einen Orden an die Brust geheftet. +</p> + +<p> +Der Heizer warf drei Feuer auf, immer zwei überschlagend. Dann brach +er drei andre Feuer auf, die dazwischen lagen. Über jedem Feuer stand +eine Nummer mit Kreide geschrieben, die Nummern von eins bis neun. +Als das Aufwerfen und das Aufbrechen vorüber war, kam das Feuer +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +drei an die Reihe. Es war ziemlich niedergebrannt, und er brach mit +einer schweren langen Eisenstange die Schlacken von den Rosten. Die +Schlacken saßen fest. Und von dem Feuer strömte eine brüllende Hitze +heraus. Mit jeder Schlacke mehr, die herausgebrochen und vor das +Feuer gezerrt war, wurde die Hitze mächtiger. Denn nun lagen die +glühenden Schlacken vor den Feuertüren im Kesselraum und erhitzten +ihn wie einen Glutofen. Der Heizer und auch ich, wir hatten nur die +Hosen an, nichts weiter. Der Heizer hatte an den bloßen Füßen zerlumpte +Tuchpantinen, während ich Stiefel hatte. Ab und zu sprang der +Heizer hoch und trampelte die glühenden Schlackenkörner von den +Füßen, auf die sie gesprungen waren. Die Schürstange konnte nur gehalten +werden, weil der Heizer seine Hände mit Sacklumpen umwickelt +hatte und Leder von einem alten Koffer zwischen Hand und Eisen hielt. +Endlich wurde die Hitze, die von den Schlacken ausströmte, so gewaltig, +daß der Heizer fort mußte vom Feuer. Jetzt wurden die Schlacken mit +Wasser, das ich aus einem Bottich nahm, gelöscht. Der explosionsartig +hochgehende Wasserdampf ließ uns beide zurück an die Wand springen. +Die Schlacken gleich einzeln zu kühlen, wenn sie herauskommen, +geht nicht, weil während des Kühlens der Heizer nicht arbeiten kann. +Dann dauert das Ausschlacken zu lange, das Feuer fehlt und der Dampf +geht so weit zurück, daß eine halbe Stunde wie wahnsinnig gearbeitet +werden muß, um den Dampf wieder hochzukriegen. Runter geht er wie +nichts, rauf nur langsam und mit mühseliger Arbeit. +</p> + +<p> +Alles, was auf der Yorikke war, diente dazu, der Mannschaft Leben +und Arbeit zu erschweren. Der Kesselraum war viel zu schmal. Er war +viel schmäler als die Feuerungskanäle lang waren. Wenn die Schürstange +also in die Feuerung gestoßen oder herausgezogen werden sollte, +so mußte der Mann mit der Stange alle möglichen Wendungen und +Drehungen verüben, um die Stange zu handhaben, weil sie immer gegen +die Rückwand stieß. Durch diese Tänze, die der Heizer zu machen hatte, +kam es nicht selten vor, daß er bald dort stolperte und in einen Kohlenhaufen +fiel, bald hier. Bald stieß er sich an der Wand die Knöchel der +Finger auf, bald an der Feuertür. Wenn er fiel und instinktiv nach +einem Halt griff, so griff er in glühende Schlacken oder er packte die +glühende Schürstange an. Es kam auch vor, besonders wenn das Schiff +rollte, daß er mit dem Gesicht in die Schlacken oder auf die rotglühende +Schürstange oder auf die Feuertür fiel oder mit den bloßen Füßen auf +einen herausgenommenen heißen Rost oder auf heiße Schlacke trat. +Mein Heizer glitschte einmal bei einem unerwartet schweren Roller des +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Bootes aus und fiel mit dem nackten Rücken in die weißglühende +Schlacke, die vor dem Feuer lag. Totenschiff, yes, Sir. Totenschiffe gibt +es, die Leichen drin machen, und Totenschiffe gibt es, die Leichen +draußen machen, und Totenschiffe gibt es, die Leichen überall machen. +Yorikke machte alles und alle, sie war ein gutes Totenschiff. +</p> + +<p> +War die Schlacke heraus und gelöscht, so wurde frische Nußkohle aufgeworfen. +Diese Kohle mußte der Schlepp inzwischen aus der Haufenkohle +herausgelesen haben, es mußte gute, nicht zu große Stückkohle +sein, damit sie leicht anbrannte und damit das Feuer schnell wieder in +Gang kam. Denn die Kohle, die auf der Yorikke verfeuert wurde, war +die billigste und schlechteste Kohle, die es nur gab, sie erzeugte nur +wenig Hitze; und das war die weitere Ursache, warum der Schlepp unglaubliche +Riesenmengen von Kohle herbeischaffen mußte, um den +Dampf hochzuhalten. Nun wurden die andern Feuer wieder nachgesehen, +während ich die Schlacke nach der Mitte der Kesselwand zu +schaufelte, wo sie nicht im Wege lag. +</p> + +<p> +Der andre Heizer hatte sich inzwischen fertig gewaschen, war aber die +ganze Zeit über immer in Gefahr gewesen, von dem glühenden Schüreisen +gestoßen und angeschmort zu werden oder von einer springenden +Schlacke verbrannt zu werden. Aber das kümmerte ihn nicht sehr, er +war tot. Man konnte es jetzt auch sehen. Gesicht und Körper waren von +dem Waschen mit Sand und Asche ziemlich rein geworden. In die +Augen konnte er aber nicht gut mit Sand und Asche gehen, darum hatten +die Augen breite schwarze Ringe. Das gab dem Gesicht das Aussehen +eines Totenschädels, um so mehr, als die Backen vor schlechter Ernährung +und vor übermäßiger Arbeit tief eingefallen waren. Er zog sich +seine Hose an und sein durchlöchertes Hemd und kletterte die Leiter +hoch. Ich hatte gerade Zeit genug, einmal einen Blick nach oben zu +werfen, als ich ihn die Schlange machen sah. +</p> + +<p> +Stanislaw schaffte indessen Kohle heran, damit ich wenigstens den Vorrat +bekam. Es kamen dann die Feuer sechs und neun an die Reihe. Als +sechs ausgeschlackt und aufgeschüttet war und die übrigen Feuer soweit +vorbereitet waren, um auch neun ausschlacken zu können, kam +Stanislaw und sagte zu mir: „Nun bin ich fertig. Ich kann nicht mehr. +Es ist eins. Ich habe fünfzehn Stunden jetzt ununterbrochen gewürgt. +Um fünf muß ich schon wieder Asche hieven. Es ist ja gut, daß du da +bist, wir hätten das nicht mehr länger machen können. Ich will dir nur +jetzt gestehen, wir sind nur zwei Schlepps, wenn du eingerechnet bist. +Wir haben also nicht zwei Wachen jeder, sondern drei, und dazu +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +kommt zu jeder Wache eine Stunde Aschehieven extra. Und morgen +haben wir, auch noch extra, die Berge von Asche, die auf Deck liegen, +weil im Hafen ja keine Asche ausgeworfen werden darf, abzuschaufeln. +Wird für jeden vier Stunden extra machen.“ +</p> + +<p> +„Das sind doch dann alles Überstunden, die Doppelwachen, das Abschaufeln +der Deckasche und das Aschehieven“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Ja, das sind alles Überstunden. Wenn es dir Vergnügen macht und du +gerne schreibst, kannst du dir die ganzen Überstunden anschreiben. +Aber bezahlen tut sie dir keiner.“ +</p> + +<p> +„Das ist mir aber bei der Heuer ausgemacht worden“, antwortete ich. +</p> + +<p class="ibr"> +„Was ausgemacht wird, hat keine Geltung bei uns. Nur was du in der +Tasche hast, das hat Geltung. Und in die Tasche kriegst du immer nur +Vorschuß, Vorschuß, Vorschuß. Immer soviel, daß es zum Besaufen gerade +langt und vielleicht für ein Paar Pantinen oder ein Hemd, aber +nicht mehr. Denn wenn du anständig aussiehst und ruhig durch die +Straße gehen kannst, <a id="corr-12"></a>könntest du ja vielleicht wieder lebendig werden. +Verstehst du jetzt den Dreh? Kannst nicht fort. Mußt Geld haben, +mußt eine ganze Hose, eine ganze Jacke, ganze Stiefel und Papiere +haben. Kriegst du nicht. Kannst nicht lebendig werden. Wenn du aussteigst, +läßt er dich einfangen, wegen Desertion. Die haben dich gleich +mit deinen Lumpen und keinen Papieren. Dann zieht er dir zwei oder +drei Monatsheuern ab wegen Desertion. Kann er. Tut er. Dann bettelst +du wegen eines Schillings auf den Knien für Schnaps. Schnaps mußt du +haben. Tot sein tut manchmal doch weh, auch wenn man sich schon lange +daran gewöhnt hat. Gute Nacht. Waschen tu ich mich nicht, ich kann +nicht mehr die Hand heben. Laß dir keine Roste durchfallen, das +kostet Blut, Pippip. Gute Nacht.“ +</p> + +<p> +„Heilige Maria, genotzüchtigter Gabriel, Joseph und Arimathia, Eberklöten +und Bockpinnen, Himmelkreuzdonnerwetter – –“ +</p> + +<p> +Der Heizer schrie wie besessen und nahm einen gewaltigen Anlauf, um +eine neue Serie von Flüchen und Verwünschungen loszulassen, daß die +Bewohner aller Höllen schamrot werden mußten. Von der Erhabenheit +seines Gottes, von der jungfräulichen Reinheit der Himmelskönigin, +von der Würde der Heiligen blieb nichts mehr bestehen. Sie sanken in +den Kot der Straße und wurden durch die Jauche der Gosse geschleift. +Die Hölle hatte ihre Schrecken für ihn verloren, ihn konnte kein noch so +fürchterlicher Bannstrahl des Himmels mehr treffen, denn als ich fragte: +</p> + +<p class="ibr"> +„Heizer, was ist denn los?“ da heulte er wie eine blutdürstige Bestie: +</p> + +<p class="ibr"> +„Sechs Roste sind rausgefallen. Heilige verhur – –“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-10"> +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +31 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> hatte beim Raufgehen gesagt, daß das +Herausfallen der Roste Blut kostet. Damit meinte er, +wenn einer rausfällt. Jetzt waren sechs raus. Sie einzusetzen +kostete nicht nur Blut und nicht nur abgestoßene +Fleischstücken und abgeschmorte Hautfetzen, +das kostete blutendes Sperma, herausgezerrte Sehnen, +das Mark floß einem wie wäßrige Lava aus den +Knochenröhren, die Gelenke krachten wie Holz, das +gebrochen wird. Und während wir arbeiteten wie verblödete Maden, +fiel der Dampf und fiel und fiel. Und wir sahen die Arbeit, die uns bevorstand, +den Dampf wieder hochzubringen. Sie kroch und würgte sich +in unsre Kadaver, während wir mit den Rosten würgten. Seit jener Nacht +stehe ich über den Göttern. Ich kann nicht mehr verdammt werden. Ich +bin frei, darf unbekümmert tun und lassen, was ich will. Ich darf Götter +verfluchen, darf mich verwünschen, darf handeln, wie es mir gefällt. +Kein menschliches Gesetz, kein göttliches Gebot mehr kann meine +Handlungen beeinflussen, denn ich kann nicht mehr verdammt werden. +Die Hölle ist ein Paradies. Keine menschliche Bestie kann Höllenqualen +ausdenken, die mich erschrecken könnten. Wie immer auch die Hölle beschaffen +sein mag, sie ist Erlösung. Erlösung vom Einsetzen rausgefallener +Roste auf der Yorikke. +</p> + +<p> +Der Skipper ist nie im Kesselraum gewesen und keiner der beiden Offiziere. +Freiwillig ging niemand in diese Hölle. Sie machten sogar einen +Umweg, wenn sie am Einsteigschacht vorbei mußten. Die Ingenieure +wagten sich in den Kesselraum nur, wenn die Yorikke sanft im Hafen +lag und der Kesselbums Reinigungsarbeiten machte, Rohre ziehen, Maschinenhalle +putzen und ähnliche dreckige Tagesarbeiten. Selbst dann +hatten die Ingenieure diplomatisch mit den Schwarzen Banditen umzugehen. +Denn die waren immer und immer in einem Zustande, dem +Ingenieur einen Hammer an den Schädel zu pfeffern. Was bedeutete +dem Kesselbums Gefängnis, Zuchthaus oder der Henker? Nicht einen +Pfifferling machten die sich daraus. +</p> + +<p> +Von der Maschinenhalle aus führte ein schmaler niedriger Gang zwischen +dem Steuerbordkessel und der Steuerbordwand zu dem Kesselraum. +Dieser Gang war von der Maschinenhalle durch eine schwere +eiserne kleine Tür, die wasserdicht war – was auf der Yorikke wasserdicht +genannt werden konnte – abgetrennt. Kam jemand von der Maschinenhalle, +und hatte er die Luke passiert, so mußte er mehrere +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +Stufen hinuntergehen, um den Gang zu erreichen. Dieser Gang war drei +Fuß nur breit und so niedrig, daß man ganz gebückt gehen mußte, um +sich nicht den Kopf an den eisernen, scharfkantigen Querstreben einzurennen. +Der Gang war, wie alles auf der Yorikke und wie auch der +Kesselraum, stockdunkel bei Tage und bei Nacht. Zudem war der Gang +heiß wie ein Hochofen. Wir, die Schlepps, fanden uns in dem Gange mit +verbundenen Augen zurecht, denn er gehörte mit zu den Spezialmarterwegen. +Durch diesen Gang hatten wir einige hundert Tonnen Kohle +nach den Kesseln zu schaufeln und zu quetschen, von den Bunkern, die +neben der Maschinenhalle lagen. Wir kannten diesen Martergang und +seine labyrinthischen Rätsel. Andre Leute kannten ihn nicht so gut. +</p> + +<p> +Fiel nun der Dampf erheblich, weit unter hundertdreißig, dann mußte +der wachhabende Ingenieur etwas tun. Dafür wurde er ja bezahlt. Der +Erste kam auch nicht in den Kesselraum. Auf Fahrt nie. Ein zerschlagenes +Schulterblatt hatte ihn gelehrt, daß man den Kesselbums auf Fahrt +nicht belästigen darf. Er rief nur von oben, vom Deck aus, den Schacht +hinunter: „Der Dampf fällt!“ Dann war er aber auch schon weg. Denn +von unten kam das Gebrüll: „Du gottverfluchter Hurenhund, das wissen +wir selber. Komm runter, du Schwein, wenn du was willst.“ Dabei +flogen aber auch schon Kohlenstücken gegen die Einsteigluke. +</p> + +<p> +Man rede dem Arbeiter nichts von Anstand, Höflichkeit und guten +Sitten, wenn man ihm nicht gleichzeitig die Bedingungen geben will, +daß er anständig und höflich bleiben kann. Dreck und Schweiß färben +ab, nach innen mehr als nach außen. +</p> + +<p> +Der Zweite Ingenieur war noch verhältnismäßig jung, vielleicht sechsunddreißig. +Er war ein großer Streber und wollte gern Erster werden. +Er glaubte, seine Strebsamkeit am besten beweisen zu können dadurch, +daß er den Kesselbums herumjagte, besonders wenn Yorikke im Hafen +lag, denn dann hatte er das Maschinenkommando. Er war kein guter +Lerner und lernte schwer, eigentlich nie, mit dem Kesselbums der +Yorikke umzugehen. Es gibt Ingenieure, die vom Kesselbums angebetet +werden. Ich habe einmal einen Skipper gekannt, der vom Kesselbums +wie ein Gott verehrt wurde. Der Skipper ging jeden Tag persönlich in +die Galley: „Koch, ich will das Essen sehen, das meine Heizer und Kohlschlepps +heute kriegen. Will ich kosten. Das ist Dreck. Das geht über +Bord. Die Heizer und Kohlschlepps fahren einen Dampfer, niemand +sonst.“ Und wenn er einen Schlepp oder einen Heizer auf dem Deck +traf: „Schlepp, wie war das Essen heute; genug Fleisch? Wie kommt +ihr mit der Milch zurecht? Abends kriegt ihr eine Extraration an Eiern +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +und Speck. Bringt euch der Junge auch regelmäßig den kalten Tee +runter, der angeordnet ist?“ Und merkwürdig, die Heizer und Schlepps +auf jenem Eimer hatten ein Benehmen, daß sie zum Gesandtschaftsball +hätten eingeladen werden können. +</p> + +<p> +Als beim Einsetzen der Roste der Dampf fiel und fiel, kam der Zweite, +der die Wache hatte, durch den Gang, lugte um die Kesselecke und sagte: +</p> + +<p class="ibr"> +„Was ist mit dem Dampf los? Der Kasten wird gleich stehenbleiben.“ +Der Heizer hatte in dem Augenblick gerade die rotglühende Schürstange +in der Hand, mit der er einen Rost vom Aschenzug aus einzustützen +versucht hatte. Mit einem fürchterlichen Geheul, mit blutunterlaufenen +Augen und schäumendem Munde richtete er sich auf und raste +wie ein Irrsinniger mit der glühenden Stange auf den Ingenieur los, +um ihm die Stange durch den Leib zu rennen. Aber wie ein Funke war +der Ingenieur hinter der Ecke verschwunden und sauste den Gang +zurück. In der Schnelligkeit, mit der er floh, maß er die Höhe des Ganges +nicht genügend und schlug sich den Schädel an einer der Querstreben +auf. Der Heizer hatte die Stelle, wo der Ingenieur gestanden hatte, getroffen. +Der Stoß war so gewaltig, daß ein Fladen von dem Mauerwerk, +das den Kessel gegen Hitzeverlust schützte, absprang und die Stange +sich oben verbog. Doch der Mann gab die Verfolgung nicht auf. Er raste +hinter dem Zweiten her mit der Stange, und er hätte ihn mitleidlos erschlagen +und zermanscht, wenn der Ingenieur nicht rechtzeitig, blutüberströmt +von dem Gegenrennen an den Eisenstreben, die Stufen erreicht +und die Luke hinter sich zugeschlagen und verrammelt hätte. +</p> + +<p> +Der Ingenieur rapportierte den Fall nicht, wie kein Unteroffizier oder +Offizier, der von einem gemeinen Soldaten unter vier Augen gebackpfeift +wurde, die Backpfeifen rapportieren würde, um nicht zugeben zu +müssen, daß ihm das geschehen konnte. Hätte der Ingenieur den Fall +rapportiert, so hätte ich als Zeuge geschworen, daß der Ingenieur hereingekommen +sei und den Heizer mit einem Schraubenschlüssel habe erschlagen +wollen, weil angeblich nicht genügend Dampf gewesen sei und +der Heizer ihm gesagt habe, er möge machen, daß er rauskäme, er sei +ja besoffen, und da ist er in seiner Trunkenheit rausgetorkelt und hat +sich den Kopf aufgeschlagen. Das ist nicht gelogen. Abgesehen von +allem andern, der Heizer ist mein Leidensgefährte. Und wenn die +andern blöken: „Right or wrong, my country! Recht oder Unrecht, mein +Vaterland!“, so habe ich, verflucht nochmal, Recht und Schuldigkeit, zu +rufen: „Right or wrong, my fellow-worker! Recht oder Unrecht, meine +Mitproleten!“ +</p> + +<p> +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +Am nächsten Tage fragte der Erste den Zweiten, wie er zu dem Loch im +Schädel gekommen sei. Der Gefragte erzählte die Wahrheit. Aber der +Erste, ein schlauer Bursche, rapportierte nichts, sondern sagte zum +Zweiten: „Da haben Sie verteufelt Glück gehabt, Mensch. Machen Sie +das nicht nochmal. Wenn Roste raus sind, lassen Sie sich nicht sehen, +gucken Sie zum Einsteigeschacht rein, aber melden Sie sich mit keinem +Atemzuge, daß Sie da sind. Lassen Sie den Dampf runtergehen, soviel +er will, und wenn der Kasten stehenbleibt. Wenn Sie runtergehen, solange +Roste raus sind und die nächste halbe Stunde danach, werden sie +mitleidlos totgeschlagen und in den Feuerungskanal geschoben. Kein +Mensch erfährt je, wo Sie geblieben sind. Ich warne Sie.“ +</p> + +<p> +So ein Streber war der Zweite doch nicht, daß er sich diese Warnung nicht +zu Herzen genommen hätte. Er ist nie wieder in den Kesselraum gekommen, +wenn Roste gefallen waren, und wenn er sonst kam, weil der +Dampf büßte und nicht hochkommen wollte, dann kam er wohl rein, +sagte keine Silbe, sah nach dem Dampfmeter, stand eine Weile, bot dem +Heizer und dem Schlepp eine Zigarette an und sagte dann: „Wir haben +ludermäßige Kohle, da kann ein Heizer von Gold gemacht sein und er +kann keinen Dampf halten.“ +</p> + +<p> +Heizer sind ja keine Idioten und verstehen natürlich sofort, was der +Ingenieur will, und tun das Beste, was sie können, um den Dampf hochzukriegen. +Denn nicht nur andre Leute, sondern auch Proleten haben +Sportgefühl. Aber es soll sich kein Arbeiter über seine Vorgesetzten beschweren, +er hat immer die, die er verdient, und die er sich macht. Ein +gutgezielter und gutsitzender Hieb zur rechten Zeit ist besser als ein +langer Streik oder ein langes Herumärgern. Ob man die Arbeiter als +„Rohlinge“ bezeichnet, kann ihnen gleichgültig sein. Respektieren soll +man sie, das ist die Hauptsache. Nur nicht schüchtern sein, Prolet. Was +Übles man der Yorikke auch immer sonst nachreden konnte, in einem +Dinge verdiente sie, mit Lorbeer gekrönt zu werden: Sie war ein vortrefflicher +Lehrmeister. Ein halbes Jahr Yorikke, und man hatte keine +Götzen mehr. Hilf dir selbst und verlaß dich nicht soviel auf andre. +Gefallene Roste einsetzen, ist selbst auf einem gesunden Eimer kein Vergnügen, +wie ich später erfuhr. Es ist immer eine sehr ärgerliche Sache. +Doch nicht mehr als das. Auf der Yorikke aber war es Blutarbeit. +</p> + +<p> +Jeder Rostbarren wog etwa vierzig bis fünfzig Kilo. Diese Barren lagen +mit ihren Nocken auf einer Querleiste vorn und auf einer Querleiste +am Ende des Feuerungskanals. Die Querleisten waren einmal gut und +neu gewesen, zu der Zeit, als der große Streik ausbrach beim Bau des +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +Turms von Babel und jene Sprachverwirrung eintrat, die auf der +Yorikke ihren Höhepunkt erreicht hatte. +</p> + +<p> +Kein Wunder, daß in der langen Zwischenzeit jene Querleisten ihre +stützende Wirkung verloren hatten. Die Leisten waren verschmort. Die +Roste lagen mit ihren Nocken nur auf winzigen Narben jener abgeschmorten +Querbalken. Beim Aufbrechen der Schlacke brauchte man +nur einen Millimeter zu unvorsichtig sein, oder die Schlacke brauchte +nur sehr fest sitzen, dann rutschte ein Rostbarren ab und fiel hinunter +in den Aschfall. Der Rostbarren war glühend und mußte aus dem Aschfall +herausgefischt werden mit einem merkwürdigen Instrument, das +Rostzange hieß und etwa zwanzig Kilo wog. Hatte man den Barren gefischt, +so mußte er in den Feuerungskanal gehoben und in seine alte +Lage gebracht werden. Da die Querbalken abgeschmort waren im Laufe +der Jahrtausende, so waren die verschrumpelten und verbrannten Narben, +auf denen der Barren ruhen sollte, weniger als einen halben Zoll +breit. Hatte man den Barren vorn glücklich drin, rutschte er hinten ab +und fiel wieder in den Aschfall zurück, wo er abermals herausgefischt +werden mußte, um das Einsetzen ein zweitesmal zu versuchen. Diesmal +lag er hinten glücklich in der Narbe, aber er erreichte vorn nicht den Rest +des Balkens und fiel nun vorn in den Aschfall. Fiel der Barren an einem +Ende in den Aschfall, so gab auch das andre Ende nach, und der ganze +Barren fiel runter. Dieses Herausfischen und Wiedereinheben mußte so +lange versucht werden, bis der Barren durch ein glückliches Zusammentreffen +mehrerer glücklicher Umstände an beiden Enden diesen knappen +halben Zoll von Auflagefläche gewonnen hatte. +</p> + +<p> +Handelte es sich nur um einen Barren, so war das schon das Schlimmste, +was man sich nur an Arbeit vorstellen kann. Aber durch das Fischen und +durch das Einlegen stieß man zuweilen einen Nachbar-Barren an und +der folgte dem Rufe und fiel gehorsam auch nach in den Aschfall, dabei +seinen nächsten Nachbar mit sich reißend. Beim Einlegen des letzten +Nachbars fiel ein weiterer Nachbar herunter, der an und für sich schon +nur noch einen Millimeter auflag und schon eine Stunde sehnsüchtig +darauf gewartet hatte, daß ihn doch jemand berühren möge, damit er +endlich einen Grund habe, auch in den Aschfall rutschen zu können und +den Tanz mitzumachen. +</p> + +<p> +Während dieser Fischzeit und Einlegezeit brannte das Feuer in dem +Kanal natürlich lustig weiter, die Barren waren glühend, die Zange war +glühend, das Schüreisen, mit dem die Barren während des Einlegens +von unten aus gestützt wurden, war glühend und die Barren hatten ein +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +Gewicht, daß sie selbst dann eine ansehnliche Last darstellten, wenn sie +eiskalt waren und man sie in den Armen vor sich tragen konnte. Ununterbrochen +durfte man nicht an den Barren arbeiten, weil die übrigen +Feuer bedient werden mußten, damit sie nicht verlöschten. Alles, was +an vorrätiger Kohle im Kesselraum lag, wurde in der Zeit aufgefressen +und mußte nachgeschleppt werden. +</p> + +<p> +Als wir endlich die sechs Roste drin hatten und keiner es wagte, in der +Nähe der Feurungstür fest aufzutreten, um die Barren nicht zu erschüttern +und sie von ihren Millimeterstütznarben abzuwerfen, fielen wir beide +leblos in einen Kohlenhaufen. Leblos ist die richtige Bezeichnung; denn +jegliches Leben in uns war für eine halbe Stunde erloschen. Wir bluteten, +aber wir fühlten es nicht, unsre Haut war in Streifen und großen +Flecken von Armen, Händen, Brust und Rücken abgeschmort, aber wir +fühlten es nicht. Wir hatten nicht mehr die Kraft, zu atmen. +</p> + +<p> +Ein Hauch des Lebens kam endlich zurück, und wir hatten den Dampf +wieder hochzubringen. Aus den fernsten Winkeln des Schiffes mußte +die Kohle geschleppt werden, denn die Kohlenbunker lagen da, wo sie +am wenigsten Laderaum wegnehmen konnten. Die Laderäume waren +die Hauptsache. Ihretwegen fuhr die Yorikke, ihretwegen fährt jedes +Schiff. Die Kohle, das Essen für das Schiff, war Nebensache, wie das +Essen für die Mannschaft Nebensache war. Wo ein Winkel frei war, der +als Laderaum nicht verwendet werden konnte, da wurde Kohle verbunkert, +und da mußte sie weggeschleppt werden. In einer Wache von +vier Stunden verbrauchten die neun Feuer der Yorikke mehr als vierzehnhundertfünfzig +volle schwere Schaufeln Kohle. Diese vierzehnhundertfünfzig +Schaufeln mußten herbeigeschleppt werden. Und das +mußte getan werden neben dem Ausschlacken, neben dem Aschfallziehen, +neben dem Aschehieven und, in gebenedeiten Wachen, neben +dem Rosteeinsetzen. +</p> + +<p> +Das mußte getan werden von nur einem Kohlenschlepp, dem dreckigsten +Mann der Mannschaft, dem verachtetsten, der weder Matratze +hatte, noch eine Decke, noch ein Kissen, noch einen Teller, noch eine +Gabel, noch eine Tasse, mußte getan werden von einem Manne, dem +satt zu essen zu geben nicht durchführbar war, weil die Kompanie +behauptete, sonst nicht konkurrenzfähig zu sein. Und daß Kompanien +konkurrenzfähig sein müssen, darauf achtet sogar der Staat. Dafür +achtet er um so weniger darauf, daß die Menschen konkurrenzfähig +bleiben. Beide, Kompanien und Arbeiter, können nicht gleichzeitig konkurrenzfähig +gemacht werden. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +Um vier wurde mein Heizer abgelöst. Ich nicht. Ich ging meine Ablösung, +den Stanislaw, um zwanzig vor fünf wecken, zum Aschehieven. +Ich mußte ihn aus der Bunk ziehen. Er war wie ein Klotz. +</p> + +<p> +Er war schon lange auf der Yorikke. Er war daran gewöhnt. Wenn jemand, +vielleicht der Passagier einer Luxuskabine, durch Neugier getrieben, +an dem Kesselschacht vorbeikommt, so ist sein erster Gedanke: +</p> + +<p class="ibr"> +„Wie ist es möglich, daß da Menschen arbeiten können?“ +</p> + +<p> +Aber da flüstert ihm sofort der, der immer zur Hand ist und ihm das +Leben erträglich macht, ins Ohr: „Das sind die gewöhnt, die merken +davon nichts.“ +</p> + +<p> +Damit kann man alles entschuldigen, und damit entschuldigt man alles. +So wenig wie sich ein Mensch an Lungentuberkulose gewöhnt, so wenig +wie er sich daran gewöhnt, dauernd zu hungern, so wenig kann sich ein +Mensch daran gewöhnen, etwas zu ertragen, was am ersten Tage körperliche +und seelische Qualen bereitet, die man niemand gönnen mag, der +Menschenantlitz trägt. Mit der nichtswürdigen Ausrede: „Die sind daran +gewöhnt!“ entschuldigt man auch das Auspeitschen der Sklaven. +</p> + +<p> +Stanislaw, ein robuster Bursche, hatte sich nie daran gewöhnt, ich habe +mich nie daran gewöhnen können, und ich habe nie einen Menschen gesehen, +der sich an Qualen je gewöhnt hätte. Weder Tiere noch Menschen +können sich an Qualen gewöhnen, nicht an körperliche, nicht an +seelische. Sie werden nur abgestumpft, und das nennt man Gewöhnung. +Doch ich glaube nicht, daß je ein Mensch so abgestumpft werden kann, +daß er sich nicht nach Erlösung sehnt, daß er nicht in seinem Herzen +den ewigen Schrei trägt: „Ich hoffe, daß mein Befreier kommt!“ Nur +der allein hat sich gewöhnt, der nicht mehr hofft. Die Hoffnung der +Sklaven ist die Macht der Herren. +</p> + +<p> +„Ist das schon fünf?“ sagte Stanislaw. „Ich habe mich doch soeben erst +hingelegt.“ Er war noch so dreckig wie er raufgegangen war. Auch jetzt +konnte er sich nicht waschen. Er war zu müde. +</p> + +<p> +„Ich will dir sagen, Stanislaw, ich halte es nicht aus. Ich kann um elf +nicht Asche hieven und um zwölf ablösen. Ich gehe über die Reeling.“ +Stanislaw saß auf der Bunk, guckte mich verschlafen an, gähnte und +sagte: „Tu das nicht. Ich kann nicht deine Wache auch noch machen. Ich +mache auch über die Reeling. Gleich hinterher. Nein. Mache ich nicht. +Dann schon lieber Pflaumenmus unter den Kessel. Dann geht alles mit +und die können keinen mehr fangen. Das ist eigentlich ein Spaß. Das +mit Pflaumenmus.“ +</p> + +<p> +Der arme Stanislaw war noch ganz im Dusel. Dachte ich. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-11"> +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +32 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">m</span> sechs Uhr morgens war meine Wache zu Ende. +Ich hatte dem Stanislaw keinen Kohlenvorrat hinterlassen +können. Ich konnte die Schaufel nicht mehr +halten. Ich brauchte keine Matratze, keine Decke, +kein Kissen, keine Seife. Ich fiel in meine Bunk, +dreckig, ölig, fettig, verschwitzt wie ich war. Meine +Hosen waren für dauernd verdorben, auch mein +Hemd und meine Stiefel. Dick verschmiert mit Öl, +Kohlenstaub und Petroleum. Löcher reingebrannt, versengt, zerrissen. +Wenn ich nun an der Reeling der Yorikke stand im nächsten Hafen, in +Reih und Glied der übrigen Taschendiebe, Einbrecher und entlaufenen +Sträflinge, dann war ich nicht mehr zu unterscheiden. Ich hatte nun +auch meine Sträflingskleidung, in der ich nicht mehr aussteigen konnte, +ohne sofort gefaßt und zurückgeliefert zu werden. Ich war jetzt ein +Teil der Yorikke geworden, mußte mit ihr gehen auf Tod und Verderben. +Es gab kein Entrinnen mehr. +</p> + +<p> +Jemand riß mich auf und schrie mir ins Ohr: „Frühstück ist da.“ Es +kann kein Frühstück auf der Welt bereitet werden, das imstande gewesen +wäre, mich aus der Bunk zu bringen. Was war mir Frühstück, +was war mir Essen? Ein schwarzes, dickes, dunstiges, schwerwuchtendes +Etwas. Manch einer sagt: „Ich bin so müde, daß ich keinen Finger mehr +rühren könnte.“ Der das sagen kann, weiß nicht, was Müdesein bedeutet. +Fingerrühren? Nicht einmal die Augendeckel schlossen ganz, +vor Müdigkeit. Meine Augen waren halb geöffnet, und ich empfand das +trübe Tageslicht wie einen lastenden Schmerz, aber ich konnte und +konnte die Augenlider nicht schließen. Sie schlossen nicht selbsttätig und +sie schlossen nicht auf meinen Willen. Denn den Willen konnte ich nicht +aufbringen. Ich hatte nicht den Wunsch, sondern nur ein lastendes Unbehagen: +„Möchte doch das Tageslicht weggehen.“ +</p> + +<p> +Und als ich nicht dachte, sondern widerstandslos empfand: „Was kümmert +dich das Tageslicht?“, da riß mich der schwere eiserne Haken eines +Ladekrans hoch, dem Kranführer flitschte der Hebel aus der Hand, ich +sauste aus dreißig Meter Höhe hinunter, klatschte flach auf den Ladekai +und ein dicker Schwarm von Leuten stürmte auf mich los und schrie: +</p> + +<p class="ibr"> +„Raus, zwanzig vor elf, Asche hieven.“ +</p> + +<p> +Nachdem die Asche gehievt war, holte ich das Mittagessen aus der +Galley, hatte mit meinen Kumpen die Leiter Mittschiffs raufzugehen +und die Leiter zum Vordeck wieder runterzuklimmen. Ich aß ein paar +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Pflaumen, die „Der Pudding“ hießen, und die in einem blauen Stärkeschleim +steckten. Etwas andres und mehr zu essen war ich zu müde. +Ich wusch mich nicht, sondern trat so meine Wache an. Als ich um Sechs +abends wieder abgelöst wurde, war ich zu müde, um mich zu waschen. +Das Abendessen war kalt und steif. Das rührte mich nicht. Ich schlug +in meine Bunk. +</p> + +<p> +Das ging drei Tage und drei Nächte. Ich hatte keinen andern Gedanken +als nur: Elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs, elf bis sechs. In diesem +Begriff sammelte sich für mich der Weltbegriff und das Persönlichkeitsbewußtsein. +Ich war ausgelöscht. An Stelle des Ichs stand nichts andres +als elf bis sechs. Zwei unsagbar wehe Schreie schnitten sich mir mit +Grausamkeit in das, was Hirn, Fleisch, Seele, Herz gewesen war. Sie +bereiteten einen Schmerz, der gellend scharf war. Mag sein, daß man +einen ähnlichen kreischenden Schmerz empfindet, wenn einem das +nackte Gehirn mit einer Stahlfeder gekitzelt wird. Die Schreie kamen +immer von weit her, waren immer dieselben, immer gleich grausam und +schmerzhaft: „Raus, zwanzig vor elf!“ – – „Heilige genotzüchti – +Roste durchgefallen!“ +</p> + +<p> +Als vier Tage und fünf Nächte um waren, bekam ich Hunger, aß und +begann, mich daran zu gewöhnen. +</p> + +<p> +„So schlimm ist das eigentlich gar nicht, Stanislaw“, sagte ich, als ich ihn +ablösen kam. „Die Frikandellen schmecken ganz gut. Wenn man nur +etwas mehr Milch bekäme. Na, der Vorrat, den du mir hinterläßt, ist +auch nicht gerade berühmt. Das stochern wir in einen hohlen Zahn vom +Feuer eins. Wie kann man denn beim Ersten einen Rum rausschinden?“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Spielend, Pippip. Siehst ja klapprig genug aus. Glaubt er dir. Gehst +jetzt gleich rauf und sagst, hast dir den Magen verdorben und mußt +immerfort kotzen. Sagst, kannst nicht auf Wache gehen, kotzt grün. +Gleich hast du ein Weinglas weg. Zweimal die Woche kannst du drauf +reiten auf das Rezept. Wenn du mehr kommst, zieht es nicht mehr. Dann +gießt er dir unversehens halb Rizinus mit ein, merkste erst, wenn du +geschluckt hast. Und kannst ihm doch nicht gut in die Kabine spucken, +mußte dann aufscheuern. Also schluckste. Gib das Rezept nicht weiter. +Ist bloß für uns beide. Die Heizer haben ein separates. Pfeifens aber +nicht, die Gauner.“ +</p> + +<p> +Ich gewöhnte mich immer mehr. +</p> + +<p> +Dann kam die Zeit, wo ich schon wieder Nebengedanken bekam, wo ich +nicht in einem ermüdeten Dämmerzustande, sondern ganz trocken dem +Zweiten zuschrie, wenn er nicht sofort den Kesselraum verließe, er nicht +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +nur einen Hammer, sondern auch noch einen Knebelbolzen an den Schädel +kriegen würde, und daß er mich wehrlos über Bord schmeißen dürfe, +wenn ich ihm nicht ganz gewiß mit dem Hammer die Vorderfront und +mit dem Bolzen die Hinterpartie seines Idiotenschädels einschlüge, und +daß er uns diesmal nicht durch den Gang entkommen würde. +</p> + +<p> +Er hätte in der Tat nicht entkommen können. Er hatte wohl auch das +Gefühl. Wir hatten in dem Gange eine Stange aus Eisen so angebracht, +daß sie in der Schwebe hing. Von der Rückwand des Kesselraumes aus +führte eine Schnur zu jener Eisenstange. Wollte er entfliehen, so sprang +einer sofort zu der Schnur und zog sie an. Dadurch wurde die Stange +aus der Schwebe ausgelöst und fiel so in seinen Weg, daß er in der Falle +war. Ob er lebend herausgekommen wäre oder mit kurz und klein geschlagenen +Gliedmaßen nur, hing lediglich von der Anzahl der rausgefallenen +Roste ab. +</p> + +<p> +Es vergingen manchmal fünf Wachen, ohne daß auch nur ein Rost herausfiel. +Aber die Roste brannten ja auch durch und mußten durch neue +ersetzt werden, weil sonst die Feuer durchbrachen. Zuweilen hatte man +so viel Glück, daß bei dem Neueinsetzen nur ein Nachbar mitging, und +daß man die beiden mit Geduld und Blut so andächtig behandeln +konnte, daß es bei den beiden blieb. Dafür aber kamen dann auch die +Prüfungen um so schärfer, daß nicht nur sechs fielen, sondern acht, und +nicht nur in einem Feuerzug, sondern in zwei oder drei in derselben +Wache. Fürwahr, es wurde einem nichts geschenkt. +</p> + +<p> +Als wir Goldküste machten, kamen wir in Wetter, und was für ein Wetter! +Ehre sei Gott in der Höhe, und blas’ mir die Trompeten! Das war +ein Lüftchen. Da bring mal die Kumpen mit Suppe und Schneidergulasch +heil über Mittschiff zum Quartier. Fleckenseife und Benzin +nochmal! Das will gelernt sein. +</p> + +<p> +Nun das Aschehieven. Da hat man die schwere Aschkanne ausgehängt +und trägt sie warm im Ärmchen rüber über das Gangdeck zum Ascheschacht. +Aber ehe man mit seiner geliebten Kanne dort ankommt, hat +Yorikke übergerollt und man saust mit seiner holden gefüllten Kanne +das ganze Gangdeck entlang und sauber zur Gangstieg. Kachelt Yorikke +achtern aus, landet man mit seiner Aschkanne immer noch fest im Arm +unten auf dem Vordeck, läßt Yorikke vorn die blanken Oberschenkel +sehen, rasselt man mit der Kanne nach achtern und rollt das ganze +Achterdeck rauf und runter und der Erste Offizier schreit von der +Brücke herunter: „He, Schlepp, wenn Sie über Stag gehen wollen, man +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +immer los, es hält Sie niemand, aber die Aschkanne lassen Sie gefälligst +hier. Die können Sie beim Fischen nicht gebrauchen.“ +</p> + +<p> +Unten vor den Kesseln ist es dann auch viel gemütlicher als sonst. Wenn +der Heizer gerade mit einem schön einstudierten Schwung eine volle +Schaufel aufschmeißen will, dreht er sich plötzlich und schmeißt einem +die Schaufel voll Kohlen klatschend ins Gesicht oder zwischen die Eingeweide. +Beim nächsten Überholer kommt er gar nicht zum Schwunge, +sondern fliegt mit seiner Schaufel in einen Kohlenhaufen, in dem er +verschwindet und aus dem er erst hervorkraucht, wenn Yorikke wieder +hier überlegt. +</p> + +<p> +In den Bunkern, wenn es Oberbunker sind, die auch mit Gut beladen +werden können, ist der Spaß noch größer, weil man mehr Spielraum +hat. Man hat glücklich am Steuerbordschacht zweihundert Schaufeln +aufgeschichtet und beginnt gerade damit, sie nach dem Kesselschacht +abzuwerfen. +</p> + +<p> +Ratsch! legt Yorikke über nach Backbord. Und Schlepp, seine Schaufel +und seine schönen zweihundert Würfe Feuergut rutschen in einem +wilden Gemengsel über nach Backbord und steigen an der Backbordwand +hoch. Yorikke macht nun einen Längser, man kommt ins Gleichgewicht +und beschließt die zweihundert Würfe am Backbordschacht +abzuwerfen. Eine Schaufel hat man gerade unten, da legt sich Yorikke +zur Abwechslung nach Steuerbord über und das Gemengsel, mit dem +Schlepp in der Mitte, rasselt nach Steuerbord, wo es ursprünglich herkam. +Jetzt aber überlistet man die gute Yorikke. Man überlegt nicht +lange, prasselt gleich zehn, fünfzehn Schaufeln runter in den Steuerbordschacht, +dann rennt man noch rechtzeitig rüber nach Backbord, und +wenn die Lawine dort nachkommt, gleich wieder fünfzehn Würfe den +Backbordschacht runter, und wie der Satan rüber nach Steuerbord, schon +ist die Lawine hinterher, fünfzehn Würfe hier in den Schacht und so +kriegt man seine Kohle vor die Kessel, wenn sie in den Oberbunkern +lagern. +</p> + +<p> +Ein Kohlschlepp muß ebensoviel von Navigation verstehen wie der +Skipper, sonst würde er zu manchen Zeiten nicht ein Kilo Kohle vor die +Kessel kriegen. Natürlich ist der Schlepp am ganzen Körper braun und +blau, die Nase zerschunden, die Schienbeine aufgeschlagen, die Hände +und Arme abgeschunden. Lustig ist das Seemannsleben, hoiho! +</p> + +<p> +Und lustiger noch ist es, daß Hunderte von Yorikken, Hunderte von +Totenschiffen auf den sieben Meeren fahren. Alle Nationen haben ihre +Totenschiffe. Die stolzesten Kompanien, die die schönsten Flaggen +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +protzig wehen lassen, schämen sich nicht, Totenschiffe zu fahren. Wozu +zahlt man denn Versicherungsprämien. Nicht zum Vergnügen. Alles +muß seinen Profit abwerfen. +</p> + +<p> +Es fahren viele Totenschiffe auf den sieben Meeren, weil es viele Tote +gibt. Nie gab es so viel Tote, als seit der große Krieg für die Freiheit +gewonnen wurde. Für jene Freiheit, die Pässe und Nationalitätsnachweise +der Menschheit aufzwang, um ihr die Allmacht des Staates zu +offenbaren. Das Zeitalter der Tyrannen, das Zeitalter der Despoten, +der absoluten Herrscher, der Könige, Kaiser und deren Lakaien und +Maitressen ist besiegt worden, und der Sieger ist das Zeitalter eines +größeren Tyrannen, das Zeitalter der Landesflagge, das Zeitalter des +Staates und seiner Lakaien. +</p> + +<p> +Erhebe die Freiheit zu einem religiösen Symbol, und sie wird leicht die +blutigsten Religionskriege entfesseln. Wahre Freiheit ist relativ. Keine +Religion ist relativ. Am wenigsten relativ ist die Profitgier. Sie ist die +älteste Religion, hat die besten Pfaffen und die schönsten Kirchen. +Yes, Sir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-12"> +33 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ird</span> man so zuschanden gearbeitet, daß man nicht +einmal mehr „pip“ sagen kann, so kümmert man +sich um nichts, was um einen herum vor sich geht. +Laß geschehen was da will, nur in die Bunk und +geschlafen. Man kann so müde gearbeitet werden, +daß man aufhört, an Widerstand zu denken, daß +man aufhört, an Flucht zu denken, daß man aufhört, +an Müdigkeit zu denken. Man wird Maschine, +man wird Automat. Um einen herum darf nun geraubt oder gemordet +werden, man sieht nicht hin, man hört nicht hin, nur schlafen, schlafen, +nichts weiter. +</p> + +<p> +Dösig stand ich an der Reeling und schlief im Stehen. Eine gute Anzahl +von Feluken mit ihren merkwürdigen spitzen Segeln waren in der +Nähe. Aber das fiel nicht auf. Die waren immer herum. Fischer und +Schmuggler, und was sie sonst für Geschäfte haben mochten, Geschäfte, +an die man zu denken nicht wagen würde. +</p> + +<p> +Ich ruckte zusammen und wurde völlig wach. Ich konnte nicht begreifen, +was es war, das mich so aufriß. Es schien ein mächtiges Getöse +zu sein. Aber als ich mich auf das Getöse eingestellt hatte, kam mir zum +Bewußtsein, daß es kein Getöse war, das mich so überwach gemacht +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +hatte, sondern daß es eine schwere Ruhe war. Die Maschine hatte aufgehört +zu arbeiten, und das verursacht merkwürdige Gefühle. Tag und +Nacht hört man das Stampfen und Dröhnen der Maschine, es dröhnt im +Kesselraum wie ein rollendes Donnern, in den Bunkern wie ein dumpfes +schweres Hämmern, im Quartier wie ein drehendes, ratterndes Keuchen +und Pumpen. Es kriecht einem in Fleisch und Hirn. Man hat es in allen +Fibern seines Körpers. Der ganze Körper wird ein holpriges Stampfen. +Der ganze Mensch fällt in den Rhythmus der Maschine ein. Er spricht, +er speist, er liest, er arbeitet, er hört, er sieht, er schläft, er wacht, er +denkt, er fühlt und lebt in diesem Rhythmus. Und plötzlich hört das +Stampfen der Maschine auf. Man empfindet einen eigentümlichen +Schmerz. Man wird leer in sich, als ob man in rasender Geschwindigkeit +in einem Aufzuge hinuntersause. Die Erde versinkt einem unter den +Füßen, und man empfindet, daß der Boden des Schiffes herausgefallen +ist, und daß man auf den Boden des Meeres sinkt. +</p> + +<p> +Yorikke stand und wogte leicht auf dem glatten ruhigen Meer. Die +Ketten rasselten und der Anker fiel. +</p> + +<p> +Stanislaw kam in dem Augenblick vorbei mit der Kaffeekanne. +</p> + +<p> +„Pippip,“ rief er mich an und sagte halblaut, „jetzt haben wir unten +aber zu hopsen, ei verflucht nochmal. Müssen den Dampf hochpfeifen +auf hundertfünfundneunzig.“ +</p> + +<p> +„Du bist wohl verrückt, Stanislawski,“ sagte ich, „da fliegen wir ja +gleich ohne Aufenthalt durch bis auf den Sirius. Bei hundertsiebzig +klappern uns ja schon die Eingeweide.“ +</p> + +<p> +„Deshalb drücke ich mich ja hier oben rum, so viel ich kann“, griente +Stanislaw, „da rennt man mit dem Schädel nicht erst lange gegen die +Platte. Man geht dann gleich wie ein Gummiball ab, und ehe die Brocken +nachkommen, schwimmt man schon. Als ich die Feluken so verdächtig +in der Nähe sah, habe ich wie ein Wahnsinniger Vorrat gemacht, um +nur recht viel Gelegenheit zu haben, raufzukommen. Dem Heizer +habe ich gesagt, ich habe Durchfall. Das nächstemal mußt du dir was +andres aussuchen, man kann nicht immer den gleichen Hanfsamen erzählen, +sonst will er selber raufgehen und schmeckt die Pomeranzen.“ +</p> + +<p> +„Was ist denn los?“ +</p> + +<p> +„Na, du bist mir ein Schaf. Es wird geblendet. Skipper zieht die Prozente +ein für die Versicherung. So einen Esel, wie du bist, habe ich in meinem +Leben nicht gesehen. Was denkst du denn, wo du drauf bist?“ +</p> + +<p> +„Leichenwagen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +„Das hast du ja wenigstens schon klar. Aber die rennen doch so einen +Eimer nicht runter ohne Musik. Das bilde dir nur ja nicht ein. Die +Yorikke ist geliefert. Der Totenschein liegt schon bei der Kompanie, die +brauchen bloß noch das Datum reinschreiben. Na, und siehst du, Mensch, +wenn man schon auf der letzten Violinsaite spielt, dann ist doch alles +Kick und Kaktus. Die Yorikke kann alles machen, was sie will, sie +ist verzweifelt, sie steht auf der Totenliste. Die kann alles riskieren, +verstehst du? Guck mal da rauf, auf den Laternenkorb. Da hängt der +Boss’n mit der Prismatüte und guckt raus, ob die Luft dicht ist. Dann +kannst du aber mal die Yorikke loskartoffeln sehen, Mensch, die olle +ausgeleierte Schachtel macht dir in der ersten Viertelstunde einen Satz, +daß dir himmelangst wird, bei dem Dampfdruck. Entweder ruff in den +Mond oder raus mit fünfunddreißig Meilen. Da sollst du mal die Yorikke +sehen. Nach einer halben Stunde pfeift und keucht sie aus allen Knopplöchern +und hat für vier Wochen Asthma. Aber sie ist raus. Und das ist +die Hauptsache. Jetzt muß ich aber runter. Ich komme gleich wieder, +wenn ich ein paar geschippt habe. Dann muß ich wieder abknöppen +gehen.“ +</p> + +<p> +Wir fuhren gewöhnlich hundertfünfzig, auch hundertfünfundfünfzig +Druck, wenn die Yorikke gegen schweres Wetter zu kämpfen hatte. +Hundertsechzig war ihre „Achtung!“, hundertfünfundsechzig „Warnung!“, +hundertsiebzig „Gefahr!“. Hier blies sie ab mit markdurchdringendem +Geheule. Um ihr das Heulen auszutreiben, waren jetzt die +Tränendrüsen zugeschraubt. Wenn sie Lust hatte, konnte sie nach innen +in sich hineinweinen, ihr grausames Schicksal beweinen und mit Trauer +zurückdenken an jene Zeit, wo auch sie ein ehrliches rotbäckiges +Jungferlein war. Sie hatte alle Stadien eines abenteuerlichen Weibes +durchgemacht in ihrem langen, reichen Leben. Sie war auf glänzenden +Bällen gewesen, wo sie die Königin des Festes war und umworben +wurde von den schönsten Herren. Sie hatte sich mehrfach verheiratet, +war ihren Männern durchgebrannt, war in üblen Hotels gefunden worden, +war dreißigmal geschieden worden, hatte von neuem Glück gehabt +und war in die Gesellschaft wieder aufgenommen worden, hatte +wieder Dummheiten gemacht, sich eine Zeitlang dem Suff ergeben und +schottischen Whisky nach Norwegen und nach den Krabbenlöchern an +der Küste des States Maine geschmuggelt, und nun war sie endlich +Kuppelmutter, Testamentsschleicherin, Giftmischerin und Engelmacherin +geworden. So tief kann eine Frau sinken, die aus bester Familie +kam und, versehen mit ausgezeichneter Erziehung und mit seidenen +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Röckchen und Fähnchen ins Leben zog. Aber das Unglück vieler schöner +Frauen ist, daß sie nicht zur rechten Zeit zu sterben verstehen ... +</p> + +<p> +Die Ladeluken wurden geöffnet und es wurde in den Eingeweiden der +Yorikke emsig herumgewühlt. +</p> + +<p> +Die Feluken waren nahe gekommen, und zwei machten längsseit fest. +Sie waren von marokkanischen Fischern bemannt. Die kamen wie die +Katzen an Bord. Die Lademasten wurden ausgeholt und fingen kreischend +an zu arbeiten. Drei Marokkaner, die wie Fischer gekleidet +waren, jedoch sonst den Fischern nicht glichen, klug und intelligent +aussahen, gingen mit dem Zweiten Offizier zur Kabine des Skippers. +Der Offizier kam wieder heraus und überwachte das Verladen. Der +Erste stand auf der Brücke und hatte die Augen überall, am Horizont, +auf dem Wasser, auf dem Schiff. Vorn in seinem Gurt hatte er einen +schweren Browning stecken. +</p> + +<p> +„Alles dicht, Boss’n?“ schrie er rauf zum Mast. +</p> + +<p> +„Alles dicht, aye, aye, Sir.“ +</p> + +<p> +„All right! Keep on!“ +</p> + +<p> +Die Kisten schwangen lustig durch die Luft und runter in die Feluken. +Dort waren andre Marokkaner mit flinken Händen tätig, die Kisten +unter den Ladungen von Fischen und Früchten zu verstauen. War eine +Feluke geladen, so machte sie los und stieß ab. Sofort kam eine andre +herbeigerudert, machte fest und nahm die Ladung ein. +</p> + +<p> +Jede Feluke, die ihre Ladung hatte, stieß ab, heißte die Segel und flog +davon. Jede segelte in eine andre Richtung. Einzelne in die Richtung, +wo auf keinen Fall Land liegen konnte, es wäre denn, daß sie nach +Amerika hätten segeln wollen. +</p> + +<p> +Der Zweite Offizier hatte einen Block mit eingeschobenem Kohlenpapier +und einen Bleistift. Er zählte die Kisten. Dann rief ihm einer der Marokkaner, +der als Lademeister zu arbeiten schien, eine Zahl zu, der Offizier +antwortete die gleiche Zahl zurück und schrieb sie dann auf. Auch der +Lademeister schrieb auf einem Stück Papier mit. Die Zahlen wurden +in Englisch gerufen. +</p> + +<p> +Endlich wurden keine Kisten mehr heraufgezogen und die Luken geschlossen. +Die letzte Feluke, die Ladung genommen hatte, war schon +weit fort. Die ersten konnte man nicht mehr sehen. Sie waren hinter +dem Horizont verschwunden oder vom Dunst verschluckt. Die andern +sah man in verschiedenen Richtungen wie kleine Stückchen weißen +Papiers herumschwimmen. +</p> + +<p> +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +<a id="corr-13"></a>Eine weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht. +Sie hatte keine Ladung eingenommen. Sie hatte nur ihre Fischladung. +</p> + +<p> +Die drei Marokkaner, die mit dem Skipper in der Kabine gewesen +waren, kamen jetzt mit ihm heraus. Sie lachten und schwätzten miteinander. +Dann verabschiedeten sich die drei mit großen schönen Gesten +ihrer Arme und Hände, kletterten am Fallstieg hinunter, stiegen in ihr +Schifflein, stießen ab, heißten die Segel, der Fallstieg wurde hochgezogen, +die Ankerkette rasselte, und Yorikke war auf voller Fahrt. +</p> + +<p> +Nach zehn Minuten etwa kam der Skipper raus und rauf zum Deck: +</p> + +<p class="ibr"> +„Wo steht sie?“ +</p> + +<p> +„Sechs ab von der Küste.“ +</p> + +<p> +„Bravo. Dann sind wir ja raus?“ +</p> + +<p> +„Yes, Sir!“ +</p> + +<p> +„Kommen Sie frühstücken. Wir wollen einen heben. Geben Sie dem +Ruder den Kurs und kommen Sie.“ +</p> + +<p> +Damit war der Spuk vorbei. +</p> + +<p> +Aber der Spuk hatte etwas zurückgelassen. Wir alle bekamen großes +Nach-Sturm-Frühstück. Bratwürste, Schinken, Kakao, Bratkartoffeln +und pro Kehle ein Wasserglas Rum, der uns in unsre Blechtassen gefüllt +wurde. Dieses Nach-Sturm-Frühstück war das Maulpflaster für +uns. Das Maulpflaster für den Skipper sah anders aus. Das konnte man +nicht essen, man mußte es in die Brieftasche stecken. +</p> + +<p> +Aber wir waren ja so zufrieden. Wir wären mit dem Skipper in die +Hölle gefahren, wenn er gesagt hätte: „Los, Jungens!“ Und keine +Daumenschrauben hätten aus uns herausquetschen können, was wir +gesehen hatten. +</p> + +<p> +Wir hatten nur gesehen, daß an der Maschine ein Lager heiß gelaufen +war, daß wir uns vor Anker legen mußten, bis der Schaden wieder +repariert war, und daß, während wir vor Anker lagen, Feluken ankamen, +die uns Fische und Früchte hatten verkaufen wollen. Der Koch +hat für zwei Mahlzeiten Fische gekauft, und die Offiziere haben sich +Ananas und frische Datteln und Orangen gekauft. +</p> + +<p> +Das können wir beschwören, weil es die Wahrheit ist, yes, Sir. +</p> + +<p> +Einen so guten Kapitän läßt man nicht im Stich, no, Sir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-13"> +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +34 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">obald</span> man nicht überarbeitet wird, gleich kümmert +man sich um andre Dinge und steckt seine Nase in +Sachen, die einen gar nichts angehen, die einen nur +auf Ideen und Gedanken bringen, die verderblich +sein müssen, wenn man sie pflegt und hätschelt. Seemann, +bleib bei deinem Ruder und bei deinem Farbenpott; +dann bist du auch immer ein braver Seemann +und ein anständiger Kerl. +</p> + +<p> +Der Ingenieur hatte einen Kohlenbunker aufschrauben lassen, der nahe +den Kesseln lag, weil der Bunker für Ladung gebraucht werden sollte. +Jetzt konnte man die Kohlenschächte des Kesselraumes so schön und +mollig auffüllen. Und als die Schächte aufgefüllt waren, der Bunker +leer war und Yorikke die Ladung übernommen hatte, begann eine wollüstige +Zeit. Sie dauerte nur drei Tage, dann waren die Schächte wieder +leer, aber es waren doch schöne Tage, ganz unvergeßlich. +</p> + +<p> +Es waren die Tage der Galeerensklaven, wenn die Segel voll sitzen und +nur tote Kreuzerfahrten gemacht werden. Sie bleiben angeschmiedet, +damit sie die Gewohnheit nicht verlieren; sie werden weiter gepeitscht, +damit sie das Gefühl nicht verlieren und nicht an Aufruhr denken; sie +müssen weiter arbeiten, damit die Muskeln nicht zu schlapp werden. +Aber sie dürfen sich hin und wieder ausruhen und den Kopf auf die +Riemenstangen fallen lassen, weil unter den vollen Segeln die auslegenden +Riemen bremsen und nicht in Richtung wirken. +</p> + +<p> +Auch die vollen Kesselschächte konnten bremsend wirken, wenn man +nicht ruhte, und sie hätten den Kesselraum so verstopfen können, daß +der Heizer nicht arbeiten konnte, vielleicht gar Feuer ausbrach. +</p> + +<p> +Die Ladung wurde ebenfalls auf offner See eingenommen. Irgendwo +an der Küste Portugals mußte es sein; denn die Bootsleute sprachen +portugiesisch. Es ging ähnlich zu wie weiter südlich an den Küsten +Afrikas das Ausladen. +</p> + +<p> +Auch hier kamen drei Mann zuerst an Bord, die wie Fischer aussahen, +jedoch keine Marokkaner waren. Auch sie gingen mit dem Skipper in +dessen Kabine. Es wurde geladen, es wurden Zahlen in Englisch gerufen +und in Arabisch geschrieben. Dann zogen die Boote mit ihren +Fisch- und Apfelsinenladungen wieder ab, in alle Richtungen hinaus. +Zuletzt stiegen auch die drei in ihr Boot und setzten ab. +</p> + +<p> +Diesmal gab es kein großes Nach-Sturm-Frühstück, sondern nur Kakao +und Stollenkuchen mit Rosinen. Es gab ja auch nichts zu schwören. +</p> + +<p class="ibr"> +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +„Denn was soll man schwören?“ sagte Stanislaw. „Wenn da einer kommt +und hebt die Luke auf und guckt rein und sieht die Kisten, was willst du +da schwören? Kannst doch nicht gut schwören, es ist keine Kiste da, +wenn der Mann sie in der Hand hat. Aber da kommst du auch gar nicht +zum Schwören. Da sind die Kisten und fertig. Kann nur der Skipper +schwören, wo er mit den Kisten hin will. Und der wird ihnen schon was +schwören, da kannst du Schlacke drauf fressen.“ +</p> + +<p> +Jetzt hatte ich und natürlich auch Stanislaw feine Wachen. Wenn ausgeschlackt +war, wurden die Aschenfälle gezogen, dann hob ich dem +Kohlefall das Schürzchen hoch, und der Kesselraum lag voll, Vorrat mit +eingeschlossen. +</p> + +<p> +Da kroch ich in einer Wache in der Nacht mal so rum in den Eingeweiden. +Manchmal findet man ganz angenehme Dinge. Nüsse, Apfelsinen, +Tabakblätter, Zigaretten und andres. Manchmal muß man die +Kisten aufmachen und sehen, ob neue Hemden drin sind oder Stiefel +oder Seife. Moral wird einem ja nur darum gelehrt, damit die, die +alles haben, alles behalten können und das übrige noch dazu kriegen. +Moral ist die Butter für die, denen das Brot fehlt. +</p> + +<p> +Man muß die Kisten nur wieder gut zumachen und darf das Hemd und +die Stiefel nicht gleich anziehen. Wenn es rauchig wird, verkauft man +es besser im nächsten Hafen. Nimmt jeder ab. Der Seemann ist billig. +Er spart ja die Ladenmiete und kann deshalb unter Fabrikpreisen +verkaufen. +</p> + +<p> +Seine Ausgaben hat man auch. So leicht ist es nicht, an die Kisten zu +kommen. Man muß Schlangenmensch sein. Das hatte ich ja gelernt. +Jeden Tag ein paarmal Training; wenn man nachließ, spürte man es +sofort an den verbrühten Armen und den verschmorten Stellen auf dem +Rücken. Es hat auch seine Schwierigkeiten, in den Laderäumen rumzuwirtschaften +und seine Ware zu suchen und in Empfang zu nehmen. Da +rutscht so eine Kiste, ein paar andre rutschen nach und man ist gefangen +in der Falle oder zu Brei zerquetscht. Licht hat man ja keins, sondern +Wachszündhölzchen, damit man den Waren heimleuchten kann. +</p> + +<p> +Die Yorikke fuhr keine echten Werte, sie fuhr Totenwerte. Alte Schrauben, +versichert als Corned Beef. Aber diese Einladungen und Ausladungen +ließen meinen Geschäftssinn nicht ruhen. Das waren keine +alten Schrauben und das waren auch keine Zementfüllungen. Ich kenne +die Marokkaner, die machen sich nichts aus Schrauben und gebackenem +Zement. Außerdem hatte ich gesehen, daß nur ein Rettungsboot dicht +war und daß die Offiziere mit dem Skipper auf Wertschätzung standen. +</p> + +<p class="ibr"> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +Die beiden Offiziere beanspruchten Boot zwei; sie durften nicht mit in +Boot eins, dann wären Skipper und Offiziere erschlagen worden, weil +man wußte, was los war. Ein zweites Boot mußten sie schon klarmachen. +Die beiden andern Boote waren ja für den Bootsmann und die A. B.s, +den Kesselbums und einen Ingenieur. Wenn der zweite Offizier mit +zum Skipper in Boot eins stieg, das fiel niemand auf, aber beide Offiziere +durften nicht rein. Solange also nicht Boot zwei überholt war, +konnte der Yorikke nichts geschehen. Geschah ihr trotzdem etwas, dann +lag der Fall treu und alles konnte in Boot eins steigen, und wer nicht +Platz hatte, wurde rausgepfeffert. Da packen alle Hände zu. Dann ist es +auch nicht nötig, Zeugen zu verheiligen, weil alles, was heimkommt, +bester Zeuge ist, denn es war eine treue Beerdigung, an der Versicherung +kann keine Maus knabbern. +</p> + +<p> +Boot zwei also war für mich das Signal für die Beerdigung. Es war noch +knistertrocken, also hatte auch die Yorikke noch andre, treue Werte an +Bord und nicht nur reine Totenwerte. Wenn es auch Blender waren, so +wollte ich doch wissen, was die Blender im Magen hatten. Wissenschaft +macht sich manchmal bezahlt. +</p> + +<p> +Da war ich drin im Laderaum und betrachtete mir die Kisten. +</p> + +<p class="center"> +„Garantiert echtes schwäbisches Pflaumenmus“<br> +„Garantiert reine Früchte und Zucker“<br> +„Kein Farbenzusatz“<br> +„Erste schwäbische Pflaumenmusfabrik A.-G.“<br> +„Oberndorf a. N.“ +</p> + +<p class="noindent"> +Wir sind schöne Esel. Da fressen wir die Schmierseife rein, die Margarine +heißt, und hier liegt das schönste schwäbische Pflaumenmus +stapelweise aufgeschichtet. „O Stanislaw, ich habe dich für einen so +intelligenten Burschen gehalten, aber du bist das größte Rindvieh auf +Erden.“ +</p> + +<p> +Das war mein erster Gedanke. Stanislaw hatte immer so einen großen +Mund, er tat immer so klug, er wußte immer alles, wußte immer, wohin +die Yorikke ging und wohin sie nicht ging. Aber das Pflaumenmus hatte +er doch nicht entdeckt. +</p> + +<p> +Kisten aufmachen ist Spielerei, wenn man Übung hat. Feine große +Büchsen. Das gibt ein Fressen morgen, dick drauf geschmiert auf das +warme Brot. Mir lief das Wasser im Munde zusammen. Garantiert reine +Früchte und Zucker. Kein Ersatz aus deutscher Rübenzeit. Reine Früchte +und Zucker. Die Marokkaner wissen schon, was gut ist. Das ist besser +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +als Datteln und Rosinen, schwäbisches Pflaumenmus aus der Ersten +Pflaumenmusfabrik. Mit dem Meißel, den ich zum Aufmachen der +Kiste gebraucht hatte, öffnete ich jetzt gleich eine Büchse. Ich war +mit zwei Büchsen zum Bunker gekrochen, wo ich ja meine Lampe +unbekümmert brennen durfte. Es konnte mir schon keiner raufkommen, +weil ich das Brett, das über zwei Streben lag und das zur +Bunkerluke führte, weggezogen hatte. Von den Ingenieuren wäre sowieso +keiner über das Brett gegangen; denn das erforderte Mut. Besonders +stark war das Brett nicht, und es war auch nicht mehr neu. Es war nicht +ausgemacht, ob es heute oder morgen brach. Und wenn es brach, oder +wenn man beim Drübergehen infolge eines unerwarteten Stampfers der +Yorikke das Gleichgewicht verlor, so sauste man zwanzig Fuß tief +runter in den Kesselraum und schlug sich auf dem Wege dahin einen +Schädelbruch, wenn man Glück hatte. Wenn man Pech hatte, so war es +schon ganz egal, ob man einen oder zehn Schädelbrüche hatte. Aber +besser ist besser, dachte ich, und darum hatte ich das Brett weggezogen. +Die Büchse war auf. Es war keine Blendung, verflucht noch mal. Es war +tatsächlich garantiert reines Pflaumenmus. Offenbar hatte ich Goldstaub +erwartet, weil ich so erstaunt war. Das hätte ich von der Yorikke +nicht gedacht. Sie fährt treues, echtes Gut. Und ich habe das arme Weib +unter Verdacht gehalten, daß sie Deklarierungen kleistert und Blender +fährt. Man soll doch nie voreilig urteilen, wenn man es mit Weibern +zu tun hat. +</p> + +<p> +Man soll nicht voreilig urteilen, wenn man es mit –. +</p> + +<p> +Schmeckt das Zeug? Schmeckt ganz gut. Schmeckt – na – na – warte +mal – schmeckt etwas ranzig. Nein, schmeckt nach – nach – nach was +denn zum Donnerwetter nochmal? Die haben Coppers reingetan, die +Säue. Die haben Kupfermünzen rein getan, damit die Pflaumen Farbe +behalten sollen. Garantiert kein Farbzusatz. Ist keine Farbe, aber +schmeckt danach. Wollen doch noch mal kosten. Ja, Teufel, schmeckt +nach Grünspan, direkt nach Messing. Kann ich nicht essen auf Brot. +Ich werde den Geschmack nicht los. Frißt sich auf der Zunge ein und +klietscht gegen den Gaumen. +</p> + +<p> +Vielleicht nur oben so schlimm. Gehen wir mal tiefer mit dem Finger +in die Marmelade! Was ist denn das? Da sind ja noch die ganzen +Pflaumenkerne drin geblieben. Das ist ja eine Marmelade. Scheint echt +schwäbisch zu sein, die Kerne alle drin zu lassen. +</p> + +<p> +Na? Was ist denn das? Das sind aber merkwürdige Pflaumen, die echt +schwäbischen Pflaumen. Die haben sehr mysteriöse Kerne. Die Kerne +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +sind ja aus Blei, tatsächlich aus Blei. Und damit das Blei nicht beschädigt +wird, hat es einen weißen Stahlpanzer. Und jeder Kern steckt auf einer +Messinghülse. Daher der Messinggeschmack. Und in den Hülsen? Was +ist denn da drin? Zucker. Feiner Zucker. Schwäbischer Zucker muß das +sein. Ist schwarz und schmeckt ganz salzig. Garantiert reine Früchte +und Zucker. Feine Blender. Man soll nicht voreilig urteilen, Yorikke ... +</p> + +<p class="ibr"> +Dann ging ich auf die zweite Reise. Mausefallen. Daß die Marokkaner so +wild auf Mausefallen sein sollten, glaubte ich nicht. Es waren wirklich +Mausefallen in den Kisten. Als ich aber nach den Kernen suchte, fand +ich Mausefallen ohne Fallen, mit einem R am Ende. Mauser. +</p> + +<p> +Da waren Kisten mit Kinderspielzeug. „Blechautos mit aufziehbarem +Federwerk.“ Ich suchte nicht nach den Kernen und sparte mir die Mühe, +weil die Blechautos mit aufziehbarem Federwerk aus der „Ältesten +Suhler Spielwarenfabrik“ kamen. Aber England war viel besser und +viel gründlicher vertreten als Belgien und benachbarte Gebiete. Belgien +hatte Zuckerwaren beigesteuert und England Kasserollen aus Weißblech. +Die Marokkaner haben ganz recht. Spanien den Spaniern, Frankreich +den Franzosen und China den Chinesen. Wir lassen keine Chinesen +rein. Aber wenn die uns nicht reinlassen, dann ist unser Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra! +befleckt, bedreckt, beschiet und muß mit Blutfleckseife +ausgewaschen werden, yes, Sir. +</p> + +<p> +He, Skipper, auf mich kannst du zählen. Du machst das Geschäft, und +ich habe das Wohlgefallen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-14"> +35 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw,</span> nun sag mal, warum frißt du denn die +Margarine immer so in dich hinein? Hast du denn gar +kein Schamgefühl?“ +</p> + +<p> +„Was willst du machen, Pippip. Erstens habe ich +Hunger, und zweitens kann ich doch nicht meine +Lumpen auskochen, den Saft eindicken und dann als +Marmelade aufs Brot schmieren. Hab doch weiter +nichts aufs Brot. Und immer das trockene Brot hinterwürgen, +Mensch, du wirst ja ganz dusselig davon. Kriegst ja Betonfundamente +in den Bauch.“ +</p> + +<p> +„Du bist schön dumm,“ sagte ich nun, „weißt du, daß wir Marmelade +geladen haben?“ +</p> + +<p> +„Natürlich weiß ich“, sagte Stanislaw, ruhig weiter kauend. +</p> + +<p> +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +„Warum machst du denn nicht eine Kiste dicht?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Das ist doch keine Marmelade für uns.“ +</p> + +<p> +„Warum denn nicht?“ +</p> + +<p> +„Die ist bloß gut für Marokkaner, Spanier und Franzosen und natürlich +für die Lieferanten. Aber für uns, für dich und für mich, ist das +keine Marmelade. Die kannst du nicht verdauen. Die kannst du nur +verdauen, wenn man sie dir in die Rippen pfeffert. Aber dann kriegst +du die Lauferei, da läufst du gleich so sehr, daß du deinen Urgroßvater +noch einholen und mit ihm zusammen gehen kannst.“ +</p> + +<p> +Der wird doch nicht etwa? +</p> + +<p> +Ich platzte gleich raus: „Weißt du denn etwa schon, was da drin ist. Du +hast doch nicht etwa –?“ +</p> + +<p> +„Nachgesehen? Für was für ein großes Kamel hältst du mich denn eigentlich? +Die drei Edlen waren noch beim Skipper in der Kabine und oben +wurde noch die Luke dicht gemacht, damit auch ja niemand dran kann, +da hatte ich schon eine Kiste auf. Ich brauche doch nur lesen Pflaumenmus +oder Marmelade oder Dänische Butter oder Corned Beef oder Ölsardinen +oder Schokolade, da bin ich doch auch schon dahinter.“ +</p> + +<p> +„Da ist aber tatsächlich Pflaumenmus drin“, erwiderte ich. +</p> + +<p> +„Es ist immer was drin. Aber das kannst du nicht essen. Das schmeckt +zu sehr nach Grünspan. Stirbst an Blutvergiftung. Auf der letzten +Reise, ehe du raufkamst, da hatten wir Corned Beef. Natürlich auch +Blender, aber ich habe gründlich abgehäutet, das kann ich dir sagen. +Das war fein. Da war nichts dran. Das war in Pergament gefettet. +Manchmal hat man eben Glück. War gute amerikanische Ware. Ging +nach Damaskus oder da herum.“ +</p> + +<p> +„Wie waren denn die Knochen?“ +</p> + +<p> +„Die Knochen? In Corned –? Ach so, die Knochen meinst du. Das waren +K’rabben. K–rabben. Karabiner. Made in U. S. A. Feines Modell. Da +hat der Skipper schwer Draht gezogen. Da gab es Kognak, Rinderbraten, +Huhn und frisches Gemüse. Da mußte nicht nur das Maul, da +mußten auch die Glotzen und die Riecher gepflastert werden. Ein französischer +Jäger kriegte uns auf, ehe wir raus waren. Die haben geschnüffelt, +mit Zigaretten und mit Franken rumgeschmissen. Aber mußten +wieder abziehen und dem Skipper Verbeugungen machen.“ +</p> + +<p> +„Hat denn keiner für die gewinkten Franken gepfiffen?“ +</p> + +<p> +„Bei uns? Auf der Yorikke? Wir sind alle Dreck und haben nichts mehr +zu melden. Wir sind tot. Du auch. Na, und sieh mal, jemand anders +ins Portemonnaie sehen oder in den Glasschrank gucken oder Kisten +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +aufmachen in einem Schuppen oder auf der Yorikke, dem Zweiten und +dem Ersten noch dazu den Hammer an den Schädel feuern, das ist alles +Ehrensache. Behältst du immer den Kopf hoch, behältst du immer deinen +Murr, deinen Stolz. Aber pfeifen bei der Polizei oder der auch nur mit +einem Fingernagel helfen, das ist schäbig. Da kannst du dir nicht mehr +in die Augen gucken. Wenn die was wollen, laß sie doch machen. Aber +du bist doch ein anständiger Kerl, da putzt man den Burschen nicht die +Brillengläser. Ich will lieber auf der Yorikke und mit der Yorikke verrecken, +als mit einem Polizisten tauschen.“ +</p> + +<p> +Wir lagen auf der Reede an der portugiesischen Küste, um Deckungsgut +einzunehmen und die Yorikke zu klären. Die Yorikke war plötzlich +in Verdacht gekommen. Deshalb nahm der Skipper nur echtes Gut ein +und ließ sehr saubere Deklarierungen gegen die Yorikke laufen, an +denen auch nicht ein Pünktchen zu deuteln war. Es war sehr billiges +Gut, denn hohes vertraute der Yorikke niemand an. Wer sie kannte, +nicht. Aber da gibt es ja so unendlich viel Gut, das an sich keinen besonderen +Wert darstellt, aber doch gefahren werden muß und doch +wieder zu gut ist, um nur als Ballast zu gehen. Den Wert bekommt +dieses Gut erst, wenn es abgeliefert ist. +</p> + +<p> +Nach fünf Uhr des Nachmittags hatten wir nichts mehr zu tun, und die +Arbeit begann erst wieder am nächsten Morgen um sieben. Das war die +Arbeitszeit, wenn wir auf Reede oder am Kai in einem Hafen lagen. +Die Arbeit in diesen Fällen war meist unangenehm, aber doch nicht gar +so schwer wie auf der Fahrt. +</p> + +<p> +Hier war es dann, daß wir schon manchmal einige Stunden beieinander +sitzen konnten, um in Ruhe zu schwätzen. Ein Schiff ist immer groß +genug, daß man irgendwo sitzen kann, ohne daß man sich mit den Ellbogen +stößt. +</p> + +<p> +So viele Leute auf der Yorikke waren, so viele Nationen waren auch +vertreten. Jede Nation hat ihre Toten, die leben und atmen, aber gegenüber +der Nation doch tot für ewig sind. Manche Staaten haben ganz +offen ihre Totenschiffe. Diese Totenschiffe nennt man dann Fremdenlegion. +Wer sie überlebt, kann vielleicht ein neues Leben damit erkauft +haben. Er hat einen neuen Namen erworben, der ihm bestätigt wird, +und er hat einen neuen Platz in einer Nation gefunden, als wäre er als +Säugling eben hineingeboren. +</p> + +<p> +Alle Kommandos auf der Yorikke wurden in Englisch gegeben, und alle +Unterhaltung wurde in englischer Sprache gepflogen, weil sonst eine +Verständigung nicht denkbar gewesen wäre. Es war ein höchst +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +merkwürdiges Englisch. Nur der Skipper sprach ein reines, fehlerfreies +Englisch. Alle übrigen dagegen sprachen etwas, das mit Englisch nichts +zu tun hatte. Es war Yorikkisch. Eine eigne Sprache. +</p> + +<p> +Wie die Sprache klang und aussah, läßt sich nur schwer schildern. Jeder +Seemann weiß zwei Dutzend englische Worte. Und jeder weiß drei bis +sechs Worte, die der andre nicht weiß, aber von ihm lernt durch das Zusammenleben +an Bord, wenn nur Englisch gesprochen wird. Dadurch +eignet sich jeder in kurzer Zeit etwa zweihundert Worte an. Zweihundert +Worte der englischen Sprache auf diese Weise, aber nur auf diese Weise +gelernt und dazu die Zahlen, die Namen der Tage und Monate in Englisch, +ermöglichen jedem Menschen, alles das klar und zweifelsfrei auszudrücken, +was er innerhalb dieses Kreises sagen will. Ganze Romane +kann er mit diesem Sprachschatz erzählen. Er kann natürlich kein englisches +Buch lesen und noch viel weniger eine englische Zeitung. Keine +andre europäische Sprache kann diesen Vorteil ihren Schülern bieten, +sich so leicht und so rasch im Leben verwenden zu lassen. +</p> + +<p> +Ehe ich aber das Yorikkisch verstand und mich in Yorikkisch ausdrücken +konnte, vergingen mehrere Tage. Hätte ich Worte und Wortverbindungen +so gebraucht, wie ich sie seit meinen ersten nassen Windeln gehört +und geplappert hatte, würde mich niemand auf der Yorikke, der +Skipper ausgenommen, verstanden haben, und man würde mir kaum +geglaubt haben, daß ich Englisch spräche. +</p> + +<p> +Wie war das Yorikkische Englisch entstanden, und wie war das Englisch +auf andern Totenschiffen entstanden? +</p> + +<p> +Das Sprachengewirr unter den Angehörigen der verschiedenen Nationen, +die auf der Yorikke fuhren, machte eine gemeinsame Sprache notwendig. +Da jeder, wenn er nur ein paar Wochen fährt, einige englische +Brocken weiß und gleich mitbringt, so ergibt sich ganz von selbst das +Englisch als Kommando- und Umgangssprache. +</p> + +<p> +Da ist das Wort First-Mate, Erster Offizier, das die meisten wissen, und +da ist das Wort Money, das jeder weiß. +</p> + +<p> +Nun aber kommt die lebendige Entwicklung, eine Sprachentwicklung, +wie sie sich nicht nur auf der Yorikke zeigte, sondern wie sie sich in +ganzen Völkern zeigt und von jeher gezeigt hat. +</p> + +<p> +Mate wird in London-West ganz anders ausgesprochen als in London-Ost, +und der Amerikaner spricht achtzig Prozent der Worte anders aus +als der Engländer, und sehr viele schreibt er auch ganz anders und verwendet +sie in ganz andern Ideenverbindungen. +</p> + +<p> +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +Der Zimmermann hat das Wort First-Mate nie in England gehört, sondern +von einem Schweden, der das Wort von einem Seemann aus +London-Ost gehört hatte. Der Schwede konnte es schon selbst nicht +richtig aussprechen, außerdem hatte er es noch in dem üblen Petty-coat-lane +oder Cockney-Dialekt gehört, den er für die richtige und allein +gültige Aussprache halten mußte, weil er ja das Wort von einem Engländer +vernommen hatte. Wie das Wort nun von dem Zimmermann +ausgesprochen wurde, kann man sich vielleicht vorstellen. Ein Spanier +bringt die Aussprache des Wortes Money, ein Däne bringt Coal, ein +Holländer Bread, ein Pole Meal, ein Franzose Thunder und ein Deutscher +Water. +</p> + +<p> +Das Wort First-Mate läuft durch alle Stadien der Laute, die ein Mensch +geben kann: Feist-Moat, Fürst-Meit, Forst-Miet, Fisst-Määt und noch so +viel mehr als Leute auf der Yorikke sind. Nach einer kurzen Zeit aber +schleifen sich die verschiedenartigen Aussprache-Färbungen gegeneinander +ab und es kommt zu einer einheitlichen Aussprache, in der sich +alle die Tonfarben wiederfinden in abgeschwächter Form. Wer neu hinzukommt, +selbst wenn er genau weiß, wie das Wort richtig ausgesprochen +wird, ja selbst wenn er Professor der Phonetik in Oxford wäre, muß +das Wort Yorikkisch aussprechen, wenn er zu jemand den Befehl bringen +soll, daß der First-Mate ihn zu sehen wünsche, weil der Mann sonst +gar nicht wüßte, was man von ihm wolle. Der Professor merkt nach +kurzer Zeit gar nicht mehr, daß er die Worte Yorikkisch ausspricht, weil +er sie nur in dieser Form hört und sie sich in dieser Form in sein Gedächtnis +einprägen. Von den Vokalen bleibt nicht viel an richtiger Aussprache +übrig, aber von den Konsonanten bleibt genug übrig, um das +Wort nach einigem Hinhören doch zu verstehen. Dadurch bleibt die +Sprache immer Englisch in ihrem Skelett und kann auf jedes andre +Schiff übertragen werden. Gäbe es keine Buchdruckerkunst, so würde es +so viele ganz selbständige Sprachen geben wie es Dialekte gibt. Hätten +die Amerikaner nicht die gleiche Schriftsprache wie die Engländer, +würde heute die Sprache der beiden Völker ebenso verschieden sein wie +die Sprache der Holländer und der Deutschen. +</p> + +<p> +Der Seemann ist, soweit die Sprache in Frage kommt, nie verlegen. An +welche Küste er auch geworfen werden mag, er kann sich zurechtfinden +und kann sich verständlich machen. Und wer eine Yorikke überwinden +und überleben kann, den kann nichts mehr in Schrecken versetzen, für +ihn ist nichts unmöglich. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-15"> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +36 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> wurde nur von mir und den Heizern +Stanislaw oder Lawski gerufen. Alle übrigen, auch +die Offiziere und Ingenieure riefen ihn Pole, manche +Pollack. Die Mehrzahl der Leute wurden nach ihrer +Nationalität gerufen: He, Spanier oder Russ oder +Holländer. Und das war ein ironischer Witz des +Schicksals. Ihre Nation verleugnete sie und stieß sie +von sich, auf der Yorikke war ihre Nation ihre ganze +Persönlichkeit. Jeder, der auf einem Schiff angezeichnet werden soll, +wird zum Konsul gebracht, zum Konsul jenes Staates, unter dessen +Flagge des Schiff fährt. Der Konsul hat die Anmusterung zu bestätigen +und zu registrieren. Er prüft die Papiere des Seemanns, und wenn ihm +die Papiere nicht gefallen, verweigert er die Registrierung, und der +Mann kann nicht mustern. Die Anmusterung vor dem Konsul muß im +Hafen erfolgen, ehe der Mann seine Arbeit beginnt. +</p> + +<p> +Yorikke hätte auf diese Art nie einen Mann bekommen, vielleicht nicht +einmal Ingenieure und Offiziere; denn wer mit seinen Papieren in +Ordnung war, ging der Yorikke in weitem Bogen aus dem Wege. Die +Yorikke verdarb die besten Papiere eines Mannes, und ein Mann, der +von der Yorikke abzeichnete, hatte ein oder zwei Jahre dreiviertel und +halbe Yorikken erst zu fahren, ehe er sich wieder beim Skipper eines +ehrlichen Schiffes sehen lassen konnte, falls er überhaupt je auf eine +dreiviertel Yorikke kommen konnte. Denn selbst da war der Skipper +mißtrauisch. „Auf der Yorikke haben Sie gefahren? Wo werden Sie denn +verlangt? Was haben Sie denn ausgefressen?“ Das sagt der Skipper. +</p> + +<p> +Und der Mann sagt: „Ich konnte kein andres Schiff kriegen und nahm +deshalb die Yorikke für eine Reise.“ +</p> + +<p> +„Ich will keine Scherereien haben mit der Polizei oder mit den Konsuln. +Ich möchte nicht gern, daß es heißt, auf meinem Schiff haben sie unter +der Mannschaft einen Raubmörder verhaftet, der in Buenos-Aires verlangt +wird“, sagt der Skipper. +</p> + +<p> +„Aber, Skipper, wie können Sie denn das sagen? Ich bin ein ganz ehrlicher +Mann.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja. Aber von der Yorikke. Ich kann doch nicht von Ihnen fordern, +daß Sie mir von allen Ländern der Erde ein polizeiliches Leumundszeugnis +beibringen, nicht älter als vier Wochen. Da haben Sie zwei +Schillinge, für ein gutes Abendessen, aber Anmusterung? Ich möchte +doch lieber nicht das Risiko übernehmen. Vielleicht kriegen Sie ein +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +andres Schiff, liegen ja eine Masse hier. Gehen Sie mal zu dem Italiener +da drüben. Kann sein, er nimmt es nicht so hart.“ +</p> + +<p> +Der Skipper der Yorikke konnte mit keinem seiner Leute zum Konsul +gehen, wahrscheinlich nicht einmal mit seinem Ersten Offizier, und ich +würde mich nicht wundern, wenn er sich selbst nicht beim Konsul sehen +lassen dürfte, ohne daß der Konsul sofort den Hörer abnimmt und zum +Skipper sagt: „Setzen Sie sich, bitte, Herr Kapitän, nur einen Augenblick, +dann stehe ich zu Ihren Diensten.“ +</p> + +<p> +Diese Dienste würde der Skipper vielleicht nicht abwarten, sondern +etwas andres tun; rin ins Auto, rauf auf die Yorikke, Anker gehievt +und abgesurrt mit hundertfünfundneunzig und zugeschraubten Tränendrüsen. +</p> + +<p> +Die Yorikke bekam alle Leute unter dem Schiffsnotgesetz. Sie kamen +rauf, wenn der Blaue Peter eingezogen wurde und der Lotse schon an +Bord war. Kein Konsul der Erde wird dann verlangen, daß der Skipper +nun wieder anhalten und mit einem Mann zum Konsul gehen soll. Das +verlangt noch viel weniger irgendeine Hafenbehörde. Früher konnte +man den Mann nicht anmustern, weil keiner da war, und weil man nicht +wußte, daß von der Mannschaft sich einer besaufen und achtern abkanten +würde. Das merkte man erst, als das Lotsensignal gepfiffen +wurde und der Mann nicht an Bord war. +</p> + +<p> +Selten verriet jemand auf der Yorikke einem andern seinen wahren +Namen und seine wahre Nationalität. Ebenso selten erfuhr man, unter +welchem Namen und unter welcher Nationalität jemand angemustert +hatte. Kam jemand neu, so fragte ihn der Offizier oder der Ingenieur +oder ein Mann, eben irgendeiner, der mit ihm zuerst zu tun hatte: „Wie +heißen Sie?“ Darauf sagte der Gefragte: „Ich bin Däne.“ Damit hatte +er zwei Fragen beantwortet und nun hieß er Der Däne oder nur Däne. +Mehr zu fragen, hielt man für überflüssig. Man wußte meist oder +glaubte meist, daß Däne schon gelogen war, und sich mehr anlügen zu +lassen, darauf ging man nicht aus. Willst du nicht belogen werden, dann +darfst du auch nicht fragen. +</p> + +<p> +Um uns an einem faulen Abend, während wir auf der Reede lagen, die +Zeit zu vertreiben, erzählte mir Stanislaw seine Geschichte und ich ihm +meine. Ich erzählte ihm nicht meine wahre Geschichte, sondern eben +eine Geschichte. Ob er mir eine wahre Geschichte erzählte, weiß ich +nicht. Wie kann ich das wissen? Ich weiß ja nicht einmal, ob das Gras +grün ist, es kann ja nur in meinen Augen eine grüne Täuschung verursachen. +</p> + +<p> +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +Aber gute Gründe machen mich glauben, daß die Geschichte, die mir +Stanislaw erzählte, der vollen Wahrheit entsprach, weil sie den Geschichten +aller Reisenden auf Totenschiffen so ähnlich war. +</p> + +<p> +Sein Name, den ich, wie die ganze Geschichte, auf dem Eimer nicht verraten +durfte, war Stanislaw Koslowski. Er war geboren in Posen und +dort bis zu seinem vierzehnten Jahre in die Schule gegangen. Indianer- +und Seegeschichten verlockten ihn, er rannte von Hause fort, kam nach +Stettin, verbarg sich dort auf einem dänischen Fischkutter und fuhr +mit ihm nach Fünen. Dort fanden ihn die Fischersleute in ihrem Kutter +halberfroren und halb verhungert. Er sagte, er sei aus Danzig, borgte +sich von seinem Buchbinder, wo er die Seegeschichten zu kaufen pflegte, +den Namen aus und gab ihn als seinen Namen an. Er erzählte weiter, +daß er ein Waisenkind sei und von den Leuten, bei denen er in Pflege +sei, so schlecht behandelt und so verprügelt werde, daß er ins Meer gesprungen +sei, um sich zu töten. Da er aber schwimmen könne, so habe er +zu schwimmen angefangen und sich auf dem Kutter versteckt. Er schloß +seine Erzählung unter Tränen mit den Worten: „Wenn ich zurück nach +Deutschland muß, binde ich mir Hände und Füße zusammen und +springe sofort ins Meer. Zu den Pflegeeltern gehe ich nicht zurück.“ +</p> + +<p> +Die Fischersfrauen weinten alle herzzerbrechend über das traurige +Schicksal des kleinen deutschen Jungen und nahmen ihn auf. Zeitungen +lasen sie nicht, und in die dänischen Zeitungen kam es wohl auch nicht, +daß ganz Deutschland nach dem Jungen abgesucht wurde und die gräßlichsten +Geschichten in Umlauf waren, was wohl alles mit dem Jungen +geschehen sein könne. +</p> + +<p> +Bei den Fischersleuten auf Fünen mußte er schwer arbeiten, aber es +gefiel ihm hundertmal besser als in den Straßen von Posen; und wenn +er daran dachte, daß man ihn zu einem Schneider hatte in die Lehre +geben wollen, so verging ihm alle Lust, seinen Eltern auch nur das +kleinste Zeichen zu schicken, daß er am Leben sei. Die Furcht, Schneider +werden zu müssen, war größer als die Liebe zu Vater und Mutter, die +er ganz niedlich hassen konnte für ihre Absicht, ihn zu einem tüchtigen +Schneider ausbilden zu lassen. +</p> + +<p> +Mit siebzehn Jahren verließ er die Fischersleute mit deren Segenswünschen, +um nach Hamburg zu gehen und für große Fahrt zu mustern. +In Hamburg war kein Schiff zu haben, und er nahm für einige Monate +Arbeit bei einem Segelmacher. Er meldete sich vorschriftsmäßig unter +seinem richtigen Namen an, bekam seine Invalidenkarte und ließ sich +endlich ein gutes deutsches Seemannsbuch ausstellen. +</p> + +<p> +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +Dann fuhr er los auf große Fahrt auf ehrlichen deutschen Schiffen. +Dann wechselte er und fuhr auf einem Holländer. Und dann kam der +blutige Tanz ums goldene Kälbchen. Als das los ging, war er mit seinem +Holländer im Schwarzen Meer. Auf der Heimfahrt passierte das Schiff +den Bosporus, wurde von den Türken untersucht, und er mit noch einem +Deutschen wurde herausgeholt und in die türkische Kriegsmarine gesteckt, +unter anderm Namen, weil er seinen richtigen nicht angab. +</p> + +<p> +Dann kamen zwei deutsche Kriegsschiffe nach Konstantinopel, die in +einem italienischen Hafen gelegen hatten und dort den Engländern, die +ihnen auflauerten, entwischt waren. Stanislaw kam nun auf eines dieser +Schiffe und diente weiter unter türkischer Flagge, bis er eine passende +Gelegenheit fand, den Türken den Abschied zu geben. +</p> + +<p> +Er fand Heuer auf einem Dänen. Der Däne wurde von einem deutschen +Unterseeboot durchsucht, und ein Schwede, der auf dem Schiff fuhr, und +dem er erzählt hatte, daß er nicht Däne, sondern Deutscher sei, verriet +ihn an die Offiziere des Unterseebootes. Stanislaw kam nach Kiel und +wurde unter falschem Namen in die deutsche Kriegsmarine gesteckt. +Artilleriedienst. +</p> + +<p> +In Kiel traf ihn ein andrer Kuli, mit dem er früher auf einem deutschen +Handelsschiff gefahren war. Durch den kam der richtige Name heraus, +und Stanislaw wurde nun mit seinem richtigen Namen in der deutschen +Kriegsmarine geführt. +</p> + +<p> +Stanislaw war dabei, als in der Nähe von Skagen zwei sich bekämpfende +Nationen, die Engländer und die Deutschen, zu gleicher Zeit Sieger +wurden und die Engländer mehr Schiffe verloren als die Deutschen und +die Deutschen mehr als die Engländer. Stanislaw wurde von dänischen +Fischerbooten aufgepickt und ins Dorf gebracht. Da er mit dänischen +Fischersleuten umzugehen verstand und hier ein Bruder jener Frau +war, die ihn in Fünen aufgenommen hatte, so lieferten ihn die Fischer +nicht ab an die dänische Regierung, sondern versteckten ihn und brachten +ihn endlich als Dänen auf einem guten Schiff in Esbjerg unter, mit +dem Stanislaw wieder auf große Fahrt kam. Diesmal hütete er sich, zu +verraten, daß er Deutscher sei, und so konnte er allen Unterseebooten, +englischen und deutschen, ins Gesicht lachen. +</p> + +<p> +Die Regierungen vertrugen sich, die großen Räuber setzten sich alle zu +einem fetten Versöhnungsbankett nieder, und die Arbeiter und kleinen +Leute in allen Ländern hatten die Unfallkosten, die Hospitalrechnungen, +die Beerdigungskosten und das Versöhnungsbankett zu bezahlen. +Dafür durften sie den einziehenden Heeren, die „im Felde gesiegt“ +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +hatten, mit kleinen Fähnchen und Taschentüchern zuwedeln und +den übrigen Heeren, die „im Felde nicht besiegt“ waren, mit brausender +Begeisterung zurufen: Macht nischt, das nächste Mal! Und als den +Arbeitern und den Kleinen schwindlig wurde von der Höhe der Rechnungen, +die sie bezahlen sollten, weil die großen Räuber nichts verdient +und sogar das noch für die Wohltätigkeit geopfert hatten, da führte +man die kleinen Leute an das Grab des „Unbekannten Kriegers“, wo +sie so lange standen und man so lange auf sie einredete, bis sie dran +glaubten, an die Pflicht des Bezahlens und an die Echtheit des Unbekannten +Kriegers. Wo man sich keinen Unbekannten Krieger leisten +konnte, weil man keinen hatte, da schläferte man das Denken der +Arbeiter damit ein, daß man ihnen den Dolch im Rücken zeigte und sie +raten und streiten ließ, wer ihn reingesteckt habe. +</p> + +<p> +Dann kam die Zeit, wo in Deutschland ein Zündholz zweiundfünfzig +Billionen Mark kostete, während die Herstellung jener zweiundfünfzig +Billionen Mark in Nicht-Billionen-Scheinen mehr kostete als ein ganzer +Eisenbahnwaggon voll Zündhölzer. Da fand es die dänische Kompanie +an der Zeit, ihre Schiffe nach Hamburg ins Trockendock zu schicken zum +Überholen. Die Mannschaften wurden entlassen und in ihre Heimat +geschickt. Stanislaw war mit dem Schiff nach Hamburg gekommen und +war nun gleich in seinem Heimatlande. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-16"> +37 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">as</span> dänische Heuerbuch war nicht viel wert. In +Dänemark lagen so viele Schiffe auf, daß man +kaum auf Musterung rechnen konnte. Und Stanislaw +wollte endlich wieder einmal ein richtiges +Seemannsbuch haben. +</p> + +<p> +Er ging zum Seemannsamt, wo er dachte, das +Buch zu bekommen. +</p> + +<p> +„Müssen Sie erst eine Bescheinigung von der +Polizei beibringen.“ – „Ich habe hier mein altes Seemannsbuch.“ +</p> + +<p> +„Das ist ein dänisches. Wir sind hier nicht in Dänemark.“ +</p> + +<p> +Das dänische Seemannsbuch trug einen andern Namen, nicht den richtigen +Namen Stanislaws. +</p> + +<p> +Er ging zur Polizei, sagte seinen richtigen Namen und wollte eine Bescheinigung +haben, damit er ein Seemannsbuch bekommen könne. +</p> + +<p> +„Hier gemeldet?“ wurde er gefragt. +</p> + +<p> +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +„Nein. Bin gestern erst angekommen. Mit einem Dänen“, sagte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Dann lassen Sie sich erst Ihren Geburtsschein schicken, sonst können +wir Ihnen keine Bescheinigung geben“, sagte die Polizei. +</p> + +<p> +Stanislaw schrieb nach Posen, um seinen Geburtsschein zu bekommen. +Er wartete eine Woche. Der Geburtsschein kam nicht. Er wartete zwei +Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. +</p> + +<p> +Nun schrieb Stanislaw einen Einschreibebrief und packte fünfzig Billionen +Mark bei für Unkosten. +</p> + +<p> +Stanislaw wartete drei Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Er +wartete vier Wochen. Der Geburtsschein kam nicht. Was kümmert man +sich in Polen um den Geburtsschein eines Mannes, der in Deutschland +wohnt. Man hat andre Sorgen. Da ist erst mal Oberschlesien. Und da ist +erst mal Danzig. Und wer weiß, wo die Geburt registriert ist. In diesem +Kram können wir uns nicht zurecht finden. Das ist alles nichts für uns. +Das Geld, das Stanislaw mitgebracht hatte, ein hübsches Päckchen +dänischer Kronen, war längst über alle Berge. Berge? Nein, war längst +über ganz St. Pauli. In St. Pauli kennt man dänische Kronen und weiß +sie zu schätzen, sind beinahe ebenso gut wie Dollar. „Was willst du +machen, wenn da die Mädels sind? Kannst doch nicht gut abwinken. +Sieht ja aus, als ob du nicht mehr –. Ja, da waren halt die +Kronen im –.“ +</p> + +<p> +„Verhungern und Kohldampf schieben tun nur die Dussel und Idioten“, +sagte Stanislaw. „Ein ehrliches Handwerk ernährt immer seinen +Mann.“ +</p> + +<p> +Da fiel schon mal eine Kiste auf dem Güterbahnhof aus einem Güterwagen, +wo die Tür zu leicht aufging. „Mußt bloß da sein, wenn sie fällt, +und mußt sie nicht liegen lassen. Das ist der ganze Witz an der Geschichte“, +sagte Stanislaw. +</p> + +<p> +Dann gingen auch schon mal ein paar Zuckersäcke im Hafen auf. „Wenn +du da mit einem leeren Rucksack gehst“, sagte Stanislaw, „und es geht +ganz von allein so ein Zucker- oder Kaffeesack auf, und der ganze +Brassel rutscht dir in den Rucksack, da machst du doch nicht den Rucksack +los, schüttest den Kaffee wieder aus und gehst deiner Wege. Das +wäre ja Gottversuchen. Wenn du den Kaffee wieder ausschüttest und +es sieht einer, denkt er gar noch, du hättest ihn gestohlen, und er läßt +dich hochgehen.“ +</p> + +<p> +Es gab auch Salvarsan und Koks. „Für die arme leidende Menschheit +muß man ein Herz haben, da kannst du nicht drum rum. Weißt nicht, +wie es dir tun kann, wenn du Salvarsan nötig hast und kannst es nicht +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +kriegen. Mußt nicht nur immer an dich denken, mußt auch mal an andre +denken, wenn es dir gut gehen soll.“ +</p> + +<p> +„Siehst du, Pippip,“ ergänzte Stanislaw seine Erzählung, „jedes Ding +hat seine Zeit. Da kommt dann eine Zeit, wo du dir sagen mußt, nun +trachte aber nach etwas anderm. Das ist der Fehler, daß die meisten +nicht zur rechten Zeit sagen können: Nun aber runter von der Ella, sonst +kommst du nicht mehr raus und die Olsche schnappt dich. Und da sagte +ich mir, jetzt mußt du einen Kasten kriegen, und wenn du ihn stehlen +sollst, sonst sitzt du fest.“ +</p> + +<p> +Als Stanislaw zu dieser Überzeugung gekommen war, ging er wieder +zur Polizei und sagte, daß sein Geburtsschein nicht gekommen sei. +</p> + +<p> +„Die verfluchten Pollacken,“ sagte der Inspektor, „das machen sie aus +Niedertracht. Wir werden ihnen schon noch die Hölle heiß machen, +lassen Sie nur erst mal die Franzosen in Afrika und die Engländer in +Indien und China die Hände voll Dreck haben, dann werden wir schon +was pfeifen.“ +</p> + +<p> +Stanislaw, den die politische Meinung des Inspektors nicht interessierte, +der aber aus Höflichkeit zugehört, genickt und mit der Faust auf den +Tisch geschlagen hatte, sagte nun: „Wo krieg ich denn nun mein Seemannsbuch +her, Herr Inspektor?“ +</p> + +<p> +„Haben Sie denn nicht schon mal in Hamburg gewohnt?“ +</p> + +<p> +„Natürlich. Vor dem Kriege.“ +</p> + +<p> +„Lange?“ +</p> + +<p> +„Über ein halbes Jahr.“ +</p> + +<p> +„Gemeldet gewesen?“ +</p> + +<p> +„’türlich.“ +</p> + +<p> +„Welchen Bezirk?“ +</p> + +<p> +„Hier in diesem Bezirk. Auf diesem Revier.“ +</p> + +<p> +„Dann gehen Sie nur einmal rasch zur Hauptmeldestelle und lassen Sie +sich einen Meldeauszug geben. Dann kommen Sie damit her und bringen +Sie zwei oder drei Photographien mit, die ich Ihnen stempeln kann.“ +</p> + +<p> +Stanislaw bekam den Meldeauszug und eilte zurück zu dem Inspektor. +Der Inspektor sagte: „Der Auszug ist richtig, wenn ich nur genau +wüßte, daß Sie auch der sind, der hier im Auszug genannt ist?“ +</p> + +<p> +„Das kann ich beweisen. Ich kann ja den Segelmacher Andresen, bei +dem ich gearbeitet habe, herbringen. Aber da steht ja ein Wachtmeister, +der mich vielleicht noch kennt.“ +</p> + +<p> +„Ich? Sie kennen?“ fragte der Wachtmeister. +</p> + +<p> +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +„Ja. Ihnen habe ich neun Mark Ordnungsstrafe zu verdanken, die Sie +mir eingebracht haben, wegen einer Prügelei. Damals hatten Sie noch +eine Fliege an der Unterlippe, die Sie jetzt abrasiert haben“, sagte +Stanislaw. +</p> + +<p> +„Ja–a–a–! Jetzt kann ich mich auf Sie besinnen. Richtig, Sie arbeiteten +bei dem Andresen. Wir hatten ja noch die Geschichte mit Ihnen. +Posen suchte Sie, weil Sie als Junge zu Hause durchgebrannt waren. Wir +ließen Sie dann hier, weil Sie ja hier anständig in Arbeit waren.“ +</p> + +<p> +„Dann stimmt das alles“, sagte nun der Inspektor. „Jetzt kann ich Ihnen +die Bescheinigung geben und die Photographien stempeln.“ +</p> + +<p> +Am nächsten Tage ging Stanislaw mit der Bescheinigung zum Amt. +</p> + +<p> +„Die Bescheinigung stimmt. Der Inspektor bestätigt, daß er Sie persönlich +kennt. Aber. Aber die Reichsangehörigkeit bezweifeln wir noch. +Da steht Deutsche Reichsangehörigkeit. Das müssen Sie uns beweisen.“ +</p> + +<p> +Das sagte man ihm auf dem Amt. +</p> + +<p> +„Ich habe doch in der K. M. gedient und bin am Skagerrak verwundet +worden.“ +</p> + +<p> +Der Beamte zog die Augenbrauen hoch und machte eine Gebärde, als +ob von dem, was er jetzt sagen wolle, der Weiterbestand der Erde abhängig +sei. „Als Sie in der Kaiserlichen Marine dienten und am Skagerrak +verwundet wurden, wo wir es den scheinheiligen Hunden aber +gründlich gegeben haben, da waren Sie deutscher Reichsangehöriger. +Das wird nicht in Zweifel gestellt. Aber ob Sie heute noch deutscher +Staatsangehöriger sind, das ist von Ihnen zu beweisen. Solange Sie +uns das nicht beweisen können, sind wir nicht in der Lage, Ihnen ein +Seefahrtsbuch auszustellen.“ +</p> + +<p> +„Wo muß ich denn da hingehen?“ +</p> + +<p> +„Da müssen Sie zum Polizeipräsidium gehen. Abteilung Staatsangehörigkeit.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-17"> +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +38 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">tanislaw</span> mußte doch wieder nach seinem ehrlichen +Handwerk sehen, um nicht zu verhungern. +Da half nichts. Seine Schuld war es nicht. Arbeit gab +es nicht einen Brocken. Alles saugte an der Arbeitslosenunterstützung. +Stanislaw machte keinen Versuch, +sie mitzunehmen. Ehrliches Handwerk war ihm lieber. +</p> + +<p> +„Es drückt einen so nieder, wenn man immer zwischen +Arbeitslosen steht und dort der paar Pfennige wegen +halbe Tage in Reih und Glied anstehen und jeden Tag hinlaufen muß. +Dann schon lieber Schmalmachen nachts auf der Straße oder aufpassen, +ob nicht jemandem die Brieftasche juckt“, sagte Stanislaw. +„Meine Schuld ist es nicht. Hätten die mir ein Buch gegeben, als ich das +erstemal da war, wäre ich längst fort. Ich kriege schon einen Kasten.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Auf dem Polizeipräsidium fragte man ihn: „Sie sind in Posen geboren?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Geburtsschein?“ +</p> + +<p> +„Hier ist die Quittung vom Einschreibebrief. Schicken keinen.“ +</p> + +<p> +„Die Bescheinigung von dem Inspektor in Ihrem Revier genügt mir. Es +ist nur die Staatsangehörigkeit. Haben Sie für Deutschland optiert?“ +</p> + +<p> +„Ob ich was habe?“ +</p> + +<p> +„Ob Sie für Deutschland optiert haben? Ob Sie, als die polnischen Provinzen +abgegeben werden mußten, vor einer deutschen zuständigen Behörde +die Erklärung persönlich zu Protokoll gegeben haben, daß Sie +deutscher Staatsangehöriger bleiben wollen?“ +</p> + +<p> +„Nein“, sagte Stanislaw. „Das habe ich nicht getan. Davon habe ich gar +nichts gewußt, daß man das tun müsse. Ich habe geglaubt, wenn ich +Deutscher einmal bin und nichts andres werde, daß ich dann auch +Deutscher bleibe. Ich war doch in der K. M. und habe Skagerrak mitgekämpft.“ +</p> + +<p> +„Damals waren Sie Deutscher. Damals gehörte die Provinz Posen noch +zu Deutschland. Wo waren Sie denn, als die Optionen gemacht werden +mußten?“ +</p> + +<p> +„Auf großer Fahrt. Draußen.“ +</p> + +<p> +„Da hätten Sie zu einem deutschen Konsul gehen müssen und dort Ihre +Option zu Protokoll geben müssen.“ +</p> + +<p> +„Aber ich habe doch gar nichts davon gewußt“, sagte Stanislaw. „Wenn +man draußen fährt und hat seine verfluchte schwere Arbeit, dann hat +man keine Zeit, an solche dummen Sachen zu denken.“ +</p> + +<p> +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +„Hat Ihnen denn Ihr Kapitän nichts gesagt?“ +</p> + +<p> +„Ich fuhr einen Dänen.“ +</p> + +<p> +Der Beamte dachte eine Weile nach und sagte dann: „Da ist nichts mehr +zu wollen. Sind Sie vermögend? Haben Sie Landbesitz oder Hausbesitz?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich bin Seemann.“ +</p> + +<p> +„Ja, wie gesagt, da ist nichts mehr zu wollen. Alle Fristen, sogar die Versäumungsfristen +sind abgelaufen. Und Sie können sich nicht einmal +berufen darauf, daß Sie irgendwo durch höhere Gewalt gehindert worden +seien, zu optieren. Sie waren nicht schiffbrüchig in irgendeinem +Lande, das außerhalb des üblichen Verkehrs liegt. Sie konnten zu jeder +Zeit einen deutschen Konsul oder den Konsul einer andern Macht, der +uns vertrat, aufsuchen. Die Aufforderung zur Option ist in der ganzen +Welt bekanntgemacht worden, und das ist wiederholt geschehen.“ +</p> + +<p> +„Wir kommen nicht dazu, Zeitungen zu lesen. Deutsche sieht man nicht, +und andre versteht man nicht. Und wenn man eine Zeitung wirklich mal +kriegt, da steht es dann nicht drin, weil das nicht in jede Nummer eingesetzt +wird.“ +</p> + +<p> +„Ich kann nichts machen, Koslowski. Es tut mir leid. Ich möchte Ihnen +ja gerne helfen. Aber ich habe nicht die Vollmachten. Sie können sich +noch an das Ministerium wenden. Aber das dauert lange, und ob Sie +Erfolg haben, ist noch sehr fraglich. Die Polen kommen uns in keiner +Weise entgegen. Warum sollen wir dann ihre Stuben rein fegen. Vielleicht +kommt es noch so weit, daß sie in Polen alle, die für Deutschland +optiert haben, ausweisen, und dann tun wir das natürlich auch.“ +</p> + +<p> +Überall erzählte man dem armen Stanislaw politische Ansichten, anstatt +ihm ernsthaft zu helfen. Wenn ein Beamter jemand nicht helfen +will, so sagt er, er möchte ja so gerne helfen, aber er habe keine Macht +und keine Vollmachten. Wenn man aber laut mit einem Beamten spricht +oder ihn nachdenklich ansieht, dann kommt man ins Gefängnis wegen +Beleidigung eines Staatsbeamten und wegen Widerstandes gegen die +Staatsgewalt. Dann ist er plötzlich der Staat selbst, ausgerüstet mit +allen Vollmachten und allen Gewalten, sein Bruder spricht das Urteil, +und sein andrer Bruder schließt einen in die Zelle oder schlägt einem +den Knüppel über den Schädel. Was ist der Wert des Staates, wenn er +dir nicht helfen kann in deinen Nöten? +</p> + +<p> +„Ich kann Ihnen nur den einen Rat geben, Koslowski,“ sagte der Beamte, +während er mit dem Stuhle rückte, „gehen Sie zum polnischen +Konsul. Sie sind Pole. Der polnische Konsul muß ihnen einen polnischen +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +Paß ausstellen. Dazu ist er verpflichtet. Sie sind in Posen geboren. Wenn +Sie den polnischen Paß haben, dann können wir eine Ausnahme hier +machen und Ihnen, weil Sie hier ortsansässig sind und auch schon früher +hier gewohnt haben, ein deutsches Seemannsbuch ausstellen. Das ist +alles, was ich Ihnen raten kann.“ +</p> + +<p> +Stanislaw ging am nächsten Tage zum polnischen Konsul. +</p> + +<p> +„Sie sind in Posen geboren?“ +</p> + +<p> +„Ja. Meine Eltern wohnen noch da.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie in Posen oder in einer der Provinzen, die von Deutschland, +Rußland oder Österreich abgetreten werden mußten, zur Zeit der Abtretung +gewohnt?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Auch nicht zwischen neunzehnhundertzwölf und dem Tage der Abtretung?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich fuhr auf See.“ +</p> + +<p> +„Was Sie taten und wo Sie fuhren, will ich jetzt noch nicht wissen.“ +</p> + +<p> +„Stanislaw, da war der richtige Zeitpunkt, ihn über die Barriere zu +ziehen.“ +</p> + +<p> +„Weiß ich, Pippip, aber ich wollte doch erst den Paß haben, dann hätte +ich ihm eine auf die Nase gesetzt, eine Stunde ehe mein Schiff abging.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie bei einer polnischen Behörde innerhalb Polens, die hierfür +zuständig war, innerhalb der vorgeschriebenen Frist persönlich zu +Protokoll gegeben, daß Sie Pole bleiben wollen?“ +</p> + +<p> +„Ich habe Ihnen doch schon gesagt, daß ich in den letzten Jahren nicht in +Posen oder in Westpreußen war.“ +</p> + +<p> +„Das ist keine Antwort auf meine klare Frage. Ja oder nein?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie vor einem rechtmäßig bestallten polnischen Konsul im Auslande, +der ausdrücklich bevollmächtigt war, Willenserklärungen solcherart +anzunehmen, persönlich zu Protokoll gegeben, daß Sie polnischer +Staatsangehöriger bleiben wollen?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Was wollen Sie denn dann hier? Sie sind Deutscher. Scheren Sie sich +zu den deutschen Behörden und belästigen Sie uns ja nicht mehr.“ +</p> + +<p> +Stanislaw erzählte das nicht kochend, sondern mehr traurig, weil er +aus Gründen andrer Art dem Konsul nicht seine Meinung nach Seemannsart +hatte sagen können. +</p> + +<p> +„Sieh mal einer an,“ sagte ich, „was diese neuen Staaten sich leisten. Das +ist schon allerhand. Die werden es noch weit bringen. Du solltest nur +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +mal sehen, wie weit es Amerika auf diesem Gebiete schon gebracht hat, +und wie es sich abrackert, es noch viel weiter zu bringen und das +muffigste und verstaubteste preußisch-kaiserliche Beamtenhirnchen an +Muffigkeit und Beschränktheit zu übertrumpfen. Gehe mal nach +Deutschland oder nach Polen oder nach England oder nach Amerika +und hilf mal deiner Ella mit Rotwein und Zimt und Nelken aus der +Appelsoße, da hast du gleich ein Jahr weg, daß es nur so hagelt. Der +Staat darf keinen Menschen verlieren. Wenn du aber ausgewachsen +bist, dann will dich keiner haben. Du hast ja kein Vermögen, keinen +Landbesitz, keinen Hausbesitz. Da geben die Staaten Millionen an +Dollar aus, halten Tausende von Vorträgen, machen Filme und drucken +Bücher, damit die Jungen nicht in die Fremdenlegion gehen sollen. Aber +wenn ein Junge kommt und hat keinen Paß, geben sie ihm einen Tritt +in den Hintern. Dann muß er in die Fremdenlegion oder, was viel +schlimmer ist, aufs Totenschiff. Das Volk, das zuerst die Pässe aufheben +und den Zustand wieder herbeiführen wird, der vor dem Freiheitskriege +war, und der niemand schadete und allen das Leben erleichterte, das +Volk, das zuerst diese Tat vollführt, wird den Toten der Totenschiffe +das Leben zurückgeben und den Besitzern der Totenschiffe den Spaß +verderben.“ +</p> + +<p> +„Möglich“, sagte Stanislaw. „Von der Yorikke kommt keiner mehr +runter. Wie es heute ist, nicht. Er hat nur eine Aussicht, wenn sie abrutscht, +und man rutscht nicht mit ab. Aber so sicher ist das auch nicht, +man kann leicht auf einer andern Yorikke landen.“ +</p> + +<p> +Stanislaw ging nun wieder zum Polizeipräsidium, Abteilung Staatsangehörigkeit. +</p> + +<p> +„Der polnische Konsul nimmt mich nicht auf.“ +</p> + +<p> +„Das war vorauszusehen. Was machen wir nun, Koslowski. Sie müssen +doch Papiere haben, sonst kriegen Sie kein Schiff.“ +</p> + +<p> +„Sicher, Herr Kommissar.“ +</p> + +<p> +„Gut, ich gebe Ihnen eine Bescheinigung, und da gehen Sie morgen früh +um zehn zum Paßamt. Ist hier gleich dabei, Zimmer dreihundertvierunddreißig. +Da kriegen Sie dann einen Paß. Mit dem Paß holen Sie sich +dann Ihr Seemannsbuch.“ +</p> + +<p> +Stanislaw war froh, und die Deutschen hatten bewiesen, daß sie Leute +waren, die noch am wenigsten Bureaukraten genannt werden konnten. +Er ging zum Paßamt, gab seine Bescheinigung ab und seine Photographien, +unterschrieb seinen schönen Paß, bezahlte vierzig Trillionen +Mark und bekam seinen Paß. +</p> + +<p> +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +Alles stimmte in dem Paß. Es war ein gutes Papier. Stanislaw hatte nie +in seinem ganzen Leben je ein so gutes Papier gehabt. Damit konnte er +direkt nach New York fahren, so gut war das Papier. Er hätte nicht +einmal nach Ellis Island gebraucht. +</p> + +<p> +Alles stimmte, Name, Geburtsdatum, Beruf, Geburtsort. Was ist denn +das? „Staatenlos.“ Macht nichts, brauche ich nicht. Kriege ein Seemannsbuch. +Und das, was bedeutet das? „Nur für das Inland gültig.“ Wahrscheinlich +denken die Beamten, daß man auch in der Lüneburger Heide +mit Dampfern fahre, oder daß man auf Elbkähnen rudern wolle. +</p> + +<p> +Wieder ein Tag mehr, und Stanislaw ist auf dem Seemannsamt. +</p> + +<p> +„Seefahrtsbuch? Können wir nicht ausstellen. Sie haben ja keine Staatsangehörigkeit. +Und die Staatsangehörigkeit, die Heimatsberechtigung +ist für das Seefahrtsbuch die Hauptsache, der übrigen Sachen wegen +kann man auch mit der Invalidenkarte auskommen.“ +</p> + +<p> +„Wie soll ich denn da ein Schiff kriegen? Sagen Sie mir das bloß.“ +Stanislaw war zu Ende mit seiner Weisheit. +</p> + +<p> +„Sie haben ja einen Paß, da kriegen Sie jedes Schiff. Es geht ja aus dem +Paß hervor, wer Sie sind, was Sie sind, und daß Sie hier in Hamburg +wohnen. Sie sind doch ein alter befahrener Mann, Sie kriegen spielend +ein Schiff. Kriegen jeden Ausländer, verdienen Sie mehr als auf deutschen +Schiffen bei diesem Tiefstand der Mark.“ +</p> + +<p> +Stanislaw bekam ein Schiff. Einen schönen Holländer. Gute Heuer. Als +der Heuerbas den Paß sah, sagte er: „Feine Sache“, und als der Skipper +den Paß sah, sagte er: „Gute Papiere, das habe ich gern; wir wollen jetzt +zum Konsul gehen, anmustern und registrieren, Akten verlesen.“ +</p> + +<p> +Der Konsul registrierte und trug den Namen Stanislaw Koslowski ein. +Dann sagte er: „Seemannsbuch?“ +</p> + +<p> +Und Stanislaw antwortete: „Paß.“ +</p> + +<p> +„Ebensogut“, erwiderte der Konsul. +</p> + +<p> +„Paß ist ganz neu, hier vom Präsidium, zwei Tage alt. Alles in Ordnung. +Der Mann ist gut.“ Das sagte der Skipper und zündete sich eine +Zigarre an. +</p> + +<p> +Der Konsul nahm den Paß, blätterte darin herum, nickte wohlgefällig, +weil es ein Meisterwerk gutgeölter Bureaukratie war. Solche Dinge behagten +dem Konsul. +</p> + +<p> +Plötzlich hielt er inne und erstarrte zu einer Eiskruste. +</p> + +<p> +„Können nicht mustern“, sagte er. +</p> + +<p> +„Was?“ rief Stanislaw. +</p> + +<p> +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +Und „Was?“ rief der Skipper und ließ vor Erstaunen die Zündholzschachtel +auf den Boden fallen. +</p> + +<p> +„Mustere ich nicht an“, sagte der Konsul. +</p> + +<p> +„Warum denn nicht? Ich kenne ja den Beamten vom Präsidium, der die +Unterschrift gegeben hat, persönlich.“ Der Kapitän wurde ungeduldig. +„Der Paß ist durchaus einwandfrei. Aber ich kann nicht mustern. Er +hat ja keine Staatsangehörigkeit“, ereiferte sich der Konsul. +</p> + +<p> +„Das ist mir ganz Wurscht“, sagte darauf der Skipper. „Ich will den +Mann haben, mein Erster kennt ihn, und die Schiffe, auf denen der +Mann gefahren hat, sind Topp. Solche Leute, wie den hier, will ich um +mich haben.“ +</p> + +<p> +Der Konsul hatte das Paßbüchlein zugeklappt und patschte sich damit +auf die offne linke Hand. +</p> + +<p> +Er sagte nun: „Sie wollen den Mann gern haben, Herr Kapitän? Wollen +Sie ihn adoptieren?“ +</p> + +<p> +„Unsinn!“ bellte der Skipper. +</p> + +<p> +„Übernehmen Sie persönlich die Verantwortung dafür, daß Sie den +Mann wieder loswerden können?“ +</p> + +<p> +„Verstehe ich nicht“, brummte der Skipper. +</p> + +<p> +„Der Mann darf in keinem Lande landen. Er darf an Land gehen, solange +das Schiff im Hafen liegt. Wenn das Schiff fort ist, und er wird +aufgegriffen, hat die Kompanie oder Sie, Kapitän, den Mann wieder +aus dem Lande herauszubringen. Wo wollen Sie ihn hinbringen?“ +</p> + +<p> +„Er kann doch hier nach Hamburg jederzeit zurück“, sagte der Skipper. +</p> + +<p class="ibr"> +„Kann. Kann. Nein, er kann nicht. Deutschland kann seine Aufnahme +verweigern und gibt ihn der Kompanie zurück oder Ihnen. Deutschland +braucht ihn nicht mehr aufzunehmen, sobald er auch nur die Grenze +übertreten hat. Er hat einen Weg. Er kann sich eine Bescheinigung verschaffen, +daß er jederzeit nah Hamburg oder Deutschland zurück +dürfe und da wohnen darf. Aber eine solche Bescheinigung kann nur +das Ministerium ausstellen, und das Ministerium wird es kaum so ohne +weiteres tun, weil diese Bescheinigung gleichbedeutend ist mit deutscher +Staatsbürgerschaft. Und dann kommt es wieder zu dem Ausgangspunkt +zurück. Könnte er eine Staatsbürgerschaft erwerben, dann hätte er sie, +er ist ja Deutscher, ist in Posen geboren. Aber weder Deutschland, noch +Polen erkennen ihn an. Nur wenn Sie oder Ihre Kompanie volle Verantwortung +für den Mann übernehmen –“ +</p> + +<p> +„Wie kann ich denn das?“ rief der Kapitän unwillig aus. +</p> + +<p> +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +„Dann kann ich den Mann nicht anmustern“, sagte der Konsul ruhig, +strich den Namen aus dem Buche wieder aus und händigte Stanislaw +den Paß ein. +</p> + +<p> +„Hören Sie,“ der Skipper drehte sich noch einmal um und sagte zu dem +Konsul, „hören Sie, können Sie denn keine Ausnahme machen? Ich +möchte den Mann gern haben. Er ist ein vorzüglicher Rudermann.“ +</p> + +<p> +„Tut mir leid, Kapitän, dazu reichen meine Vollmachten nicht aus. Ich +habe mich an meine Vorschriften zu halten. Ich bin nur ein Diener.“ +</p> + +<p> +Der Konsul hob die Schultern hoch bis zu den Ohren, als er das sagte, +seine Arme gingen mit hoch, und die Unterarme hingen nun rechtwinklig +und wackelnd im Ellbogengelenk. Das sah aus, als ob man ihm die +Flügel gerupft und gestutzt hätte. +</p> + +<p> +„Verfluchter Schietkram, verfluchter“, schrie der Skipper, warf seine +Zigarre wütend auf den Fußboden, trampelte wie wild darauf rum, +ging zur Tür und warf die Tür krachend zu. +</p> + +<p> +Draußen auf dem Korridor stand Stanislaw. +</p> + +<p> +„Was mache ich denn bloß mit dir, Junge“, sagte der alte Skipper. „Ich +möchte dich ja so gerne mitnehmen. Aber nun kannst du nicht mal mehr +Notmusterung machen, der Konsul kennt deinen Namen. Da hast du +zwei Gulden, mach’ dir einen vergnügten Abend. Muß mich nach einem +andern A. B. umsehen.“ +</p> + +<p> +Skipper und schöner Holländer waren weg. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-18"> +39 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ber</span> ein Schiff mußte Stanislaw unbedingt haben. +</p> + +<p class="ibr"> +„Ehrliches Handwerk ist ganz gut, für eine Weile. +Aber nicht zu lange. So eine Kiste oder so ein Sack, +das tut ja niemand weh. Das sind Geschäftsunkosten +in einem großen Hause. Die Kiste kann ja auch bei +Verladung in die Brüche gehen. Aber man wird das +ehrliche Handwerk leid.“ +</p> + +<p> +Ich sagte nichts darauf und ließ ihn ruhig reden. +</p> + +<p class="ibr"> +„Ja, man wird es wahrhaftig leid,“ setzte Stanislaw fort, „man kriegt +das Gefühl, als ob man jemand auf der Tasche liegt. Eine Zeit, ja, aber +dann wird es einem so widerlich, immer auf der Tasche zu liegen. Man +will doch auch was tun, was schaffen. Sehen will man, wie das rennt, +was man arbeitet. Siehst du, Pippip, so am Ruder stehen, in schwerem +Wetter, und den Kurs halten ... Das ist eine Sache, da kann das ganze +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +ehrliche Handwerk nicht mit. Verflucht und zugenäht, nein, da kann es +nicht mit. Da stehst du und stehst, und der Kasten will herumhauen und +rauswichsen aus dem Kurs. Aber da hältst du ihn an der Kandare. +Sieh mal so.“ +</p> + +<p> +Stanislaw packte mich beim Gürtel und versuchte mich herumzuwitschen, +als ob er das Ruderrad in der Hand hätte. +</p> + +<p> +„Du, ich bin kein Ruder, laß los!“ +</p> + +<p> +„Und dann, wenn du es durchhältst im schweren Wetter, und es rutscht +dir noch nicht einmal einen viertel Strich ab, Pippip, ich kann dir sagen, +da könnte man schreien und brüllen vor lauter Vergnügen, daß man +diesen Riesenkasten so an der Schlippe halten kann, daß er tun muß, +wie du willst, wie ein junges Lämmchen, weiß wie Schnee. Und wenn +dann der Erste oder gar der Skipper auf die Rose guckt und sagt: +‚Kos’ki, Junge, Sie können aber mal Kurs halten, verflucht feine Arbeit, +könnte ich selber nicht besser machen. Weiter so, dann halten wir die +Karline gut in der Zeit!‘ ja, Mensch, Pippip, da lacht dir das Herz, da +könnte man gleich so wegheulen und natschen, daß dir der Rotz die +Backen runtertrippt, vor lauter Vergnügen. Siehst du, das kann das +ehrliche Handwerk nicht und nie. Lachst ja auch, wenn dir ein Schnapp +glückt, aber lachst doch nicht so, lachst mehr scheinheilig und drehst dich +immer um dabei, ob nicht schon einer hinter dir her ist.“ +</p> + +<p> +„Ich habe ja an dicken Eimern noch nicht gerudert, aber doch schon an +kleinen, und ich denke, du hast recht“, sagte ich. „Aber beim Anpinseln +geht es einem auch so. Wenn dir eine grüne oder braune Kante so recht +fein glückt, ohne zu klecksen und ohne auszurutschen, da hat man auch +seinen Spaß.“ +</p> + +<p> +Stanislaw schwieg eine Weile, spuckte über die Reeling, schob sich ein +neues Dickerchen zwischen die Zähne, den er vor einer halben Stunde +von einem Händler, der mit einem Boot herangepullt war, gekauft +hatte und sagte: „Wirst vielleicht lachen. Kohlenschleppen, wenn man +eigentlich A. B. ist, und ein besserer A. B. als diese Räuber hier, ist ja +vielleicht eine Schmach. Aber doch nicht. Hat auch seine Freuden. Auf +so einem Kasten ist alles wichtig. Wenn nicht geschleppt wird, kann der +Heizer keinen Dampf halten, und wenn der keinen Dampf hält, steht +die Karre wie eine Ramme im Lehm. Und mal so fünfhundert Schaufeln +in einem Zug auf zehn Schritt Entfernung durch die Schachtluke pfeffern +und einen Vorrat hinhauen, daß der Heizer kaum noch treten kann, +bloß um mal zu sehen, was du schaffen kannst, wenn du mal rangehst +an die Ella, und du siehst dir den Berg an, den du so auf einen Sitz hingehauen +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +hast, da lacht dir auch das Herz im Leibe. Du könntest den +Berg wahrhaftig abknutschen vor Vergnügen, wenn er da so dick aufgeschichtet +daliegt und dich so verwundert anglubscht, weil er doch eben +noch oben in einem Bunker war und nun mit einemmal hier vor den +Kesseln liegt. Nein, an Arbeit, an gesunde Arbeit, kann das schönste +ehrliche Handwerk nicht ran. +</p> + +<p> +Und warum macht man das ehrliche Handwerk überhaupt? Weil man +keine Arbeit hat, weil man keine kriegt. Mußt doch was tun, kannst doch +nicht den ganzen geschlagenen Tag im Bett liegen oder dich in den +Straßen rumtreiben, wirst ja ganz vertattelt im Kopf.“ +</p> + +<p> +„Na und was dann, als du den Holländer nicht kriegtest?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Arbeit mußte ich haben, und ein Schiff mußte ich haben, weil ich sonst +verrückt geworden wäre. Den guten Paß, das feine Papier, verkaufte ich +für Dollar. Dann platzte wieder ein Sack, und ich hatte ein paar Silberlinge +in der Hand. Machte mit ein paar dänischen Fischern ein saftiges +Spritgeschäft, das ich ihnen durch den Zoll brachte, na und da hatte ich +ja feine Pinke. +</p> + +<p> +Ich mich in den Zug gesetzt und runter nach Emmerich. Komme auch +glatt rüber. Drüben aber, als ich mir eine Karte nach Amsterdam kaufen +will, werde ich geschnappt, und nachts bringen sie mich über die Grenze +und schieben mich rüber.“ +</p> + +<p> +„Was?“ fragte ich. „Du willst doch nicht etwa sagen, daß die Holländer +Leute nachts über die Grenze bringen, ganz heimlich?“ +</p> + +<p> +Ich wollte hören, wie es Stanislaw ergangen war. +</p> + +<p> +„Die? Die?“ sagte Stanislaw, und streckte seinen Kopf weit vor und +bohrte mich fest mit seinen Augen. „Die machen noch ganz andre Sachen. +Da ist jede Nacht an den Grenzen das schönste Austauschgeschäft mit +Menschen. Die Deutschen schleppen ihre lästigen Ausländer und Bolschewisten +über die holländische, belgische, französische und dänische +Grenze, und das machen die Holländer, die Belgier, die Franzosen, die +Dänen. Ich bin sicher, die Schweizer, die Tschechen, die Polen machen es +genau ebenso.“ +</p> + +<p> +Ich schüttelte den Kopf und sagte: „Kann ich nicht glauben. Das ist ganz +ungesetzlich.“ +</p> + +<p> +„Aber sie machen’s. Sie haben es doch mit mir gemacht, und ich habe an +der Grenze und in Holland ein paar Dutzend getroffen, mit denen sie es +von allen Seiten aus gemacht hatten. +</p> + +<p> +Was wollen Sie denn tun? Totschlagen und eingraben können sie doch +die Leute nicht. Sie haben ja nichts verbrochen. Haben bloß keinen Paß +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +und können keinen kriegen, weil sie nicht geboren sind oder nicht optiert +haben. Jedes Land versucht, seine Paßlosen und Staatenlosen loszuwerden, +weil die Leute ihnen immer wieder Scherereien machen. Wenn +sie mit den Pässen aufhören, hört diese Warenverschiebung auch auf. +Also, ob du es glaubst oder nicht, mit mir haben sie es getan.“ +</p> + +<p> +Stanislaw ließ sich aber nicht einschüchtern weder mit der Drohung +Arbeitshaus, noch mit der Drohung Gefängnis, noch mit der Drohung +Internierung. Er ging in derselben Nacht wieder rüber nach Holland, +machte es klüger und kam nach Amsterdam. Er kriegte einen Italiener, +ein ganz schmachvolles Totenschiff, und ging mit ihm nach Genua. Dort +segelte er achtern raus, kriegte wieder ein Totenschiff, diesmal einen +unmittelbaren Leichenmacher, und ging mit ihm aufs Riff. Er, mit noch +ein paar andern, überlebte die Leichen, strolchte sich bettelnd durch zu +einem andern Hafen und kam über ein andres Totenschiff, wo er infolge +einer gräßlichen Schlägerei abkanten mußte, auf die Yorikke. +</p> + +<p> +Wo bleibt er? Wo bleibe ich? Wo bleiben alle die Toten eines Tages? Am +Riff. Früher oder später. Einmal trifft es. Man kann nicht ewig Totenschiffe +fahren. Man muß die Fahrerei eines Tages doch bezahlen, ob +man noch soviel Glück hat. Und man muß immer auf ein Totenschiff. +Kein andrer Ausweg ist einem geblieben. Das feste Land ist mit einer +unübersteigbaren Mauer umgeben, ein Zuchthaus für die, die drinnen +sind, ein Totenschiff oder eine Fremdenlegion für die, die draußen sind. +Es ist die einzige Freiheit, die ein Staat, der sich zum Extrem seines +Sinnes entwickeln will und muß, dem einzelnen Menschen, der nicht +numeriert werden kann, zu bieten vermag, wenn er ihn nicht mit +kühler Geste ermorden will. Zu dieser kühlen Geste wird der Staat noch +kommen müssen. Vorläufig aber hat Cäsar Kapitalismus an diesem +Mord noch kein wesentliches Interesse, weil er den Kehricht, der über +die Zuchthausmauern geworfen wird, noch gebrauchen kann. Und Cäsar +Kapitalismus läßt nichts verkommen, solange es noch Profit verspricht. +Auch der Kehricht, den die Staaten über die Mauern werfen, hat noch +seinen Wert und wirft gute Profite ab, die abzuweisen Sünde wäre, unverzeihliche +Sünde. +</p> + +<p> +„In der Bunk über mir,“ sagte ich eines Tages zu Stanislaw, „da ist +einer verreckt, wurde mir erzählt. Weißt du was davon, Lawski?“ +</p> + +<p> +„Freilich, weiß ich davon. Wir waren ja sozusagen Brüder. Er war ein +Deutscher. War aus Mülhausen im Elsaß. Seinen richtigen Namen weiß +ich nicht. Kümmert mich auch nicht. Er sagte, er hieße Paul. Gerufen +wurde er Franzos oder French eigentlich. War Kohlschlepp. Er hat mir +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +mal in einer Nacht, als wir zusammen im Achterbunk saßen und er wie +ein kleiner Junge heulte, erzählt, was mit ihm los war.“ +</p> + +<p> +Paul war in Mülhausen geboren und hatte Kupferschmied, glaube ich, +gelernt in Straßburg oder in Metz. Ich habe das verwechselt, weil es nur +so nebenbei war. +</p> + +<p> +Er ist dann auf die Wanderschaft gegangen nach Frankreich und +Italien. In Italien war er interniert, als der Dreck da losging, oder +warte mal, nein, es war anders. Er war in der Schweiz gewesen als es +losging, hatte kein Geld, wurde rübergeschoben und eingezogen. Dann +wurde er auf einem Patrouillengang von den Italienern gefangengenommen. +Er brach aus, stahl sich Zivilsachen, grub seine feldgrauen +Lumpen ein und trieb sich in Mittelitalien und Süditalien herum. Er +kannte ja die Gegenden, weil er da gearbeitet hatte. +</p> + +<p> +Endlich wurde er erwischt. Daß er ausgekniffener Kriegsgefangener +war, wußte man nicht, man hielt ihn für einen Deutschen, der sich da +während der ganzen Zeit herumgetrieben hatte, und so kam er in ein +Internierungslager für Zivilgefangene. So war die Geschichte. +</p> + +<p> +Ehe noch die Zivilgefangenen ausgetauscht wurden, war er schon wieder +ausgebrochen und walzte rauf durch die Schweiz. Er wurde abgeschoben +nach Deutschland und arbeitete da in einer Brauerei. Dann kam er in +revolutionäre Geschichten rein, wurde verhaftet und mit Landesverweis +bedacht als Franzose. Die Franzosen nahmen ihn nicht an, weil er +schon ewige Zeiten fort war von Mülhausen und weder für Frankreich, +noch für Deutschland optiert hatte. Was kümmert man sich als Arbeiter +um solchen Quatsch. Da hat man andres zu denken und zu sorgen, besonders +wenn man keine Arbeit hat und rumlaufen muß wie verrückt, +um wenigstens was für den Magen zu schaffen. +</p> + +<p> +Aber er wurde wegen der bolschewistischen Sachen, von denen er gar +nichts verstand, landesverwiesen. Er kriegte zweimal vierundzwanzig +Stunden Zeit, sich zu verduften, oder sechs Monate Arbeitshaus. Kam er +raus aus dem Arbeitshaus, so bekam er wieder zwei Tage Zeit, und war +er nicht weg in der Zeit, dann blühte ihm wieder Arbeitshaus oder +Gefängnis oder Internierungslager. Arbeitshaus haben sie ja nicht mehr +oder nennen es nicht mehr so, wie er mir sagte. Aber sie haben dafür +ähnliche Einrichtungen. Die Brüder finden immer eine neue Schikane, +wenn sie mit einer alten aufräumen aus irgendwelchen Gründen. Was +wissen die von menschlichen Gründen? Da gibt es bloß Verbrecher +und Nichtverbrecher. Wer nicht beweisen kann, daß er bestimmt kein +Verbrecher ist, der ist eben einer. +</p> + +<p> +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +Also raus mußte er. Er war ein halbes Dutzend mal schon beim französischen +Konsul gewesen, aber der wollte nichts von ihm wissen, +schmiß ihn raus und verbot ihm das Betreten des Konsulats. +</p> + +<p> +Paul walzte nun nach Luxemburg, machte die Grenzen und kam nach +Frankreich. Als er geschnappt wurde, sagte der Esel, er sei Franzose. +Es blieb ihm ja nichts weiter übrig. Es wurde nachgeforscht, und die +fanden raus, daß er sich auf diesem Wege die französische Staatsangehörigkeit +in ungesetzlicher Weise habe erschleichen wollen. Das ist ein +großes Verbrechen. Ein saftiger Einbruch ist lange kein so großes Verbrechen. +Die hätten ihm ein paar Jahre aufgeknackst. +</p> + +<p> +Na, kurz und gut, er kriegte ein Mauseloch, um zu entwischen. Anmusterung +für die Fremdenlegion. Da konnte er sich ja ein Zehntel französische +Staatsangehörigkeit verdienen, wenn er es aushielt. +</p> + +<p> +Aber er hielt es nicht aus und mußte kippen. +</p> + +<p> +Wie er mir erzählte, ist das ja nun so mit dem Abbrennen. Wo willst du +hin? Rüber auf spanisches Gebiet? Gut. Wenn nur der Weg nicht so weit +wäre. Aber da kommen Marokkaner, die sich das Kopfgeld verdienen +wollen. Man sieht es ihnen nicht an der Nasenspitze an, wenn man sie +um ein paar Datteln oder um einen Schluck Wasser anbettelt. Und +zurück als Deserteur, dann schon lieber mit einem Stück spitzen Holz +erstechen. +</p> + +<p> +Dann wieder trifft man Marokkaner, die ziehen einen aus bis aufs +Hemd und lassen einen liegen im Sonnenbrand und im Sande. +</p> + +<p> +Dann trifft man welche, die rauben einen nicht aus, aber schlagen einen +tot oder martern einen tot, weil er von der verhaßten Legion ist oder +von den verhaßten Christenhunden einer ist. +</p> + +<p> +Da sind auch welche, die verschleppen einen und verkaufen einen tief +ins Innere als Sklave zu den Göpelmühlen. Auch ein Vergnügen, lieber +die Kaldaunen aus dem Leibe reißen. +</p> + +<p> +Aber der Junge hatte Glück, ein ganz verfluchtes Glück. Er traf Marokkaner +an, die ihn erschlagen wollten oder an den Pferdeschwanz binden +und abhäuten. Aber er konnte ihnen verständlich machen, noch rechtzeitig +genug, denn sie lassen sich für gewöhnlich in keine Diskussionen +ein, daß er Deutscher sei. Na, die Deutschen sind ja auch Christenhunde, +aber sie haben gegen die Franzosen gekämpft, das wird ihnen +hoch angerechnet, wie man in Spanien und in Mexiko es den Deutschen +hoch anrechnet, daß sie fünfzigtausend Amerikanern unter die Erde +verholfen haben. Bei den Marokkanern haben aber die Deutschen noch +einen andern Stein im Brett, sie haben an der Seite der Türken, an der +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +Seite der Mohammedaner gegen die Engländer und Franzosen gekämpft, +und sie haben die mohammedanischen Glaubensgenossen, die +auf seiten der Engländer und Franzosen kämpften und von den Deutschen +gefangen wurden, nicht als Kriegsgefangene, sondern als dreiviertel +Freunde behandelt. Das weiß jeder, der Allah und den Propheten +anruft, ob er in Marokko wohnt oder in Indien. +</p> + +<p> +Es ist nur so ungemein schwer, einem nichttürkischen Mohammedaner +das begreiflich zu machen, daß einer Deutscher ist. Er denkt sich die +Deutschen ganz anders aussehend als die verhaßten Franzosen und +Engländer, und wenn er nun sieht, daß der Deutsche auch nicht viel +anders aussieht, so glaubt er es ihm nicht und denkt, der Mann will ihn +beschwindeln. Wenn er nun gar als Deutscher in der Fremdenlegion +dient, um die Mohammedaner dort zu bekämpfen, so glaubt es ihm +selbst der nicht mehr, der vielleicht zuerst ihn für einen Deutschen gehalten +hätte. Denn ein Deutscher kämpft nicht auf seiten der Franzosen +gegen die Mohammedaner, die um ihre Freiheit kämpfen, weil +die Deutschen das selbst wissen, was es bedeutet, wenn man um die +Freiheit und Unabhängigkeit seines Landes gegen Franzosen und Engländer +zu kämpfen hat. +</p> + +<p> +Wie es geschah, niemand kann es sagen. Durch ein unbegreifliches Gefühl, +das in den Marokkanern plötzlich auftauchte, glaubten sie ihm, +daß er Deutscher sei, und daß er nie gegen Marokkaner gekämpft habe. +Sie nahmen ihn auf, pflegten ihn, fütterten ihn gut und gaben ihn von +Sippe zu Sippe und von Stamm zu Stamm weiter, bis er an der Küste +landete und dort mit den Pflaumenmushändlern auf die Yorikke gebracht +wurde. +</p> + +<p> +Der Skipper nahm ihn mit Freuden auf, weil er einen Kohlschlepp +brauchte, und Paul war glücklich, unter uns zu sein. +</p> + +<p> +Aber nach zwei Tagen schon, obgleich er mit Rosten kein Pech hatte und +die Kohlen damals gut zur Hand lagen, sagte er: „Ich wollte, ich hätte +die Fremdenlegion nicht gekippt. Das hier ist zehnmal schlimmer als +die böseste Kompanie in unsrer Division. Wir lebten demgegenüber ja +wie die Fürsten. Hatten menschliches Essen und menschliche Quartiere. +Ich gehe hier in die Wicken.“ +</p> + +<p> +„Mach keine solchen Töne, Paul“, sagte Stanislaw, um ihn aufzurichten. +Aber Paul, der vielleicht auch durch die Strapazen der Flucht schon +etwas abgekriegt hatte, fing an Blut zu spucken. Immer mehr. Dann +kotzte er Blut in großen Fladen. Und eines Nachts, als ich ihn ablösen +kam, lag er auf einem Kohlenhaufen oben im Bunker im dicken Blut. +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +Tot war er nicht. Ich schleife ihn ins Quartier und packte ihn in seine +Bunk da oben. Früh als ich ihn wecken kommen wollte, war er tot. Um +acht kam er über Bord. Der Skipper nahm nicht mal die Mütze ab, er +tippte bloß so an den Rand. Eingewickelt wurde er auch nicht. Er hatte +nur Lumpen, die vom Blut verkleistert waren. Ans Bein kriegte er +einen dicken Klumpen Kohle. Ich glaube, selbst diesen Klumpen Kohle +gönnte ihm der Skipper nur mit schiefem Maul. Ins Journal ist Paul +nicht gekommen. Luft, verwehte Luft. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-19"> +40 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_p.jpg" alt="P"><span class="hidden">P</span></span><span class="postfirstchar">aul</span> war nicht der einzige Schlepp, den die Yorikke verschluckt +und verdaut hat, während Stanislaw drauf war. +Da war der Kurt, ein Junge von Memel, auch nicht optiert. +Zu der Zeit trieb er sich in Australien herum, wurde aber +nie erwischt, um interniert zu werden. Schließlich kriegte +er namenloses Heimweh und mußte nach Deutschland. +Irgendwo in Australien hatte er was ausgefressen. Eine +Streikbrechergeschichte mit Streikbrecherverholzen, und einer +von diesen Lumpen war liegengeblieben und nicht mehr aufgestanden. +Kurt konnte nicht zum Konsul gehen, um auf treuem Wege wegzukommen, +denn wenn es sich um Streik handelt oder um Geschichten, die +nach Kommunismus riechen, dann bocken die Konsuln gleich alle zusammen, +auch wenn sie ein paar Monate vorher sich noch anspucken +wollten. Der Konsul hätte ihn sicher der Polizei verwinkt, und Kurt +hätte seine zwanzig Jahre machen müssen. Ein Konsul ist immer auf +seiten des Staatsgedankens. Des Staatsgedankens, dieses großen erlauchten +Wortes, das nichts als Unfug stiftet und die Menschen zu +Nummern macht. Und diese Staatsidee ist so stark in den Konsuln entwickelt, +daß sie zugunsten der Staatsidee ihre eignen Söhne verkaufen, +nur damit der Staat recht behalten kann. Streik ist ja gegen den Staat +gerichtet. Manchmal, wenn er ein treuer und nicht ein geschobener +Streik ist. +</p> + +<p> +Es gelang Kurt, ohne Papiere bis nach England zu kommen. Aber England +ist eine böse Sache. Eine Insel ist immer bös. Man kann rauf, aber +nicht mehr runter. Kurt konnte nicht mehr runter. Er mußte zum +Konsul. Der Konsul wollte wissen, warum er von Brisbane in Australien +fort sei, warum er dort nicht den deutschen Konsul aufgesucht habe, +und warum er auf illegalen Wegen nach England gekommen sei. +</p> + +<p> +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +Kurt konnte das nicht erzählen und wollte es auch nicht erzählen, weil +ja England für ihn auch nicht sicherer war als Australien. Die Engländer +hätten ihn sofort an Australien zur Aburteilung ausgeliefert. +</p> + +<p> +Auf dem Konsulat in London oder in Southampton oder in welcher +Stadt in England es sein mochte, bekam Kurt in dem Bureau des Konsuls, +wo alles an die Heimat erinnerte, ein so übermächtiges Heimwehgefühl, +daß er bitterlich zu weinen anfing. Darauf schrie ihn der Konsul +an, er möge hier kein Theater machen, sonst schmisse er ihn raus, solche +Vagabunden kenne er schon zur Genüge. Kurt gab ihm die einzige richtige +Antwort, die ein echter Junge für solche Gelegenheiten auf Lager +hält, und um der Einladung den gehörigen Nachdruck zu verleihen, ergriff +er einen Sandstreuer oder was es war und feuerte es dem Konsul +an den Kopf. Der fing gleich an zu bluten und an zu schreien, aber +Kurt war raus wie der Teufel. +</p> + +<p> +Er hätte sich den Weg zum Konsul sparen können, denn da er von Memel +war und nicht optiert hatte, konnte ihm der Konsul ja doch nicht helfen. +Dazu reichten dessen Vollmachten nicht aus. Wie gewöhnlich. Er war +ja nur Diener des Götzen. +</p> + +<p> +Dadurch war Kurt nun endgültig tot und konnte die Heimat nicht wiedersehen. +Es war ihm ja durch eine Amtsperson bestätigt worden, daß +sein Heimweh nur Theater war. Was weiß eine Amtsperson davon, daß +ein Vagabund, ein zerlumpter Weltherumtreiber auch Heimweh bekommen +kann? Solche Gefühle sind nur denen vorbehalten, die weiße +Wäsche haben und jeden Tag ein reines Taschentuch aus der Kommode +nehmen können. Yes, Sir. +</p> + +<p> +Ich habe kein Heimweh. Ich habe gelernt, daß das, was Heimat, was +Vaterland sein sollte, eingepökelt und in Aktenmappen eingeheftet ist, +daß es in Gestalt von Staatsbeamten repräsentiert wird, die einem das +treue Heimatsgefühl so sicher austreiben, daß nicht eine Spur davon +mehr übrigbleibt. Wo meine Heimat ist? Da, wo ich bin und wo mich +niemand stört, niemand wissen will, wer ich bin, niemand wissen will, +was ich tu, niemand wissen will, woher ich gekommen bin, da ist meine +Heimat, da ist mein Vaterland. +</p> + +<p> +Der Junge von Memel kriegte einen Spanier und kam schließlich auf +die Yorikke als Schlepp. +</p> + +<p> +Schutzvorrichtungen gab es auf der Yorikke nicht, erstens kosten sie +Geld und zweitens hindern sie an der Arbeit. Ein Totenschiff ist keine +Kleinkinderbewahranstalt. Mach die Augen auf, und wenn was abgeht, +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +so ist das nur faules Fleisch oder ein fauler Finger, der doch nicht +arbeiten wollte. +</p> + +<p> +Das Wasserstandglas an den Kesseln hatte weder ein Schutzglas, noch +ein Drahtgitter. Eines Tages platzte es, als Kurt auf Wache war. Es war +auch kein Langhebel dran, wodurch das Rohr, das zum Wasserstandglas +führte, von einem sicheren Platz aus hätte abgedrosselt werden +können. Das kochende Wasser strahlte heraus, und der Kesselraum war +in dichten heißen Dampf gehüllt. +</p> + +<p> +Das Rohr mußte abgedrosselt werden. Mußte gemacht werden. Aber +der Drosselhahn war direkt unter dem gebrochenen Glas, zwei Zoll von +der Strahlöffnung entfernt. Es mußte abgedrosselt werden, sonst lag +der Eimer einen halben Tag fest, und wenn schweres Wetter aufkam, +konnte das Schiff nicht manövrieren und wurde gepfeffert, daß kein +Splitter mehr heil blieb. +</p> + +<p> +Wer drosselt ab? Der Schlepp natürlich. Der Vagabund opferte sein +Leben, damit Yorikke manövrierfähig blieb und erst dann zu den +Fischen ging, wenn es befohlen wurde. +</p> + +<p> +Und Kurt drosselte ab. Dann brach er zusammen und wurde von dem +Ingenieur und dem Heizer in seine Bunk getragen. +</p> + +<p> +„So etwas von Schreien“, erzählte mir Stanislaw, „kannst du dir nicht +denken. Auf dem Rücken konnte er nicht liegen und nicht auf dem +Bauche und nicht auf den Seiten. Die Haut hing ihm in Fetzen herunter +wie ein zerrissenes Hemd, alles Blasen und Blasen, dick wie ein Kopf, und +eine neben der andern. Hätte man ihn in ein Hospital gebracht, ich weiß +ja nicht, vielleicht hätte man ihm helfen können mit Hauteinsetzen. +Aber man hätte schon eine ganze Kalbshaut gebrauchen müssen, um ihn +wieder zurechtzuflicken. Und geschrien und geschrien und geschrien! +Ich wünsche nur, daß der Konsul ihn im Schlafe gehört hätte, er wäre +den Schrei nicht mehr los geworden. Die sitzen am Tisch und schreiben +Formulare voll. Hundert Meilen hinter der Front des nackten Lebens. +</p> + +<p> +Tapferkeit im Kriege? Quatsch! Tapferkeit auf dem Felde der Arbeit. +Aber da kriegst du keinen Orden. Da bist du kein Held. Er hat sich totgeschrien. +Abends kam er über Bord, der Junge von Memel. Na, Pippip, +ich muß die Kappe abnehmen, guck mich nicht so an. Da mußt du Präsentiert +das Gewehr! machen. Kannst nicht anders. Über Bord, mit +einem Klumpen Kohle am Bein. Sah aus wie ein Sträfling. Der Zweite +Ingenieur sah hinterdrein und sagte dann: „Verfluchte Geschichte, jetzt +haben wir wieder keinen Schlepp.“ Das war alles, was er sagte. Und +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +gerade er war der Mann, der es hätte machen müssen; denn es war eine +Reparatur, und solche Reparaturen gehen den Schlepp gar nichts an. +Ja, das war der Kurt. Steht auch nicht im Journal. Der Zweite Ingenieur +steht drin. Der Koch hat es gesehen, als er Seife stehlen ging in +die Kabine vom Skipper. Na, was sich unsereiner dafür schon kauft.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-20"> +41 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> den übrigen Mannschaften redete ich sehr +wenig. Sie waren meist brummig, übelgelaunt und +schläfrig, wenn sie nicht besoffen waren, was in +jedem Hafen vorkam. Aber, wenn ich ganz ehrlich +sein soll, so waren es eigentlich sie, die nicht +mit uns redeten. Ich war ja nur Schlepp, ich und +der Stanislaw. Und der Schlepp ist ja nicht, bei +weitem nicht so viel wie ein A. B., nicht einmal +so viel wie ein Deckarbeiter. Das sind alles Herren im Vergleich zum +Schlepp. Der Schlepp wühlt im Dreck und in der Asche und ist erst +recht Dreck und Asche. An ihm kann man sich ja die Finger dreckig +machen. Und nun gar erst der Zimmermann oder gar, um noch höher +zu gehen, der Bootsmann. Denen gegenüber ist man nur ein Würmchen. +Niemand versteht es so gut, feine und allerfeinste Rangunterschiede +zu machen wie der Arbeiter. +</p> + +<p> +Nun erst in der Fabrik. Der die Schrauben drehen darf, tausendweise, +alle nach Schablone, was ist der für ein großer Mann gegenüber dem, +der die Schrauben in einem Korbe wegschleppen muß. Und der die +Schrauben wegschleppen darf, was ist der für eine unerreichbare Größe +gegenüber dem, der die Säle ausfegen darf. Und der, der ausfegen darf, +wirft sich in die Brust und sagt: „Ach der, der sucht ja bloß den Dreck +durch, der muß ja die Messingspäne aussuchen, mit dem kann ich doch +nicht verkehren. Wie sieht denn das aus?“ +</p> + +<p> +Unter den Toten hört der Rangunterschied nicht auf. Er wird noch +größer beinahe. Wer da hinten an der Mauer nur gerade so verscharrt +ist, weil er ja irgendwo liegen muß, der ist nichts. Der in einem Tannensarg +begraben wird, ist schon mehr. Nachts, wenn sie tanzen, guckt er +den Verscharrten mit keiner Miene an, sondern sieht sehnsüchtig rüber +zu denen, die mit ihrem Eichensarg tanzen. Zu denen, die mit einem +Metallsarg mit goldenen Ecken gravitätisch herumwandern, wagt er +gar nicht aufzusehen; das würden die sich auch sehr verbitten. Damit +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +man das alles gleich von vornherein klarstellen kann, darum werden ja +die einen in Metallsärgen mit vergoldeten Ecken begraben und die +andern in einer viereckigen Holzkiste in einem Winkel verscharrt. Erst +die Würmer und die Maden, diese revolutionären Aufräumer und Umwälzer, +die machen sich nichts aus Rangunterschieden. Die sind alle +gleich weiß und alle gleich groß und sie wollen fressen; und das Fressen +nehmen sie sich, wo sie es kriegen, sie holen es sich aus dem Metallsarg +mit vergoldeten Ecken ebenso rasch wie aus der Kiste. +</p> + +<p> +Der Herr Zimmermann und der Herr Bootsmann und der Herr Donkeyman +waren Petty-Offiziere, Unteroffiziere. Sie waren genau so dreckig +wie wir, waren auch nicht länger befahren als wir, waren für den geregelten +Gang der Yorikke viel weniger wichtig als wir, aber die +Schlepps mußten den Herrn Donkeyman bedienen. Mußten ihm das +Essen aus der Galley holen, auf den Tisch stellen und wieder abservieren. +Damit der Rangunterschied gewahrt blieb. Der Donkeyman ist +der Wintschenmaschinist, und wenn das Schiff im Hafen liegt und die +Heizer und Schlepps haben Tagarbeit, dann muß er die Kessel heizen, +auch des Nachts. Auf der Fahrt murkst er im Wege herum, putzt an den +Maschinen hier ein wenig, dort schmiert er ein Lager, dann muß er +einen Selbstöler auseinandernehmen und auswaschen und dann wieder +da ein wenig Dreck wegnehmen und ihn hier hinlegen. Dafür braucht +er nicht in den großen Quartieren schlafen, sondern in kleinen, wo nur +zwei oder drei Bunks sind, und dafür bekommt er Sonntag Grießpudding +mit Himbeersaft und in der Woche zweimal Backpflaumen in +blauer Stärke, während wir keinen Pudding am Sonntag und nur einmal +in der Woche Backpflaumen in blauer Stärke fassen. Wenn wir +aber zweimal Backpflaumen kriegen mit versteinertem Salzfisch, dann +bekommt er dreimal Backpflaumen. Er, der Bootsmann, der Zimmermann, +die Unteroffiziere. Dafür hat er hinter uns her zu sein und aufzupassen, +daß wir nicht etwa einen Kesselbunker aufschrauben, wenn +schweres Wetter ist und die Achterbunker noch ein paar Kilogramm +haben. Was würde Cäsar mit seinen Armeen machen, wenn er keine +Unteroffiziere hätte, die auf der ersten Sprosse der Leiter zum Generalfeldmarschall +stehen? Unteroffiziere, die von oben kommen, sind nicht +zu gebrauchen; sie müssen von unten kommen, gestern noch geprügelt +worden sein, dann sind sie gut zu gebrauchen, die können am besten +prügeln. +</p> + +<p> +Dann kamen die A. B.s und dann die Deckarbeiter. Stanislaw konnte +mehr als alle drei A. B.s zusammen, aber er war nur Dreck. Sie hätten +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +sich erst wohlgefühlt, wenn angeordnet worden wäre, daß die Schlepps, +wenn sie an dem Donkeyman vorbeigehen wollten, zu fragen hätten, +ob es ihnen auch erlaubt sei, an ihm vorbeizugehen. +</p> + +<p> +Dennoch waren sie alle Tote, und dennoch waren sie alle auf dem Wege +zu den Fischen. +</p> + +<p> +Soweit das Erhabenheitsgefühl bei ihnen nicht verletzt wurde, konnte +man mit ihnen umgehen, und sie fühlten sich durchaus im gleichen Schiethaufen +mit uns. Die weniger Befahrenen unter den Deckarbeitern waren +noch zu unsicher unter uns alten Seehunden, um irgendwelchen Sprossensinn +uns gegenüber zu entwickeln. Mit der Zeit kam dann doch ein +Zusammengehörigkeitsgefühl heraus, das seinen Grund in der uns allen +gemeinsamen Schicksalslage hatte. Wir alle waren Verwehte, wenn es +auch keiner für sich zugeben wollte und immer noch auf ein Entspringen +hoffte. Uns allen drohte das gleiche Schicksal der Gladiatorenopferung, +was wir alle wußten, ohne es offen auszusprechen. Seeleute +sprechen nicht von Schiffbruch und nicht von Untergang, das ist nicht gut. +Lockt nur den Gast aufs Schiff. Aber gerade dieses wartende Wissen, +dieses bebende Zählen der Tage von einem Hafen zum andern, dieses +verhaltene Nichtaussprechen der Tatsache, daß, wie lange es auch immer +dauern möge, wir doch mit jedem Tage näher und sicherer dem letzten +Tage kommen, wo es um den brutalen Kampf, ums nackte Leben gehen +würde, knüpfte uns mit einem merkwürdigen Band zusammen. +</p> + +<p> +Es ging nie einer allein in den Hafen, immer zu zweien oder dreien. +Seeräuber konnten nicht ein Viertel so schlimm aussehen wie wir. Wir +kamen nie in Händel mit den Mannschaften andrer Schiffe. Zum Teil +waren wir ihnen zu dreckig und zu zerlumpt, zum Teil hakten sie nicht +ein. Wir konnten sagen, was wir wollten, sie taten, als hörten sie es +nicht, tranken ihren Wein aus oder ihren Schnaps und gingen ihrer +Wege. Sie waren die ehrliche Arbeiterklasse, der vierte Stand; wir +waren der fünfte, der noch lange nicht dran ist, solange nicht der vierte +erst einmal an der Krippe sitzt. Vielleicht waren wir gar der sechste und +hatten noch ein paar Jahrhunderte zu warten. +</p> + +<p> +Die vom vierten, dem ehrlichen Stand, ließen sich auch darum nicht mit +uns ein, weil sie uns für Desperados hielten. Das waren wir ja auch. Uns +war alles gleichgültig. Was immer auch geschah, es konnte uns nichts +Schlimmeres geschehen. Also los, weg mit ihm. +</p> + +<p> +Wenn wir in eine Seemannskneipe kamen, war der Wirt immer ängstlich +darauf bedacht, uns nur ja recht schnell heraus zu haben, obgleich +wir alles über die Kante hauten, was wir in der Tasche hatten oder im +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +Munde, weil die Taschen zerrissen waren, oder auch im Mützenleder, +wenn es noch vorhanden war. Wir waren gute Kunden, aber solange +wir in der Taverne waren, ließ der Wirt kein Auge von uns und beobachtete +jeden Schritt und jeden Blick. Schien es ihm, daß einer mit +den Augen zuckte und einen vom ehrlichen Stand zu deutlich anguckte, +ging der Wirt sofort zu dem Manne hin, der angeguckt worden war, und +bearbeitete ihn, daß er das Lokal verließe. Er mußte ihn ja vorsichtig +und zart behandeln, denn hätte der Betreffende gemerkt, was los war, +so hätte er vielleicht doch einmal gelippt, und dann war die Appelsoße +im Gange. +</p> + +<p> +Wahrscheinlich hatte sich mit der Zeit durch die übermäßige Arbeit, die +wir zu leisten hatten, durch die seltsame, verlorene Lage, in der wir uns +alle befanden, durch die unaufhörliche Spannung vor dem krachenden +Schrei der aufgebrannten Yorikke, die nicht zu den Fischen wollte, +in unsre Gesichter etwas eingegraben, das alle Menschen, die nicht auf +der Yorikke fuhren, mit unsagbarem Grauen erfüllte. Es mußte etwas +in unsern Gesichtern und in unsern Augen liegen, das Frauen manchmal +erbleichen und aufschreien machte, wenn wir unerwartet in ihren +Gesichtskreis traten. Selbst Männer sahen uns scheu an und drehten und +wendeten sich, um einen andern Weg zu machen, damit sie nicht an uns +vorbei brauchten. Die Polizei folgte uns mit den Augen, solange sie +auch nur ein Zipfelchen von uns sah. Merkwürdig war es mit Kindern. +Manche fingen an zu schreien, wenn sie uns sahen, und liefen fort wie +gehetzt, manche wieder blieben stehen, rissen die Augen weit auf, wenn +wir vorüber kamen, manche wieder folgten uns atemlos, als hätten sie +Traumgestalten verwirklicht gesehen, und manche, und das war recht +seltsam, kamen auf uns zu, gaben uns die Hand, lachten uns an und +sagten: „Guten Tag, Mann!“ oder „Guten Tag, Seemann!“ oder so +etwas. Unter denen, die uns die Hand gaben, waren aber wieder einige, +die, nachdem sie uns die Hand gegeben hatten, aufblickten mit großen +Augen, uns mit offnem Munde anstarrten, dann plötzlich wegrannten +und sich nicht mehr umdrehten. +</p> + +<p> +Waren wir so tot, daß die Kinderseele den Tod in uns sah und fühlte? +Waren wir den Kindern erschienen, als sie noch unter dem Herzen ihrer +Mütter träumten? Schlang sich ein geheimnisvolles Band um uns Fortgehende +und Totgeweihte und um die Kinderseelen, die gerade über die +Schwelle des Lebens getreten sind und noch den Schatten des unbekannten +Reiches im Bewußtsein tragen? Wir die Gehenden – sie die Kommenden, +die Verwandtschaft lag im Gegensatz. +</p> + +<p> +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +Richtig sauber gewaschen waren wir nie. Mit Sand und Asche kann man +sich nicht sauber waschen. Wenn man in einem Hafen dachte, daß man +ja auch Seife haben wollte, war das Geld schon weg für andre Dinge, +die einem auch wichtig erschienen, Wein und Gesang und alles das +übrige. Singen konnten wir auch. Es war ein Grölen und Heulen, aber +niemand rief vom Fenster hinunter, daß wir ruhig sein sollten. Sie hüteten +sich. Die Polizei hörte nichts und sah nichts. +</p> + +<p> +Manchmal kauften wir ja auch ein Stück Seife, aber man hatte es nur +einen Tag. Dann war es weg für immer. Man kann doch nicht die Seife +den ganzen Tag im Munde halten, um sie zu schützen. Und weil man das +Geld auch nicht dauernd im Munde halten konnte und es auch nicht gestohlen +haben wollte und sich dann noch ärgern mußte, gab man es aus. +Das einfachste Ding von der Welt. +</p> + +<p> +Es kam vor, daß wir uns rasieren ließen, wenn wir daran dachten, solange +wir noch Geld hatten, oder wenn wir zufällig in eine Schaufensterscheibe +guckten und uns selber nicht mehr kannten. Denn einen +Spiegel hatten wir nicht. Das war gut, so wußte keiner, wie er selbst +aussah im Gesicht. Es war ja immer der andre, der so fürchterlich +aussah, daß die Frauen aufschrien und sich in den Häusern versteckten. +Nicht rasiert, das Gesicht rot und verschrammt von dem Sand und der +Asche, die nackten Arme voll Brandnarben und die Kleidung versengt, +verbrannt, zerrissen, verlumpt. +</p> + +<p> +Nach einem englischen, französischen, deutschen, dänischen oder holländischen +Hafen gingen wir nie. Da hatten wir nichts zu suchen. Immer +an den Küsten Afrikas oder Syriens. Nur selten gingen wir in Spanien +oder Portugal an einen Kai, meist blieben wir draußen auf der Reede +liegen und nahmen die Ladung von Leichtern und von Booten über. Der +Skipper mochte wohl wissen, warum er in manchen Häfen nicht an den +Kai ging, sondern sich auf Reede vor Anker legte. Dann signalisierte +er nach einem Boot und fuhr hinein zum Hafen, um die Papiere in +Ordnung zu bringen beim Konsul oder bei den Hafenbehörden. +</p> + +<p> +Wir gingen unsre eignen Wege. Es gibt keine Totenschiffe. Das sind +Dinge der Vorkriegszeit. Es gibt keine, weil man sie in einem Hafen, in +einem bekannten Hafen nicht sieht. Sie sind da draußen in der Ferne, +wo jede Bucht ein Hafen ist, wenn ein Schuppen hingebaut wird. In +den chinesischen Gewässern, in den indischen, in den persischen, den +malaiischen, an den Küsten des südlichen und östlichen Mittelmeeres, +an den Küsten Madagaskars, an den Westküsten und Ostküsten +Afrikas, an den Küsten Südamerikas, in der Südsee. Platz genug für +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +alle und für ein paar Tausend mehr. Sowenig wie man je alle Vagabunden +von den Landstraßen der Erde wird vertreiben können, weil ja +auch ganz anständige Leute darunter sein mögen, die eben gerade nur +mal knapp bei Gelde sind, ebensowenig wird man die Totenschiffe von +den sieben Meeren vertreiben können. Wer sie suchen wollte, findet sie +nicht. Es gibt ja dreimal mehr Wasser auf der Erde als Land; und wo +Wasser ist, da ist auch eine Straße für ein Schiff, aber wo Land ist, da +ist noch lange nicht eine Straße für einen Vagabunden. +</p> + +<p> +Die Yorikke hätte nie jemand gefunden. Sie hatte einen Skipper, der +sich aufs Handwerk verstand. Er konnte mit Fürsten umgehen, sie +würden ihn für ihresgleichen gehalten haben. Kam jemand irgendetwas +verdächtig vor, er schlug die Geschicktesten. Seine Papiere waren immer +in Ordnung, soweit sie sich auf die Yorikke und auf ihren Mageninhalt +bezogen. Kein zehnmal konzessionierter und überwachter Postdampfer +konnte bessere Papiere zeigen. Und das Journal? Es stimmte auf die +Minute. +</p> + +<p> +Da kam mal ein spanisches Kriegsboot auf, als wir noch innerhalb der +Seegrenze waren. Das Boot suchte. Jedes Kind wußte, daß Corned Beef +mit Knochen ein gutes Geschäft ist. +</p> + +<p> +Das Boot signalisierte, aber der Skipper pfiff drauf. Dann feuerte das +Boot den Stopper. Und Yorikke stoppte. Es hatte nicht mehr gelangt. +Sie war noch drin. Na, solche Boote machen sich ja nichts draus. Sie versuchen +auch außerhalb der Grenze zu picken. Der Skipper muß vor +Gericht beweisen, daß er nicht mehr drin war, sondern schon anderthalb +Seemeilen raus. Soll er mal beweisen, das ist nicht so einfach. Es steht +kein Grenzpfahl im Wasser. Die Rumjäger in den States kennen überhaupt +keine Seegrenze. Manchmal glückt es dem Skipper aber doch, zu +beweisen, daß er raus war. Na, dann wird eben bezahlt. Und eine halbe +Stunde drauf wird es woanders schon wieder versucht. Nur der Mensch, +der kleine, der muß das Gesetz achten, der Staat braucht das nicht. Er +ist die Allmacht. Der Mensch muß Moral haben, der Staat kennt keine +Moral. Er mordet, wenn er es für gut befindet, er stiehlt, wenn er es für +gut befindet; er raubt die Kinder von den Müttern, wenn er es für gut +befindet; er zerbricht die Ehen, wenn er es für gut befindet. Er tut, was +er will. Für ihn gibt es keinen Gott im Himmel, an den zu glauben er +den Menschen bei Leib- und Lebensstrafe zwingt, für ihn gibt es keine +Gebote Gottes, die er den Kindern mit dem Knüppel einbläuen läßt. +Er macht sich seine Gebote selbst, denn er ist der Allmächtige und der +Allwissende und der Allgegenwärtige. Er macht sich die Gebote selbst, +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +und wenn sie ihm eine Stunde darauf nicht mehr zusagen, übertritt er +sie selbst. Er hat keinen Richter über sich, der ihn zur Rechenschaft zieht, +und wenn der Mensch anfängt, mißtrauisch zu werden, dann fuchtelt er +ihm mit der Flagge Rot-Weiß-Blau-Hurra-Hurra-Hurra vor den Augen +herum, daß der Mensch ganz duselig wird, und brüllt ihm ins Ohr: +„Haus und Herd – Weib und Kind“ und bläst ihm in die Nasenlöcher +den Rauch: Blick auf deine ruhmreiche Vergangenheit. Und dann plappern +die Menschen alles nach, weil der Allmächtige sie in ausdauernder +Arbeit zu Maschinen und Automaten gemacht hat, die ihre Arme, Beine, +Augen, Lippen, Herzen und Gehirnzellen genau so bewegen, wie es der +allmächtige Staat haben will. Das hat nicht einmal der allmächtige +Gott zuwege gebracht, und der konnte doch auch etwas. Aber diesem +Ungeheuer gegenüber ist er nur ein armer Stümper. Seine Menschen +handelten ganz selbständig, sobald sie erst einmal ihre Arme und Beine +bewegen konnten. Sie liefen ihm davon, achteten seine Gebote nicht, +sündigten wie toll und setzten ihn endlich ab. Bei dem neuen allmächtigen +Gott haben sie es schwerer, weil er noch zu jung ist, und weil sie +noch nicht wagen, ihm auf die Füße zu treten und den Apfel vom +Baume zu reißen. +</p> + +<p> +Wir stoppten. Blieb uns ja nichts andres übrig. Er hätte uns sonst hochgeblasen. +Und dann kamen sie rauf. +</p> + +<p> +„Möchten die Papiere sehen. Ja, danke, die sind in Ordnung. Wir dürfen +doch wohl einmal überprüfen. Wir halten Sie nicht auf. Ein paar +Minuten nur.“ +</p> + +<p> +„Bitte, bitte, meine Herren, aber nicht zu lange. Ich habe Verspätung, +oder ich muß Ihre Regierung haftbar machen.“ Der Skipper lacht. Wie +der Mann zu lachen verstand. Mit seinem Lachen, das so halb ironisch, +so halb ungemein lustig war, leerte er alles aus, was da noch verdächtig +sein konnte. +</p> + +<p> +Die guten Leute hatten etwas von Corned Beef mit Knochen vernommen. +Wie Ameisen krochen sie in dem Laderaum herum und suchten +Corned Beef von Chikago. Und der Skipper lachte und lachte. +</p> + +<p> +Es war kein Corned Beef da. In der Galley waren ein paar Büchsen. +Zum Hausgebrauch für das Mitschiff. +</p> + +<p> +Aber da war Kakao. Holländischer, garantiert reiner, entölter, Van +Houtens. Kisten und Kisten voll. Aller Kakao in Blechbüchsen. Damit +das Aroma nicht verlorengeht. +</p> + +<p> +Der Untersuchungsoffizier tippte auf eine Kiste, die ganz mitten drin +lag. Die Kiste kam hoch. Er lief sie öffnen. +</p> + +<p> +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +Und der Skipper lachte. Und der Offizier wurde nervös. Er wollte es +nicht merken lassen, aber er konnte es nicht verbergen. Das Lachen +machte ihn halbverrückt. +</p> + +<p> +Schöne große Büchsen. Alle mit Etiketten verklebt. Der Skipper trat an +die Kiste, nahm eine Blechbüchse heraus und reichte sie dem Offizier +zu, während er seinem Lachen einen ganz unterstrichnen sarkastischen +Ton gab. Der Offizier sah den Skipper an, dann sah er die Büchse an +und nun trat er mit einem schneidigen Schritt auf die offene Kiste zu +und nahm sich selbst eine Büchse heraus, gleich neben der Lücke. Er +riß das Etikett hastig ab und öffnete die Büchse. – Kakao. +</p> + +<p> +Der Skipper schüttelte sich vor Lachen. +</p> + +<p> +Plötzlich fiel dem Offizier wieder das Corned Beef mit Knochen ein und +er schüttele den Kakao aus der Büchse völlig aus. +</p> + +<p> +Kakao. Da war nichts andres drin. Nichts als garantiert reiner entölter +Van Houtens Kakao. +</p> + +<p> +Aber der Offizier, zitternd vor Nervosität, nahm jetzt dem Skipper die +Büchse aus der Hand, riß das Etikett ab, hob den Blechdeckel ab und da +war – Kakao. Er steckte den Deckel wieder auf und gab die Büchse +dem Skipper mit einem „Danke!“ zurück. +</p> + +<p> +Was in dem Skipper vorging, als ihm der Offizier die Büchse aus der +Hand nahm, weiß nur er allein. Aber er lachte, daß man es drüben auf +dem Kriegsboot, das beigedreht hatte, hören konnte. +</p> + +<p> +Der Offizier entschuldigte sich, gab das Revisionsdokument, in das er +das Zeichen der geöffneten Kiste einschrieb mit der Quittung für die +beiden verdorbenen Büchsen Kakao, stieg mit seinen Leuten in die +Schaluppe und setzte ab zu seinem Boot. +</p> + +<p> +Als er abstieß, rief der Skipper rüber zur Galley: „Koch, heute abend +Kakao für die Mannschaft und Rosinenstollen.“ +</p> + +<p> +Dann ging er näher zur Kiste, suchte eine Weile herum, bis er fand, +was er haben wollte, nahm die gewünschte Büchse heraus und übergab +sie dem Koch. Dann ließ er die Kiste wieder zunageln und verstauen. +</p> + +<p> +Ich hatte auf Deck gestanden, als dies geschah. Und da man Gelegenheiten +nie verpassen soll, so machte ich mich nachts gleich daran, ein +paar Blechbüchsen Kakao flottzumachen. Im nächsten Hafen brachten +sie immer ein paar Schillinge ein, oder man konnte sie für Tabak eintauschen. +</p> + +<p> +Fünf zog ich ab und verstaute sie im Bunker. +</p> + +<p> +Bei der Ablösung sagte ich zu Stanislaw: „Hast du schon mal an den +Kakao gedacht? Ehrliches Handwerk. Ein paar Schillinge sind drin.“ +</p> + +<p> +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +„Da ist kein Schilling drin. Wenn es Kakao wäre. Aber es sind ja +Kakaobohnen, und wenn du nicht die passenden Kakaomühlen dazu +verkaufen kannst, kriegst du nicht einen roten Penny dafür.“ +</p> + +<p> +Das kam mir verdächtig vor. Stanislaw hatte also schon an das Handwerk +gedacht. Wahrscheinlich schon eine Kiste aufgehabt, als die zweite +noch am Lademast hing. +</p> + +<p> +Ich kletterte sofort rauf in den Bunker und machte eine Büchse auf. +Stanislaw hatte recht. Es waren Kakaobohnen. Sehr harte, mit Messinghülsen. +In der zweiten Büchse, dasselbe. In der dritten, vierten, fünften: +dasselbe. Ich machte sie wieder schön zu und packte sie zurück in die +Kisten. Für arabische und marokkanische Kakaobohnen hatte ich kein +Interesse; die passenden Mühlen, falls wir sie an Bord hatten, hätte ich +ja doch nicht sicher heruntergekriegt. +</p> + +<p> +Nur der Skipper war fähig, Kakaobohnen in Kakaopulver zu verwandeln. +Er konnte es auf zwei Arten. Er konnte das Wunder vollbringen +dadurch, daß er die Blechbüchse in der Kiste ließ, er konnte es +aber auch dadurch, daß er die Büchse in die Hand nahm. Er war ein +Meister in der schwarzen Magie, yes, Sir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-21"> +42 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> machten Tripolis und hatten verteufelt schweren +Seegang. Wir wurden im Kesselraum hin und her gepfeffert, +und in den Bunkern war es noch schlimmer. +Ich betrachtete mir, wenn ich mal ein wenig zum +Verschnaufen im Kesselraum auf einem Kohlenhaufen +saß, zuweilen das kleine Glasröhrchen, das +einen erwachsenen Seemann so martervoll verschlucken +kann, wenn es dazu in der Laune ist. Dabei +legte ich mir die Frage vor, ob ich das Rohr abdrosseln würde, wenn +das Röhrchen zum Tanzvergnügen geht. +</p> + +<p> +Natürlich sagte ich nein. Aber wer kann sagen, was er tun wird, wenn +die Frage nicht gestellt wird, sondern wenn die Frage entschieden werden +muß und man gar nicht daran denkt, daß die Frage überhaupt +existiert? Der Heizer kann ja drunter liegen und kann nicht mehr allein +fort. Meinen Heizer im Stich lassen, daß er mir mein ganzes Leben +hinterher schreit: „Pippip! Pippip! Ich verbrühe! Hol mich raus, +Pippip! Ich kann nicht sehen, meine Augen sind rausgebrüht, Pippip, +schnell, es ist gleich vorbei! Pip–pip–p–“ +</p> + +<p> +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +Na, nu laß mal da deinen Heizer liegen. Da gehst du eben, auch wenn +du weißt, ihr bleibt beide da liegen. +</p> + +<p> +Vielleicht gehe ich auch nicht. Warum? Mein Leben ist auch etwas wert. +Mein Leben – +</p> + +<p> +„Pippip, Schlepp, spring Back, nicht gucken, Backbord und her!“ +</p> + +<p> +Der Heizer brüllt es, daß er das Hämmern der Maschine überkreischt. +</p> + +<p> +Ohne aufzugucken, mache ich einen Satz rüber nach Backbord und falle +dort in die Knie, weil ich über das Schüreisen falle, das im Wege liegt. +Gleichzeitig erfolgt ein Krach und ein Rasseln, das betäubend ist. +</p> + +<p> +Unter seinem schwarzen dicken Kohlenstaub, den er im Gesicht hat, sehe +ich, daß der Heizer ganz bleich ist. Auch Tote können noch erbleichen. +Ich klaube mich auf mit zerschundenen Schienbeinen und aufgeschlagenen +Kniescheiben und drehe mich um. +</p> + +<p> +Die Aschenhuze, die Aschenführung, ist runtergekommen. +</p> + +<p> +Diese Aschenführung ist ein runder Blechkanal, wie ein großer Blechschornstein, +mit einem Durchmesser von etwa einem Meter. In ihm werden +die Aschkannen hochgehievt, damit sie nicht hin und her schlenkern +können, sondern oben in den Aushebeschacht geführt werden. +</p> + +<p> +Die Huze hängt weit in den Kesselraum hinein bis etwa neun Fuß über +dem Boden. Oben ist sie an einen Kranz festgenietet. Sie ist sicher dort +an den Nieten durchgerostet, und jetzt bei dem Wetter hat sie den Rest +bekommen und ist abgebrochen. Wo will sie hin? Sie muß in den Kesselraum. +Sie ist senkrecht fallendes, sehr starkes Eisenblech und hat +hundert Kilo oder mehr. Schneidet den Kopf und den ganzen Körper +der Länge nach durch. Geht wie mit dem Rasiermesser. Oder schlägt +den Arm ab und nimmt die eine Schulter mit. Wenn sie Gnade übt, nur +den halben Fuß. Wer denkt an die Aschenhuze, daß die einmal abrosten +könnte am Kranz. Sie hängt seit der Zerstörung Jerusalems da +drin und ist nie runtergefallen. Die ganzen vielen Jahrhunderte nicht. +Und nun mit einemmal fällt es ihr ein, runterzukommen. +</p> + +<p> +Seemannslos. Arbeiterlos. Deine Schuld. Geh zur rechten Zeit drunter +weg, dann kann dir nichts passieren. +</p> + +<p> +Hallo, Heizer, da bin ich ja nochmal mit einem Sprung davongekommen. +Gleich beim ersten Schrei: „Schlepp, Back!“ gesaust wie ein +Affe. Nicht erst lange gedacht, was los ist. Die Yorikke entwickelt die +Instinkte, sie hält einen in Form. +</p> + +<p> +„Ja, Heizer, verflucht nochmal, das war ein Sprung zur rechten Zeit.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Danke! ist nicht. Wozu? Morgen dir, übermorgen Stanislaw. Wer weiß, +wen die nächste Kugel trifft. Wir sind im Kriege. Kopp weg. Aber ehe +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +du es hörst, ist er schon weg, der Kopp. Der Rest bleibt liegen. Wird +nicht bezahlt. Über Bord. Klumpen Kohle ans Bein. An die Mütze getippt. +Grabmusik: „Nun haben wir wieder keinen Schlepp.“ +</p> + +<p> +Das Glasröhrchen ist heil. Es hat sein Opfer. Der Aschenhuze hat der +Heizer den Spaß verdorben. Aber dafür wartet die Rache. Was ist das +nächste Glasröhrchen? Wer ist der Nächste? Junge, zieh dir den Gürtel +fest. Da ist Warnung in der Luft. Warnung für dich. Es schwirrt der +Gast herum, er kriecht in den Winkeln und lauert in den Ecken. Beim +nächstenmal macht er bessere Arbeit und läßt nicht gerade den Heizer +zufällig nach oben blicken, daß er sieht, wie sich erst die eine Hälfte am +Kranz löst und dann die andre. Beim nächstenmal ist es vielleicht das +Brett da oben, auf dem du rüberbalancierst zur Bunkerluke. +</p> + +<p> +Mein Junge, ich glaube, du steigst am besten aus in Tripolis. Wenn du +auch tot bist, man macht doch gern noch manchmal einen Spaziergang +aus den Gräbern und sieht, was draußen los ist, weil man sich so rasch +an die stickige Luft im Grabe nicht gewöhnen kann. Mußt ja wieder +rein ins Grab oder in ein Totenschiff, aber hast doch eine Nase voll +frischer Luft mitgenommen und beim zweiten Male geht es schon besser. +Aber Tripolis war nichts mit Aussteigen. Wir konnten keinen Schritt +tun ohne Bewachung. Beim geringsten Versuch, achtern abzubleiben, +hätten sie uns gepackt und zurückgebracht. Hätten dem Skipper eine +Kostenrechnung gemacht, und er hätte sie von der Heuer abgezogen. +Es war auch nichts in Syrien. Man konnte nicht abkanten. Wir waren +freie Männer, freie Seeleute. Durften in die Häfen gehen, durften in +den Kneipen rumsaufen, durften tanzen und unser Geld verspielen +oder es uns aus den Taschen räubern lassen. Alles durften wir tun, weil +wir ja freie Seeleute und keine Sträflinge waren. Aber sobald Yorikke +das Blaue Peterlein flattern ließ, und man drückte sich auffällig weit +vom Kai oder von den Molen herum oder gar in verschnörkelten Gäßchen +und dunklen Winkeln, da hatte einen auch schon einer am Arm: +</p> + +<p class="ibr"> +„Monsieur, s’il vous plaît, Ihr Schiff wartet, wir werden Sie begleiten, +damit Sie nicht den Weg verfehlen.“ +</p> + +<p> +Und war man dann erst wieder drauf auf der Yorikke, hatten sie das +Recht, draußen am Kai zu stehen und einem das abermalige Verlassen +des Bootes zu verbieten, denn Blau Peterlein flatterte, und das hieß, nun +hat die Freiheit wieder mal ein Ende. +</p> + +<p> +Stanislaw hatte schon recht gehabt: „Kommst nicht mehr runter. Und +wenn du kommst, die kriegen dich und stecken dich auf einen andern +Toteneimer, der vielleicht noch schlimmer ist. Denn die Toten nehmen +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +dich immer wieder auf, auch aus den Händen der Polizei. Mit Dank. +Drücken dem Engelmacher noch zehn Schillinge in die Hand dafür. +Füttern dich sogar, bis sie dich auf ein andres Totenschiff, das hereinkommt, +verkaufen können. Müssen dich doch los werden. Können dich +doch nicht nach der Heimat deportieren, hast ja keine.“ +</p> + +<p> +„Da brauche ich doch aber nicht raufzugehen.“ +</p> + +<p> +„Mußt rauf. Der Skipper sagt, er hat dich gezeichnet, auf Handschlag. +Dir glaubt man nichts, dem Skipper glaubt man. Er ist ja ein Skipper +und hat eine Heimat, wenn es auch nur selbst eine geschwindelte ist und +er selber nicht mehr heim darf. Aber er ist der Skipper. Mußt rauf. Er +hat dich gemustert. Hat dich nie gesehen. Aber auf Handschlag gemustert. +Mußt rauf. Bist Deserteur.“ +</p> + +<p> +„Aber, Stanislaw, nun rede mal klar. Da gibt es doch noch Recht“, sagte +ich, weil ich glaubte, er übertreibt. +</p> + +<p> +„Das ist doch schon mein viertes. Es ist dein erstes. Und ich bin durch +mit allen Zipfeln.“ +</p> + +<p> +„Man kann dich doch nicht zwingen. Ich bin doch freiwillig auf die +Yorikke gekommen“, wandte ich ein. +</p> + +<p> +„Ja, das erstemal kommt man halb freiwillig. Aber hättest du deine +Sachen alle klar gehabt, wärst du nicht freiwillig gekommen. Wenn du +deine Sachen in Ordnung hast, kann dir niemand mit solchem Zimt +kommen, wie Handschlag, Deserteur und so. Da sagst du, du willst zum +Konsul. Da müssen sie dich gehen lassen und können mitkommen. Wenn +der Konsul sagt, daß er dich annimmt, daß er dich anerkennt, müssen +sie abziehen. Da ist nichts von Handschlag, da heißt es zu dem Skipper: +‚Wer sind Sie? Wann wurde das Schiff zum letztenmal inspiziert? Wie +sind die Gebührnisse für die Mannschaft, Essen, Löhnung, Quartiere?‘ +Da zuppelt er ab, der Skipper und sagt nichts mehr von Handschlag. +Kannst du zum Konsul gehen? Hast du Papiere? Hast du ein Vaterland? +Na also. Können sie mit dir machen, was sie wollen. Glaubst du +nicht? Steig aus, versuche es.“ +</p> + +<p> +„Hast du denn dein dänisches Heuerbuch nicht mehr?“ fragte ich +Stanislaw. +</p> + +<p> +„Eine Frage! So eine dumme Frage! Wenn ich das noch hätte, wäre ich +doch nicht hier. Ich hab’s doch gleich für zehn Dollar verkauft, als ich +den schönen Paß in Hamburg kriegte. Auf einen Dänen darf er nicht +damit gehen, auch nicht zu einem dänischen Konsul. Der nimmt es ihm +gleich ab, weil es angemeldet ist; es ist doch ein Schwimmer. Lebt doch +nicht mehr. Aber für kleine Verhältnisse ist es hundert Dollar wert. +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +Wenn ich es nur hätte. Hab mich doch auf meinen eleganten Paß verlassen. +War doch wie eine Festung, so gut und so sicher. Kerngesund. +Echt bis auf die Pupille. Besser als zehn Eide. Konnte von der ganzen +Erde aus angeklingelt werden in Hamburg, ohne Murren. Bloß die +Nummer gewinkt. Schon war die Antwort da: Paß ist klar wie ein +Diamant. Aber er war doch bloß Gipsfront. Hatte bloß ein schönes Gesicht +und nichts dahinter.“ +</p> + +<p> +„Warum hast du es denn nicht noch woanders damit versucht?“ +</p> + +<p> +„Habe ich doch, Pippip. Denkst du denn, ich laß so einen eleganten +Schwenker gehen, ohne ihn ein halbes Dutzend mal anzuziehen und zu +sehen, ob er nicht doch noch paßt? Ich hatte doch auch einen Schweden. +Da sind wir gar nicht erst bis zum Konsul gekommen. Der Skipper +nahm ihn, guckte rein und sagte gleich: „Nichts zu machen mit uns. Ich +werde Sie nicht mehr los.“ +</p> + +<p> +„Die Deutschen hätten dich doch aber genommen“, sagte ich nun. +</p> + +<p> +„Zuerst einmal zahlen die ja hundemäßig. Damals wenigstens. Was sie +heute zahlen, weiß ich nicht. Ich hätte auch gern einen genommen. War +mir ja egal. Aber wenn du da ankamst, gleich sprangen sie dir ins Gesicht: +‚Nehmen keine Pollacken. Pollacken raus. Freßt oberschlesische +Steinkohle. Könnt ja euren Pollackenrachen nicht voll kriegen.‘ Und +lauter solche Sachen. Das wäre dann die ganze Fahrt so gegangen. Auch +wenn ich hätte mustern können. Die andern, die Mannschaften sind ja +noch zehnmal schlimmer, noch zehnmal verhetzter. Hältst du gar nicht +aus. Geht vom frühen Morgen bis zum Abend: ‚Saupollack. Dreckpollack. +Mistpollack. Wollt ihr nicht auch noch Berlin einsacken, ihr Pollackenschweine?‘ +Hältst du nicht aus, Pippip. Gehst über die Reeling. +Dann schon lieber Yorikke. Da schmeißt keiner dem andern seine +Nationalität vor, weil keiner mehr eine Nationalität hat, mit der er +protzen kann.“ +</p> + +<p> +So verging ein Monat nach dem andern. Ehe ich es mir versah, war ich +vier Monate auf der Yorikke. Und ich hatte gedacht, ich könnte dort +keine zwei Tage leben. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-22"> +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +43 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_l.jpg" alt="L"><span class="hidden">L</span></span><span class="postfirstchar">asset</span> uns Menschen machen ein Bild, das uns gleich sei, und +lasset uns ihnen die Fähigkeit geben, zu glauben und sich +zu gewöhnen, damit sie uns nicht eines Tages absetzen. +Yorikke war erträglich geworden. War eigentlich doch ein +ganz feines Schifflein. Das Essen war gar nicht so schlecht, +wie es schien. Es gab ja hin und wieder Nach-Sturm-Frühstück. +Auch schon mal Kakao mit Rosinenstollen. Und zuweilen +ein halbes Wasserglas Kognak oder ein volles Wasserglas +Rum. Manchmal gab der Koch sogar ein halbes Kilo Zucker +extra her, wenn man ihm schöne Nußkohle für die Galley aus den +Bunkern klaubte. +</p> + +<p> +Der Dreck in den Quartieren war zu ertragen. Wir hatten ja keine +Bürste und keinen Feger. Wir fegten mit einem Sacklumpen. Seife +hatten wir ja auch keine. Und wenn wir uns ein Stück kauften für den +persönlichen Gebrauch, werden wir es doch nicht aufbrauchen für Reinquartier. +Wir waren doch nicht verrückt. +</p> + +<p> +Die Bunk war auch gar nicht so hart, wie sie erst erschien. Ich hatte mir +aus Putzwolle ein Kissen zurecht gemacht. Wanzen? Gibt es auch +anderswo. Nicht nur auf der Yorikke. Es war ganz gut zu ertragen. Es +sah auch niemand mehr so dreckig aus und so zerlumpt, wie in den +ersten Tagen. Auch die Eßgeschirre waren nicht mehr so schmierig. +</p> + +<p> +Mit jedem Tag war alles ein klein wenig sauberer und besser und erträglicher +geworden. Wenn Augen sehr lange dasselbe sehen, sehen sie +es nicht mehr. Wenn müde Glieder jeden Tag auf demselben harten +Holze ruhen, schlafen sie bald wie auf Daunen. Wenn die Zunge jeden +Tag dasselbe schmeckt, weiß sie nicht, wie andres wohl schmecken mag. +Wenn alles rundherum kleiner wird, sieht man nicht, wie man zusammenschrumpft, +und wenn alles dreckig ist, was einen umgibt, sieht +man nicht, wie dreckig man selbst ist. +</p> + +<p> +Die Yorikke war recht erträglich. Mit Stanislaw konnte man sich gut +unterhalten. Er war ein kluger und intelligenter Junge, der viel gesehen +und alles mit ganz klaren Augen gesehen hatte, und der sich das Hirn +nicht so leicht verkleistern ließ. Mit den Heizern konnte man auch +sprechen. Wußten auch dies und jenes Neue zu erzählen. Die Deckarbeiter +waren auch keine verblödeten Dummköpfe. Dummköpfe +kamen nie zu den Toten und nur selten Durchschnittsmenschen. Denn +die haben immer alles schön in Ordnung. Die können nie über die +Mauer fallen, weil sie nie hochklettern, um zu sehen, wie es auf der +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +andern Seite wohl aussehen mag. Die glauben, was man ihnen darüber +erzählt. Die glauben, daß auf der andern Seite der Mauer Mordbrenner +sitzen. Die Mordbrenner sitzen immer auf der andern Seite der Mauer. +Und wer das nicht glaubt und einmal nachsehen will, ob es wahr ist, +auf die Mauer klettert und dabei runterfällt, dem geschieht es ganz +recht, daß er draußen bleibt. Und wenn er schon auf die andre Seite +will, um den Mordbrennern die überflüssigen Hosenknöpfe zu verkaufen, +dann soll er wenigstens durch das Tor gehen, damit man sieht, +wer es ist, und damit der Nachtwächter, der über der Haustür den +Adler und die Fahnenstange hat, damit man auch gleich weiß, daß er +der Nachtwächter seines Landes ist, das Trinkgeld nicht einbüßt. Wer +kein Trinkgeld bezahlen kann und keinen Zettel in der Tasche hat, +auf dem abgestempelt wurde, daß er der Sohn seiner Mutter ist, soll +daheim bleiben. Freiheit ja, aber muß abgestempelt sein. Freizügigkeit +der Erdenbewohner ja, aber nur mit Zustimmung der Nachtwächter. +Vier Monate Heuer hatte ich beim Skipper stehen. Hundertzwanzig +oder einige mehr Pesetas Vorschuß gingen ab. Blieb ein ganz hübsches +Sümmchen übrig. War auch dann noch ein ganz nettes Sümmchen, +wenn es in Pfunde umgerechnet wurde. +</p> + +<p> +Umsonst wollte ich nun auch nicht gerade gearbeitet haben und das +Geld dem Skipper schenken. Und so hatte er mich nur um so fester. +Aber wo und wann und wie abmustern? Gab es doch nicht. In keinem +Hafen wurde die Abmusterung bestätigt. Keine Papiere, kein Heimatsland. +Werden den Mann nie wieder los. Kann nicht abmustern. +</p> + +<p> +Es gab nur eine Abmusterung. Die Gladiatorenabmusterung. Abzeichnung +auf dem Riff. Abzeichnung bei den Fischen. Kam man klar, dann +flog man auf eine Küste. Da konnten sie einen nicht gleich wieder ins +Wasser fegen. Schiffbrüchiger. Es regt sich das Mitleid der Menschen, +besonders derer, die in Küstenstrichen wohnen. Mit Toten gibt es kein +Erbarmen, mit Schiffbrüchigen ist es etwas andres. +</p> + +<p> +Dann muß sich ja auch der Nachtwächter der Flagge melden, unter der +man aufs Riff ging. Er zahlt nicht für den Mann, er zahlt für den +Rapport, damit die Versicherung besser geölt wird. Denn wenn der +Rapport nicht einläuft, dann kommt die Verschollenwartezeit, und das +bedeutet einen erheblichen Zinsverlust. Wenn der Rapport da ist und +das Mitleid mit dem Schiffbrüchigen eingetrocknet ist, dann wandert man +wieder zu den Toten. Erst ganz langsam, dann schneller und immer +schneller. Die Kompanie ist für den Mann haftbar und sie ist verantwortlich +für seine Fortschaffung. Wohin mit ihm? Kein Skipper will +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +ihn haben. Er wird ihn nicht mehr los. Auf ein Totenschiff. Er will nicht, +weil er genug hat, vom letztenmal. Handschlag, versuchte Desertion, +zehn Schilling in die Hand, Blaues Peterlein, rauf. Guten Morgen, da +wären wir wieder. +</p> + +<p> +Die Fische können warten. Er kommt. Einmal kommt er. Er kommt, +entweder mit dem Glasröhrchen oder mit der Aschenhuze oder mit einer +Kohlenlawine im Bunker oder mit dem Riff. Aber er kommt. Er kann +nicht pensioniert werden oder ein Weib nehmen und einen kleinen +Bootshandel anfangen. Er muß immer wieder in die Arena. Bis er es +vergißt, daß er in der Arena ist, yes, Sir ... +</p> + +<p> +Nun lagen wir in Dakar. Ein durchaus anständiger Hafen. Nichts gegen +ihn einzuwenden. +</p> + +<p> +Kesselreinigen. Kesselreinigen, wenn die Feuer unter dem zu reinigenden +Kessel nur gerade einen knappen Tag aus sind und der Nachbarkessel +unter Dampf bleibt. Und dieses Vergnügen in einer Gegend, wo +man sagt: „Guck mal da rüber, wo die grünen Zaunpfähle stehen mit +dem großen A dran, das ist der Äquator, kannst auch sagen Mittagslinie, +dann mußt du aber das A abschrauben und ein Messingschild anhängen +mit dem großen M drauf. Aber ob du nun Mittagslinie sagst +oder Äquator oder überhaupt nichts, es ist immer egal heiß und glühend. +Wenn du den Äquator anfaßt, die Hand ist sofort weg, wie abrasiert, +bloß noch ein paar Krümelchen Asche sind übrig. Wenn du ein Stück +Eisen auf den Äquator legst, schmilzt das wie Butter. Wenn du zwei +Stück zusammenhältst, die schweißen autogen. Glatt ohne Naht, +brauchst bloß drücken.“ +</p> + +<p> +„Weiß ich,“ sagte Stanislaw, „wir sind mal rübergefahren über den +Äquator, da war es gerade Weihnachten. Da war doch der immer noch +so heiß, daß du die dicken eisernen Bordwände man bloß so mit dem +Finger durchbohren konntest. Brauchtest gar nicht bohren. Bloß so mit +dem Finger antippen, da war schon ein Loch drin. Wenn du gegen die +eiserne Bordwand spucktest, flog die Spucke durch wie nichts, war gleich +wieder ein Loch. Der Skipper sah das von der Brücke und schrie: ‚Ihr +wollt wohl hier ein Kaffeesieb aus dem Schiff machen. Sofort die Löcher +wieder zugemacht.‘ Und da wischten wir so ein klein wenig mit der +Hand rüber oder mit dem Ellbogen und da waren die Löcher wieder zu. +Es war ja gerade so weich wie Kuchenteig. Die eisernen Masten hatten +sich ganz umgebogen, so wie ein langes Wachslicht, das du auf einen +heißen Kochherd stellst. Es war eine Schweinerei, bis wir sie wieder gerade +hatten. Mit dem Äquator darf man nicht spaßen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +„Ganz gewiß nicht,“ gab ich zu, „darum hat man ja zu beiden Seiten +des Äquators rund um die Erde einen Lattenzaun gemacht mit Warnungsschildern +dran. Kannst du ja schon auf der Landkarte sehen, den +Zaun. Ihr habt den dummen Fehler gemacht, ihr seid drüber weggefahren. +Wir waren schlauer. Wir sind durch die Unterwassertunnel +drunter hergefahren. Da ist es schön kühl. Merkst gar nicht, daß du +unter dem Äquator herfährst.“ +</p> + +<p> +„Die Äquatortunnel kenne ich. Aber die Kompanie wollte nicht die +Tunneldurchfahrtkosten bezahlen. Die berechnen pro Tonne einen +Schilling Tunnelkosten. Wie geht es denn da rein in den Tunnel?“ +</p> + +<p> +„Aber Mensch, das ist doch ganz einfach,“ erwiderte ich, „da ist ein +großes Loch im Meer und da geht das Schiff eben rein, mit dem Bug zuerst, +fährt durch und kommt an der andern Seite wieder raus, da ist +auch so ein Loch im Wasser.“ +</p> + +<p> +„Ist tatsächlich ganz einfach,“ gab Stanislaw zu, „das hätte ich mir viel +komplizierter gedacht. Ich habe gedacht, das Schiff wird in eine Art +Taucheranzug gesteckt und dann runtergezogen. Unten ist eine Maschine, +die da zieht, und dann geht es unten lang auf Zahnradschienen +und an der andern Seite wird das Schiff dann wieder hochgezogen.“ +</p> + +<p> +„So hätte man das natürlich auch machen können,“ sagte ich, „aber das +ist zu umständlich. Könnten sie auch gar nicht machen für einen Schilling +die Tonne.“ +</p> + +<p> +„Zum Kreuzdonnerwetter nochmal, wird das Geschwätze da drin im +Kessel nun bald aufhören oder nicht“, schrie der Zweite Ingenieur in +den Kessel, während er den Kopf zum Mannloch durchsteckte. „Wenn +da in einem fort erzählt wird, kann der Kessel nicht rein werden.“ +</p> + +<p> +„Komm doch rein, du Hund, wenn du den Hammer an den Schädel +haben willst.“ Ich schrie es wie wild, halbverrückt von der Hitze. „Klopp +dir den Kessel allein, du Roßtäuscher, du verfluchter. Dir werde ich ja +überhaupt noch was erzählen.“ +</p> + +<p> +Ich wollte ja gern, daß er mich rapportiert und daß ich rausgefeuert +werde. Dann hätte ich ein Quittungsbuch kriegen müssen und mein +Geld. Aber dazu waren die ja viel zu schlau. „Ebenso wie die Offiziere +im Kriege. Kann man noch so beleidigen und in die Fresse hauen, melden +dich nicht,“ sagte Stanislaw, „haben dich lieber draußen als daß du +im Gefängnis im Trocknen sitzt.“ +</p> + +<p> +Kesselreinigen am Äquator, wenn das Feuer nur knapp einen Tag gelöscht +ist und der Nachbarkessel unter Dampf liegt. Meine Herren! Wer +nie sein Brot mit Tränen aß, der trinkt es jetzt wie Himbeerlimonade. +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +Wir saßen nackt drin, aber die Wände waren so glühend heiß, daß wir +uns anziehen mußten und dicke Polster aus Sacklumpen unter die +Knie zu legen hatten, um nicht anzubrennen. +</p> + +<p> +Dann klopfen. Und was der Kesselstein für einen Staub macht. Das +ist, als ob man die Lunge, den Schlund, die Kehle mit Glas abkratzt. +Wenn man den Mund bewegt, knirscht es zwischen den Zähnen, als ob +man Sand mahlt, und es kriecht einem am ganzen Rückenmark ein entsetzliches +Empfinden hoch, als würde das Rückenmark von einem Ende +aus herausgebohrt. +</p> + +<p> +Der Kessel ist an sich schon nicht allzu geräumig. Nun liegen auch noch +die Feuerzüge drin, und man muß auf dem Rücken liegen, auf dem +Bauche, um überall hinzukommen. Wie eine Schlange windet man sich +in den Zügen herum. Wo man mit der bloßen Hand hinfaßt, ist es so +heiß, als fasse man auf eine heiße Herdplatte. +</p> + +<p> +Dann springt einem Kesselstein in die Augen. Und das harte scharfe +Körnchen bereitet einem Schmerzen, daß man glaubt, wahnsinnig zu +werden. Dann wird es mit dreckigen und schweißigen Händen herausgefischt +und das Auge rötet sich von den Martern, die man ihm angetan +hatte. Eine Weile geht es gut, und ratsch: wieder ist ein scharfer Splitter +drin, und die Marter geht von neuem los. +</p> + +<p> +Schutzbrillen? Die kosten Geld. Für solchen Unfug hat die Yorikke kein +Geld. So wurde es vor tausend Jahren gemacht, und so wird es heute +gemacht. Meist sind die Brillen auch nicht viel wert. Entweder man sieht +nichts durch oder sie drücken oder der Schweiß läuft einem zwischen die +Plüschdichtungen und frißt sich in die Augen. +</p> + +<p> +Hätte man elektrische Lampen gehabt, wäre das ja eine kleine Erleichterung. +Aber nun die Lampen aus Karthago. In fünf Minuten ist der +Kessel schwarz und dick von Rauch. Aber es muß geklopft werden. +</p> + +<p> +Und die Hämmer dröhnen innerhalb des Kessels, als ob tausend Donner +einem unmittelbar auf das Trommelfell pauken. Es ist keine federnde +Resonanz, sondern ein hart vibrierendes gell-kreischendes Pochen. +</p> + +<p> +Fünf Minuten, dann müssen wir raus, um Luft zu holen. Wir kochen +in Schweiß, die heißen Lungen fliegen und flattern, das Herz tobt, als +wollte es die Brust durchsprengen, und wir zittern in den Knien. +</p> + +<p> +Luft, nur Luft. Koste es, was es wolle. Und wir stehen in der Meeresbrise, +die auf uns wirkt, als wäre sie ein Schneesturm in Saskatchewan. +Ein breites hartes Schwert stößt durch unsern Körper in seiner ganzen +Länge. Wir frieren und beben und sehnen uns zurück in die heiße +Glut des Kessels. +</p> + +<p> +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +Wieder fünf Minuten, und wir schreien: Luft. Alle drei, die wir drin +sind, drängen wir an das kleine Mannloch, durch das wir uns zwängen +müssen. Nur einer kann zu gleicher Zeit durch und muß sich wie eine +Katze drehen und winden, um herauszukommen. Während der Zeit, +wo er sich durch das Mannloch zwängt, kommt auch nicht ein Hauch +von Luft in den Kessel. Mit Mühe kriege ich, der ich Zweiter bin am +Loch, die Arme durch und zwänge mich hinaus. Der Heizer fällt innen +um und schlägt hart auf. Er ist besinnungslos. +</p> + +<p> +„Stanislaw, der Heizer muß raus, hat schlapp gemacht“, rufe ich mit +letztem Atem. „Wenn wir ihn nicht holen, zockt er ab und erstickt.“ +</p> + +<p class="ibr"> +„Ei–ei–ne Mi–nu–te, Pip–, Hab’ noch keine Luft wieder.“ +</p> + +<p> +Es dauert nicht lange, und das Schwert sitzt uns wieder im Körper und +wir sehnen uns nach der kochenden Hitze des Kessels. +</p> + +<p> +Wir nehmen ein Tau. Ich winde mich wieder durch und hole den Heizer +fest. Und nun arbeiten wir, ihn hinauszukriegen. Das ist das Schwerste. +Hineinwinden und herauswinden kann man sich. Aber einen leblosen +Menschen da durchzuziehen, das erfordert unendliche Geduld und Geschicklichkeit +und Kenntnisse in der Anatomie. Der Kopf ist rasch +durch. Aber die Schultern. +</p> + +<p> +Endlich schnüren wir die Schultern zusammen wie ein Paket, ganz fest +und dann können wir ihn hieven und er kommt. +</p> + +<p> +In den Schneesturm bringen wir ihn nicht, sondern wir lassen ihn im +Kesselraum und legen ihn sogar dicht in die Nähe der Feuer des Nachbarkessels. +Wir binden seine Schultern los. +</p> + +<p> +Der Atem ist weg. Ganz weg. Aber das Herz pocht. Leise, doch regelmäßig. +Wir gießen ihm Wasser über den Kopf und pressen einen nassen +Sack aufs Herz. Dann fächeln wir ihm Wind ins Gesicht, blasen ihn an +wie Holzkohlen und tragen ihn endlich unter die Windhuze. +</p> + +<p> +Stanislaw muß rauf und die Windhuze in den Wind stellen, damit +frische Luft auf den Heizer fällt. +</p> + +<p> +Jetzt läßt sich der Hund von einem Roßtäuscher natürlich nicht sehen; +aber wir brauchen uns nur etwas im Kessel erzählen, dann ist diese +widerwärtige Fratze gleich am Mannloch und stopft uns die Luft ab mit +seiner klobigen Knochenbeule. Er kriegt doch noch den Spitzhammer +an den Kadaver geworfen. Möchte er wenigstens ein Wasserglas Rum +für den Heizer bringen, der Schuft. Wir wollen ihn ja gar nicht trinken. +Nur ein Schlückchen, um den Glasstaub aus der Kehle und aus den +Zähnen zu kriegen. +</p> + +<p> +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +Der Heizer ist unter der Windhuze, und ich fange mit Armbewegungen +an. Allmählich kommt er. Und er kommt immer besser. Als wir ihn +hoch haben, auf den Kohlenhaufen setzen und in die Ecke drücken, damit +er einen Halt hat, kommt der Zweite Ingenieur. +</p> + +<p> +„Was ist denn das, zur Hölle nochmal,“ schreit er gleich, „werdet ihr +bezahlt für Faulenzen oder für was?“ +</p> + +<p> +Stanislaw oder ich oder wir beide hätten ja nun sagen können: „Der +Heizer war ...“ +</p> + +<p> +Aber wir hatten beide dasselbe Gefühl, und unser Instinkt war wieder +einmal richtig. Arbeiter brauchen nur auf ihren Instinkt hören, dann +handeln sie schon ganz richtig. +</p> + +<p> +Gleichzeitig, ohne ein Wort zu sagen, hatten wir uns gebückt, in jede +Hand einen sauberen dicken Brocken Kohle genommen und noch in +derselben Sekunde dem Zweiten an seine Knochenbeule und an seinen +Kadaver gefeuert. +</p> + +<p> +Die Arme um den Kopf herum, rannte er davon. Stanislaw lief ihm ein +paar Schritte nach und schrie: „Du Giftkröte, wenn du einen halben +Schilling für den Pfeffer abziehst, den du erwischt hast, kommst du auf +der nächsten Fahrt in den Feuerkanal und dann in die Aschkanne und +du sollst mich ins Gesicht spucken dürfen, wenn ich dich nicht in die +Feuerung schiebe. Biest von einem Ingenieur.“ +</p> + +<p> +Das Biest machte keine Meldung beim Skipper. Wäre uns auch ganz +egal gewesen. Wir wären mit Wonne in Dakar ins Gefängnis gegangen. +Hat auch keinen Penny Strafe abgezogen. Solange wir Kessel reinigten, +und das dauerte ein paar Tage, ist er nie wieder in die Nähe gekommen. +Von dem Tage an behandelte er uns wie rohe Eier und bekam mehr +diplomatische Fähigkeiten, als der Erste sie besaß. Wirkt Wunder, +wenn man Kohle oder einen Hammer oder eine Schürstange zur Hand +hat, und man weiß sie am rechten Orte zu gebrauchen. +</p> + +<p> +Als der Kessel sauber war, bekamen wir zwei Glas Rum und Vorschuß. +Wir in die Stadt und rumgeguckt. Man denkt ja immer, man könnte +einen treffen, den man nicht erwartet. Ich hätte wegpacken können auf +einem Franzosen, der nach Barcelona ging. Aber ich wollte meine vier +Monate Heuer dem Skipper nicht schenken. Warum sollte ich denn umsonst +arbeiten? So ließ ich den netten Franzosen allein. Stanislaw hätte +mit einem Norweger stauen können, der nach Malta ging. Aber er hatte +dieselben Gründe. Die Heuer. Er hatte viel mehr stehen als ich. +</p> + +<p> +So trieben wir uns im Hafen herum. Stanislaw ging auf den Norweger +und ich schlenderte für mich weiter. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-23"> +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +44 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">a</span> lag weit draußen die Empreß of Madagascar, +die Kaiserin von Madagaskar, ein Engländer, +neun Tausend Tonnen, vielleicht noch mehr. Das +wäre so ein Eimerchen, um damit abzuflippen +und zu versuchen, für eine Weile aus dem Grabe +aufzustehen und einen Spaziergang zu machen. +Feines neues Bötchen. Wie lackiert, so sauber. +Sogar das Gold ist noch nicht mal abgewettert. +Funkelfarbenneu. Aber da ist keine Schanz, da ist nichts frei, auf so +einem pfirsichweichen Backfischlein. Lächelt so kokett rüber, zwinkert +mit den angefärbten Wimperchen und flickert mit den unterstrichenen +Augäpfeln, daß es eine wahre Freude ist. Muß mal rüber und das holde +Geschöpfchen aus der Nähe besehen. +</p> + +<p> +Verflucht nochmal, wenn nur die Heuer nicht wäre, ich würde wahrhaftig +mal anklingeln. Aber die Heuer lasse ich nicht im Stich. Wenn ich +den Zweiten nur dazu kriegte, daß er mich rausfeuert. Vielleicht einen +Brocken Bolschewistenhetzerei machen. Aber die pfeifen drauf. Hetz’ so +viel du magst, kommst nicht runter. Und machst du es zu bunt, zieht er +dir zwei Wochen Heuer ab. Arbeitest umsonst. +</p> + +<p> +Wenn die Kaiserin früher abfährt als die Yorikke und ich bin darauf +mit Notheuer, ist nichts mehr zu wollen. Aber wo ladet mich die Empreß +wieder ab? Nach England darf sie mich nicht mitnehmen, wird mich nicht +los. Loswerden muß sie mich. Aber wo? Schiebt mich ab auf ein Totenschiff, +irgendwo unterwegs oder in irgendeinem Hafen, wo gerade ein +Schuppen steht. +</p> + +<p> +Aber fragen kostet ja nichts. – „Hallo!“ +</p> + +<p> +„Hallo! What is up?“ Er hat eine weiße Mütze auf, der es runter ruft. +</p> + +<p class="ibr"> +„Ain’t no chance for a fireman, chap? Ist bei euch keine Stelle frei für +einen Heizer?“ rufe ich hinauf. „Papiere?“ „No, Sir.“ +</p> + +<p> +„Sorry. Bedaure, nichts zu machen.“ +</p> + +<p> +Habe ich ja gewußt. Ist ein sauberes Fräuleinchen. Muß alles in Ordnung +sein. Heiratslizenz notwendig. Hat noch eine Mutter, die die Hand +drauf hält. Mutter Lloyd in London. +</p> + +<p> +Ich gehe lang runter an dem Eimer. Auf dem Achterdeck sitzt Mannschaft. +Spielen Karten. Verflucht nochmal, was reden denn die für ein +Englisch. Das ist ja Yorikkisch. Und das auf einem glattlackierten Engländer, +wo das Gold noch nicht mal abgeblättert ist? Da stimmt etwas +nicht. Spielen Karten, aber zanken sich nicht und lachen nicht. +</p> + +<p> +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +Laß mal sehen. Klingelfisch und Haifischflosse, die sitzen da herum und +spielen, als ob sie auf ihrem eignen Grabhügel sitzen und um ihre +Maden spielen. Zu essen haben sie gut, sehen gutgemästet aus. Aber das +traurige Kartenspiel und die trüben Gesichter, und das alles auf einem +brandneuen Engländer? Da stimmt etwas nicht. Was tut denn der +überhaupt hier in Dakar-Hafen? Was hat er denn geladen? +</p> + +<p> +Eisen, Alt-Eisen. An der Westküste Afrikas? Gleich beim Äquator? +Alt-Eisen? Well, die Dame Kaiserin geht in Ballast heim und nimmt das +Alt-Eisen mit. Nach Glasgow. Bezahlt wenigstens die Fahrt zur Hälfte. +Alt-Eisen ist besser als Sand und Steine. +</p> + +<p> +Nichtsdestoweniger. Das schöne neue Schifflein Empreß und kann keine +Ladung kriegen von Afrika nach England? +</p> + +<p> +Wenn ich hier an der Beach liegen würde, hätte ich es in drei Stunden +raus, was da los ist mit der blanken Kaiserin. Sie wird doch nicht +etwa –? Na, bist auch schon eingetrant, siehst auch schon in allen Ecken +Gespenster. Die Empreß of Madagascar, dieser pfirsichweiche und +schwellende Backfisch aus Glasgow sollte hier bereits auf den Strich +gehen? Aufgeschminkt? +</p> + +<p> +Nein, sie ist nicht geschminkt. Alles Natur. Sie ist keine drei Jahre alt. +Alles echt. Noch nicht einmal eine Niete abgeschliffen am Röckchen. +Alles wie geleckt und duftet gesund oben und unten. Aber die Mannschaft, +die Mannschaft. Da ist etwas nicht in Ordnung. +</p> + +<p> +Was geht es mich an. Jedes Kind will seine Freude haben. +</p> + +<p> +Ich gehe zurück zum Norweger. +</p> + +<p> +Ich setze rauf. Stanislaw ist noch da. Sitzt im Quartier und schnackt mit +ein paar Dänen. Hat eine Büchse guter dänischer Butter in der Tasche +und ein Stück Prachtkäse. +</p> + +<p> +„Pippip, kommst gerade zur Zeit, kannst Abendbrot mitmachen, ein +treues dänisches Abendbrot, vollwertig und echt“, sagt Stanislaw. +</p> + +<p> +Wir lassen uns nicht nötigen und machen das Abendbrot mit. +</p> + +<p> +„Habt ihr den Engländer da drüben gesehen, die Empreß?“ frage ich, +während wir alle im Meßraum sitzen und futtern. +</p> + +<p> +„Liegt schon eine Weile hier“, sagt einer. +</p> + +<p> +„Feines Mädchen“, forsche ich nun. +</p> + +<p> +„Oben Seide, unten meide“, sagt einer von den Dänen. +</p> + +<p> +„Na?“ frage ich, „meiden? Warum meiden? Ist doch ganz echt.“ +</p> + +<p> +„Freilich ist sie echt“, ruft ein andrer dazwischen. „Kannst du notmustern +wenn du willst. Mit Honig und Schokolade. Kriegen jeden Tag +Henkersmahlzeit. Pudding und Braten.“ +</p> + +<p> +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +„Kreuzdonnerwetter nochmal, komm endlich klar“, sage ich nun. „Was +ist los? Ich habe doch wegen Schanz gefragt, ist nichts zu machen.“ +</p> + +<p> +„Lieber Freund, siehst doch nicht so aus, als ob du gestern zum erstenmal +Seewasser geschluckt hast. Sie ist ein Leichenwagen.“ +</p> + +<p> +„Du bist wohl verrückt und mit Teer gepinselt?“ rufe ich. +</p> + +<p> +„Ein Leichenwagen, sage ich dir“, wiederholt der Däne und gießt sich +Kaffee ein. „Willst du auch noch Kaffee? Wir brauchen mit der Milch, +mit dem Zucker und der Butter nicht sparen. Wir können wühlen. +Kannst eine Büchse Milch mit heimnehmen. Willst du?“ +</p> + +<p> +„Die Frage allein rührt mich zu Tränen“, sage ich und fülle mir meine +Tasse mit Kaffee, mit richtigem Bohnenkaffee. Ich hatte vergessen, wie +das schmeckt, denn Yorikke gab nur Kaffee-Ersatz mit zwanzig Prozent +Kaffee, damit unser Herz nicht beschädigt würde. +</p> + +<p> +„Ein Leichenschiff, sage ich dir noch einmal.“ +</p> + +<p> +„Wie meinst du das? Leichen von Frankreich nach Amerika, daß sie +drüben die Mütter in den Blumentopf pflanzen können, um sich an der +Ehre zu erfreuen und sich am Kriege zur Beendigung aller Kriege begeistern +zu können?“ +</p> + +<p> +„Rede doch nicht so ausländisch, Mensch.“ +</p> + +<p> +„Sie fährt Leichen, aber keine Kriegerleichen aus Frankreich.“ +</p> + +<p> +„Sondern?“ +</p> + +<p> +„Kleine Engelchen. Seemanns-Engelchen. Seemanns-Leichen, du Sägefisch, +wenn du das nicht endlich verstehst.“ +</p> + +<p> +„Hat die Kaiserin die an Bord?“ +</p> + +<p> +„Mensch, mit dir kann man ja Bunkerwände einrennen.“ +</p> + +<p> +„Natürlich hat die Tante sie an Bord. Siebenachtel fertig. Können zu +Hause in ihrer Dorfkirche schon ruhig in die Gedenktafel für Seeleute +eingekratzt werden. Braucht nicht mehr ausradiert werden. Wenn du +deinen Namen auch auf der Gedenktafel in deiner Dorfkirche haben +willst, brauchst du nur mitgehen. Sieht überhaupt sehr vornehm aus, +wenn du neben deinem Namen stehen hast ‚Empreß of Madagascar‘. +Klingt doch nach etwas. Sieht doch besser aus, als wenn da nur daneben +steht Berta oder Emma oder Nordkap. Man muß auch daran denken, +wen du als Nachbar kriegst auf der Tafel. ‚Empreß of Madagascar‘, da +ist Schwung drin, Junge.“ +</p> + +<p> +„Warum soll denn die schon Versicherung fahren?“ Das leuchtete mir +nun durchaus nicht ein. Das war wieder nur so Gerede. Blasser Neid, +weil sie nicht selber drauf waren, auf dem neuen Eimer. +</p> + +<p> +„Kinderleichte Sache.“ +</p> + +<p> +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +„Ist doch höchstens drei Jahre aus den Windeln“, warf ich ein. +</p> + +<p> +„Endlich beweist du, daß du länger aus den Windeln bist. Sie ist genau +drei Jahre alt. War für große Fahrt gebaut, Ostasien und Südamerika. +Sollte zwölf Knoten machen. War Bedingung. Als sie losackerte, machte +sie vier und wenn es gut ging vier und einen halben. Das kann sie nicht +aushalten, dabei geht sie pleite.“ +</p> + +<p> +„Können sie doch umbauen.“ +</p> + +<p> +„Schon zweimal versucht. Wird immer schlechter. Hat ursprünglich sogar +sechs Knoten gemacht, nach dem Umbau nur noch vier. Die muß +runter vom Wasser, muß die Versicherung bringen. Haben die Versicherung +sicher fein gedreht, daß sie Lloyd passieren konnte. Aber +geht ja alles zu schieben.“ +</p> + +<p> +„Und nun soll sie abrasseln?“ +</p> + +<p> +„Sie hat schon zweimal gebrummt. Hat aber nicht gefleckt. Das erstemal +saß sie auf Sand. Sauber wie hingestreichelt. Haben sicher schon in +Glasgow darauf gezecht. Kam aber Schwerwetter hoch mit Mordsflut +und die hob die edle Dame runter vom Sand wie Himmelfahrt mit +Trompeten und Pauken. Und sie schwenkte lustig ab. Da mag der +Skipper schön geflucht haben. Beim zweitenmal, das war vorige Woche, +wir lagen schon hier, da ist sie draußen zwischen Klippen gefegt. Saß +fein fest. Drahtlose Station war zerhauen. Natürlich. Mußte der Skipper +Flaggen setzen. Anstandshalber. Sind doch immer Zeugen rum. Da kam +ein französisches Patrouillenboot, gerade wo der Skipper schon so ganz +gemütlich ausbooten ließ. Die Patrouille flaggte rüber: „Warten. Hilfe +unterwegs!“ Da hat der Skipper aber geflucht. Möchte nur wissen, wie +er das Journal wieder in Ordnung gebracht haben mag. Er hatte es +doch schon aufgezaubert. Wird schön radiert haben, Junge, Junge. Er +hatte einen Fehler gemacht. Heißt, es ging wohl nicht anders. War bei +Ebbe aufgesessen. Nun kamen drei Schlepper und hoben ihn ab von +den Klippen bei Flut. Ganz elegant. Hatte nicht mal eine Schramme +abbekommen. Das ist Pech. Muß nun auch die Bergungskosten bezahlen. +Geht alles runter von der Versicherung. Fragt sich, ob die Versicherung +die ganzen Kosten trägt. Hängt vom Journal ab.“ +</p> + +<p> +„Und was nun?“ +</p> + +<p> +„Jetzt macht er den Verzweifler. Muß er machen. Dreimal kann er +nicht abkommen. Dann macht die Versicherung eine Untersuchung und +streicht die Versicherung. Verlangt einen andern Skipper drauf, der +treu fährt. Dann ist es aus. Dann muß die Empreß zum Abwracken. +Fahren kann sie nicht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +„Warum liegt sie denn da so lange, wenn sie keine Reparatur hat?“ +</p> + +<p> +„Kann nicht raus. Hat keine Heizer.“ +</p> + +<p> +„Das ist Unsinn. Hätte er mich doch nehmen können. Ich sagte ihm doch +rauf, ich sei Heizer.“ +</p> + +<p> +„Hast du Papiere?“ +</p> + +<p> +„Sei nicht so albern, Mensch.“ +</p> + +<p> +„Wenn du keine Papiere hast, nimmt er dich nicht. Er muß ein vornehmes +Gesicht behalten. Tote wären für ihn verdächtig. Aber ob du +Zulukaffer bist oder Hottentotte oder taubstumm, das ist ihm gleichgültig. +Mußt nur Papiere haben und mußt befahren sein. Unbefahrene +Leute ist nicht gut, da kann die Versicherung mauern und Geschichten +machen. Die Heizer haben sich rausgemacht. Haben sich verbrannt und +liegen im Hospital, sonst hätten sie ja nicht fortgekonnt. Die Heizer +sind am schlimmsten dran, die kommen nicht raus, wenn es ein verzweifelter +Aufbrummer ist. Da ist gleich Wasser vor den Kesseln, und +die Kessel gehen auch gewöhnlich gleich hoch, wenn sie so plötzlich kalte +Dusche kriegen. Die haben gleich die explodierende Lungenentzündung +weg.“ +</p> + +<p> +„Wartet er jetzt ab, bis die Heizer wieder raus sind aus dem Hospital?“ +</p> + +<p> +„Das nützt ihm nichts. Die brauchen nicht mehr rauf, wenn sie nicht +wollen. Können sauber abmustern. Haben feine Papiere und können in +Ruhe auf einen andern warten.“ +</p> + +<p> +„Wie denkt die Tante denn fortzukommen?“ +</p> + +<p> +Die Leute lachten in sich hinein, und der, der diesen Fall am besten +studiert zu haben schien, sagte: „Die sind auf Kindsraub aus. Auf +Shanghaien. Kann ich dir zuflüstern, Junge. Ja, eine feine elegante +Dame, die Kaiserin von Madagaskar. Oben Seide, unten meide. Meide, +in die Nähe zu gehen.“ +</p> + +<p> +Dagegen ist die Yorikke ja eine hochachtbare Dame. Sie täuscht nichts +vor. So wie sie aussieht, so ist sie. Ehrlich bis auf das Gerippe. Beinahe +fange ich an, Yorikke zu lieben. +</p> + +<p> +Ja, Yorikke, ich muß es dir gestehen: Ich liebe dich. Liebe dich aufrichtig +um deiner selbst willen. Habe an meinen Händen sechs schwarzblaue +Fingernägel und an den Zehen vier schwarzgrünblaue Zehennägel. +Alles um deinetwillen, geliebte Yorikke. Auf die Zehen sind +Roste geschlagen, und jeder Fingernagel hat seine eigne schmerzhafte +Geschichte. Meine Brust, mein Rücken, meine Arme, meine Füße haben +Narben von bösen Brandwunden. Jede einzelne Narbe wurde geboren +unter einem Schmerzensschrei, der dir galt, Geliebte. +</p> + +<p> +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +Dein Herz heuchelt nicht. Dein Herz weint nicht, wenn es nicht zum +Weinen fühlt, es jubelt nicht, wenn es keine Freude fühlt. Dein Herz +heuchelt nicht, es ist rein und lauter wie pures Gold. Wenn du lachst, +Herzliebste, so lacht deine Seele, lacht dein Leib und lacht dein lustiges +Zigeunerkleid. Und wenn du weinst, Herzallerliebste, dann weint selbst +das kalte Riff, an dem du vorübergehst. +</p> + +<p> +Ich will dich nimmermehr verlassen, Geliebte, nicht um alle Schätze der +Welt. Ich will mit dir wandern, mit dir singen, mit dir tanzen und mit +dir schlafen. Ich will mit dir sterben, in deinen Armen meinen letzten +Seufzer tun, du Zigeunerin der Meere. Du protzest nicht mit deiner +glorreichen Vergangenheit und deinem uralten Stammbaum bei Tantchen +Lloyd in London. Du protzest nicht mit deinen Lumpen, und du +spielst nicht mit ihnen. Sie sind dein rechtmäßiges Gewand. Du tanzest +in deinen Lümpchen froh und stolz wie eine Königin und singst dein +Zigeunerlied, dein Lumpenlied: +</p> + +<h4 class="hdr" id="subchap-2-23-1"> +DAS TANZLIED DES TOTENSCHIFFES +</h4> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Was gehn euch meine Lumpen an?</p> + <p class="verse">Da hängen Freud’ und Tränen dran.</p> + <p class="verse">Was kümmert euch denn mein Gesicht?</p> + <p class="verse">Ich brauche euer Mitleid nicht.</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Was kümmert euch, was mir gefällt?</p> + <p class="verse">Ich lebe mich, nicht euch, in dieser Welt.</p> + <p class="verse">In euren Himmel will ich gar nicht rein,</p> + <p class="verse">Viel lieber dann schon in der Hölle sein.</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Ich brauch’ gewiß nicht eure Gnaden,</p> + <p class="verse">Und selbst wenn Tote ich geladen,</p> + <p class="verse">Wenn Schimpf und Schand’ sind an mir dran,</p> + <p class="verse">Euch geht das einen Sch...dreck an.</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Ich pfeife auf das Weltgericht.</p> + <p class="verse">An Auferstehung glaub’ ich nicht,</p> + <p class="verse">Ob’s Götter gibt, das weiß ich nicht,</p> + <p class="verse">Und Höllenstrafen fürcht’ ich nicht.</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse2">Hopla he, auf weiter See,</p> + <p class="verse2">Hopla, hopla, he!</p> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-3"> +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +DRITTES BUCH +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="epi blank" id="chapter-3-1" title="ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN"> +<span class="keep-nu-html-checker-happy"> </span> +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +</h3> + +</div> + +<div class="center"> + <div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">ES FÄHRT SO MANCHES SCHIFFLEIN</p> + <p class="verse">DA DRAUSSEN KREUZ UND QUER;</p> + <p class="verse">DOCH KEINS KANN SO VERRUFEN SEIN,</p> + <p class="verse">DASS NICHT MANCH ANDRES</p> + <p class="verse">SCHLIMMER WÄR’.</p> + </div> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-2"> +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +45 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">ag</span> sein, daß man seine Frau nicht zu sehr lieben +darf, wenn man sie behalten will. Sie langweilt +sich sonst und läuft zu einem andern, um geprügelt +zu werden. +</p> + +<p> +Es war verdächtig, sehr verdächtig, daß ich die +Yorikke plötzlich so innig zu lieben begann. Aber +wenn man soeben die gräßliche Geschichte eines +Kindsräubers vernommen hat, in der einen Tasche +eine Büchse Milch, in der andern eine Büchse guter dänischer Butter +trägt, kann man wohl Liebesgedanken bekommen und diejenige +lieben, die in ihren Lumpen liebenswerter ist als Leichenräuber in +seidenen Kleidern. +</p> + +<p> +Aber verdächtig war diese aufkeimende Liebe doch. Etwas war nicht +in Ordnung. Da war die Aschenhuze gewesen. Und nun war auch noch +Yorikke, die ich mit heißer Inbrunst liebte. Das wollte mir nicht gefallen. +Da stimmte etwas nicht. +</p> + +<p> +Im Quartier war es nicht auszuhalten. Die Luft stand dick und schwer +und drückte auf das Hirn. +</p> + +<p> +„Laß uns wieder rausgehen,“ sagte ich zu Stanislaw, „wir schlendern +am Wasser herum bis es kühler wird. Nach neun wird sicher eine Brise +aufkommen. Dann gehen wir heim und legen uns aufs Deck.“ +</p> + +<p> +„Hast recht, Pippip“, gab Stanislaw zu. „Hier kann man weder schlafen +noch sitzen. Wir können mal raufgehen zu dem Holländer, der da oben +liegt. Vielleicht sehe ich einen Bekannten.“ +</p> + +<p> +„Immer noch Hunger?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Nein, aber vielleicht kann ich ihnen ein Stück Seife abnehmen und ein +Handtuch. Wäre ganz gut mitzunehmen.“ +</p> + +<p> +Wir trotteten langsam los. Es war inzwischen ganz finster geworden. +Die Hafenlampen waren nur spärlich erleuchtet. Es wurde nirgends +geladen. Die Schiffe glimmerten schläfrig durch die abendliche +Dunkelheit. +</p> + +<p> +„Berühmt ist der Tabak aber auch nicht, den uns die Norweger gegeben +haben“, sagte ich. +</p> + +<p> +Kaum hatte ich das ausgesprochen und mich dabei Stanislaw zugewandt, +um Feuer von ihm zu kriegen, als ich einen mächtigen Hieb +über den Schädel erhielt. Ich fühlte den Schlag ganz deutlich, konnte +mich aber nicht bewegen, meine Beine wurden merkwürdig plump und +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +dick und ich fiel hin. Es sauste und brummte entsetzlich um mich herum +und es tat drückend weh. +</p> + +<p> +Das dauerte aber nicht lange, schien mir. Ich stand wieder auf aus +meiner Betäubung und wollte weitergehen. Aber ich lief gegen eine +Wand, gegen eine Holzwand. Wie konnte das sein? Ich ging links, doch +auch da war eine Wand. Und rechts war eine Wand und hinter mir war +eine Wand. Und alles war finster. Mein Kopf summte und dröhnte. Ich +konnte nicht denken, wurde müde und legte mich wieder auf den +Boden. +</p> + +<p> +Als ich abermals aufwachte, waren die Wände noch immer da. Aber +ich konnte nicht ruhig stehen. Ich schwankte. Nein, das war es nicht, der +Boden schwankte. +</p> + +<p> +Himmelkreuzdonnerwetter nochmal, ich weiß jetzt, was los ist. Ich +bin auf einem Boot, auf einem Eimer, und der ist auf hoher See. +Schwimmt lustig voran. Die Maschinen stampfen und bollern. +</p> + +<p> +Mit beiden Fäusten und endlich auch mit den Füßen hämmere ich gegen +die Wände. Es scheint niemand etwas zu hören. Aber nach längerer Zeit, +als ich wieder und wieder die Wände bearbeitet und auch mit Schreien +mein Trommeln unterstützt habe, wird eine Luke aufgemacht und es +leuchtet jemand mit einer elektrischen Taschenlampe herein. +</p> + +<p> +„Haben Sie jetzt Ihren Soff ausgeschlafen?“ werde ich gefragt. +</p> + +<p> +„Scheint, ja“, sage ich. +</p> + +<p> +Es braucht mir niemand etwas erzählen, ich weiß bereits, was los ist. +Kindsraub, shanghaied. Ich bin auf der Empreß of Madagascar. +</p> + +<p> +„Sie sollen zum Skipper kommen“, sagt der Mann. +</p> + +<p> +Es ist heller Tag draußen. Ich klettere die Leiter hoch, die der Mann +durch die Luke schiebt und bin bald darauf auf dem Deck. +</p> + +<p> +Ich werde zum Skipper geführt. +</p> + +<p> +„Feine Leute seid ihr, muß ich sagen“, schreie ich gleich, als ich in die +Kabine komme. +</p> + +<p> +„Bitte?“ sagt der Skipper ganz ruhig. +</p> + +<p> +„Kindsräuber. Shanghaier. Engelmacher. Leichenfledderer. Das ist es, +was ihr seid“, schreie ich. +</p> + +<p> +Der Skipper bleibt ungerührt, steckt sich ruhig eine Zigarre an und +sagt: „Es scheint, Sie sind noch nicht ganz nüchtern. Wir werden Sie +mal in kaltes Wasser tauchen müssen, damit der Rauch abzieht.“ +</p> + +<p> +Ich sehe ihn an und sage nichts. +</p> + +<p> +Der Skipper drückt auf einen Knopf, der Steward kommt und der +Skipper nennt zwei Namen. +</p> + +<p> +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +„Setzen Sie sich“, sagt der Skipper nach einer Weile. +</p> + +<p> +Es kommen zwei widerliche Kerle rein. Verbrechergesichter. +</p> + +<p> +„Ist das der Mann?“ fragt der Skipper. +</p> + +<p> +„Ja, das ist er“, bestätigen die beiden. +</p> + +<p> +„Was tun Sie hier auf meinem Schiff?“ sagt der Skipper jetzt zu mir +in einem Tone, als ob er Vorsitzender eines Schwurgerichts wäre. Vor +sich hat er Papier liegen, auf dem er mit einem Bleistift kritzelt. +</p> + +<p> +„Das möcht ich gern von Ihnen wissen, was ich hier auf dem Schiff +mache“, antworte ich. +</p> + +<p> +Nun redet der eine dieser beiden Verbrecher. Sie scheinen Italiener zu +sein nach der Art, wie sie die Brocken Englisch herausbringen. +</p> + +<p> +„Wir wollten gerade die Ladekammer elf reinigen, und da fanden wir +den Mann hier besoffen in einer Ecke liegen, wo er fest schlief.“ +</p> + +<p> +„Also“, sagt darauf der Skipper, „dann ist das ganz klar. Sie wollten +sich auf meinem Schiff blind wegpacken, um nach England zu kommen. +Sie werden das nun wohl nicht mehr bestreiten wollen. Ich kann Sie +leider nicht über Bord werfen, was ich ja eigentlich tun müßte. Verdienten +eigentlich, daß ich Sie ein halbes Dutzend mal am Lademast +schleifen lasse und Ihnen die Haut ein wenig abschinde, damit Sie dran +denken, daß ein englisches Schiff nicht dazu dient, Verbrecher, die von +der Polizei verfolgt werden, in Sicherheit zu bringen.“ +</p> + +<p> +Was sollte ich da lange reden. Er hätte mir von diesen italienischen +Sträflingen die Knochen zerschlagen lassen, wenn ich ihm gesagt hätte, +was ich von ihm denke. Er würde es überhaupt tun schon für das, was +ich ihm gleich am Anfang erzählt habe. Aber er hat ja nur Interesse an +meinen gesunden Knochen und nicht an meinen zerschlagenen. +</p> + +<p> +„Was sind Sie?“ fragte er nun. +</p> + +<p> +„Schlichter Deckarbeiter.“ +</p> + +<p> +„Sie sind Heizer.“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +„Sie haben sich doch hier gestern als Heizer angeboten?“ +</p> + +<p> +Ja, das hatte ich, und das war mein Fehler. Seitdem haben die mich nicht +mehr aus den Augen gelassen. Hätte ich damals gesagt, Deckarbeiter, +hätten sie vielleicht kein Interesse an mir gehabt. Heizer waren es, die +sie brauchten. +</p> + +<p> +„Da Sie also Heizer sind und Sie Glück haben dadurch, daß mir zwei +Heizer krank geworden sind, so können Sie als Heizer arbeiten. Sie +bekommen englische Heizerheuer, zehn Pfund zehn ist sie augenblicklich. +Aber ich kann Sie nicht heuern. Wenn wir nach England kommen, +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +habe ich Sie den Behörden zu übergeben; und Sie werden, je nachdem +der Richter Ihnen geneigt sein wird, zwei bis sechs Monate abmachen +müssen und dann natürlich Deportation. Aber hier werden Sie, solange +wir auf Fahrt sind, als regelrechtes Mitglied der Mannschaft unsrer +Empreß of Madagascar behandelt. +</p> + +<p> +Wir können uns gut vertragen, wenn Sie Ihre Arbeit tun. Wenn wir uns +nicht vertragen können, gibt es kein Wasser, lieber Freund. Ich denke +also, wir vertragen uns lieber. Um zwölf beginnt ihre Wache. Ihre +Wachen sind sechs und sechs Stunden; die zwei Stunden je Wache mehr, +werden Ihnen bezahlt mit einem Schilling sechs Pence die Stunde.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Da war ich nun Heizer auf der Empreß of Madagascar, auf der Fahrt +zu dem Gedenkstein in der Dorfkirche. Ich hatte keine Dorfkirche, also +blieb mir nicht einmal diese Ehre. +</p> + +<p> +Die Heuer war gut, da ließ sich Geld dabei machen. Aber in England +Gefängnis wegen Schiffschleichens und dann vielleicht noch Jahre im +Gefängnis warten auf Deportation. Doch das war ja eben die Sache. +Die Heuer bekam ich nicht, weil die Fische sie nicht auszahlen werden. +Komme ich heil raus, ich kriege keinen Nickel Heuer, ich bin nicht treu +gemustert. Kein englischer Konsul erkennt diese Strafmusterung an. +Gefängnis und Deportation rühren mich nicht. Wir kommen nicht nach +England. Nur ja keine Sorge. Wollen uns doch mal die Boote ansehen. +Die Boote sind fertig. Da wird es also in den nächsten Tagen losgehen. +Erste Bedingung ist, alles klarmachen, um auf alle Fälle aus dem +Kesselraum zu kommen. Beim leisesten Knirscher weg vom Kessel und +hoch wie der Satan. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-3"> +46 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Quartiere sind wie Salons. Sauber und neu. +Stinken nur unerträglich nach frischer Farbe. +Matratzen im Bunk, aber kein Kissen, keine +Decke, kein Laken. Kaiserin von Madagaskar, +bist nicht so reich wie du von draußen aussiehst. +Oder die haben schon alles gezockelt und vermünzt, +was gerettet werden konnte. +</p> + +<p> +Geschirr gibt es auch nicht. Aber man kann es +schon leichter zusammenklauben, weil da was übrig ist und dort was +herumliegt. Das Essen wird von einem italienischen Jungen gebracht, +damit hat man also nichts zu tun. Das Essen ist ausgezeichnet. Freilich, +unter Henkersmahlzeit verstehe ich etwas andres. +</p> + +<p> +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +Rum gibt es hier überhaupt nicht, wie mir von einem erzählt wird. Der +Skipper ist Anti, schon faul. +</p> + +<p> +Schiffe ohne Rum stinken wie Jauche. +</p> + +<p> +Ich sitze im Meßraum des Kesselpersonals. +</p> + +<p> +Der Meßboy ruft die Leute aus den Bunks zum Essen. Es kommen zwei +schwere Neger herein, die Kohlschlepps. Und dann kommt ein Heizer +herein, der auf Freiwache ist. +</p> + +<p> +Den Heizer kenne ich. Sein Gesicht habe ich schon irgendwo gesehen. +Das Gesicht ist aufgeschwommen, und um den Kopf hat er eine Binde. +</p> + +<p class="ibr"> +„Stanislaw, du?“ +</p> + +<p> +„Pippip, du auch?“ +</p> + +<p> +„Wie du siehst. Mitgegangen, mitgefangen“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Du bist ja noch ganz gut davon gekommen. Ich habe mich mit ihnen +schwer gekloppt. Ich kam gleich wieder hoch, nachdem ich den ersten +Schlag weg hatte. Du lagst fest, hattest gleich einen saftigen gekriegt. +Aber als du so plötzlich umknicktest, bückte ich mich nach dir und so +kriegte ich nur einen halben. Gleich war ich wieder auf. Und nun ging +die Bürsterei los. Waren gleich vier herum. Und ich habe ganz verflucht +was auf den Schädel gekriegt.“ +</p> + +<p> +„Was haben sie dir denn für eine Geschichte erzählt?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Ich hätte mich gekloppt, hätte einen erstochen und dann hätte ich mich +auf dem Eimer versteckt, weil die Polizei hinter mir her gewesen sei.“ +</p> + +<p> +„Mir haben sie etwas Ähnliches erzählt, die Kindsräuber“, sagte ich. +„Unsre Heuer von der Yorikke sind wir nun auch noch los, und hier +kriegen wir nie einen Cent.“ +</p> + +<p> +„Dauert ja nur ein paar Tage. Ich denke übermorgen wird es schon soweit +sein. Es ist ein Platz, wie er ihn sich nicht besser wünschen kann. +Kann sich schön sauber hinlegen wie gemalt. Kommt niemand her und +deckt das Gesicht ab. Um fünf ist Exerzieren an den Booten. Merkst +was, he? Wir sind nicht dabei, wir sind gerade dann auf Wache. Wir +sind beide Boot vier, Heizer von Wache zwölf bis vier. Ich habe die +Liste gesehen, hängt im Gangweg.“ +</p> + +<p> +„Weißt du schon, wie es vor den Kesseln ist?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Zwölf Feuer. Vier Heizer. Die beiden andern sind Neger. Auch die +Schlepps sind Neger. Da die beiden, die am Tisch sitzen.“ Stanislaw +deutete rüber zu den starken Burschen, die gleichgültig an ihrem Essen +würgten und uns kaum zu bemerken schienen. +</p> + +<p> +Um zwölf traten wir unsre Wache an. Die vorige Wache hatte der +Donkeyman mit den Negern gemacht. +</p> + +<p> +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +Die Feuer sahen bös aus, und wir hatten beinahe zwei Stunden wild zu +arbeiten, bis wir sie in Ordnung hatten. Alles war verschlackt; aufzuschmeißen +verstanden die schwarzen Heizer auch nicht. Sie pfefferten +die Kohle hinein, und damit gaben sie sich zufrieden. Daß Heizen eine +Kunst ist, die mancher nie lernt, davon schienen sie nichts zu wissen, +obgleich sie offenbar schon einige Jahre vor den Kesseln arbeiteten und +sicher schon eine gute Anzahl von Schiffen abgedient hatten. +</p> + +<p> +Mit den Rosten hatten wir hier nur wenig Arbeit. Brannte einer durch, +so ließ er sich rasch einsetzen ohne daß er nachfiel oder gar andre mitriß. +Die Schlepps, riesenhafte Neger, mit Armen wie Oberschenkel und +einem Körperbau, daß man glaubte, sie könnten einen ganzen Kessel +auf ihren Schultern fortschleppen, brachten die Kohle verteufelt langsam +heran, und wir mußten ihnen ganz gehörig den Marsch blasen, bis +sie sich endlich herbeiließen, zu arbeiten. Sie stöhnten in einem fort, +daß es zu heiß sei, daß sie keine Luft bekämen, daß sie vor Staub nicht +schlucken könnten, und daß sie sicher verdursten würden. +</p> + +<p> +„Na, Pippip,“ sagte Stanislaw, „da mußten wir ganz anders ziehen auf +der alten Yorikke. Was tun die Kerle nur mit ihren Knochen? Ehe die +eine halbe Tonne heran haben, hole ich sechs und puste noch nicht einmal +dabei. Und hier liegen ihnen die Kohlen direkt vor der Nase.“ +</p> + +<p> +„Gerade jetzt fing auf der Yorikke wieder eine schöne Zeit für eine +Woche an“, sagte ich. „Sie hatte gerade frisch gekohlt und die Schächte +und Kesselbunker lagen gepfropft, daß es ein wahrer Spaß hätte sein +müssen für die nächste Fahrt. Aus. Schiet Yorikke. Haben jetzt andres +zu denken.“ +</p> + +<p> +Ich sah mich um. +</p> + +<p> +„Habe auch schon herumgeblickt“, sagte Stanislaw. „Wir müssen Luftlöcher +suchen. Zur Leiter kommt man nicht immer. Bricht meist weg, +wenn sie richtig aufknallt. Und wenn gar noch die Kessel oder die Rohre +anfangen zu summen und zu spucken, dann ist die Leiter eine verfluchte +Rattenfalle. Kannst nicht mehr runter, nicht mehr rauf.“ +</p> + +<p> +„Der Oberbunker hat eine Luke zum Deck“, sagte ich. Ich war eben oben +gewesen und hatte untersucht. „Wir müssen die Luke immer klar +haben, wenn wir auf Wache gehen. Dann baue ich eine Lattenleiter, und +die halten wir immer hier an der Schachtluke. Wenn es knirscht, sofort +raus, rauf, hoch und raus zur Deckluke.“ +</p> + +<p> +Wir arbeiteten uns nicht blöd. Es schien den Ingenieuren auch ganz +gleich zu sein. Solange die Maschine lief, war es recht. Ob sie große +Fahrt machte oder kleine, kam nicht in Betracht. +</p> + +<p> +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +Es hätte alles ganz nach Vorschrift gehen können. Ein paar Löcher +unten in den Mantel gedrillt, nicht größer als einen halben Zoll, und mit +ihrer Sargeinlage Alteisen wäre die Empreß sanft und selig eingeschlafen, +weggesackt wie ein Stein. Nur noch der Pumpe einen Klaps +gegeben. Aber vor dem Seegericht kann das manchmal fehlgehen, und +wenn die ganze Mannschaft heil abkommt, so ist das immer verdächtig. +Zwei Tage waren es nur. Wir hatten gerade die Wache übernommen +und waren mit dem Ausschlacken halb durch, da hörte ich einen furchtbaren +Knall und ein Krachen. Ich flog zuerst gegen die Kessel und dann +zurück in einen Kohlenhaufen. +</p> + +<p> +Gleich darauf standen die Kessel senkrecht über mir, ein paar Feuerungstüren +brachen auf und die Glut fiel in den Kesselraum. Zur Lattenleiter +brauchte ich nicht hinaufsteigen, ich konnte auf ebener Fläche zu +der Schachtluke gehen. +</p> + +<p> +Stanislaw war schon raus. +</p> + +<p> +Als ich in den Bunker kam, kletterte er gerade durch die Luke. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick hörten wir einen gräßlichen Schrei aus dem +Kesselraum. +</p> + +<p> +Stanislaw hatte den Schrei auch gehört und drehte sich um. +</p> + +<p> +„Das war Daniel, der Schlepp“, rief ich Stanislaw zu. „Ich glaube, er +sitzt fest.“ +</p> + +<p> +„Verflucht, runter, aber rasch“, schrie Stanislaw. +</p> + +<p> +Ich war schon wieder drin im Kesselraum. Die Kessel standen noch +immer Kopf, und jede Sekunde konnte einer losfahren in die Lüfte. Das +elektrische Licht war verlöscht, weil offenbar das Kabel durchgerissen +war. Aber die Glut gab Licht genug, wenn es auch recht gespensterhaft +aussah. +</p> + +<p> +Daniel, der eine Neger, lag lang und war mit seinem linken Fuß von +einer losgelösten Platte eingeklemmt. Er schrie und schrie, weil die Glut +ihn schmorte. +</p> + +<p> +Wir versuchten, die Platte zu heben, aber es ging nicht, wir kriegten sie +nicht hoch und konnten mit der Schürstange nicht heran, um sie hochzuheben. +</p> + +<p> +„Geht nicht, Daniel, Fuß sitzt fest.“ Ich schrie es in wahnsinniger Eile +auf Daniel ein. +</p> + +<p> +Was tun? Sollen wir ihn hierlassen? +</p> + +<p> +„Wo ist der Hammer?“ schreit Stanislaw. +</p> + +<p> +Schon ist der Hammer zur Hand, und in derselben Sekunde haben wir +eine Schaufel glattgeklopft, und ohne Besinnen schlägt Stanislaw dem +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +Neger den Fuß ab. Drei Hiebe waren nötig. Wir schleiften Daniel zur +Schachtluke, schleiften ihn durch den Bunker und zerrten ihn durch die +Deckluke. +</p> + +<p> +Draußen packte der andre Neger unsrer Wache, der sich rechtzeitig in +Sicherheit gebracht hatte, sofort zu. Wir überließen ihm Daniel und +kümmerten uns nun um uns selbst. +</p> + +<p> +Das Quartier lag bereits im Wasser. Die Empreß ragte mit dem Stern +hoch in die Luft. Das war beim Bootsexerzieren nicht ausprobiert worden. +Es stand alles ganz anders, als man es gewöhnt war. Eine Weile +hatte noch das Licht gebrannt. Der Ingenieur hatte es zu den Akkumulatoren +durchgeschaltet. Jetzt verglimmte es langsam, weil die Akkumulatoren +wahrscheinlich auszulaufen begannen oder die Kabel +irgendwo Widerstände aufnahmen. Elektrische Taschenlampen und +Notlaternen mußten helfen. +</p> + +<p> +Vom Quartier sah ich niemand. Die waren schon fertig. Die konnten +nicht mehr raus. Gegen die Tür lehnten einige Tonnen Wasserdruck. +</p> + +<p> +Boot zwei riß sich los und war im Augenblick vom Seegang fortgeschwemmt, +ohne daß auch nur ein Mann drin saß. +</p> + +<p> +Boot vier war nicht zu holen. Lag nicht klar. +</p> + +<p> +Boot eins war klar, und der Skipper kommandierte die Besatzung. +Dann stand es bei und wartete auf ihn, weil er anstandshalber auf Deck +blieb. Das Seegericht sieht so etwas gern und lobt es. +</p> + +<p> +Nun kam auch Boot drei klar. Hier flitzten Stanislaw und ich hinein, +zwei Ingenieure, der gesunde Negerschlepp und Daniel mit dem abgehackten +Fuß, der jetzt mit einem Hemd verbunden war; ferner kriegten +wir den Ersten Offizier und den Steward. +</p> + +<p> +Die Kessel schienen brav zu halten und waren vielleicht durch die herausgefallenen +Feuer beruhigt worden. Pflaumenmus gab es ja hier +nicht. +</p> + +<p> +Wir stießen ab. Der Skipper war inzwischen in Boot eins gesprungen, +und auch dieses Boot lief klar ab. +</p> + +<p> +Aber ehe es seine Riemen gestreckt hatte, wurde es von der See heftig +gegen den Schiffsleib geschleudert. Immer wieder versuchten sie, klar +zu kommen. +</p> + +<p> +Da plötzlich löste sich ein Etwas von dem Schiffe los und schlug mit +brechendem und splitterndem Getöse auf das Boot. Man hörte ein +Schreien von vielen Stimmen und dann war alles still, als wären Schrei, +Boot und Besatzung mit einem Ruck von einem großen Maul verschluckt +worden. +</p> + +<p> +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +Wir waren ganz schön abgekommen und pullten lustig drauf los. Kurs +zur Küste. +</p> + +<p> +Große Fahrt machten wir nicht mit den paar Riemen. Die Wogen gingen +verteufelt hoch, und wir standen manchmal zwei Bootslängen hoch an +einer steilen Wasserwand. Dann spreizten die Riemen in der Luft, +konnten nicht einlegen, und wir wurden kreuz und quer geschleudert. +Der Ingenieur, der mit an den Riemen saß, sagte da plötzlich: „Wir +sitzen ziemlich flach. Kaum drei Fuß. Auf Fels.“ +</p> + +<p> +„Nicht möglich“, erwiderte der Erste Offizier. Er tastete nach dem +Riemen, lotete und sagte dann: „Sie haben recht. Raus, raus.“ +</p> + +<p> +Er hatte den Befehl noch halb im Munde, da gingen wir steil an einer +Wand hoch. Die Welle nahm uns wie eine kleine Untertasse und haute +das ganze Boot mit solcher Wucht auf den Fels, daß es in tausend +Splitter ging. +</p> + +<p> +„Stanislaw!“ schrie ich hinaus in das Toben der Wellen. „Hast du was, +wo du kleben kannst?“ +</p> + +<p> +„Nicht einen dürren Strohhalm“, schrie er mir zu. „Ich schwimme zurück +zum Eimer. Der steht ein paar Tage gut so, wie er da steht. Der fällt +dir so leicht nicht auf die Zehen.“ +</p> + +<p> +Die Idee war nicht schlecht. Ich versuchte, Kurs auf das schwarze Ungetüm +zu halten, das sich gegen den Nachthimmel klar abhob. +</p> + +<p> +Und verflucht nochmal, wir kamen beide ran, obgleich wir einige +dutzendmal immer wieder zurückgeschleudert worden waren. +</p> + +<p> +Wir kletterten rauf und suchten in Mittschiff zu kommen. Das war +nicht so leicht. Die Achternwand bildete jetzt das Deck oder das Dach +für das Mittschiff. Die beiden Korridore waren tiefe Schächte geworden, +in die hinunterzukommen während der Nacht nicht gut vollführt +werden konnte und selbst bei Tage seine Schwierigkeiten haben würde. +Die Wogen gingen außerordentlich hoch und schienen an Wucht noch +zuzunehmen. Offenbar waren wir bei Ebbe aufgebrummt, denn das +Wasser begann zu steigen. +</p> + +<p> +Die Empreß stand fest wie ein Turm, eingeklemmt in einer Riffspalte. +Wie sie in diese unschiffsmäßige Lage kommen konnte, wußte wohl +nur sie allein. Sie zitterte kaum und bebte nicht, so fest stand sie. Nur +manchmal, wenn ein besonders schwerer Brecher gegen ihren Panzer +tobte, zuckte sie mit den Schultern, als wolle sie ihn abschütteln. Sturm +war gar nicht. Der Aufruhr lag nur in der schweren See. Es sah auch +nicht danach aus, als ob Sturm aufkommen würde. Nicht in den nächsten +sechs Stunden. +</p> + +<p> +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Dann graute der Himmel. Die Sonne ging auf. Frisch gewaschen stieg sie +aus ihrem Seebade empor zu den weiten Höhen. +</p> + +<p> +Zuerst lugten wir aus über die See. Es war nichts zu sehen. Kein Mann +schien übrig zu sein. Daß irgendeiner aufgepickt worden war, glaubte +ich nicht; auch Stanislaw bezweifelte es. Wir hatten kein Schiff passieren +sehen. Außerdem lagen wir nicht in der Route. Der Skipper war +herausgegangen, um nicht abermals von Patrouillen oder Passanten gesehen +zu werden. Der Spaß war für ihn teuer geworden. Er hatte an +eine ruhige friedliche Abwicklung des Geschäfts gedacht. Daß er vom +Quartier keinen Mann mitbekommen würde, damit hatte er nicht gerechnet. +Wären die beiden Boote richtig bemannt gewesen, hätte das ein +Vergnügen sein müssen, klar abzukommen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-4"> +47 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> es völlig hell geworden war, versuchten wir, den +Korridorschacht hinabzuklettern. Mit einiger Sorgfalt +ging es auch. Wir benutzten die Türen zu den +einzelnen Kabinen und die Wandrippen als Sprossen, +und so ging es viel rascher und schneller, als wir gedacht +hatten. +</p> + +<p> +Auf dem Boden des Schachtes befanden sich die +beiden Kabinen des Skippers. Ich fand einen Taschen-Schiffskompaß, +den ich gleich mit Beschlag belegte, aber Stanislaw anvertraute, +weil ich keine Tasche hatte, wo ich ihn aufbewahren konnte. +Es waren auch zwei kleine Wassertanks in der Kabine, einer diente +für Waschwasser und einer für Trinkwasser. Um Wasser waren wir +nun für einige Tage nicht verlegen, denn ob die Pumpen in der Galley +würden Wasser ziehen können, mußten wir erst noch ausprobieren. +Vielleicht war der Frischwassertank überhaupt schon ausgelaufen. +</p> + +<p> +Auf der Yorikke hatten wir ja jedes Plätzchen gewußt, wo was zu holen +war. Hier mußten wir erst damit beginnen, alles zu suchen. Aber +Stanislaw hatte eine gute Nase und hatte die Vorratskammer, die +Pantry, im Augenblick entdeckt, sobald nur die Frage nach dem Frühstück +auftauchte. Verhungern konnten wir zwei Mann innerhalb der +nächsten sechs Monate nicht. Und wenn wir genügend Wasser noch +hatten, ließ es sich für eine Weile aushalten. In der Pantry waren +mehrere Kasten mit Mineralwasser, Bier und Wein. Ganz schlimm +konnte es nicht werden. +</p> + +<p> +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +Der Kochherd wurde auch wieder aufgerichtet, und so konnten wir +auch kochen. Wir probierten die Pumpen für Frischwasser aus. Die +eine zog nicht an, dagegen um so besser die andre. Das Wasser war +noch etwas trüb von dem aufgerüttelten Schlamm, der sich am Boden +festgesetzt hatte, aber das würde sich nach einem Tage schon geben. +</p> + +<p> +Mir wurde übel zumute, und auch Stanislaw zeigte Unbehagen. +</p> + +<p> +„Mensch,“ sagte er mit einemmal, „was sagst du dazu, ich werde seekotzig. +Verflucht nochmal, das ist mir denn doch noch nicht passiert.“ +</p> + +<p> +Ich konnte mir das nicht erklären, denn mir wurde immer kläglicher zumute, +während der Eimer doch ziemlich still stand. Das Herantoben der +Brecher und das gelegentliche Erzittern des Eisenkolosses konnte ein so +erbärmliches Gefühl doch nicht auslösen. +</p> + +<p> +„Nun kann ich dir sagen, was los ist, Stanislaw“, gab ich nach einer +Weile zur Antwort. „Die verrückte Lage der Kabinen ist es, was uns +kotzig macht. Alles steht schräg und steil. Da muß man sich erst daran +gewöhnen.“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, du hast recht“, meinte er, und sobald wir draußen waren +im Freien, war das üble Empfinden sofort weg, obgleich einem auch die +ganze Lage des Schiffes, die so blödsinnig toll zum Horizont stand, auf +das Gleichgewichtsempfinden schlug. +</p> + +<p> +„Siehst,“ sagte ich jetzt zu ihm, als wir draußen saßen und des Skippers +gute Zigarren rauchten, „es ist nur die Einbildung, nichts weiter. Ich +bin sicher, wenn wir einmal heraus haben, was in unserm Leben alles +Einbildung und was Tatsache ist, werden wir noch recht sonderbare +Dinge lernen und die ganze Welt von einem andern Gesichtswinkel aus +betrachten. Wer weiß, welche Folgen das haben kann.“ +</p> + +<p> +So sehr wir auch Ausschau hielten, ein Schiff war nicht zu sehen. Nicht +einmal eine Rauchfahne konnten wir erblicken. Wir lagen zu weit +außerhalb der üblichen Fahrstraßen. +</p> + +<p> +„Wir können hier das schönste Leben führen, das wir je geträumt +haben,“ philosophierte Stanislaw, „haben alles, was wir uns nur wünschen, +können essen und trinken, was wir wollen und soviel wir wollen, +kein Mensch stört uns, und arbeiten brauchen wir auch nicht. Trotzdem +möchten wir fort, je rascher, je lieber, und wenn kein Eimer uns abholen +kommt, müssen wir doch bald sehen, runter zu kommen und versuchen, +die Küste zu machen. Immer jeden Tag dasselbe, das ist es, was +man nicht ertragen kann. Ich denke mir manchmal, auch wenn es wirklich +ein Paradies geben würde, was ich ja nicht glaube, weil ich mir +nicht vorstellen kann, wo die Reichen hingehen, ich würde nach drei +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +Tagen im Paradiese eine gräßliche Gotteslästerung verüben, nur um +wieder rauszukommen und nicht immerfort fromme Lieder singen zu +müssen und zwischen alten Betschwestern und Pfaffen und Muckern +zu sitzen.“ +</p> + +<p> +Da mußte ich aber doch lachen: „Habe nur ja keine Bange, Stanislaw, +wir beide kommen nicht da rein. Wir haben ja keine Papiere. Und +kannst dich heilig drauf verlassen, die verlangen da oben auch Papiere, +Pässe und Taufzeugnisse von dir, und wenn du die nicht beibringen +kannst, machen sie dir die Türe vor der Nase zu. Frag’ nur den Pfaffen, +er wird es dir sofort bestätigen. Mußt Heiratslizenz beibringen, kirchlichen +Trauschein, Taufschein, Konfirmationsschein, Firmungsschein, +Kommunionsstempel und Beichtzettel. Ginge das da oben so glatt ohne +Papiere, wie du dir das zu denken scheinst, brauchten die hier unten ja +keine ausstellen. Auf die Allwissenheit scheinen sie sich nicht zu verlassen, +besser ist es schon, man hat es schwarz auf weiß und ordnungsmäßig +abgestempelt. Wird dir jeder Pfaff erzählen, daß der Torwächter +da oben ein großes Bund mit Schlüsseln hat. Wozu? Zum Abschließen +der Türen, damit nicht doch vielleicht einer ohne Visa über die Grenze +schleichen kann.“ +</p> + +<p> +Stanislaw saß eine Weile still und sagte dann: „Merkwürdig, daß ich +gerade so drauf komme, aber die ganze Geschichte hier will mir nicht +recht gefallen. Es geht uns viel zu gut. Und wenn es einem so ganz ausnahmsweise +gut geht, so ist etwas nicht in Ordnung. Ich kann das nicht +vertragen. Es ist immer, als ob man auf Mastkur geschickt wird, weil +eine besonders schwierige Sache auf einen wartet, die man ohne jene +gute Vorbereitung und Erholung sonst nicht bewältigen kann. War bei +der K. M. auch so. Immer wenn was Besonderes bevorstand, gab es vorher +ein paar gute Tage. War auch so, ehe wir rauf nach Skagen +glitschten.“ +</p> + +<p> +„Da redest du aber nun einmal richtigen Kohlgulasch“, sagte ich zu ihm. +„Wenn dir ein gebratenes Hühnchen ins Maul fliegt, dann spuckst du es +wieder aus, nur damit es dir nicht gut gehen soll. Die schwierige Sache +kommt ganz von selbst, verlaß dich drauf. Um so besser, wenn du vorher +in der Sommerfrische warst. Wenn du eine Mastkur hinter dir hast, +dann kannst du die schwierige Sache unterkriegen, andernfalls kriegt +sie vielleicht dich unter.“ +</p> + +<p> +„Verflucht, du hast recht“, rief Stanislaw nun wieder gutgelaunt. „Ich +bin ein altes Schaf. Ich habe sonst auch noch nie solche blöden Gedanken +gehabt. Gerade heute. Es kam mir so, als ich dachte, vorn im Quartier, +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +oder ich muß ja eigentlich sagen: da unten zu unsern Füßen, da liegen +die Burschen alle schwimmend hinter der Tür, auf demselben Kasten +wie wir. Weißt, Pippip, man soll keine Leiche auf einem Kasten fahren, +das bringt den Gast herbei. Ein Schiff ist lebendig, das mag keine +Leichen in der Nähe haben. Als Fracht, meinetwegen. Das ist etwas +andres. Aber nicht so herumliegende, so herumschwimmende Leichen.“ +</p> + +<p> +„Können wir doch nicht ändern“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Das ist es gerade, was ich meine“, antwortete Stanislaw. „Wir können +es nicht ändern. Und das ist das Schlimme. Alle die andern sind abgerasselt. +Wir beide sind allein noch übrig. Da stimmt etwas nicht.“ +</p> + +<p> +„Nun will ich dir etwas sagen, Stanislaw, wenn du mit dieser blöden +Pinselei nicht aufhörst, dann – nein, runterschmeißen will ich dich +nicht, wirst es dir ja auch nicht gefallen lassen. Aber dann rede ich mit +dir keine Silbe mehr, und wenn ich dadurch meine Sprache verlernen +sollte. Dann wohnst du im Steuerbordschacht und ich im Backbordschacht +und jeder geht seine eignen Wege. Solange ich am Leben bin, +will ich mir nichts vom Gast vorjaulen lassen. Da habe ich später, wenn +es mal so weit ist, noch Zeit genug dazu. Und wenn du nun meine +Meinung wissen willst, warum wir beide gerade übriggeblieben sind, +so ist das ganz klar und zeigt wieder einmal, wie gerecht alles zugeht in +der Welt. Wir gehörten nicht zu der Mannschaft. Wir waren gestohlen. +Wir haben der Empreß von Madagaskar nie etwas getan und wollten +ihr auch nie etwas tun. Niemand weiß das so gut wie sie. Das ist der +Grund, warum sie uns nicht mitgenommen hat.“ +</p> + +<p> +„Warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt, Pippip?“ +</p> + +<p> +„Ja, was denkst du denn von mir, ich bin doch nicht dein königlicher +Ratgeber. So etwas weiß man doch von selbst und hat es im Gefühl.“ +</p> + +<p> +„Jetzt gehe ich mich besaufen“, sagte nun Stanislaw. „Ist mir ganz egal. +Na, ich will ja nicht sagen besaufen, aber doch einen gesunden hieven. +Wer weiß, vielleicht kommt doch bald ein Kasten vorbei und holt uns +über. In meinem Leben könnte ich es mir dann nicht vergeben, daß ich +hier das alles zurückgelassen habe, ohne es mal durchzukosten.“ +</p> + +<p> +Warum sollte denn Stanislaw das Vergnügen allein genießen? +</p> + +<p> +Es begann jedenfalls jetzt eine Schlemmerei, die sich selbst der Skipper +nie auf einen Sitz erlaubt haben würde. +</p> + +<p> +Es war ja alles so schön da in Büchsen. Salm von British Columbia, +Wurst von Bologna, Hähnchen, Hühnerfrikassee, Pasteten, Zungen aller +Art, ein Dutzend verschiedene eingemachte Früchte, zwei Dutzend verschiedene +Sorten Jam, Biskuits, Gemüse der besten Auslesen, Liköre, +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +Schnäpse, Weine, Ales, Stouts, Pilsener. Die Kapitäne, Offiziere und +Ingenieure wissen sich das Leben angenehm zu machen. Aber wir +waren jetzt die Besitzer und die Esser, während die früheren Esser jetzt +schwammen und gegessen wurden, um die Fische fett zu machen. +</p> + +<p> +Den folgenden Tag war es sehr diesig und dunstig. Wir konnten kaum +eine halbe Meile weit sehen. +</p> + +<p> +„Wir kriegen schweres Wetter“, sagte Stanislaw. +</p> + +<p> +Am Abend kam es auf. Schwerer und schwerer. +</p> + +<p> +Wir saßen in des Skippers Kabine bei einer Petroleum-Notlaterne. +</p> + +<p> +Stanislaw machte ein besorgtes Gesicht: „Wenn die Empreß abhaut +oder runterbricht vom Riff, dann sind wir geliefert, Junge. Wir wollen +uns mal schon beizeiten umsehen.“ +</p> + +<p> +Er fand etwa drei Meter Tauende, das er sich um den Leib band, um es +zur Hand zu haben. Alles, was ich finden konnte, war eine halb aufgebrauchte +Rolle Bindfaden, kaum so stark wie ein Bleistift. +</p> + +<p> +„Wir klettern besser den Schacht hoch“, schlug Stanislaw vor. „Hier +drinnen sitzen wir in der Falle, wenn der Rummel losgeht. Oben hat +man immer noch eine Möglichkeit, abzukommen.“ +</p> + +<p> +„Wenn du oben in die Wicken gehen sollst, dann gehst du oben, und +wenn du unten vor die Fische gehen sollst, dann unten“, sagte ich. „Eins +wie das andre. Wenn du vom Auto überfahren werden sollst, dann +springt es rüber zum Schaufenster, vor dem du stehst, brauchst dem +Auto gar nicht nachzulaufen oder in den Weg zu rennen.“ +</p> + +<p> +„Du bist mir einer. Wenn du im Wasser ersaufen sollst, dann kannst du +ruhig deinen Hals auf die Eisenbahnschienen legen und der Expreß +springt über dich weg wie ein Luftschiff. Daran glaube ich nicht. Ich +lege meinen Hals nicht auf die Schienen. Ich gehe rauf und sehe zu, +was geschieht.“ +</p> + +<p> +Er kletterte den Korridorschacht hinauf, und da mir einleuchtete, daß +er recht habe, kletterte ich hinterher. +</p> + +<p> +Dann saßen wir wieder oben auf der Achternwand von Mittschiff, dicht +nebeneinander. Wir mußten uns an den Beschlägen festhalten, sonst +hätte uns der Sturm hinuntergeschleudert. +</p> + +<p> +Immer mehr kam das Wetter in Aufruhr. Schwere Brecher wüteten +gegen die unter uns liegende Vorfront von Mittschiff und brandeten +gegen die Skipperkabinen. +</p> + +<p> +„Wenn das die ganze Nacht so fortgeht“, sagte Stanislaw, „dann ist +morgen früh von der Kabine nichts mehr übrig. Ich glaube sogar stark, +die Brecher holen das ganze Mittschiff ab. Dann bleiben uns nur noch +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +die Kammern im Stern und der Maschinenraum, wo die Rudermaschine +steht. Dann gute Nacht Essen und Trinken. Da findet keine Maus was.“ +</p> + +<p> +„Vielleicht besser, wir klettern jetzt schon rauf“, riet ich, „denn wenn +das Mittschiff abrasselt, haben wir keine Zeit mehr. Dann schwimmen +wir auch schon.“ +</p> + +<p> +„So mit einem Hieb haut das Mittschiff nicht ab,“ erklärte nun Stanislaw, +„das geht in Stücken zum Teufel. Und wenn unten eine Wand +losbricht, haben wir Zeit genug, raufzuklettern.“ +</p> + +<p> +Stanislaw hatte recht. +</p> + +<p> +Aber das Recht ändert sich durch wechselnde Verhältnisse. Es gibt +nichts, das nicht einmal Recht gewesen ist. Man darf das Recht nur nicht +einpökeln wollen und erwarten, daß es in hundert Jahren noch immer +Recht, vielleicht gar dasselbe Recht sein werde. +</p> + +<p> +Stanislaw hatte ganz gewiß recht. Aber einige Minuten später hatte er +schon nicht mehr recht. +</p> + +<p> +Drei gigantische Brecher, von denen jeder folgende immer zehnfach +schwerer und stärker zu sein schien als der vorangegangene, wüteten +mit donnerndem Gebrüll, als wollten sie die ganze Erde verschlingen, +gegen die Empreß. +</p> + +<p> +Das tobende Gebrüll der Brecher und der nachziehenden Brandungswogen +war ein drohendes Wutgeheul gegen die Empreß, die es wagte, +ihnen auf diesem Riff so lange Trotz zu bieten. +</p> + +<p> +Der dritte Brecher brachte die steil hochgeworfene Empreß zum +Schwanken. Aber sie stand noch. Doch wir beide hatten es im Gefühl, +sie ist los, sie steht nicht mehr fest wie ein Turm. +</p> + +<p> +Die Brecher ebbten ab, um auszuholen für die nächsten drei. +</p> + +<p> +Der tosende Sturm jagte die schweren Wolken gleich Fetzen am Nachthimmel +dahin. Zuweilen öffnete sich ein Loch in diesem schweren Wolkentoben, +und man erblickte für einige Sekunden ein paar klare +glänzende Sterne, die in diesen schwarzen, heulenden, brüllenden, +tobenden und brandenden Aufruhr empörter Elemente herunterriefen: +</p> + +<p class="ibr"> +„Wir sind Friede und Ruhe für dich, für uns aber sind wir umlodert +von den Flammen des Schöpfens, des Gebärens und der Rastlosigkeit. +Fliehe nicht zu den Sternen, wenn du Ruhe suchst und Frieden. Was +du nicht in dir trägst, wir können es dir nicht geben!“ +</p> + +<p> +„Stanislaw!“ schrie ich laut, obgleich er doch an meiner Seite saß, „die +Brecher kommen zurück. Jetzt gilt’s. Die Empreß fegt ab.“ +</p> + +<p> +Ich sah den ersten Brecher in dem schwachen Sternenlicht herankommen +wie ein unmeßbar riesenhaftes schwarzes Ungetüm. +</p> + +<p> +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +Er peitschte hoch und peitschte mit seinen nassen Tatzen über uns +hinweg. +</p> + +<p> +Wir hatten gut festgehalten, aber die Empreß hob sich und wand sich +in den Krallen des Riffs, als ob sie schwere Schmerzen erdulde. +</p> + +<p> +Der zweite Brecher kam auf, nahm uns den Atem weg für eine lange +Zeit, und ich hatte das Empfinden, ich sei ins Meer geschleudert. Aber +ich saß noch fest. +</p> + +<p> +Die Empreß jedoch kreischte, als ob sie zu Tode verwundet würde. Sie +drehte sich noch weiter herum in ihrem Schmerz und schwankte im +Stern zurück, krachend, polternd und dröhnend, bis sie nicht mehr steil +stand, sondern schräg. Außerdem legte sie sich auch noch nach Steuerbord +über. +</p> + +<p> +Mittschiff war durch die Brecher jetzt so voll Wasser gelaufen, daß +alles verdorben sein mußte, was nicht in Büchsen eingelötet war. Aber, +was in Mittschiff vor sich ging, war in mir nur wie ein ganz ferner +dünner Gedanke. +</p> + +<p> +„Stanislaw, Junge!“ brüllte ich. +</p> + +<p> +Ob er ebenfalls gebrüllt hatte, weiß ich nicht. Sicher hatte auch er es +getan. Aber zu hören war ja nichts. +</p> + +<p> +Der dritte Brecher, der schwerste dieses Zuges, war herangestürmt. +</p> + +<p> +Die Empreß war bereits verschieden, als wäre sie vor Schreck gestorben. +Der dritte Brecher, obgleich er mit donnerndem Branden herangejagt +kam, nahm den Leichnam der Kaiserin von Madagaskar leicht +auf wie eine leere Seidenhülle. Er tat es trotz seines rauhen Tobens +kosend und streichelnd. Er hob den Leichnam hoch, drehte ihn der +ganzen Länge nach in einem Halbkreise herum und ohne ihn noch einmal +auf den Fels krachen zu lassen und sich an dem Brechen der +Knochen zu erfreuen, legte er ihn sanft und zärtlich auf die Seite. +</p> + +<p> +„Spring weg und schwimm, Pippip, sonst kommen wir in den +Schlucker,“ schrie Stanislaw. +</p> + +<p> +Schwimm mal, wenn du eben eins über die Arme gekriegt hast von +einem herumpfeifenden Lademast oder was es sein mochte. +</p> + +<p> +Aber ob ich schwimmen konnte oder nicht wollte, kam gar nicht in +Frage. Der Nachzieher des letzten Brechers hatte mich abgeschwemmt +und weit genug, um nicht vom Schlucker gefaßt zu werden. Ein paar +Minuten würde die Empreß ja noch machen, ehe sie endgültig wegschluckt +und strudelt. Das Achterschiff hat ja noch kaum Wasser gekriegt. +</p> + +<p> +„Hoiho!“ hörte ich jetzt Stanislaw schreien. „Wo steckst du?“ +</p> + +<p> +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +„Komm, hier. Ich klebe gut. Platz genug“, brüllte ich hinaus in die +Finsternis. „Hallo. Hier. Hoiho!“ Immer wieder rief ich es, um Stanislaw +die Richtung zu geben. +</p> + +<p> +Er kam auch immer näher. Endlich hatte er gepackt und kletterte hoch. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-5"> +48 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">as</span> ist denn das, wo wir drauf sind?“ fragte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Weiß ich selbst nicht. Mit einemmal war ich drauf, +weiß gar nicht, wie es zuging. Ich denke, daß es eine +Wand vom Ruderhaus ist. Hier sind die Haltegriffe +überall.“ +</p> + +<p> +„Sicher. Ist vom Ruderhaus“, bestätigte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Gut, daß die Esel noch nicht alles aus Eisen machen +und manchmal noch ein paar Stückchen Holz übriglassen. +In den alten Schwarten siehst du immer den Schiffsjungen an +einen Mast angeklammert, auf dem er sich rettet und mit dem er losschwimmt. +Das ist heute aus. Die Masten sind auch schon aus Eisen, +und wenn du dich dran festklammerst, kannst du dir auch ebenso gut +einen Stein an den Bauch hängen. Wenn du wieder mal so ein Bild +siehst, dann sag ruhig, der Maler ist ein Schwindler.“ +</p> + +<p> +„Du hast aber einen Redefluß unter diesen verdammten Umständen +hier“, kritisierte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Ja, du Esel, soll ich denn hier jammern und Trauer flöten? Wer weiß, +ob ich dir in einer Viertelstunde noch erzählen kann, daß man sich heute +nicht mehr auf Maste verlassen darf. Und das muß gesagt werden, denn +das ist wichtig.“ +</p> + +<p> +„Bürsten und Bimsstein, da sind wir ja nochmal glatt davongekommen“, +rief er nun. +</p> + +<p> +„Kreuzverhagelt nochmal“, schrie ich ihn an. „Halt dein gotteslästerliches +Maul, verflucht nochmal. Schreist ja das ganze Gesindel heran. +Wenn du im Trocknen sitzt, dann freu’ dich im stillen, aber schrei es +nicht raus so unverschämt. Ich gebe mir die größte Mühe, das in unauffälliger +und höchst eleganter Form zu sagen und vornehm zu umschreiben, +was ich meine, und du Prolet brüllst das glatt hinaus.“ +</p> + +<p> +„Rede nicht so große Töne. Jetzt ist doch alles egal, ist doch alles im –.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Mit diesem Stanislaw ist nichts zu erreichen, die Redewendungen, die +er zuweilen braucht, werden mich noch veranlassen, seine Gesellschaft +zu meiden. +</p> + +<p> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +„Alles egal?“ wiederholte ich. „Ich denke ja gar nicht dran. Alles egal +ist blöd. Es ist nie etwas egal. Jetzt geht das Vergnügen ja erst richtig +los. Bisher haben wir uns nur um Papiere herumgeschlagen, dann mit +dem Rattenfraß, dann wieder mit den verfluchten Rosten. Jetzt geht es +endlich um den letzten Atemzug, mit dem wir uns herumzuschlagen +haben. Alles übrige, was ein Mensch haben kann, ist weg. Alles, was +wir noch haben, ist der Atem. Und so schnell und willig laß ich mir den +nicht auch noch wegnehmen.“ +</p> + +<p> +„Ein Vergnügen denke ich mir aber anders“, sagte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Sei nicht undankbar, Lawski. Ich sage dir, es ist ein höllisches Vergnügen, +sich mit den Fischen um den Bissen zu prügeln, wenn man der +Bissen sein soll.“ +</p> + +<p> +Stanislaw hatte natürlich durchaus recht. Es war kein Vergnügen. Man +mußte sich ankrallen an den Handgriffen wie toll, um nicht runtergeschwemmt +zu werden. Die Brecher fühlte man nicht so hart auf der +schwimmenden Wand hier wie auf dem Schiff, weil die Brecher die +Wand mit hoch nahmen und nicht in voller Wucht darüber hinwegbrandeten. +Aber getaucht wurden wir doch oft genug, damit wir auch +nicht vergessen sollten, wo wir waren. +</p> + +<p> +„Ich denke, wir müssen nun etwas tun“, sagte ich. „Meine Arme sind so +zerknüppelt, ich kann nicht mehr lange halten.“ +</p> + +<p> +„Wollen wir festlegen“, sagte Stanislaw. „Ich gebe dir hier mein Tauende, +und ich nehme deinen Bindfaden. Ich kann schon besser halten. +Der Bindfaden ist ja lang genug, daß man ihn dreifach nehmen kann.“ +</p> + +<p> +Stanislaw half nun, mich mit dem Tau festzuholen; ich konnte es mit +meinen lahmen Armen nicht gut allein tun. Dann band er sich ebenfalls +fest, und wir warteten nun auf die Geschehnisse. +</p> + +<p> +Keine Nacht ist so lang, daß sie nicht endlich doch vorübergeht und dem +Tage weichen muß. +</p> + +<p> +Mit dem neuen Tage ließ das schwere Wetter nach, aber der hohe Seegang +blieb. +</p> + +<p> +„Siehst du was von Land?“ fragte Stanislaw. +</p> + +<p> +„Nein. Ich wußte es ja, so leicht werde ich kein Entdecker neuer Erdteile. +Wenn nichts vor der Nase liegt, sehe ich keins.“ +</p> + +<p> +Plötzlich sagte Stanislaw: „Mensch, ich habe ja den Kompaß. War gut, +daß du ihn fandest.“ +</p> + +<p> +„Ja, ein Kompaß ist eine feine Sache, Lawski. Können wir immer sehen, +in welcher Richtung die afrikanische Küste liegt. Aber ein Segel wäre +mir lieber als zehn Kompasse.“ +</p> + +<p> +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +„Kannst nichts mit einem Segel machen auf dem Brett.“ +</p> + +<p> +„Warum nicht? Wenn Seebrise auf Land geht, gehen wir mit.“ +</p> + +<p> +„Wir werden wohl woandershin mitgehen, Pippip.“ +</p> + +<p> +Am Nachmittag wurde es wieder diesig und ein leichter Nebel legte sich +über die See. Er wirkte beruhigend auf das Toben des Meeres. +</p> + +<p> +Die unermeßliche Weite der See wurde immer kleiner. Bald hatten wir +die Täuschung, daß wir nur auf einem Binnensee seien. Dann wurde +auch der See kleiner und kleiner und endlich glaubten wir, auf einem +Flusse dahinzugleiten. Es schien, als ob wir die Ufer mit den Händen +ergreifen könnten, und ehe wir einschliefen, sagte bald Stanislaw, bald +ich: „Da ist das Ufer, laß uns runtergehen und das kleine Stückchen +rüberschwimmen. Kannst es ganz deutlich sehen, es sind noch keine +hundert Schritt.“ +</p> + +<p> +Aber wir waren zu müde, um uns loszubinden und diese hundert +Schritte zu schwimmen. +</p> + +<p> +Wir sprachen dann kaum noch und schliefen ein. +</p> + +<p> +Als ich erwachte, war es Nacht. +</p> + +<p> +Der dunstige Nebel lag noch immer auf dem Meer. Aber hoch in den +Lüften sah ich Sterne funkeln. Zu beiden Seiten sah ich die Ufer des +Flusses, auf dem wir hinglitten. Zuweilen wurde an einem der Ufer +der Nebel dünner, und ich sah die tausende funkelnden Lichter des +nahen Hafens. Es war ein großer Hafen. Er hatte hohe Wolkenkratzer +und Miethäuser, deren Fenster alle erleuchtet waren. Und hinter den +Fenstern saßen die Leute traulich beisammen und wußten nichts davon, +daß hier auf dem Flusse zwei Tote dahinglitten. +</p> + +<p> +Und die Wolkenkratzer und die hohen Wohnhäuser wuchsen und wuchsen. +Welch ein gewaltiger Hafen war es, an dem wir vorüberglitten. +Immer höher und höher wuchsen die Wolkenkratzer bis sie endlich den +Himmel erreichten. Und die tausende funkelnden Lichter des Hafens, +der Wolkenkratzer und der traulichen Wohnhäuser, wo man nichts +wußte von den vorübergleitenden Toten, waren wie Sterne des Himmels. +Und oben steil über meinem Haupte trafen die Wolkenkratzer +zusammen, und ich sah ihre Fenster leuchten, und ich hoffte, die Gebäude +möchten zusammenbrechen und mich unter sich begraben. Es +war die große Sehnsucht des Toten, begraben zu werden und nicht mehr +wandern zu müssen. +</p> + +<p> +Ich bekam Angst und rief: „Stanislaw. Da ist ein großer Hafen. Sieht +aus wie New York.“ +</p> + +<p> +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +Stanislaw wurde munter, guckte sich um, sah durch den dünnen Nebel +zu den Ufern des Flusses, rieb sich die Augen, guckte hoch über sich und +sagte dann: „Du träumst, Pippip, die Lichter des großen Hafens sind +Sterne. Da ist auch kein Ufer. Wir sind auf hoher See. Spürst du doch +an den langen Wellen.“ +</p> + +<p> +Er konnte mich nicht überzeugen. Ich wollte nun doch zum Ufer schwimmen +und den großen Hafen erreichen. Aber als ich das Tau lösen wollte, +fielen mir die Hände schlaff herunter, und ich schlief ein. +</p> + +<p> +Durst und Hunger machten mich wach. Es war Tag. +</p> + +<p> +Stanislaw sah mich an mit verquollenen Augen. Mein Gesicht war verkrustet +von dem Salzwasser. Ich bemerkte, wie Stanislaw würgte, als +wollte er seine eigne Zunge kauen oder als sei sie ihm im Wege und lege +sich vor die Luftröhre. +</p> + +<p> +In seinen Augen glomm Wut auf, und er rief mit rauher Stimme: „Du +hast immer gesagt, das Wasser auf der Yorikke stinkt. Das ist nicht +wahr. Das ist Quellwasser, ganz frisches, klares Quellwasser aus dem +Tannenwalde.“ +</p> + +<p> +„Das Wasser stank nie,“ bestätigte ich, „das Wasser war Eiswasser. Und +der Kaffee war guter Kaffee. Ich habe nie etwas gegen den Kaffee auf +der Yorikke gesagt.“ +</p> + +<p> +Stanislaw schloß die Augen. Doch nicht lange darauf schreckte er zusammen +und schrie: „Zwanzig vor fünf, Pippip, raus. Hol’ das Frühstück. +Hiev die Asche. Das Frühstück zuerst. Pellkartoffeln und Rauchhering. +Den Kaffee. Viel Kaffee. Bring Wasser mit.“ +</p> + +<p> +„Ich kann nicht aufstehen“, gab ich ihm zur Antwort. „Bin gebrochen. +Zu müde. Mußt heute allein hieven. Wo ist denn der Kaffee?“ +</p> + +<p> +Wie war das? Ich hörte Stanislaw schreien, aber er war zwei Meilen +fort. Und meine Stimme war auch zwei Meilen weit fort von mir. +</p> + +<p> +Nun brachen auch noch drei Feuertüren auf und die Hitze war nicht zu +ertragen. Ich lief zur Windhuze, um Atem zu schöpfen. Aber der +spanische Heizer schrie: „Pippip, die Feuertüren zu, der Dampf fällt.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Aller Dampf fiel in den Kesselraum, und es wurde immer heißer. Ich +lief zum Trog, wo das Schlackenlöschwasser drin war, um meinen Durst +zu löschen, aber es schmeckte salzig und widerlich. Ich schnappte und +schnappte und trank es wieder, und der Feuerungskanal stand ganz +weit offen über meinem Kopfe am Himmel und war die Sonne, und ich +trank Seewasser. +</p> + +<p> +Dann schlief ich wieder ein und die Türen der Feuerkanäle waren geschlossen +und der Heizer goß den Trog mit dem Schlackenwasser über +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +den Kesselraum, und ich war auf dem offnen Meer und ein Wellenkamm +war über die Wand hinweggebrochen. +</p> + +<p> +„Da ist die Yorikke!“ schrie Stanislaw viele Meilen weit fort von mir. +„Das ist das Totenschiff. Der Hafen. Der Norweger liegt da. Er hat Eiswasser. +Siehst du nicht, Pippip?“ +</p> + +<p> +Mit beiden Armen, die Fäuste geballt, deutete Stanislaw über das weite +Meer. +</p> + +<p> +„Wo ist die Yorikke?“ rief ich. +</p> + +<p> +„Siehst du sie denn nicht, Mensch? Da liegt sie ja. Sechs Roste sind rausgefallen. +Verflucht. Jetzt acht. Himmelkreuzdonnerwetter! Wo ist der +Kaffee, Pippip? Habt ihr wieder alles weggesoffen. Das ist keine +Schmierseife, du Hund, das ist Butter. Gib den Tee jetzt her, verflucht +nochmal.“ +</p> + +<p> +Stanislaw fuhr herum, bald zeigte er in diese Richtung, bald in jene. +Immer fragte er, ob ich denn die Yorikke und den Hafen nicht sähe. +</p> + +<p> +Aber mir war das gleichgültig. Es tat mir weh, den Kopf nach dem +Hafen zu drehen. +</p> + +<p> +„Wir kommen ab! Wir kommen ab!“ brüllte nun Stanislaw. „Ich muß +rüber zur Yorikke. Die Roste sind alle raus. Der Heizer liegt im Kessel. +Wo ist das Wasser? Habt ihr denn keinen Kaffee mehr für mich gelassen? +Ich muß rüber, rüber, rüber.“ +</p> + +<p> +Er zerrte nun an dem Bindfaden, um ihn zu lösen. Er konnte aber die +Knoten nicht öffnen. Er drehte wie unsinnig an den Knoten und verknotete +sie immer mehr. +</p> + +<p> +„Wo ist die Schaufel?“ rief er. „Ich muß das Tau kappen.“ +</p> + +<p> +Aber der Bindfaden hielt nicht lange. Stanislaw zerrte, riß und scheuerte +mit solcher Kraft an den dreifach gedrehten Verschnürungen, daß er +sich immer weiter daraus hervorwinden konnte. Die letzten Stringe +riß er durch. +</p> + +<p> +„Die Yorikke fährt weg. Schnell, Pippip. Der Norweger hat Eiswasser. +Er winkt mit der Kanne. Ich bleibe nicht auf dem Totenschiff.“ +</p> + +<p> +Immer wilder brüllte Stanislaw. +</p> + +<p> +Er hing nur noch am Fuß fest, und jetzt zerrte er auch dort die +Stringe los. +</p> + +<p> +Ich sah das alles in meilenweiter Ferne, wie auf einem Bilde oder durch +ein Fernrohr. +</p> + +<p> +„Da ist die Yorikke. Der Skipper tippt an die Mütze.“ Stanislaw rief +es und sah mich an mit starren Augen. „Komm rüber, Pippip. Tee und +Rosinenstollen mit Kakao und Wasser.“ +</p> + +<p> +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +Ja, da lag die Yorikke. Ich sah sie deutlich liegen. Erkannte sie an +ihrem bunten närrischen Kleide und an ihrer Brücke, die immer in der +Luft hängen blieb und von irgendeinem Schiff zurückgelassen worden +war, das sie nichts anging. +</p> + +<p> +Da war die Yorikke, und jetzt hatten sie Frühstück oder Abendessen +oder Pflaumen in blauem Stärkeschleim. Der Tee war nicht schlecht. +Das war Lüge und Verleumdung. Der Tee war gut auch ohne Zucker +und Milch. Und das Trinkwasser stank nicht. +</p> + +<p> +Ich begann, an meinem Tau zu knoten. Aber ich bekam den Knoten +nicht auf. Dann rief ich Stanislaw, er möge mir helfen, den Knoten aufzuziehen. +Aber er hatte keine Zeit. Er wurde mit seinem Fuße nicht +fertig und arbeitete wie toll, um den Fuß loszukriegen. Nun gehen auch +noch die Wunden auf, die man ihm auf dem Kopfe geschlagen hatte. +Das Blut sickert über sein Gesicht, aber er läßt sich nicht stören. +</p> + +<p> +Und ich zerrte und zerrte an meinen Banden. Aber das Tau war zu +dick. Ich konnte es nicht durchscheuern und konnte meine Glieder nicht +herauswinden. Ich verstrickte mich immer mehr. Dann suchte ich nach +der Axt, nach dem Messer und endlich nach der Schaufel, die wir glatt +geklopft hatten, um einen hölzernen Mast daraus zu machen, aber der +Kompaß fiel immer wieder ins Wasser, und ich mußte ihn mit dem +durchgebrannten Rost fischen. Das Tau gab nicht nach. Der Knoten zog +sich immer fester. Das versetzte mich in namenlose Wut. +</p> + +<p> +Stanislaw hatte seinen Fuß jetzt los. +</p> + +<p> +Er drehte sich halb um nach mir und rief: „Komm rüber, Pipplaw. Sind +nur zwanzig Schritte zu laufen. Die Roste sind alle raus, und es ist +Wasserminute vor fünf. Aufstehen. Rasch auf. Raus. Asche hieven.“ +</p> + +<p> +Aber die Aschenhieve kreischte: „Da ist keine Yorikke!“ Und ich schrie, +so laut ich konnte: „Da ist keine Yorikke! Da ist keine Yorikke! Da ist +keine Yorikke!“ +</p> + +<p> +Ich klammerte mich an das Tau in furchtbarer Angst; denn die Yorikke +war fort, und ich sah nur Meer, Meer, sah nichts als die gleichmäßigen +Wogen der See. +</p> + +<p> +„Stasinkowslow, spring nicht!“ Ich schrie es in namenloser Angst; denn +ich konnte seinen Namen nicht finden, der mir aus der Hand gerutscht +war. „Stanislaw, nicht springen! Nicht springen! Nicht. Bleib hier!“ +</p> + +<p> +„Die holt den Anker ein. Ich gehe nicht auf ein Totenschiff. Ich renne +rüber zur Yorikke. Renne, ich renne, renne. Rüber. Komm!“ +</p> + +<p> +Und er sprang. Er sprang. Da war kein Hafen. Da war kein Schiff. Da +war kein Ufer. Alles See. Alles Wogen. +</p> + +<p> +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +Er tat nur ein paar patschende Schläge. Dann sank er für immer weg. +Ich starrte rüber zu dem Loch, in das er gefallen war. Ich sah es in unendlich +weiter Ferne. Und ich rief: „Stanislaw! Lawski! Bruder! Lieber, +lieber Kamerad, komm hierher! Hoiho! Hoiho! Hierher! Hierher!“ +</p> + +<p class="ibr"> +Er hörte nicht. Er kam nicht. Er kam nicht mehr hoch. Er tauchte nicht +mehr auf. Da war kein Totenschiff. Da war kein Hafen. Da war keine +Yorikke. Er tauchte nicht mehr auf, no, Sir. +</p> + +<p> +Und das war merkwürdig. Er tauchte nicht mehr auf, und ich konnte es +nicht fassen, wie das zuging. +</p> + +<p> +Er hatte angemustert für große Fahrt, für ganz große Fahrt. Aber wie +konnte er nur mustern? Er hatte doch kein Seefahrtsbuch. Sie würden +ihn gleich wieder runterfeuern. +</p> + +<p> +Aber er kam nicht hoch. Der große Kapitän hatte ihn gemustert. Und +treu hatte er ihn gemustert, auch ohne Papiere. +</p> + +<p> +„Komm, Stanislaw Koslowski“, sagte der große Kapitän, „komm, ich +mustere dich treu und ehrlich für große Fahrt. Laß nur die Papiere. +Brauchst keine bei mir. Fährst auf treuem und ehrlichem Schiff. Geh +zum Quartier, Stanislaw. Kannst du lesen, was über der Tür steht?“ +</p> + +<p class="ibr"> +Und Stanislaw sagte: „Ja, Käp’n. Wer hier eingeht, ist ledig aller +Qualen!“ +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern dem ursprünglichen +Bucheinband und Titel nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... können <span class="underline">einen</span> manchmal besser voranhelfen als die ...<br> +... können <a href="#corr-4"><span class="underline">einem</span></a> manchmal besser voranhelfen als die ...<br> +</li> + +<li> +... einem <span class="underline">Fort</span>. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt ...<br> +... einem <a href="#corr-9"><span class="underline">fort</span></a>. Ich mußte alles annehmen und mußte alles, was ich bis jetzt ...<br> +</li> + +<li> +... Straße gehen kannst, <span class="underline">könntet</span> du ja vielleicht wieder lebendig werden. ...<br> +... Straße gehen kannst, <a href="#corr-12"><span class="underline">könntest</span></a> du ja vielleicht wieder lebendig werden. ...<br> +</li> + +<li> +... <span class="underline">Ein</span> weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht. ...<br> +... <a href="#corr-13"><span class="underline">Eine</span></a> weitere Feluke, die letzte, die hier sichtbar war, hatte festgemacht. ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75907 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75907-h/images/cover.jpg b/75907-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7dde707 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/cover.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_a.jpg b/75907-h/images/drop_a.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dc1c562 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_a.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_d.jpg b/75907-h/images/drop_d.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..8b11bdf --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_d.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_e.jpg b/75907-h/images/drop_e.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..2fb3596 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_e.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_f.jpg b/75907-h/images/drop_f.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e3be24e --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_f.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_i.jpg b/75907-h/images/drop_i.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..33bc742 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_i.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_l.jpg b/75907-h/images/drop_l.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..725352e --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_l.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_m.jpg b/75907-h/images/drop_m.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9eae93c --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_m.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_n.jpg b/75907-h/images/drop_n.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9f0a6dd --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_n.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_p.jpg b/75907-h/images/drop_p.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..eaca972 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_p.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_r.jpg b/75907-h/images/drop_r.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..0c5c641 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_r.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_s.jpg b/75907-h/images/drop_s.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..4a0556f --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_s.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_u.jpg b/75907-h/images/drop_u.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..7e7c19e --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_u.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_w.jpg b/75907-h/images/drop_w.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..c14472d --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_w.jpg diff --git a/75907-h/images/drop_z.jpg b/75907-h/images/drop_z.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..87fc441 --- /dev/null +++ b/75907-h/images/drop_z.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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