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DIE SIEGER NACH DER SCHLACHT. + + +Das _Wien_ der Nachkriegszeit ist verwandelt wie nie in seiner +tausendjährigen Geschichte. Die Stadt, die neben der Welt gelebt hat, – +selbst ihre Rothschilds waren noch Träumer, – die Stadt der Sonderlinge, +Eigenbrödler, Sammler, die Stadt der verraunzten Genies, der +unausgenutzten Talente, die Stadt der Kammermusik und der Barockpaläste, +in der vor alldem wundervollen Toten kein Lebender atmen kann, die ewige +„Kaiserstadt“, weil sie, eine Seltenheit unter den alten großen Städten +Deutschlands, nie zur selbstherrlichen Verwaltung, nie zur freien +Reichsstadt gelangt war, – sie wird nun jäh überschwemmt von +Abenteurern, Glücksrittern, Condottieris des Geldes. Mühelose +Schlachten, gefördert durch die österreichische Lässigkeit der +Verwaltung, sichern Riesengewinnste, jähe Rückschläge zerstäuben sie +wieder. Namen tauchen aus Dunkelheit in goldenes Licht, Namen stürzen +aus Glanz in die Nacht. Es geht zu wie im Grunde überall nach dem +Kriege; nur das Tempo wird viel phantastischer genommen, die Kämpfe sind +erregender und wilder. Da ist einer, der kommt von einer Winkelbank, ein +anderer rettet sich aus einem Schiffbruch, ein dritter ersteht bei der +Demobilisierung Milliardenwerte mit Verträgen, die später vergeblich +angefochten werden, ein vierter, einst ein kleiner Händler, ist im +Kriege schon fett geworden an elendem Material, das er der +Heeresverwaltung für ihr wehrloses Schlachtvieh aufzuschwatzen verstand, +ein fünfter stellt ein Riesenwerk der Kriegszeit auf „Friedensbetrieb“ +um; der Steckbrief kommt zu spät, – sie alle verschmähen dabei auch +nicht das winzigste Geschäft: Dem Tüchtigsten im Raffen freie Bahn! +Indessen rückt die Währung reißend zurück, geschwächt und verlassen von +denen, die sie zu stützen berufen gewesen wären. Im gleichen Maße +schwillt die Börse an, hetzen die Papiere zu Fieberkursen empor. +Plünderungen durchklirren die Stadt; Pogromdrohungen gellen wider die +von Bankinstituten überwucherten Nobelstraßen. Aber bei solchen +Auswüchsen eifert jede Rasse, jede Konfession, jeder Stand, um den +traurigen Vorrang; der Bauer noch tränkt seine Säue mit der Milch, die +er dem Städter verweigert, so ihren Preis zu treiben. Dabei zerwühlen +schwerste politische Krisen den Staat, an dessen Grenzen drei Mächte +bereit zum Einmarsch lauern, wenn die Verzweiflung zu kommunistischen +Evangelien greifen sollte. Die grüne und die rote Internationale, die +vorwiegend agrarische _christlich-soziale Volkspartei_ und die +_Sozialdemokraten_ verwalten in einer fort und fort mühsam gekleisterten +Koalition die hungernde Republik, die im Westen und im Osten, in dem von +Ungarn trotz Friedensvertrages bestrittenen Burgenland und in dem nach +der Schweiz strebenden Vorarlberg verdächtige Abbröckelungstendenzen +zeigt. Da geht – nach einer wütenden Philippika des sozialistischen +Abgeordneten Karl _Leuthner_ – das grünrote Bündnis in Fetzen, die +Regierung _Seipel’s_ beginnt, der den europäischen Mächten mit Auflösung +Österreichs droht, – das bedeutet: Krieg zwischen Italien, Jugoslavien, +Ungarn, Tschechoslovakei, um eine Beute, die schließlich doch +bei Deutschland landen wird, wohin die Alpenbevölkerung in +leidenschaftlichen Proklamationen drängt. Der kluge Prälat, mit Haltung +und Diplomatie einer tausendjährigen kirchlichen Zucht gesegnet, +verrechnet sich nicht. Die Angst aller leidend Beteiligten erhält den +gefährdeten Donaustaat; Wilsons problematischer Völkerbund tritt hier +zum erstenmal groß in Funktion. Unter Verzicht auf den deutschen +Anschluß, nach Bestallung einer scharfen Kontrollkommission bezieht +Österreich Unterstützung. Die Krone wird bei einem Vierzehntausendstel +ihres Friedenswertes gebremst; dem Kapital des Inlandes wie des +Auslandes ist ruhiges Betätigungsfeld durch den Genfer Vertrag +gesichert. Es schwebt nicht mehr in Gefahr sozialistischer oder +sowjetistischer Gegenmaßnahmen, es kann also das Tempo mäßigen und sich +zugleich seiner unbequemsten Mitläufer entledigen. Wie der Ararat aus +der Sintflut tauchen aus den verebbenden Wässern der Spekulation wieder +die Häupter des alten Reichtumes, die Herren der Schlöte, Schächte und +Forste, die noch nahe mit der Arbeit verknüpft waren, aus der sich ihre +Macht erhoben hatte. Die neue Generation der Plutokratie tat sich nun +ungleich schwerer: sie hatte ja nie aus den Dingen selbst geschöpft, +sondern aus der Spannung zwischen ihnen, sozusagen aus geladener Luft, +die sie gewitzt als Kraftfeld auszubeuten und in Bewegung umzusetzen +verstand; sie gewann allein am Kabeln und am Stecken von +Geschäftskontakten. Und aus solchem Unsicherheitsgefühl heraus suchte +sie den alten Reichtum nun in ihre Geschäfte zu verstricken oder sich an +den seinen zu beteiligen, kurz, was von dem österreichischen Raffke +scheinbar sicher blieb, – der grobe Nackenhieb traf ihn ja erst mit der +Frankkatastrophe, – mühte sich, aufgenommen zu werden in den Gotha des +früheren Großkapitales. + +Diese Vorkriegsreichen waren ja wahrhaftig die Aristokratie jener Zeit +geworden. Hinter dem blendenden Goldschaum, den die nachgeborenen +Geldhelden schlugen, blieben sie fast unsichtbar. Nun, da er auf sein +wahres Maß zerrann und sie wenig versehrt und gelassen hervortraten, +erkannte man ihre Kraft, die den Zusammenhang mit ihren Quellen nie +verloren hatte, sondern weiter an den unermeßlichen Schätzen der ihr +dienstbaren Erde zehrte. Die Tradition begann als Faktor wieder +aufzuleben, der internationale Einfluß eines Namens von Kredit und +Bedeutung aus dem Frieden her eroberte sich neuerlich den einstigen +Geltungsbezirk. Im alten Glanze fanden sie sich, diese Familien, darin +Fleiß von Väter auf Söhne ungeschwächt weiterging, diese +Industriegewaltigen mit den Adelsbriefen jahrelanger Arbeit, diese +Finanzdynastien, zu denen Könige gekommen waren, – – wo blieb vor ihnen +das Nichts von gestern, das nun jäh „Generaldirektor“ hieß, um morgen +vielleicht wieder Nichts zu sein? Man zog es heran, insofern man es +brauchte, man erhörte seine Zudringlichkeit, – um von ihm zu lernen. +Denn man konnte ja selbst nicht mehr arbeiten wie vor dem Kriege. Die +Amerikanisierung des öffentlichen Lebens im üblen Sinne ging schon zu +weit. Die Methoden der neuen Zeit mußte man bei den Neuen erfahren; die +Metaphysik nebuloser Tochtergründungen, der Aktienvermehrungen, der +Steuerverschleierungen, der Geldtransfusion in andere Unternehmungen, +die so unmerklich in den Kreislauf der Geber gerieten, besaß dort ihre +gediegensten Lehrkanzeln. Wohl war der Krieg verloren, von dem sie, die +einstigen Mitberater und Mitgenießer an der nun zersplitterten +Monarchie, sich manches erhofft hatten, – aber schließlich fühlten sie +sich sogar stärker als ein verlorener Krieg. Elan und Unbedenklichkeit +der Jungen mußte man sich zu eigen machen und die durch nichts +einzuschüchternde Überzeugung von der letzten sakramentalen +Unantastbarkeit des Geldes. Was immer von ihrem Eigentume in dem nun +siegreichen Auslande lag, konnte, je umfangreicher es war, auf die Dauer +um so weniger beschlagnahmt bleiben. Industrie und Großgrundbesitz sind +die bevorrechtete Aristokratie aller konstitutionellen und +demokratischen Systeme, wie es für die absoluten die Adelsstände waren, +und so muß auch die internationale Solidarität einer kapitalistisch +orientierten Weltordnung rein gesetzmäßig alle jene verletzenden +Maßnahmen, wie etwa Enteignungen von kurzer Hand, möglichst vermeiden. +So zwingt einer die Regierung eines siegreichen Erben des alten +Kaiserreiches einen schon damals als höchst ungünstig befehdeten Vertrag +zu übernehmen, indem er nach eingetretenen Schwierigkeiten seitens der +neuen Herrscher in seinen dort liegenden Riesenbetrieben die Arbeit +durch drei Jahre einfach einstellt. Tausende werden brotlos, Bahnen +stocken, Not der Geschädigten pocht an das Parlament des Siegerstaates. +Da schäumen sie, – aber zur Übernahme oder zur Ablösung fehlt das Geld +und vor Expropriation scheut man zurück aus den genannten Gründen: Man +vergleicht sich also, erkennt zähneknirschend das Bestandene an. Eine +Gruppe Anderer verheert die Währung ihres Vaterlandes, um so in +stündlich entwerteten Papieren ihre Goldschuld einzulösen. Ein dritter +einigt sich mit seinem Konkurrenten im Feindesland, lange vor ihren +beiderseitigen Regierungen, die dann den Konturen solcher Abkommen +folgen müssen. Ein vierter lockt Strohmänner von drüben in die eigene +Leitung, die unter ihren Ententeflaggen seinem Geschäfte den +internationalen Freibrief sichern. Derlei Beispiele gibt es noch viele. +Gegenstandslos bleibt der Ausgang von Kriegen für die Gewaltigen des +Kapitales. Ihre Front lag ja nie an jenen in Blut und Dreck ersäuften +Gräben. Und im Inlande hatten nur jene verloren, die ihr Vertrauen in +die Habe des Staates oder der Einzelnen setzend es in irgendeiner Form +belehnten, die Banknoten- und Bargeldsammler, die Kriegsanleiheinhaber, +die Hypotheken- und Mündelgeldbezieher. Der in Liegenschaften jeglicher +Art verankerte Besitz büßte dabei nichts ein, im Gegenteil: Die +Verarmung der anderen schuf ihn oft schuldenfrei oder verringerte +zumindest seine Belastung. Nach Revolution und Gegenrevolution ging die +gelbe Flagge hoch. Der Aufruf „An Alle“, der 1917 vom Osten her Europa +erschüttert hatte, wurde 1924 zur Devise einer Nacktrevue im Variété. +Wie nach jeder Weltkatastrophe entwickelte sich auch nun ein +Biedermeiertum, das jene wilden zehn Jahre einfach nicht wahr wissen +wollte. Die Könige hatte es eingebüßt, nicht durch eigenen +revolutionären Geist, sondern durch die Konsequenz der Ereignisse. So +beugte es sich denn willig der neuen Diktatur, die über seinem +Sichverschweigenwollen des Gewesenen hart und kalt emporstieg. Ein Typus +Gewaltmenschen, von dem sachlichen Fanatismus Jener der Neuen Welt, +eroberte sich die Vormacht in Europa. Nur wenige Unbekannte waren +darunter, – sie hielten sich nicht lange, diese Reisläufer des neuen +Kapitals, – der Kern bestand doch aus den früheren Magnaten der +Industrie und des Bodens, aus Reedern, Kohlenfürsten, Hammerherren und +den Holzriesen des Friedens. Sie waren es, die jetzt in den Kampf um den +Cup des Lebens traten, der als Zeichen dieser vital-egoistischen Zeit +vor allen ihren Äußerungen stand, vom Boxermatch bis zur Literatur. + + + + + II. DIE HERREN DER WÄLDER. + + +Die _Republik Österreich_ schien nach dem Kriege das ärmste Land der +Alten Welt zu sein. Von Gebirgen verknöchert blieb es in dem +wesentlichsten Existenzbedarf, in der Brotfrucht und in der Nahrung +seiner Betriebe, in der Kohle, fast durchweg auf das Ausland angewiesen. +Enorme Industrieanlagen, dem Maße des vormaligen Fünfzigmillionenstaates +angepaßt, feierten nun aus Mangel an Rohstoffen. Der „Wasserkopf“ Wien, +den die energische sozialdemokratische Gemeindeverwaltung mit allen +Schrecken des Nachkriegszustandes übernehmen mußte, saß auf dem dünnen +Leibchen eines Sechsmillionenvolkes des verstümmelten Bundeslandes. Die +Nachfolgestaaten verschanzten sich hinter Zollwänden; das künstlich +ausgetrennte Herz des alten Reiches drohte an der so gedrosselten +Blutzufuhr völlig zu erlahmen. Und doch besaß es noch vier gewichtige +Dinge, an deren Ausbeutung es nun mit brennender Energie gehen mußte, +wollte es seine durch den Genfer Vertrag gestützte Daseinsberechtigung +als autonomes Gemeinwesen erweisen. Das war das _Salz_, das es in +Verwaltung nahm, das war die weiße Kohle seiner _Wasserkräfte_, die +unter seiner Ägide oder Beteiligung private Gesellschaften in großen +Überlandwerken konzentrierten, das war das Erz seiner Berge, wo +reichsdeutsche und italienische Konzerne um das Schürfrecht warben, das +war vor allem der begehrteste Ausfuhrposten, seine _Wälder_, die fast +das ganze Reich überdeckten. Hier drängten sich die Abnehmer von +Bedeutung; _Italien_, das forstarme, _Frankreich_ mit _Straßburg_ als +Stapelplatz, _Deutschland_, das seine Reparationsleistungen zum +Wiederaufbau teilweise von dem Brudervolke bezog; ja bis _Holland_ und +nach _England_ hinüber wanderte das österreichische Edelholz. Aus +zerkrachenden Forsten gediehen fürstliche Vermögen, zu denen der Grund +noch im tiefsten Frieden gelegt worden war. Unermeßliche Gebiete standen +damals zur Verfügung. In _Bosnien_, in der _Herzegowina_, in _Kroatien_, +in _Siebenbürgen_, in _Böhmen_, in allen _Alpenprovinzen_. Höher als die +Herren der Erze und der Wasser wuchsen so die Herren der Wälder, formten +geradezu einen eigenen Menschenschlag. Denn wie das Individuum sich nach +seiner Tätigkeit wandelt, so erhielten sie, deren Vorteil mit des Wortes +wahrstem Sinne in der Erde wurzelte, etwas von gewaltigen Bauern, +Bauern, die über tausende Knechte gebieten, Schnitter von +Ackerprovinzen, auf denen die Ernte, die sie nicht gesät hatten, bereit +stand, in keinen Halmen, sondern in den Stämmen starrer Bäume. In der +ausgeplünderten hohlwangigen Nachkriegszeit fußen sie breit mit +unentwertbaren Schätzen. Ihre Macht spottet aller Angriffe. Ja, sogar +ihr Eigentum in den abgespaltenen Klötzen des alten Reiches ringen sie +wieder ein; sie trotzen und listen es den neuen Herren dort ab in dieser +oder jener verklausulierten Form. Der Steuerfiskus findet schwer zu +ihnen. Die Erde hat sie ganz zu Bauern gemacht, zäh, schlau und karg wie +Bauern sind. Und unbeugsam über das Ihre, unbeugsam, wenn es selbst der +Blutnächste wäre, der seinen Teil zu fordern käme. Fast äußerlich +verändern sie sich so; ob Christ, ob Jude, ob Landmann, ob Städter, gilt +gleich; die Erde bleibt stärker in ihnen: Sie gehorchen der Erde. + + + + + III. DYNASTIE EISSLER. + + +Urwald in _Bosnien_. Schluchten klaffen, Berge bäumen sich, Gewässer +zischen von eisenfarbenen Felsen nieder, und überall nistet, wuchert, +drängt sich Gehölz. Heldenliedergegend, Wild-West des Balkan, kaum +erforschtes Tibet Europas, das hier beginnt und am Griechenmeere in +Saloniki endet. Land des großen Zaren Dušan, Land des südslavischen +Siegfried, Marko Kraljevics, Land des serbischen Kaiserreiches und des +türkischen Herrenvolkes nach dem Abendrot am Kossowo polje, am +Amselfeld. Und Land zuletzt, aus dem der Anlaß des gräßlichsten Krieges +mit zwei Schüssen an der Lateinerbrücke in Sarajevo aufblitzte. +Stolzester Hengst in der Hürde der Alten Welt. Der Muselmann hat ihn nie +ganz gebändigt, der Kroate nicht und nicht der serbische Bruder; der +Venetianer langte wenig über seine dalmatinische Küste herein, und +selbst der großmächtige Herr Ungar stieß hier auf Widerstand. Aber Geld +und Gewinnsucht scheuen nichts, und wie die Republik von San Marco vor +einem halben Jahrtausend Dalmatiens Waldgebirge in eine heute noch +erschütternde Steinwüste wandelte, so rückt man auch hier seit +Jahrzehnten den scheinbar unerschöpflichen Forsten an den grünen Leib. +Um ihre Ränder beißen sich Häuflein Menschen fest; kleine saubere +Häuschen quellen aus dem Boden, ein Klondyke des Holzes, blanke +Maschinen funkeln. Das knirscht, kracht, splittert und sägt den ganzen +Tag durch, nagt sich furchtlos ein in die verfitzte Wildnis, über der +die Geier nun wie graue Zeichen des Waldsterbens kreisen, und zieht +seinen vorgesehenen Borkengang. Hinter sich läßt es Scheiterhaufen von +rauchenden Meilern und riesige Schichten von Baumleichen, die kleine +Lokomotiven auf schmalspurigen Gleisen flink nach den Umschlagstellen +befördern, wo die großen Eisenbahnen die Tore zur Welt aufreißen. + +Es sind mächtige Herren, die hinter dieser namenlosen Arbeit sitzen, und +auf den Börsen brausender Städte schreien Papiere, die den Fleiß tausend +gering bedankter Hände anpreisen, und irgendwo, in Biarritz oder Ostende +oder Capri erholt sich einer, von ihnen getragen, oder haust +zeitentrückt als stiller Teilhaber und Villenfürst inmitten schöner +alter Gemälde, auf denen Menschen friedlich in heiligen Hainen wandeln +oder hängt kostbare Bernsteinketten, goldfarben wie die Harztränen der +Tannen um einen kühlen nackten Frauenleib oder sitzt rastlos in einer +Kontorhölle der Metropole, umknattert von Schreibmaschinen, umschrillt +von Telephonen, umquirlt von Menschen, wie eine Spinne im Netz, die +jeden Faden prüft. Er ist der Typus seiner Zeit, der Parforcemensch am +Schreibtisch. Stärkster wird er von allen, weil er sich zum Regulator +der Kraft macht, die ihn umströmt; er vertausendfacht sie durch die +eherne Zwinge, in die er sie nimmt. Er hieße über dem großen Wasser +Rockefeller, Morgan, Ford oder mit sonst einem Stahl-, Holz- oder +Ölkönigsnamen. Er heißt in unserem Falle _Robert Josef Eißler_, thront +als _Chef einer hundertjährigen weltumspannenden Holzindustrie in Wien_ +und arbeitet, arbeitet wie ein Besessener ohne sich je auch nur den +kleinsten Genuß zu gönnen, arbeitet um der Arbeit willen, die ihn ganz +verschlungen hat, arbeitet zu Hause, auf der Bahn, im Auto; nichts +bleibt so abseitig, das er nicht wahrnimmt, nichts so vollendet, dem er +nicht mißtraut, er ist nur mehr rechnendes Gehirn, schreibende Hand, +Mund, der befiehlt. Unter der Peitsche seiner Augen leistet jeder das +Äußerste; bis in die entferntesten Länder spüren sie diesen Blick, in +Blockhäusern, auf Sägewerken, durch Urwaldgrün hindurch, wo immer sein +Name zu Werk wird. Und das wird er in mächtigstem Ausmaß. Da ist allein +die bosnische Satrapie, die er mit dem Münchner _Ortlieb_ führt, von +Vorkriegsjahren her, und unversehrt sich im verlornen Land erhalten hat. +Von den mehreren hunderttausend Hektaren werden jährlich an die tausend +geschlagen und einhundertfünfzig Kilometer Schienennetz seiner +Privatbahn, auf der zwanzig Lokomotiven unter Dampf stehen, vermitteln +den Verkehr der Menschen und Waren in seinem Reich. Über dreitausend +Arbeiter roden, fällen, schlichten dort die Wirrnis des Krywayatales, +des Zepugebietes, Namen wie aus dem afrikanischen Dschungel. Und das +alles bedeutet erst eine Provinz seines Königreiches, die ihn auf +Jahrzehnte mit unversieglichen Rohstoffen versorgt; in _Kroatien_ +besitzt seine Dynastie ein Gut, in Österreich hat seine Gründung, die +Holzbank, in dem durch Minister Dr. _Schürff_ zur Parlamentsdebatte +gemachten _Reichraminger Holzabstockungsvertrag_ der jungen Republik +ihren Einfluß spüren lassen, in _Ungarn_ herrscht die Firma als +„_Eissler es testvere_“, dort wie in Bosnien seit Friedenszeit, wo +einst der Finanzminister _Kallay_ seiner Abmachungen mit dem +geschäftstüchtigen Hause wegen im magyarischen Abgeordnetenhaus manche +Unannehmlichkeiten erfuhr. „_Eissler i fratti_“ nennt sich die +_rumänische_ Kolonie, „_J. Eissler bratri_“ heißt sie in der +_Tschechoslovakei_. Und das lediglich als zentraler Kommandoraum des +ganzen Kraftwerkes tätige Wiener Stammgeschäft führt den Titel „_J. +Eißler und Brüder_“. Aber von den mitgenannten Brüdern ist in der +zweiten von Robert Eißler geleiteten Generation nichts zu verspüren; was +immer da beteiligt war, verschwand allmählich vor dem despotischen Chef, +der das Geschäft trotz Krieg und Niederlage wieder zu der europäischen +Geltung gebracht hatte, die es vorher besaß. In viele Friedensmillionen +steigerte er das Vermögen, sicherte seine Betriebe durch geschickte +Staatsverträge wie ein Monarch, wußte sich siegreich gegen gewaltige +Konkurrenten auf dem Weltmarkt zu behaupten, indem er sie verdrängte +oder durch Bündnisse entwaffnete. Seiner robusten Energie war es nicht +gegeben, sich an gefälligen Dingen zu freuen, an Büchern, an Bildern, an +Schauspielen; aller Trieb seiner Rasse nach äußerer Tätigkeit nach dem, +was _Peter Altenberg_ „die hundertperzentige Verzinsung des Lebens“ +nannte, blieb in ihm am stärksten gehäuft und angespannt. Um sich fand +er selten Widerstand; ruhige Menschen, durchtränkt von der etwas müden +Kultur jüdischen Patriziates bis zur Schrullenhaftigkeit, bildeten seine +Verwandtschaft. Doktor _Hermann Eißler_, einer von ihnen, schuf sich +eine Gemäldegalerie von internationalem Ansehen, darin besonders die +Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts von Delacroix und Gericault an +glänzend vertreten sind; _Gottfried_, ein anderer – kürzlich verstorben +– nannte eine der schönsten Erstdruckbibliotheken und eine der besten +Wiener Miniaturensammlungen sein eigen. Gewiß, auch sie hatten sich alle +wahrhaft gerackert, nur waren sie nie so sehr der Despotie ihrer Arbeit +verfallen, daß sie in ihrem Tagwerk ausschließlich Zweck und Ziel ihres +Daseins sahen. Doch Robert Eißler kannte nur dieses. Er war rauh wie +Esau, aber ein Esau, der auf seiner Erstgeburt bei Acker und Herden +bestand und hinweggestampft wäre über Jakob und Abraham. Dem +Märchenhelden Wilhelm Hauffs glich er, dem Kohlenbrenner Peter _Munk_ +mit dem kalten Herzen. Der barsche, finstere Mann, der mit seinen +Untergebenen im Feldwebelton verkehrte, sie vor sich stramm stehen ließ +und ähnliche militärische Bräuche trieb, hatte dem Moloch des Geschäftes +sein Leben hingeopfert in des Wortes blutigster Wahrheit. Ihm schien es +dabei vielleicht nicht so sehr um Gewinn zu tun, wie um das Würfelspiel +der Macht, darin erhöhter Glanz der Dynastie zum Preise stand. Dazu wäre +ihm nichts zu groß oder zu gering gewesen, dazu gewann er sich – der +Hergang ist noch später zu erörtern – sechshunderttausend Goldkronen +Mitgift, die ihm als Geschäftseinlage binnen Jahresfrist von seiner +Bewerbung an zur Bedingung gestellt worden waren, um als öffentlicher +Gesellschafter sich einzukaufen, und wie er sich der Protokollierung +seines Namens wegen verehelichte, so geschah auch nachträglich kein +Schritt, den nicht das Kontor gebot. In die Kasteiung mit Arbeit +flüchtete er gewissermaßen vor sich selbst, wohl aus dem Gefühle, bei +einem einzigen Augenblick Ruhe müßte ihn die Rasanz des eigenen Motors +in Stücke reißen. „Der Staat bin ich!“ konnte er auch schließlich von +seinem Reiche behaupten, denn alles um sich hatte er schachmatt gesetzt, +zur Ohnmacht verurteilt. Seine Vettern ließen sich von ihm abholzen wie +die Bäume des Krywayatales; sie, die in einem Winkel ihrer Seelen doch +noch zu dem alten besinnlichen Wien zählten, wichen auch widerspruchslos +seiner Keilerwut nach Arbeit, begnügten sich als Firmenvorstände ohne +größeren Einfluß, erfrischten sich im übrigen bei ihren Bildern, Statuen +und anderen Liebhabereien in einer sanfteren Welt, in die das Ächzen der +sterbenden Wälder nicht mehr herüberdrang. + +Nur bei Zweien von ihnen galt es Kampf bis aufs Messer: Es waren Onkel +und Vetter des allmächtigen Seniorchefs, Vater und Sohn, beide +Phantasten in ihrer Art, die hier an einen Tatsachenmenschen gerieten, – +sie hießen _Heinrich_ und _Otto Eißler_. + + + + + IV. KÖNIG LEAR IN DER HOLZBRANCHE. + + +Wie Fremde vor einem gewaltigen Aufbruch lebt das _Judentum_ in seinem +innersten Wesen, tausendfach verkleidetes Heimweh nach einem verlorenen +Reich. Immer sind die Sandalen geschnürt, die Lenden sind immer +umgürtet. Und ob es noch so heftig in das Diesseits drängen mag, – an +ihnen allen, bald brennender, bald linder zehrt die gleiche Wunde, vom +polnischen Dorf bis in den Stadtpalast. Das braucht darum noch kein +reales Zion zu bedeuten, – es ist mehr der Tempel Salomonis, der nie zu +Ende kommt, weil seine Kuppel, der Messias, fehlt. Heilig gilt hier +deshalb, wie bei keinem Volke sonst, die _Familie_. Aus Zeltesenge von +der Wüste her, durch Ghettozwang ihrer christlichen Herren, erlernten +sie die Notwendigkeit der auch religiös gebotenen starren +Geschlossenheit der Sippe. Noch ehelicht bei ihren Strenggläubigen der +Bruder des Bruders Witwe, noch herrschen alte Menschen bis über das Grab +hinaus, aus dem die Toten dann als Beispiel und Vorbild aller Tugenden +den Jungen immerfort gepriesen werden. In solchem Patriarchate, das +einst, vor der Diaspora, bis zur Blutgerichtsbarkeit des Familienhauptes +über die Seinen reichte, steckt, was vom Vieh- und Ackerbauerwesen des +alten Israel seinen zerschmetterten Stämmen verblieb. Und wie in den +Bauern bohrt auch in ihnen die nagende Angst vor den Erben. „_Der Mensch +hat zwei Feinde, die er liebt_,“ warnt ein talmudisches Sprichwort: +„_seine Leidenschaften und seine Kinder_.“ Und diese Kinder versuchen +auch fast alle einmal den großen Aufstand, der aber in den meisten +Fällen mißlingt; dann strecken sie die Waffen, im Büro des Vaters, wo +sie sich einordnen oder in einer unerwünschten anbefohlenen Ehe, die sie +auf sich nehmen. Und zeugen und gebären Kinder, die ebenso liebeshungrig +und rebellisch aufwachsen und ebenso der Familie als abstraktem Begriff +geopfert werden. Die Härte des Sohnes der Hagar haben sie verloren; die +Sehnsucht nach der Erde, von der man sie forttrieb, mußten sie +verwandeln in den Hang nach ihrem Erträgnis, dem Geld; die Macht der +Mauer, in die man sie durch ein Jahrtausend Verachtung und Verfolgung +gesperrt hat, schuf ihnen alles jenseits davon fremd bis zur +Lächerlichkeit, nur Furcht und Ehrfurcht vor dem Götzen des Alters +erfüllt sie wie den jungen Bauern, an den der Vater einen Knecht +ersparen will. Seine Kraft freilich finden sie nicht mehr, wenn er im +Kampfe um den Hof den in den Sielen erlahmten Erzeuger ins „Ausgeding“ +versperrt, in die Versorgung von der Jungen Gnaden, mildere Form +vorzeitlicher Bräuche, da neben der Schwelle ein Steinbeil lag, mit dem +man die unnützen Fresser erschlug. Angeprangert für alle Ewigkeit hat +dagegen in der Schrift der Chronist des trunkenen Noah Verspottung durch +seine Söhne, und in den Häusern seines Blutes verdämmern Greise und +Greisinnen im Glorienschein der Familie und Schritt und Stimme dämpfen +sich, geht man vorüber an ihren Gemächern. Das ist der Orient im +Judentum, der mit dem Alter das klare Reich der Weisheit anbrechen +sieht, heiteren Herbst, darin die Früchte des Lebens reifen und Trost +und Süßigkeit den Nachgeborenen spenden. Und aus der gleichen Erwägung, +die das weiße Haar zu Häupten der Tafel setzt, schont man ebenso die +Schwachen, die für die scharfäugige Hast des Tagwerkes nicht taugen, +denn auch sie reden mit ungewohnten Stimmen. Dekadenzprodukte sind sie, +gefördert durch die Inzucht der Verwandtenehen, durch die übersättigte +Kultur ihrer stadtverhafteten Eltern. Im hitzigen Ressentiment gegen +ihre Herkunft entwickeln sie sich, doch anders als die ehemaligen +Rebellen, die „Söhne“, die ausgekühlt später die tüchtigsten Kompagnons +und Erben abgeben. Sie hassen die Betriebsamkeit ihrer Nächsten, sie +flüchten in die Kunst, besonders in die Musik, in politische Ideologien, +in philosophische Spekulationen, – sie werden aber trotzdem von den +anderen nicht fallen gelassen, nein, eher blickt man dort voll gerührten +Stolzes nach ihnen, wenn man sich einmal mit ihrer verminderten +Verwertungsfähigkeit abgefunden hat, wie nach einer geheimen +Rechtfertigung der eigenen fanatischen Diesseitigkeit, wie nach +Sündenböcken, die manche fremde Dunkelheit auf sich nehmen. Denn aus der +ungeheueren Reichweite jenes Volkes von äußerster Selbstbehauptung bis +zur äußersten Entselbstung, Slaventum des Hirnes (wie dieses im Gefühle +maßlos, so hier im Geiste und seinen Kräften) erstehen immer wieder +Propheten und Richter und gerade von seinen scheinbar Schwachen her, von +den Lebensfremden, wie unter seinen Alten Geschöpfe von zeitloser Güte +und Weisheit sich baumkronenhaft über ihren Generationen wölben. Den +tätig Robusten verkörpern diese Zarten, Empfindlichen stets eine Art +unerfüllter eigener Sehnsucht, und gerne gewährt man ihnen Mittel und +Unterhalt für ihr Dasein, das mehr ein Danebensein bedeutet. Eine +Ausnahmestellung genießen sie, an die man fast nie zu tasten wagt. + +In dem Falle, der hier ausgesponnen wird, ereignete sich beides, Angriff +gegen die Heiligkeit des Alters in der Familie und gegen einen +Schutzbefohlenen der eigenen Schwäche. Eine Bauerntragödie brach aus im +jüdischen Patriziat. Allerdings in einem, das sein Beruf wieder der Erde +und ihren unbarmherzigen Gesetzen genähert hatte; sie verband sich hier +mit dem bäuerischen Urgrund der ganzen Rasse. Zwei darin sonst unerhörte +Taten geschahen: Der Leiter eines Riesenbetriebes wird nach einem halben +Jahrhundert führender Arbeit durch eine Palastrevolution der eigenen +Sippe gestürzt, und sein Sohn, mehr Eigenbrötler, als untüchtig, bloß +von verminderter Lebensintensität, rücksichtslos um seine Ansprüche +gebracht und ausgeschaltet. Der aber, Kohlhaas des Geldes, sucht das +Haupt der Verschwörung auf, einer „Verschwörung der Reichen gegen die +Armen“, wie er seinen persönlichen Fall als symptomatisch in +kollektivistischer Erweiterung nannte, stellt mit sechs Schüssen gegen +seinen Blutsvetter Robert Eißler die ihm falsch geratene Rechnung wieder +her. + +_Heinrich Eißler_, durch vierzig Jahre Chef der Firma, zu ihren +frühesten Häuptern gehörig, Kaufmann alten Schlages, voll Rechtlichkeit, +Strenge und Staatsgesinnung, – er weigerte sich unter anderm +Steuerbekenntnisse zu unterschreiben, die ihm zweifelhaft erschienen, – +war durch unglückliche Privaterlebnisse innerlich nachhaltig in Anspruch +genommen worden. Seiner Ehe mit einer kühlen egozentrischen Frau +gesellte sich noch eine ihm unleidliche Einstellung seiner +Blutsverwandten. „Ein Blutsverwandter heißt, der dir am letzten hilft +und dich am ersten beißt,“ dieses im Judentum sonst wenig gültige +Sprichwort fand in seinem Fall reichlich Bestätigung. Die häuslichen +Sorgen, die an seiner Energie sogen, die ihm eigene weiche, gutherzige +Art ließ seine Umgebung leichte Bestimmbarkeit durch fremde Einflüsse +befürchten und ihn darum für die Dauer auf der Kommandobrücke des großen +Werkes nicht genügend verwendbar erscheinen. Den ersten Ansturm +versuchte der leibliche Bruder; er mißlang. Der Alte fußte ja mit sieben +und ein viertel Millionen Schweizer Franken, das war ein Viertel des +gesamten Firmenvermögens, im Geschäft und mit der Nachfolgeschaft seines +Sohnes Otto darin, der sich bei Abschluß der schwierigen bosnischen +Verträge schon eingearbeitet hatte. Ein erfolgverheißender Schachzug +gegen Heinrich Eißler mußte ihn darum in seinen Stützen treffen: in +seinem an der Firma tätigen Geld und in dem Sohn, den man erst von ihm +trennte und dann gesondert abfertigte, wenn das erste gelang. Vor allem +hieß es, die vom Handelsgesetze festgelegten Bestimmungen nach dem Tode +eines öffentlichen Gesellschafters, die nebst der „pragmatischen +Sanktion“ der Firma, den Sohn und Erben schützten, durch persönliche +Abmachungen zu entkräften. Statt der darin vorgesehenen Liquidation +ordnete ein 1897 abgeschlossener Gesellschaftsvertrag, dem Vater und +Sohn ahnungslos beigepflichtet hatten, in einer solchen Lage lediglich +Auszahlung des Kapitalskontos an, also auch ohne eventuelle stille +Reserven, die hier bestanden. Damit war der erste Schritt einer +gesetzlich unantastbaren Enteignung getan. Die Einheitsfront gegen die +beiden unbeliebten Familienmitglieder sollte jedoch erst später +zustandekommen: Unter der Regentschaft des zu einer solchen Aktion +unbedenklich fähigen Robert Eißler, dem Neffen und Vetter der Bedrohten. +Inzwischen wird fort und fort geplänkelt; 1910 bereits möchte der des +Haders müde und durch ein körperliches Leiden verstörte Otto Eißler +gegen angemessene Entschädigung gänzlich aus dem Geschäft scheiden, aber +eben um diese ging es ja. So stellt er nun seine Tätigkeit dort ein, die +fünfzehn Jahre gewährt hatte, zieht sich nach Baden zurück, wo er der +Sorge um seine Gesundheit wegen lebt und mit den Vettern dauernd hadert. +Diese Gefechte ziehen sich über den ganzen Weltkrieg hin, der weder in +seinem Verlauf noch in seinem Ergebnis und dessen Folgen die +Holzmagnaten ernstlich schädigt. Ohne wesentliche Einbuße erhalten sie +sich ihre wertvollste Kolonie in Bosnien und die herandämmernde +Inflationskatastrophe versehrt sie nicht in ihrem Marke, dem Bodenwert. +Ihre geschäftlichen Feldzüge sind also jedenfalls besser ausgefallen als +die militärischen ihres Vaterlandes, dessen Staatsbürgerschaft man +übrigens sofort gegen jene des tschechoslovakischen Siegerstaates +eintauscht. In solcher frisch gefestigten Position geht man nun daran, +im Inneren des eigenen Betriebes „tabula rasa“ zu machen mit allen +Elementen, die für den reißenden Machtkampf der neuen Zeit ungeeignet +erscheinen. Ballast über Bord! Der achtundsiebenzigjährige Firmenchef +Heinrich Eißler soll nun endgültig abgesägt werden! Sein Vetter Robert +treibt dazu; nur ungerne halten die beiden anderen Firmenherrscher +_Alfred_ und _Hermann_ sowie Roberts Schwager, der Anwalt Dr. _Fürst_, +da mit. Heinrich macht allerdings, wie sich der Letztgenannte später im +Prozesse ausdrückte, „unmögliche Sachen“, nämlich er lehnte es ab, +seinen Namen unter ihm nicht einwandfrei erscheinende Steuerbekenntnisse +des Geschäftes zu setzen, er erklärt ferner, wie Dr. Fürst zur +Begründung des obengenannten Vorwurfes erzählte, bei einer +Bücherrevision der bosnischen Filiale, dem Sachverständigen, die +Bilanzen seien falsch, denn die Firma verdiene viel mehr. Äußerungen +ähnlicher Art, die keineswegs unbedingt einen Schwachsinnigen verraten +müssen, vielleicht ebensogut einen redlichen Kaufmann, der sich der +Pflichten des Besitzes der Allgemeinheit gegenüber bewußt bleibt, +verübelte man ihm ungemein. Gewiß bot auch sein hohes Alter einen +triftigen Grund, ihn verantwortlichen Unternehmungen zu entziehen. Aber +es ist der Ton, der die Musik macht, und eben dieser Ton, angeschlagen +von Robert Eißler, war unter den vorliegenden Umständen nichts weniger +als edel und achtungsvoll gegenüber einem Manne, der durch ein halbes +Jahrhundert sein Leben dem Geschäfte geopfert hatte und dem eben jener +Robert Eißler, wie später noch auszuführen, seine despotische Stellung +verdankte. Nach wiederholten schriftlichen und mündlichen Aufforderungen +an Heinrich Eißler, freiwillig zurückzutreten, klagt ihn schließlich +1919 das von Robert beratene Cheftriumvirat beim Handelsgericht auf +Ausschluß aus der Firma mit Hinweis auf sein Alter, eine den Greis tief +kränkende Maßnahme. Das anständige Schiedsgericht trachtete auch diesen +von allen übrigen beteiligten Faktoren einschließlich des beauftragten +Klägers Dr. Fürst als peinlich und unnötig empfundenen Handel in Güte +beizulegen. Es kam später zu einer Art Ausgleich, der freilich die +tieferen Wunden nicht mehr schließen konnte, die in Heinrich Eißler bis +zu seinem Ende brannten. Aber die Attacke auf den Onkel genügte dem +strammen Firmenchef noch nicht; sein Sohn, der Vetter, sollte ebenso +erledigt werden. Ihn als öffentlichen Gesellschafter an Stelle seines +Vaters zu übernehmen, wie es bisher für die übrigen Söhne der ehemaligen +Firmenchefs nach Hinscheiden oder Austritt ihrer Vorgänger gegolten +hatte, weigert sich Robert in beiden Fällen, sucht ihn mit Angebot +anderer Kompensationen mattzusetzen. Doch Otto widersteht; er wittert +die Gefahr und schlägt dem Dr. _Benedikt_, dem Rechtsfreund seines +Vaters, ein Bündnis vor, wonach sie beide, Vater und Sohn, in dem +laufenden Zivilprozeß ihre gemeinsamen Interessen ungeteilt und +untrennbar bis zu Ende verfechten würden. Dieser Pakt kommt nicht +zustande; hingegen ein anderer, der zu ihrem Verderben führt. Der auch +dem Vater gegenüber ewig mißtrauische Otto ließ sich dazu verleiten, +mürbe gemacht durch halbjährige geschickt dirigierte Verhandlungen, auf +seine Rechtsnachfolge in der Stellung seines Vaters bei der Firma zu +verzichten. Er gibt ihn damit preis und noch mehr: Nun legt er als +stiller Gesellschafter neuerlich 750000 Franken in das Geschäft ein und +resigniert auf die Einkünfte aus der bosnischen Zweigstelle, wenn dort +im Ausgange des Steuerkrieges gegen den Nachfolgestaat die Firma Eißler +& Ortlieb aus taktischen Motiven eine Umwandlung in eine +Aktiengesellschaft vollziehen sollte. Was diese Klausel bedeutete, sei +daraus ermessen, daß von dem Anteil, der dem alten Heinrich Eißler +zustand, zwei Drittel, viereinhalb Millionen Schweizer Franken, allein +auf das bosnische Unternehmen zu buchen waren. Mit diesem Vertrag +unterfertigt demnach Otto Eißler sein und seines Vaters Todesurteil im +übertragenen Sinne; aber noch ein drittes, ein wirkliches, das er selbst +an dem feindlichen Generalstabschef in jenem Kampfe vollstrecken sollte, +an Robert Eißler. + +1920, ein Jahr nach diesem privaten Versailles, stirbt Heinrich Eißler +als Vorletzter des alten Firmenstabes, der sich noch um den Großvater, +Gründer und Ahnherrn _Bernhard Eißler_ geschart hatte. Er stirbt und +schließt mit seinem Hingang, den Gram und Erregung über das ihm angetane +Leid beschleunigt haben, den ersten Teil der Eißlerischen +Familientragödie: „Nein, der Robert, wenn der nicht wäre, könnte ich um +zwanzig Jahre länger leben!“ hat er vor seinem Ende der Schaffnerin +seines Hauses geklagt. Ein kurzes Satyrspiel hebt an vor der Tragödie +zweiten Teil. Ein Zauberkunststück gelingt, das unerklärlich scheint und +in seinem Resultate dennoch unantastbar blieb. Der Hexenreigen des +Geldverfalles verhüllt den Hergang, gegen den juridisch nichts +eingewendet werden kann, obgleich ein Unrecht fast zu greifen nahe +scheint. Angst und Ungeschick des Opfers tuen das ihre dazu. Aus der mit +über _sieben Millionen Schweizer Franken_ bewerteten _Todesbilanz_ des +Verblichenen sind binnen Jahresfrist durch Gottes Segen ihrer +_fünfzehntausend_ geworden, die dem Erben aufgewertet zu Buche stehen. + +Der Erbe hieß _Otto Eißler_. + + + + + V. DER RÄCHER. + + +Dramatische Kontrapunktik, die fast schon ans Kolportagehafte streift, +fügte es, daß Robert Eißler dem durch ihn zur Strecke gebrachten +Heinrich die Stellung zu verdanken hatte, kraft derer er auf dem +Hauptmaste der Firma saß. Des alten Bernhard Kinder _Heinrich_, +_Johann_, _Jakob_ und _Moritz_ verwalteten gemeinsam das Geschäft unter +einer Art Rückversicherung vor der Nachkommenschaft, wonach nämlich ihre +Söhne erst nach freiwilliger Abdankung oder Tod der Väter die Stellungen +jener einzunehmen vermöchten, also im Sinne des zitierten talmudischen +Sprichwortes über den geliebten Feind. _Otto_, _Alfred_, _Hermann_ und +_Robert_ hießen sie, von denen zwei bald durch Hinscheiden der +elterlichen Vordermänner die Führersitze erobern sollten. Just der +Ehrgeizigste, Robert, war nicht dabei; ihm brannte das längst unter den +Nägeln, doch sein Erzeuger, der vermutlich Ähnliches verspürte, saß +unerbittlich fest mit begründeter Aussicht auf hohes Alter und +ungeschwächte Tätigkeit. In seiner Not kam Robert zu dem gutmütigen +Onkel Heinrich, er möge bei dem Bruder, Roberts Vater, erreichen, daß +Robert noch zu Lebzeiten des unverwüstlichen Urhebers seines Daseins +Aufnahme in die Leitung der Firma gewährt würde. Heinrich, ahnungslos, +wie sehr er sich und seinen Sohn damit gefährdete, bedrängte unablässig +den Bruder, Roberts Ansinnen zu willfahren und setzte endlich nicht ohne +Schwierigkeiten jenem durch, was ihm für sein eigenes Fleisch und Blut +versagt werden sollte. Freilich mit drückenden Vorbehalten. Roberts +Vater, aus gleichem Hartholz wie sein Sprößling, heischte als Preis für +seine Erlaubnis von dem Sohn im Laufe eines Jahres sechshunderttausend +Goldkronen Einlage in das Geschäft, die er in dem zeitgemäßen Wege einer +Ehe binnen der genannten Frist zu beschaffen habe. Und wieder hilft die +Familie Heinrichs; diesmal ist es die Gattin, Ottos Mutter, die ihm die +Frau mit den sechshunderttausend Goldkronen besorgt, und Robert Eißler +heiratet und er besteigt den Firmenthron. Und sein erstes war, den zu +stürzen, der ihn hinaufgeleitet hatte, vielleicht gerade weil er vor ihm +einst schwach gewesen war. + +Sonderbar und bedrückend mag derlei trotz tausend alltäglicher Beispiele +einem schlichten Hirne erscheinen, das noch an Worte von Liebe und +tieferer Gemeinschaft zwischen Menschen glaubt. In einer auf den Besitz +eingeschworenen Ordnung zählt es jedoch zu den einfachsten und ersten +Forderungen, seine Persönlichkeit dem Zwecke zu unterstellen, und +„Einheirat“, meist in verkleideterer Form als dieser, die noch den +Vorzug der Offenheit aufweist, ist überall gewünscht und befohlen, wo +Geld zu Geld will, Einfluß zu Einfluß, Ware zu Ware. Und gewiß erachtete +der alte Heinrich des Neffen Robert Handlungsweise in dieser Sache weit +klüger, als etwa die seines leiblichen Sohnes Otto, der an einer Ehe als +Einlagekapital wenig Gefallen fand, die in seiner Gesellschaftsschichte +gebräuchliche Synthese zwischen Merkur und Hymen verwarf und schon Jahre +mit einer braven vermögenslosen Frau lebte, von der er die schönste +Mitgift in drei zärtlichst geliebten Kindern sein Eigen nennen durfte. +Jedenfalls wußte des Vaters leidenschaftlicher Einspruch es zu verhüten, +daß dieser Neigungsbund je zur Heirat sich emporwage; Ottos Beziehung +galt ihm „nicht als standesgemäß“, – was andererseits jegliche +Geldallianz mit wem immer gewesen wäre, – und selbst auf den Sohn färbte +noch sein Wille ab. Auch nach des Vaters Tod respektierte er dieses aus +dem dynastischen Hochmut des Welthauses entsprungene Verbot; Anna +Heimerle – so hieß seine Freundin – blieb ihm „Lebensgefährtin“ im Sinne +des Gesetzes bis vor die Schranken des Gerichtes, an denen sie unter +Tränen die Wärme, Güte und Sorgfalt, mit denen der Beschuldigte sie und +die ihren stets umgeben hätte, nicht genug zu rühmen wußte. Die Frage, +ob Otto eine geschäftlich angetraute Gattin ebenso zur Seite gestanden +wäre und umgekehrt, stellt sich unwillkürlich ein; hier muß jedoch der +Wahrheit zu Ehren bekannt werden, daß die Ehe seines späteren Opfers +sich gleichfalls ungemein glücklich gestaltete und daß die letzte Klage +des sterbenden Robert Weib und Kindern galt. Im übrigen mochten die +Verwandten Recht behalten, wenn sie aus solchen Symptomen schlossen, daß +Otto nichts weniger sei als eine Führernatur in ihrem Sinne. Auf dem +Wege dahin war er eben im Menschlichen stecken geblieben und dieses +Menschliche besaß er, weil er gelitten hatte, trotz alles Geldes, von +Jugend auf. Und dieses Leid, – früh widerfahrenes Unrecht, – wurde auch +zur Wurzel der Verstrickung, aus der seine Tat gedieh. Das schuldlos +Erduldete schuf den drosselnden Knoten in dem armen Herzen, das zu +seinem Unheil für mehr als nur für das Hauptbuch schlug und alle +nachträglich ihm widerfahrene Unbill schnürte ihn nur fester und +verfitzte ihn, – bis aus dem Gewürge bloß eine einzige Lösung blieb: +Gewalt! + +Sproß eines müden, vom Geschäft verzehrten Mannes und einer kühlen +liebeleeren Frau, war der kleine Otto, der einzige männliche Sproß, der +„Kronprinz“, denn nur zwei Mädchen folgten ihm, Ida und Melanie. Nicht +sehr kronprinzenhaft wuchs er auf. Das verschüchterte Kind erfährt +häufige und unbarmherzige Züchtigungen von seiten der Mutter, für die es +sich keinen Grund weiß; dem Vater kann es sich nicht anvertrauen; ihn +sieht es kaum, denn den hat das Kontor zwischen den Zähnen; schließlich +wird es bezahlten Kräften überantwortet, Hofmeistern, Gouvernanten, +Dienstboten. So wächst der Erbe des Reichen auf, welt- und +gottverlassen, um den einzigen und köstlichsten Schatz menschlichen +Werdens vom Anbeginne bestohlen: Um ungetrübte Jugend. Sein Schulkamerad +Doktor Stefan Schmied erzählt vor Gericht, der Knabe wäre der Klasse +durch drei für sein Alter recht ungewöhnliche Eigenschaften aufgefallen: +Ernst, Verschlossenheit und Mißtrauen. Und diese dunkle Dreieinigkeit, +die über jedem der „Erniedrigten und Beleidigten“ des Lebens wacht, +hielt ihm auch weiterhin treueste Gefolgschaft. Aus seinem schon im +Keime verletzten Rechtsgefühl gewinnt er zwar ergriffenes Verstehen für +den leidenden Nächsten über die Horizonte seiner Herkunft und seiner +Kaste weit hinaus, zugleich aber erfüllt ihn rechthaberische +Reizbarkeit, die aus derselben Leiderfahrung stammt. Hypochondrie und +Menschenscheu bemächtigen sich des Beklagenswerten, dem man den Genuß +seiner Kindheit unterschlagen hatte; mit der tagenden Erkenntnis des +Jünglings schaut er den Himmel über seiner Welt sich stets gefährlicher +verfinstern. Die harte Mutter, der er übrigens durch Güte vergalt, was +sie an ihm gefehlt hatte, der schwache Vater, müde, unterlegen im +Ehekampf, aus dem er in das Geschäft floh, wo ihn wieder die +Verwandtschaft geduckt umlauerte, – von nirgendwo kam dem +Heranwachsenden warm die Stimme eines Menschen entgegen. Verbittert +wirft auch er sich in Arbeit, durch fünfzehn Jahre steckt er im Betrieb, +bereist die Niederlagen, wirkt an heiklen Operationen mit, so 1905 an +dem berühmten bosnisch-herzegowinischen Vertrag, – aber er merkt dabei, +daß er sich trotz allem zwischen den klugen kühlen Rechnern seiner +Vetterschaft nicht gut ausnimmt, ein letzter Eifer mangelt ihm, eine +äußerste Sachlichkeit, die den Posten Mensch aus ihren Kalkülen +streicht. Als untüchtig sieht er sich zur Seite geschoben; +Minderkeitskomplexe und Überkompensationen wechseln in seinem +Seelenleben ab. In dem Pessimismus, der ihn befällt, wird ihm ein +einziges spätes Glück zuteil. Im besten Mannesalter lernt er Anna +Heimerle kennen, die nun seinen Weg teilt, und an den Kindern, die sie +ihm schenkt, sieht er sein Dasein doch nicht völlig nutzlos vertan. Es +aber ganz mit frischem Licht zu füllen und ihm so Vergessenheit des +Gewesenen zu erringen, das vermochte selbst die so uneigennützige Liebe +dieser Frau nicht. Zu tief hatten sich Schrullenhaftigkeiten +verschiedenster Art schon in ihm eingefressen, und nun richtete sich +überdies die Front der Familienhierarchie gegen ihn und gegen seinen +Vater und verstärkt so seine Absonderlichkeiten zum Wahne, dauernd +verfolgt und bedroht zu sein. Ein körperliches Gebrest behindert zudem +seine Bewegungsfreiheit. Er lebt und handelt unter einem Schleier von +ständiger Angst. Paranoide Gesichte bemächtigen sich seiner; immer geht +er bewaffnet. Auf einem Sägewerk, das er inspiziert, trifft ihn ein +Bekannter, bekundet als Zeuge: Otto Eißler wandelt dort in Schwimmhose, +links einen Sonnenschirm, rechts einen Revolver in der Hand. Nachts ruft +einen Anderen Gepolter in den Schlafraum des Chefs; kaum kann er durch +die Barrikaden von Möbeln eindringen: er sieht Stühle im gleichen +Abstande aufgestellt und über sie nackt hinspringend – Otto Eißler, +gleich einer phantastischen E. T. A. Hoffmann-Figur. Gift wolle man ihm +in die Speisen mischen, argwöhnt er. Oder: Man plane, ihm die Luft des +Zimmers durch böse Dünste zu verderben, und er zerstäubt dort die +erdenklichsten Desinfektionsmittel, daß einmal sein Cousin Ernst Lanner, +der ihn besucht, schleunigst das Fenster aufreißt, um nicht in Ohnmacht +zu sinken. Zu solchen Zwangsvorstellungen gesellt sich ausgesprochene +Bakterienfurcht. Darum mißt er den Luftraum jedes Gemaches ab, darin er +schlafen soll, ob er nicht etwa einen besonderen Brutherd verheerender +Mikroben böte, darum trägt er lächerlich weite Kleider und läuft im +Hause nur adamitisch umher, die Haut so stets möglichst frei zu halten, +darum ist er auch Fanatiker des keimvernichtenden Sonnenbades, das er, +unbekümmert um seine Umgebung, bei jeder möglichen Gelegenheit genießt; +darum läßt er sich sogar die Zeitung vorwärmen, ehe er sie liest. Solche +Maßnahmen sucht er denen, die sie bestaunen, mit harmlosen Vorwänden +anderer Art zu erklären, aber gerade sein Eifer, der jedwede +pathologische Deutung heftigst ablehnt, kennzeichnet das dissimulierende +Krankheitsbild des Mannes, der von Kind auf unter dem Druck +vermeintlicher und wirklicher Verfolgungen endlich in jene Tat ausbrach, +der Resultante all der geschilderten Komponenten, die ihn, den Fanatiker +seines Rechtes, vor das Gericht bringen sollte. Wer vermöchte zu +beschwören, wo hier Verantwortlichkeit endet und das zwangsläufige +Manische anhebt, die fixe Idee, die persekutiven Charakter annimmt? Wer, +– außer den Psychiatern, von denen hier noch zu reden ist? Alles trieb +hier zu einer dissozialen Aktion, doch weil der vom Schicksal +vorgezeichnete Täter in hohem Maße das war, was man „moralische Natur“ +benennt, trachtete er sich unbewußt einen Unterbau plausibler +Beweggründe zu schaffen und den Verfolger festzustellen, von dem alles +Widrige seines zermarterten Lebens seinen sinnfälligen Ausgang nahm. Und +da hier beides zutraf, der Versuch einer geschäftlichen Entmündigung +sowie sein deutlicher Urheber, ein unsentimentaler strategischer Gegner, +der es sich zum Ziel gesetzt hatte, ihn ohne wesentliche eigene Opfer +aus dem Sattel zu werfen, – so wälzt der gehetzte geängstete Mann alle +seine Qual gegen jenen als ihren Begründer, findet in Robert Eißler die +Quelle des Bösen, das nach seiner und der Seinen Existenz trachtet. +Trotzdem – oder eben darum – bleibt er in einer Art Haßliebe an den +weitdisponierenden Chef gekettet, dessen traumlose straffe Kraft der +Sachlichkeit ihm widerwillig Bewunderung abnötigt, strebt dauernd zu +Vergleichen zu gelangen, die an Roberts strikter Haltung und zuwartender +Ruhe immer wieder scheitern. Der ist schon einmal unbeugsam darauf aus, +Heinrich und Otto, den ihm verderblich dünkenden Anwärter auf die +Firmenführung, auf diesem Boden gründlichst auszujäten. Und Otto dachte +auch schon einmal, 1910, ernstlich daran, dem Hause seiner Väter +endgültig „Valet“ zu sagen, unterließ es später, weil er dabei seiner +Meinung nach von den Verwandten schwer übervorteilt worden wäre; er +schied damals nur von dem Büro, zum Teile aus Hypochondrie. +Mittlerweilen hatten die Verhältnisse noch mehr zu seinen Ungunsten +ausgeschlagen, nicht der durch Ehen bereits zum Teil versorgten +Schwestern wegen; aber die Lebensgefährtin ist hinzugekommen und seine +drei Kinder. Und so streitet und queruliert er herum, stets gefaßt auf +einen Satansstreich des Anderen, der in unheimlicher Stille verharrend, +sich durch nichts aus seiner wachsamen Stellung locken läßt. Bis Otto in +seiner Übervorsicht die gröbsten Fehler begeht, in die Robert gnadenlos +einhakt. Der Alte ist ja inzwischen schon verdrängt und war überdies so +höflich, durch seinen Tod alle weiteren Schwierigkeiten zu quittieren, +nun mag der Sohn ihm folgen samt seinen Forderungen, denen die ins +Rutschen geratene Valutenlawine das Rückgrat brechen soll. Und wirklich +hastet er, betäubt von den Schrecken der niederprasselnden +Kroneninflation, rasch, unüberlegt, das Seine zu retten, um jeden Preis. +Den aber – bestimmt ihm: Vetter Robert! Mit Papier und anderen labilen +Werten wird die Goldforderung des lästigen Verwandten abgespeist. Zu +spät tobt der über seine Blindheit, fleht um Zurücknahme seiner in +seelischer Panik gemachten Konzessionen. Umsonst! Kein Jota seines +verbrieften Rechtes, kein Gramm seines Pfundes läßt Vetter Shylock ab. +Dem Besiegten schwillt er zum Oger an, der ihn frißt, seine Geschwister, +seine Gefährtin, seine Kinder, diese abgöttisch angebeteten Kinder! +Immer mächtiger wächst er sich aus, eherne Stirne, steinernes Herz, – +sonst alles Geld! 1920 und 1921 wird der Vertrag mit Otto in letzte +vernichtende Form gegossen. Endergebnis ist das bereits bekannte, das +unerschütterlich bleibt: Fünfzehntausend Schweizer Franken sind für den +armen Vetter da, der ihrer siebenundeinhalb Millionen als sein Teil +beansprucht hat, und der Enteignete sieht sich zugleich entwaffnet; +übereilig hat er gutgeheißen, was ihn nun verstrickt, und wo er sich +stützen will, hascht er nur Luft statt einer rettenden Hand. Die +finanzielle Transfusion, die dabei stattfand, schilderte er später in +seiner auch schriftlich abgefaßten „Information“ haarscharf vor Gericht; +sie würde in ihren Zifferndetails hier ermüden. Genug, daß sogar der +Staatsanwalt daraus anerkannte, an dem Beklagten sei übel gehandelt +worden. Otto versucht durch seinen Rechtsfreund Dr. Kantor im Wege des +Zivilprozesses gegen die Firma Remedur. Der Advokat durchschaut, wie er, +die Schärfe jener Abmachungen, die seinem Klienten die Sehnen +zerschneiden, doch auch er gewahrt recht spärliche Möglichkeiten für +einen erfolgverheißenden Gegenzug. Das moralische Gesetz mochte Robert +tausendmal schuldig sprechen, – vor dem bürgerlichen bleibt er +unantastbar. Da wirft sich der gehetzte empörte Otto selbst zum Richter +auf in seiner Sache. Der Vetter ist ihm schon mehr als sein privater +Feind, er ist Feind geworden schlechthin alles Lebenden, das unter +diesen aus den Fugen gegangenen Zeit hungert, klagt, stirbt. +Seinesgleichen war schuld an dem Kriege, wie es nun schuld an solchem +Frieden ist! Mit überpersönlichem Legat fühlt Otto Eißler sich +ausgestattet, als er zur Abrechnung schreitet gegen seinen Feind. Er +sieht vor sich nicht den Blutsverwandten mehr und nicht mehr das +leidende Antlitz des Menschen hinter Trieb und Gier, die ihn zwangen, so +zu werden, wie er ist, er sieht nur die eiserne Maske der Macht! Ein +Feind der Menschheit steht vor ihm. Ähnlich dem Roßtäuscher Kohlhaas +erweitert auch er seinen Fall ins Allgemeine und ahnt nicht, daß die +Wurzel des Unrechtes tief lag wie die der geschlachteten Bäume, in den +Orgien des über verwüsteten Wäldern und wohlfeilen Lohnheloten +errichteten _Besitzes_. + + + + + VI. MONODRAMA DER TAT. + + +Im „_Herzoghof_“ des seit Römertagen gesuchten Kurortes _Baden bei +Wien_, – „Aquae thermae“ nannten es die Pensionisten der pannonischen +Legionen, die in seinen Schwefelquellen Heilung erhofften, – haust Otto +Eißler. Das Gebäude, so benannt nach den fröhlichen Babenberger +Herzögen, den vorhabsburgischen Herrschern von Österreich, die gerne +hier verweilten, stellt eine passende Unterkunft für Leute dar, die in +der sommerüber von Fremden wimmelnden Stadt keinen überflüssigen Kontakt +wünschen und dabei eine gewisse vornehme Behaglichkeit nicht entbehren +wollen. Der Misanthrop aus der Holzdynastie verlegte darum frühzeitig +sein Hauptquartier an dieses stille Refugium, von dem aus er den Krieg +gegen seinen Vetter führt, zuletzt 1923 in einer bereits an Irrsinn +grenzenden Erregung, je sicherer die Erfolglosigkeit seiner Bemühungen +zu erwarten schien. Freundin und Kinder umgeben ihn mit liebereichster +Pflege; dennoch muß der Arzt zu dem von schwersten Nervenkrisen +Erschütterten gerufen werden, stellt seelische Störungen fest, deren +Behandlung strengste Ruhe und Abgeschlossenheit von der Außenwelt als +erstes Gebot erforderte. Davon will der Unglückliche nichts wissen, +streitet mit punischer Tapferkeit für seine steigend getrübteren +Aussichten, klingelt nachts Anwälte und Notare aus dem Schlaf, um +dauernd das Gleiche zu erfahren: Daß er für sich nahezu nichts zu hoffen +habe. Allenfalls den mitgeschädigten Schwestern würde man im Wiener +Erzhause Kompensationen zubilligen, – ihm: Nicht die winzigste! + +Es ist August, der Monat der Verbrechen aus Leidenschaft. Seine weiße +Glut vergiftet die Hirne, heizt die Herzen bis zur Explosion. Achtete +eindringlicheres Verfahren, als das der gegenwärtigen Themis auf die +Verknüpfung von Gewalttat und Gezeiten, es gelangte zu verblüffenden +Erkenntnissen: Winter, Intellektualverbrechen; Affekthandlungen im +Sommer; Selbstmorde und Revolutionen in den Brunftzeiten Frühling und +Herbst. Durch die verschlafene Empirestadt, über der es von Hitze +brütet, jagt ein rasendes Menschentier: Otto Eißler, trächtig von seinem +Schicksal. Klarheit hat er jetzt durch den Rechtsfreund. Eine Tagsatzung +soll in seiner Sache noch stattfinden, nutzlos wird sie vergehen. Nichts +mehr nützt! So wird er berufen; immer wieder berufen. Hartnäckig wie ein +Bauer, der um einen Grenzstein streitet. Wohin führt das am Ende? Und +er, Otto Eißler, hat selber beigetragen, daß es so weit gekommen ist! +„Dummer Kerl!“ hört er zischeln um sich; nein, niemand ist da, nur die +leeren flimmernden Straßen, – aber der Vetter soll das ja gesagt haben +von ihm, der Vetter Robert, der in Wien hockt, breit, gewaltig, +unangreifbar. Er, der Reiche, kann ja warten, bis der andere sich +zugrunde prozessiert hat; fünfzehntausend Schweizer Franken tauchen bald +in Expensen auf; dann fällt die Angelegenheit in nichts zusammen, weil +Otto ein Bettler geworden ist. Was aber nachher? Die Frau! Die Kinder! +Unmöglich ist es, unmöglich! Im kühlen Waffenladen kommt der +Heißgelaufene zu sich. Ein Entschluß beginnt. Alle Gerichte bleiben +wehrlos in Sache des Rechtes. Und auch Gott schweigt; er ist ihm nicht +wohlgefällig, – niemandem ist er wohlgefällig, er, der Häßliche, von +Kind auf Gestoßene. „Gewiß Herr Müller! Mauserpistole samt Patronen. Ja +...“ Ob er mit dem Browning vom Februar zufrieden gewesen sei? – „O, +freilich!“ Den Browning trägt er doch stets im Sacke, entsichert und +wohlgeladen, – umlagert von Feinden, wie er ist. Aber davon erzählt er +nichts. Etwas glättet sich in ihm, wie er die kalte Waffe am Schafte +hält und mit dem Abzug spielt. Und nun läßt er sich Munition geben, als +gälte es, ein neues Fort Chabrol zu armieren. Es ist der +dreiundzwanzigste August. + +Zu Hause macht er Bilanz über sich und das Seine. Man hat sich +vorzusehen für alle Fälle. Wogegen? Ach, das wird sich schon weisen. Das +geschieht doch nicht so einfach aus einem selbst, das packt einem von +draußen und findet statt. So heißt es auch immer „fand statt“. Also +darum jede Schuld berichtigt, selbst die kleinste! In einer Woche ist er +in Ordnung damit. Keine Rückstände! Alles soll sauber liegen hinter ihm. +Ja, da ist noch seine Schwester Ida, Witwe nach Exzellenz von Molnar, +ungarischen Staatssekretär. Immer war die gut zu ihm; sie sollte man +unbedingt aufsuchen, – der armen Frau daheim, den Kindern, kann man +nichts zumuten, – die Schwester ist ein kluger starker Mensch, und so +einer muß zur Stelle sein für die Seinen, wenn – ja, irgend etwas +geschieht, – und wäre es das eigene Leben, das man wegwirft – um den +Frieden, – um den endlichen Frieden, nach dreißig Jahren Unrast, +Verfolgung, Bitterkeit. Und vorher zwanzig Jahre einsamer Jugend, +lichtloser Kindheit ... „Sorge Dich um die Meinen,“ bittet er die +Schwester und noch allerlei Verworrenes, das der tödlich Erschrockenen +kaum zum Bewußtsein kommt; da ist er auch schon fort. + +Er fahrt nach Wien. Früher Morgen. Der letzte Augusttag brennt ab. Die +elektrische Kleinbahn surrt grau durch das sommerträge Land. Ringsum +Ebene, schattenlos. Erst westwärts in den schwarzblauen Bergen am Rande +des Flachlandes strotzen wieder stämmige Waldbäume. Sie mögen sich +hüten, daß nicht auch sie bald dem großen Vetter verfallen. Wie es ihm +ergeht samt seinem Anspruch und allem, was daran hängt: Die Schwestern, +die Gefährtin, die drei Kinder. Das Blut siedet ihm dick in die +Schläfen, wenn er versucht, das zu Ende zu denken. Ihnen insgesamt wird +noch das Mark ausgesogen durch den höchst unbrüderlichen Bruderssohn, +der früher nicht rastet. Man will ihn aber jetzt stellen; von Angesicht +zu Angesicht befragen will man ihn, zu letzten Male, ob er sich nicht +doch vergleichen mag in zwölfter Stunde? Das muß man, ehe man jede +Vernunft fahren läßt, die sich nur mühsam noch, von Wut umschäumt, +hinter der glühenden Stirne aufrecht hält. Vielleicht sind die beiden +Mitchefs zugegen; die könnten eingreifen, mildern; die haben sich ja +nicht so verbissen in diese Menschenjagd. Da ist der Luegerplatz mit der +Burg des Feindes, die er nun betritt. Wieder einmal. Denn erst vor +wenigen Wochen war er hier, nachdem er zuvor lange heraufgestiert hat +vom Rathausparke aus. „Wie eine Wachspuppe“ –, so berichtet einer, der +ihn dabei ertappt. Und der Herr Robert würdigte ihn damals kaum einer +Antwort und die Bucheinsicht wird ihm auch verweigert; gerade, daß sie +ihm nicht schon die Türe weisen. Nein, – das tuen sie doch nicht; von +den Angestellten keiner; die verstehen sich mit ihm, weil er freundlich +zu ihnen ist, nicht so – wie der! Der Robert! Kommt er heute etwa nicht +ins Kontor? Da erteilt der Kassierer Köhler Bescheid: Robert allein sei +hier, – und geht eilig weg. Robert – allein –? Stille stemmt einem den +Atem zurück, entsetzliche Stille. Gleicht das Chefzimmer nicht plötzlich +einem gedämpften Raum, darin eine Leiche liegt? – Der Besuch lehnt sich +an den Schreibtisch; den kennt er: Vierzig Jahre war sein Vater Heinrich +daran verkettet gewesen, vierzig in Arbeit geknechtete Jahre, – mit +einem Fußtritt als Dank zum Abschluß! Das verantwortet – Robert! Immer +bleibt er so letzte Ursache jedwedes Unheiles, das ihn und die Seinen +martert, er – in seiner unbeugsamen Härte! Auch im Hause hier mögen sie +ihn sicherlich alle nicht. Man tuschelt mancherlei. Da ist der Jakob +Singer, – den hat er einmal mit zerrissenen Schuhen stundenlang im +Schnee warten lassen, und wie der vor ihm frostzitternd von einem Fuß +auf den anderen tritt, schreit er ihn an: „Hund, kannst du nicht habt +acht stehen?“ Und der Ernst, sein Cousin, der weiß, wie der Robert beim +Militär die armen Soldaten angeblasen hat wegen dem Grüßen. Und solche +Geschichten gibt’s genug von dem Robert, zum Beispiel die mit dem Vetter +Otto, he? Mit ihm selbst? – Die Hände würgen in den Säcken des +schlotternden Anzuges; sie spüren Kühle, Metall: Die Pistolen! Und da +tritt auch der Vetter ein, scheinbar nicht eben erfreut über den Gast, +den er vorfindet. Freilich, gerade heute, wo ihn der Kopf wohl von +Wichtigerem summt, wo unter anderem die deutsche Mark von den +rheinischen Kollegen abgefeilt endgültig ins Bodenlose saust, – da sind +andere Sorgen am Ruder und andere Pläne. Und schon hält er auch das +Telephon in der Hand und rasch zuvorkommend in des Wortes engster +Bedeutung wirft er es hin zwischen zwei Geschäftsgesprächen: „Ich werde +lieber sieben Jahre prozessieren, als dir die Rente bezahlen.“ Da wird +alles rot, roter wogender Nebel, drinnen schwankt der Schreibtisch des +alten Heinrich wie ein Schiff im Untergang. Wo klammert man sich fest, +daß es einen nicht niederreißt, hinab zu den goldlüsternen Haifischen, +die nun wieder Beute wittern, zahllose Beute? Die Kolben in den Taschen +bäumen sich; man möchte sie zurückzwingen, aber nun halten sie einen +fest, wachsen einem in die Fäuste, wühlen sich aufwärts, drängen ans +Licht. Was sagt der drüben? – „Du kannst noch sieben Jahre Prozeß +führen.“ Bis dahin hat man doch keine Faser am Leibe mehr, die einem +gehört! Und jetzt weiter: „Von mir aus könnt ihr alle krepieren!“ Nein! +Das nicht! Das muß Täuschung sein, sausen in den Ohren! Die Kolben +rücken über den Rand der Säcke, – verlängerte Hände sind sie und ihre +Läufe steile Finger, die auf den Menschen weisen, der dort ruhig sitzt +und telephoniert. Ja hübsch ruhig, während ihm gegenüber sein +Blutsverwandter an der gleichen Stelle zugrunde geht, wo man schon +seinem Vater die Knochen gebrochen hat. Trotz des Rechtes, das hinter +beiden stand, sie _hatten_ recht, – bloß der andere war schlauer! – +„Dummer Kerl!“ – Wer ruft so? – Der drüben? Der – am Telephon? Und hätte +er es auch nicht ausgesprochen, – jede seiner Gesten, die ihn +abstreifen, schreit es ihm zu, jeder seiner Blicke, der ihn anspuckt. +Wahrhaftig, das ist kein Mensch mehr! Das ist das Geld selbst, das da +vor einem thront, ungeheuer, unbarmherzig, angemästet mit allem Elend +der Erde, vollgesoffen aus den Wunden ihrer Schlachten und dennoch +unersättlich gierig nach Blut und Blut und Blut! Alles Bauch, +wälderzermalmender, menschenkauender Bauch! Die Welt muß man erlösen von +ihm – man muß – und los! – oh jauchzende Himmelfahrt der feuerblitzenden +Hände – weiter – oh unfaßbare Befreiung im Donner der ersten krachenden +Schüsse – weiter – oh überirdischer Rausch, der den Krampf eines Lebens +entbindet, – weiter – da drüben taumelt einer, ächzt, speit rot – weiter +– als Barrikade den Schreibtisch des Vaters, Opferblock, wo nun wieder +geschlachtet wird, – weiter – Blut wäscht ihn rein, Blut sühnt – weiter +– das krümmt sich dort auf, röchelt, sinkt ein, wie eine Marionette, der +man die Drähte gekappt hat – weiter – Türen klaffen, Gesichter schreien +und flattern durch Rauch, – man hört nichts mehr davon – man sieht +nichts mehr, – man weiß nur eines: Man hat es dem Golde gegeben, man hat +dem Golde in den Bauch geschossen, sechsmal – + +Und nun rasch die letzte Kugel durch den eigenen Schädel! Abschied im +Zenith der Tat! Ihn soll keiner noch je angrinsen, keiner ihn verhöhnen, +eine Millionenstadt hebt nun seinen Namen über alle Gischt ihrer +täglichen Helden hinaus, – – aber schon dringen aus dem blassen Haupte +drüben, um das sich Entsetzen und Grauen schart, ein paar furchtbar +klarer Worte: + +„Wie oft hat dieser dumme Kerl geschossen?“ + +„Dieser dumme Kerl –“ Das war es wieder und unleugbar laut! Also auch +jetzt ist er für den dort noch nichts anderes, auch daß er ihm den Tod +sechsfach ins Fleisch geimpft hat, zählt nicht. Der stirbt, ohne +Kenntnis zu nehmen von seinem Mörder, stirbt voll verzweifelter Wut über +einen blöden unsinnigen Zufall, der ihn mitten aus seinen Plänen und +Werken reißt, – denn das ist ihm der Vetter samt seiner Tat: Ein +Ziegelstein vom Dache! Ein Auto, das sich mit ihm überschlug! Stupide +Tücke eines Dinges! Mehr nicht! + +Der Mörder läßt die Arme baumeln wie schlaffe Peitschenschnüre. Mühelos +entwindet man ihm die Waffen; ingrimmig stößt er etwas hervor, – „es ist +nicht schade um den“ will ein Zeuge gehört haben, – und dann sagt eine +Uniform: + +„Im Namen des Gesetzes –“ + +Und neuerlich kommt drüben die Stimme des anderen. Aber dieses Mal ist +sie leise und von einem fremden Klang. „Bauchschuß – ich sterbe, – Herr +Doktor, – wie lange habe ich noch zu leben?“ und „– meine arme Frau, – +meine Kinder –“ Die Maske der Macht gleitet nieder von dem Antlitz eines +Menschen, der sich sterben weiß. Und dieses Antlitz ist ganz bleich, +ganz rein, – wie das eines Genesenden von einem schweren qualvollen +Leid. + +Der Täter gewahrt das nicht mehr. Eine Entspannung lockert ihn. Ruhig +läßt er sich abführen. + +Er gewahrt auch das Größere nicht. Daß man im Leben stets nur _einen_ +Feind hat. Den man vergeblich vernichten würde, und wäre es durch +tausend Leiber. Weil er sich im Nebenmenschen am Widerspruche zu dem +Nachbarwesen immer neuerlich entzündet. Weil das Ich schuld trägt daran +und seine schicksalshafte Gegensätzlichkeit zu einem ebenso bestimmt +gearteten anderen Ich. Darum begegnet man ihm immer wieder. Erledigt ihn +mit keiner Gewalt. Vielleicht nur durch klare wehrlose Güte, wenn sie +ihn überzeugt: Mit Selbstaufopferung. + +Robert Eißler wurde so sein Feind. Als Urgegner des Undeutbaren, des +Unentschlossenen, des Wegelosen, des vom Gefühle Überschwemmten. Ein +Ekstatiker seines Lebensbekenntnisses, das hier „Gold“ hieß. Aber auch +andere Namen hätte führen können: Kampf, Herrschaft, Gott, Gesetz! + +Wenige Stunden nach jenem Überfalle stirbt Robert Eißler. Die Kugeln +haben sein Inneres fast zerfleischt: Zu sechzehn Wunden. + +Und acht Monate später steht Otto Eißler in Wien vor der Apostelzahl der +zwölf Geschworenen und ihrem Vorsitzenden, dem Gesetze in +Menschengestalt. + +Der Vorsitzende nennt sich: Hofrat Doktor _Ramsauer_. + + + + + VII. CHOR DER PSYCHIATER. + + +In den Tragödien der großen Prozesse aller Rechtsstaaten bilden die +Psychiater bei jedem Strafverfahren, darin sie forensisch zur Kenntnis +genommen werden, zumeist eine Art tragikomischer Nebenaktion, Satyrspiel +als Intermezzo. Fälle ergeben sich allerdings bei politischen oder +anderen aus Staatsraison kitzlicheren Vergehen, darin ihre Meinung als +willkommenes Rettungssteuer dient, den ganzen Handel aus dem Orkane des +Meinungsstreites in den sicheren Hafen eines Irrenhauses zu lootsen. +Womit die Gewissenhaftigkeit ihrer Personen und ihres Votums keineswegs +angezweifelt sei. Sonst obläge ihnen nach dem Erachten ihrer +Auftraggeber mehr die Rolle der Regimentsärzte im Kriege, nämlich +festzustellen, ob der ihnen zugewiesene Klient „tauglich ohne Gebrechen“ +für den Spruch der blinden Themis wäre. Behindernd wirkt dabei der +knappe Platz, den ihnen die Prozeßordnung und das geltende Strafgesetz +für die Grenzen der Begriffe von unverantwortlicher Zwangslage und +eingeschränkter, jedoch noch als verantwortlich klassifizierter +Willensfähigkeit einräumt. + +In der Sache Otto _Eißler_ erschwerte ihnen der Beschuldigte selbst +ungemein ihre Stellungnahme, gerade indem er sie ihnen scheinbar +erleichterte. Er war es, der um keinen Preis als geisteskrank betrachtet +werden wollte, der lediglich zugestand, im Augenblicke der Tat den Kopf +verloren zu haben, und der eben darum, wie durch die ausgesprochene +„Süchtigkeit“ jede seiner abnorm scheinenden Gewohnheiten +rationalistisch zu fundieren, den Verdacht der „Dissimulation“, Benehmen +eines Kranken, der sich gewaltsam gesund stellt, erweckte. + +Den Psychiatern lagen drei Möglichkeiten vor: Es konnte sich hier um +einen wirklich Irren, in erster Linie um einen Paranoiker drehen oder um +einen schweren Psychopathen paranoiden oder schizophrenen Charakters, +der unter den genannten Umständen im auflodernden Momente der Tat keine +Verantwortung mehr trug für sein Verbrechen oder lediglich um einen +Sonderling von psychopathischer Minderwertigkeit, der heftigen +Gemütsbewegungen nur sehr geringen Widerstand zu bieten vermochte, aber +doch nach § 46 des Öst. Strafgesetzbuches als haftbar anzusehen war. +Nach Eißlers eigenem Geständnis, nach den durch Zeugen belegten Indizien +über sein seelisches Verhalten vor, während des Ereignisses und darüber +hinaus, ja, nach einem Teil des später noch präziser zu erörternden +Gutachtens selbst lag die Annahme eines paranoiden Typus nahe. + +Populär erläutert stellt der Paranoide die Form einer geistigen Krise +vor, die sich zur wirklichen Paranoia etwa so verhält wie eine +Herzneurose zu einem organischen Herzleiden. Wie diese kann sie bei +geeigneter Behandlung völlig abklingen, wie diese in ihr schweres +verhängnisvolles Nachbarstadium übergehen. Die Ähnlichkeit ist oft +frappant, die zwischen dem klinischen Bilde einer Paranoia und dem eines +paranoiden Zustandes besteht. Auch bei dem Paranoiden, besonders bei +jenem, der zu Verfolgungs- oder Beziehungswahnvorstellungen neigt, +steigern sich die Anfälle in sogenannten „Schüben“, wie der terminus +technicus lautet, auch er glaubt sich umlagert und bespäht, fühlt sich +als passives Zentrum sämtlicher ihm widrigen Ereignisse, meint +elektrische Ströme nach sich entsendet, hört Stimmen, wittert an +Kleidern und Möbeln Menschenkot, trachtet andauernd einen Urheber seines +Übels zu konstatieren, – und kann naturgemäß aus solchem Zustand +latenter Überreizungen, die bis zur totalen Sinnestäuschung reichen, +verantwortungslose Affekthandlungen verüben. Dabei gilt er in des Wortes +Sinn nicht für „geisteskrank,“ vermag neben seinen gefährlichen +Momenten, in denen er einer Rechenschaft nicht fähig erklärt werden muß, +ein produktives Genie ersten Ranges zu bleiben, wie etwa August +_Strindberg_ in seiner schlimmsten Pariser Zeit, als „_Einsam_“ und +„_Inferno_“ entstanden, diese erschütterndsten und zugleich +trostreichsten Dokumente eines schaffenden Geistes, weil sie deutlich +beweisen, wie die Schöpferkraft des Individuums es über die +furchtbarsten Nachtklüfte des „Ich“ hinwegzuheben imstande ist. Führt +aber eine solche paranoide Bedrängnis in einem Menschen, dem nicht die +Flucht in irgendeine Produktivität oder Hingabe daran (Kunst, Religion) +gegönnt war, zur antisozialen Tat, wie – bei Otto Eißler, woferne man +ihn paranoid erachtet, – so mußte diese lediglich als schicksalshaftes +Elementarereignis im Organismus gewertet werden, für das der Täter keine +judizielle Haftung übernehmen konnte. + +Die Psychiater _verneinten_ das. Mit einer Begründung, die am besten im +Wortlaute wiedergegeben sei: + +„... Aus dem betreffenden Akte und der Aussage Dr. Edmund Benedikts“ +(des Anwaltes des alten Heinrich Eißler) „ist zu ersehen, daß Beklagter“ +(Otto Eißler) „von seiten seiner drei Vettern arg benachteiligt worden +ist, und daß er nach dem rücksichtslosen Vorgehen derselben gegen seinen +hochbetagten Vater begründete Ursache hatte, ihnen zu mißtrauen, was bei +seiner Gemütsart nur auf allzu vorbereiteten Boden fiel. Wenn er im +Verlaufe der vorgekommenen Differenzen immer verbitterter wurde, den +Vettern alles Erdenkliche zutraute, vom ‚Gurgelabschneiden‘, ja geradezu +vom ‚wirtschaftlichen Morde‘ sprach, so sind das wohl überschwängliche +derbe Ausdrücke, die aber von den Tatsachen nicht allzuviel abwichen und +somit keineswegs wahnhaft begründet sind. Wenn er ferners _vermutet, daß +man von seinem Militärdienst schädigende Wirkungen auf seine Gesundheit +erhoffte, um dadurch einen gefährlichen Gegner loszuwerden_, so beruft +er sich hierbei darauf, daß man nicht nur ihn selbst verhinderte, ein +Enthebungsgesuch abzusenden, sondern auch seinen Vater mit Anzeige +bedrohte, als er ein solches einbringen wollte.“ + +Scheint der letzterwähnte Vorwurf schon unwahrscheinlich, weil er, wäre +er richtig, ein völlig unvorstellbares Maß von Haß und Unmenschlichkeit +involvieren würde, sollte er nicht vielmehr als typisches Symptom einer +fixen Idee, verfolgt zu sein, bezeichnet werden müssen, so gewinnt diese +Annahme bei den folgenden Details des Gutachtens noch mehr Raum: + +„... _Schon seit Jahren am liebsten bewaffnet_, weil er bei seinen +ländlichen Ausflügen schon frühe in den Karpathen und auch hier infolge +seines sonderbaren Wesens Attacken fürchtete und solche auch tatsächlich +bei Preßburg erlebte, hielt er seit seinen Differenzen mit den Vettern +auch daran fest, weil er sich nach den gemachten Erfahrungen vor diesen +nicht sicher fühlte. Er beschränkt sich diesbezüglich aber auf bloße +Vermutungen, wobei er sich auf _Vergleiche mit dem Schicksal +verschwundener Millionäre_ (!) und darauf beruft, daß Reiche alles +vermögen, ohne aber Symptome von krankhaften Beachtungs- oder +Verfolgungswahn, der immer weitere Kreise zieht, darzubieten. Alle +diesbezüglichen Äußerungen verlassen nie den Boden der Möglichkeit und +Wahrscheinlichkeit, wie er durch die vorliegenden Tatsachen +rücksichtsloser Behandlung und vermögensrechtlicher Übervorteilung von +seiten seiner Vettern geschaffen wurde. Beide waren wohl imstande, einen +solchen psychopathisch veranlagten Sonderling wie Beklagter einer ist, +nicht nur auf das Tiefste zu verwunden und zu verbittern, sondern ihn +auch in einen Zustand begreiflicher innerer Erregung zu versetzen, so +daß er schließlich zur Waffe griff und seinen Hauptgegner niederschoß.“ + +Hätte demnach Otto Eißler seinen Vetter grundlos hingestreckt, so wäre +seine Unzurechnungsfähigkeit damit schlagend erwiesen worden. Daß aber +allein gekränktes Rechtsgefühl mit oder ohne zureichenden Anlaß, schon +_weil_ es sich ununterbrochen verfolgt und gegen seine Verfolger wehrlos +sieht, in die ungeheuersten Exzesse ausarten kann, die seine +Verantwortlichkeit aufheben, daß ein Mensch, der sich schwer +benachteiligt meint, dabei belastet von Geburt her ist, auch durch +wirkliche Tatsachen, die seinen Wahn begründen, immer tiefer in die +Schlingen paranoider Zwangsvorstellungen gerät, aus denen er sich +nunmehr mit Gewalt reißen kann, – sollte das wahrhaft ein Novum in der +Geschichte psychopathologischer Erscheinungen sein? Muß denn ein +Paranoiker oder ein Paranoider durchaus äußerlich unmotiviert handeln. +Wäre hier nicht oft genug eine übersehene kausale Verbindung denkbar von +einem tatsächlichen ätzenden Erlebnis her, das er sich als Brücke für +die eigene Rechtfertigung seiner wachsenden Manien errichtet, solange +ihn die große Dämmerung noch nicht völlig überwuchert hat? Nein; dieses +Gutachten dünkt mich das Schulbeispiel eines „hysteron proteron“ zu +sein, einer geradezu typischen Verwirrung von Voraussetzung und Ergebnis +und als solches reif für die Lehrbücher der Logik. Auch in dem +Überschreiten seiner Befugnis, das aus der gleichen Quelle stammt, in +dem Judizieren der Tat selbst, das einzig der Prozeßführung vorbehalten +zu bleiben hat. So, wenn es schreibt: + +„Er (Otto Eißler) bestreitet aber in solcher Absicht(‚vorsätzlicher +Mord‘) hingegangen zu sein und will nur in einer momentanen zornigen +Erregung über die höhnische Ablehnung seines nochmals versuchten +Ausgleichsantrages durch Robert gehandelt haben. Das klingt im Hinblick +auf seine dem Niedergeschossenen zugerufene Äußerung: ‚Das hast du für +die sieben Millionen, um die du mich gebracht hast!‘, die sein klares +Tatbewußtsein bekundet“ (besagte Äußerung steht nebenbei so gar nicht +fest), „im Hinblick auf sein Ablauern der günstigen Gelegenheit eines +Telephongespräches Roberts und seine offenbar vorbereitete schwere +Bewaffnung,“ (schon ‚_seit Jahren am liebsten bewaffnet_‘ erzählt das +_gleiche_ Gutachten einige Seiten vorher), „ganz unglaubwürdig. Letztere +diente offenbar dazu, ganz sicher zu gehen.“ Und nun kommt das Beste! +„Wenn Beklagter behauptet, gar nicht gezielt zu haben, so widerspricht +dem die Tatsache, daß er nur zu gut getroffen hat.“ Was sonst? Auf die +wenigen Schritte Entfernung beim Feuern aus zwei Pistolen zugleich, wo +ein Kind nicht gefehlt hätte, geschweige denn ein alter Jäger wie Otto +Eißler, dem die Handhabung der Waffe schon im Blute lag? + +Alle diese Dinge wirken um so verwunderlicher, als das Gutachten sonst +Otto Eißlers Werdegang und die Entwicklung seiner psychopathologischen +Eigenheiten genetisch getreu schildert, nur ohne daraus die zu +erwartenden Folgerungen zu ziehen. Der Angeklagte leidet darnach an +hereditären seelischen und körperlichen Belastungen. Aus einer traurigen +Ehe über eine lichtlose Kindheit liebeleer gelassen, schleppt er das +bittere Erbteil seiner Eltern mit, des Vaters gutmütige aufrichtige, +jedoch von jeder Erregung unberechenbar aufgepeitschte Art, die nicht +minder reizbare, dem Spielteufel verfallene Mutter: Sie beide kämpfen +fort in der Seele des Sohnes bis zu seinem Untergang. Ihn drosselt +Ohnmacht gegenüber dem Dasein, einem Dasein, das die Anverwandten +mühelos meistern, die Kaufleute mit dem Feldherrnblick, die Wager und +Gewinner an der Bank des äußeren Lebens, deren abenteuerlichste +Schachzüge schließlich immer Gold entschuldigt, lohnt und verklärt. Und +er, Otto, ein von der Wurzel her Versehrter, nicht geschaffen in dem +groben Machtspiele mitzukommen, dabei doch begabt mit einem fast +künstlerischen Wissen darum, dem es nur an dem letzten nötigen Schuß +Brutalität mangelt, es zur Tat zu wandeln, ein Abseitiger, in dem solche +ihm schicksalshaft aufgedrungene Haltung alle dunklen Gewalten der +Einsamkeit erwachen ließ: Furcht, Argwohn und vergrübelte Sehnsucht. Und +nun gesellt sich noch Krankheit dazu, keine ausgesprochene, mehr ihre +drohenden Zeichen, die ihn an Körper und Seele tückisch bedrohen. Seit +seinem siebzehnten Jahre quält ihn ein physischer Schaden; eine +Operation beseitigt ihn, gleich setzen andere lästige Beschwerden ein in +Lunge und Blutkreislauf. Zirkulationsstörungen verursachen kongestive +Leiden, Migränen nehmen sein Hirn in den Schraubstock, dabei foltert ihn +Angst vor Bakterien, die sich phantastisch verstärkt, als er auf Grund +einer von Militärärzten im Kriege bestätigten Bronchitis für +dienstuntauglich erklärt wird. Dieselbe Diagnose hat er sich in seiner +privaten Existenz schon 1910 gestellt, wo er nicht nur des beginnenden +Zwistes mit den Vettern halber seine Arbeit bei der Firma nach +fünfzehnjähriger Tätigkeit aufgab. Die erdenklichsten Vorbeugungsmittel, +besonders fleißige Sonnenbäder gewähren ihm eine gewisse Erleichterung, +die ihm jener C-Befund (Garnisonsdienst) der Musterungskommission wieder +benimmt. Sein Kampf gegen die Bakterien geht nun so weit, daß er sich +metallene Türklinken wegen Infektionsgefahr zu berühren scheut und auch +bei schärfster Sonnenglut stets nur in peinlichst verschlossenen +Kutschen ausfährt. Im Laienurteil verschafft das Eißler unter den +Einwohnern des Städtchens Baden bald den Ruf eines ungefährlichen +Narren, eines verrückten Privatdozenten, für den man ihn der lehrhaften +Art halber hält, in der er seine Phobien auch ganz Fernestehenden +begründet. + +Trotz alle dieser den akuten chokhaften Eintritt einer seelischen Panik +erklärenden Symptome gelangt das Gutachten dennoch zur Konstatierung +seiner Verantwortlichkeit, die es allerdings wie folgt etwas +einschränkt: + +„Er ... ist nicht im Bewußtsein wesentlich getrübt oder gar +sinnesverwirrt. Er hat sich vielmehr nur nach § 46 des St.-G. in einer +aus den gewöhnlichsten Menschengefühlen entstandenen heftigen +Gemütserregung zu dem Verbrechen hinreißen lassen, für das ein +ausreichendes Motiv nicht fehlte. Im übrigen ist er ein keineswegs +geisteskranker oder geistesschwacher, hypochondrischer verschrobener +Sonderling, dessen psychopathische Minderwertigkeit ihn gegen das +Auftreten von Gemütsbewegungen weniger widerstandsfähig macht, was daher +vom gerichtspsychiatrischen Standpunkt als mildernder Umstand einer +richterlichen Würdigung noch besonders empfohlen werden muß.“ + +Der Angeklagte wurde hiermit verhandlungsreif. Die Anklageschrift konnte +entworfen werden. + + + + + VIII. DIE ANKLAGESCHRIFT. + + +Gewalttat stellt meistens eine tragische Außenhandlung dar, Ergebnis und +Erlösung tiefer gelegener Stauungen und Reize von ihr oft völlig polarem +Charakter, – und an der Peripherie, wie ihre blinde Aktion, bleibt +gewöhnlich ebenso ihre gerichtliche Sühne. Denn selbst diese belangt +lediglich ein Zeichen, nicht Wuchs und Wesen des Ereignisses; nach einem +Zeichen muß sie anklagen, verhandeln, verurteilen. Seit Jahrzehnten +vorgedachte Abstrakta werden Maß und Mittel der Strafe, erdacht von +einer Gesellschaftsordnung, die mit ihnen steht und fällt. _Rudolf von +Iherings_ so menschlicher Satz: „Das Leben ist nicht der Begriffe, +sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da,“ leuchtet über dem Tore +zu einer Gemeinschaft, das sich uns noch nicht aufgetan hat. + +Prüft man die Anklageschrift gegen Otto Eißler, die nach Einholung des +psychiatrischen Gutachtens am 23. Februar 1924 für den zu Aprilbeginn +terminierten Prozeß verfertigt wurde, so kann man sich ähnlicher +Meditationen nicht erwehren. Sie skelettiert Vorgeschichte und Fall im +österreichischen Kurialstil, wobei sie seine psychogenen Bedingungen +genau so zur Seite schiebt wie sie anderseits auf Konstatierung einer +eventuell wirklich verübten Benachteiligung des Beklagten seitens seiner +Verwandten verzichtet, hierin striktest gegensätzlich zu dem Gutachten +der Psychiater, das gerade diesen Punkt nicht scharf genug betonen kann, +weil er ihnen zum Beweis der geistigen Gesundheit des Beklagten dient. +Einig mit jenen wird sie wieder in den Folgerungen, dem „dolus“ und der +Verantwortlichkeit des Täters. Im übrigen bestrebt sie sich ihrem Sinne +nach, der ja auf Korrektur seitens der Verteidigung und auf +Einschränkung durch die Verhandlung selbst gefaßt ist, die Ereignisse in +den ihr wichtig dünkenden Phasen zu entfalten und führt dabei weder aus, +warum Otto seinen Haß just auf den Vetter Robert aus dem +Firmentriumvirat so mörderisch konzentrierte, noch, was solchen Haß +berechtigte oder nicht. Damit genügt sie ihrem Zweck, der die Suche nach +einer Wurzel der vor den Kadi gebrachten Handlung noch nicht +einbegreift. Wie jede Anklage steht auch sie in dem Vorgang, den sie in +die Schranken fordert. _Über_ ihn darf sie sich ja nicht erheben; sie +könnte sonst oft genug keine mehr sein. Sie sucht sich Paragraph und +Strafe zu der Schuld, die sie prangert. Sie sei hier gebracht in einem +Auszug, der, von ihrem Augenpunkte her, durch Darstellung und +Schilderung das bereits Berichtete, vermehrt um Details fesselnder Art, +betrachten lassen mag: + +„Die Staatsanwaltschaft Wien I erhebt gegen: + +Otto Eißler, geboren am 15. Juli 1874 in Bisenz, nach Wien zuständig, +mosaisch, ledig, ohne Beschäftigung in Baden wohnhaft gewesen, derzeit +in Haft, _die Anklage_: + +Otto Eißler habe am 30. August 1923 gegen Robert Eißler in der Absicht, +ihn zu töten, durch Abgeben mehrerer Schüsse aus einer Browningpistole +und einer Mauserpistole auf eine solche Art gehandelt, daß daraus dessen +Tod erfolgte. Otto Eißler habe hierdurch das Verbrechen des Mordes nach +§ 134 STG. begangen und sei nach § 136 STG. unter Bedachtnahme auf §§ 1, +2 des Gesetzes vom 3. IV. 1919 STG. BL. Nr. 215 zu bestrafen. + +_Begründung_: + +Otto Eißler ist der Sohn des im Jahre 1920 verstorbenen Heinrich Eißler, +der bis zu seinem Tode öffentlicher Gesellschafter der Firma J. Eißler +und Brüder war. Nach einem im Jahre 1897 zwischen den Gesellschaftern +dieser Firma geschlossenem Vertrage hätte Otto Eißler unter gewissen +Voraussetzungen das Recht gehabt, nach dem Tode seines Vaters als dessen +Nachfolger in die Firma einzutreten. Schon vor dem Tode Heinrich +Eißlers, nämlich am 1. Oktober 1919, traf Otto Eißler mit den damaligen +Mitgesellschaftern seines Vaters, seinen Vettern Dr. Hermann Eißler, +Robert Eißler und Alfred Eißler ein schriftliches Abkommen, demzufolge +Otto Eißler auf das Recht nach dem Tode Heinrich Eißlers öffentlicher +Gesellschafter der Firma zu werden, verzichtete, wogegen ihm die +Berechtigung zugestanden wurde, sich als stiller Gesellschafter an den +Geschäften zu beteiligen. Dieses Übereinkommen wurde jedoch nach dem +Tode des Heinrich Eißler, und zwar mit dem Vertrag vom 6. Juli 1921 +umgestoßen, durch den Otto Eißler gegen Bezahlung bedeutender Beträge +endgültig aus der Firma schied. Otto Eißler hatte früher, und zwar seit +dem Jahre 1896 verschiedene Stellungen in der Firma eingenommen, jedoch +im Jahre 1910 nach Mißhelligkeiten mit den Firmeninhabern diese +geschäftliche Betätigung aufgegeben. Seit dieser Zeit glaubte er zu +erkennen, daß seine Verwandten darauf ausgingen, ihn systematisch aus +dem Geschäfte zu verdrängen. Dies rief eine dauernde tiefe Verbitterung +bei ihm hervor, die sich in der letzten Zeit noch steigerte, als sich +ihm die Überzeugung aufdrängte, daß er durch die Verträge aus dem Jahre +1919 und 1921 nicht nur seines Anteiles an der von seinem Vater +gegründeten Firma für immer verlustig geworden war, sondern daß seine +Vettern Hermann, Robert und Alfred Eißler ihn in diesen Verträgen auf +das schwerste geschädigt hatten. Er brachte im Frühjahr 1923 durch +seinen Rechtsanwalt beim Handelsgerichte Wien gegen seine Vettern die +Klage auf Ungültigkeitserklärung der beiden Verträge von 1919 und 1921 +ein. Für wie wenig aussichtsreich er diesen Prozeß hielt, geht daraus +hervor, daß er wiederholt bei den feindlichen Vettern vorsprach, um sie +zu einem Ausgleich zu bewegen. Dabei kam es zu sehr erregten +Auseinandersetzungen, bei denen seine Gegner bestimmt und nachdrücklich +jede gütliche Austragung ablehnten. Diese unnachgiebige +schroff ablehnende Haltung seiner Vettern, die Erkenntnis der +Aussichtslosigkeit, seine Ansprüche ihnen gegenüber im Prozeßweg +durchzusetzen, der Gedanke, das wehrlose Opfer der Treibereien seiner +Verwandten geworden zu sein, haben in Otto Eißler das Gefühl tiefsten +Hasses immer mehr verstärkt, alle sittlichen Hemmungen verdrängt und in +ihm den Entschluß zur Reife kommen lassen, an seinen Feinden Rache zu +nehmen, – einer von ihnen, die ihn wirtschaftlich zugrunde gerichtet +hatten, sollte die Schuld mit dem Leben bezahlen. + +Otto Eißler, der seit Jahren ständig in Baden bei Wien wohnte, hatte am +9. II. 1923 beim dortigen Büchsenmacher, Ferdinand Müller, eine +Browningpistole gekauft. Etwa drei Wochen nach der letzten mündlichen +Zurückweisung seines Ausgleichsanerbietens kam er, es war am 20. oder +21. August 1923, wieder in das Geschäft Müllers und verlangte eine +Mauserpistole. Da keine vorhanden war, bot man ihm eine Steyrerpistole +an, die er ablehnte, worauf vom Geschäftsinhaber die von Eißler +gewünschte Waffe besorgt wurde. Am 23. August 1923 kaufte er nun die +Mauserpistole samt 25 Patronen. + +Am 30. August, also eine Woche später, fuhr er um halb neun Uhr +vormittags mit der Lokalbahn nach Wien und begab sich in die im Hause +I., Dr.-Karl-Lueger-Platz 2. befindlichen Geschäftsräume der Firma. +Nachdem ihm geöffnet war, ging er sofort durch das Vorzimmer in das +sogenannte Chefzimmer, in dem die Schreibtische der Gesellschafter +Robert und Alfred Eißler standen. Das Zimmer (früher der Arbeitsraum +Heinrich Eißlers) war leer und der Beschuldigte setzte sich auf den vor +dem Schreibtisch Alfred Eißlers stehenden Sessel und wartete. Der +Kassierer der Firma, Albert Köhler, kam herein und antwortete auf die +Frage, welcher Chef heute anwesend sei, daß nur Robert Eißler da sei. +Nach kurzem, belanglosem Gespräch verließ Köhler das Zimmer und begab +sich in seine Kanzlei, wo nach einigen Minuten Robert Eißler mit dem +Ersuchen erschien, Köhler möge ihm einen auf einer Armbanduhr klebenden +Zettel ablösen. Auf dem Rückweg ins Chefzimmer forderte Robert Eißler +den Geschäftsdiener Josef Kment auf, ihn telephonisch mit dem Direktor +einer Aktiengesellschaft zu verbinden. Gleich darauf öffnete Kment die +Tür zum Chefzimmer, in dem sich jetzt Robert Eißler befand, und meldete, +daß die Verbindung hergestellt sei. Er hörte noch, bevor er sich +entfernte, wie Robert Eißler das telephonische Gespräch begann. Kaum +eine Minute später öffnete der Kassierer Köhler die Tür des Chefzimmers, +um die Uhr zurückzubringen, da sah er, daß Otto Eißler vor dem +Schreibtisch Alfreds stand und auf den ihm gegenüber an seinem +Schreibtisch sitzenden Robert Eißler mit ausgestreckten Armen aus zwei +Pistolen mehrere Schüsse abgab. Robert Eißler sank getroffen zu Boden. +Köhler nahm dem Beschuldigten die Waffen, wobei Otto Eißler etwas von +„sich erschießen“ sprach. – – – – – – – – – – – – + +Als gleich darauf der Arzt erschien, sagte Robert Eißler noch: +„Bauchschuß, – ich sterbe – Herr Doktor, wie lange habe ich noch zu +leben?“ Dann schaffte man ihn in ein nahegelegenes Sanatorium, wo er +kurz nach der Einbringung seinen Geist aufgab. Alle unmittelbar nach der +Tat erschienenen Personen bekunden die vollkommene Ruhe und Gelassenheit +des Beschuldigten, der dem ihn zum Stadtkommissariat eskortierenden +Wachebeamten Karl Rudolf auf die Frage nach dem Beweggrund seiner Tat +die Antwort gab: „Wenn man mich statt mit Goldfranken mit +österreichischen Kronen abfertigen will, dann werden Sie es verstehen.“ + +Die gerichtliche Öffnung der Leiche des Robert Eißler ergab eine +Schußwunde in der rechten Brustseite, diese Kugel hatte auf ihrem +weiteren Weg den rechten Bauchmuskel durchbohrt, das Zwerchfell breit +durchtrennt und ist in die Bauchhöhle eingedrungen. An der linken +Bauchseite befanden sich drei weitere, von einem und demselben Schuß +herrührende Wunden. Diese Kugel hat den Dickdarm durchbohrt, ist dann in +die hintere Bauchwand eingedrungen, hat die linke Seitenwand des kleinen +Beckens durchsetzt und dabei einige größere Blutadern zerrissen. Eine +weitere Schußverletzung wies der rechte Oberschenkel auf, wo durch +das Geschoß die Muskeln breit zertrümmert und sowohl die +Oberschenkelschlagader als auch die dazu gehörige Blutader breit +geöffnet wurden. Diese Gefäßverletzungen haben zu mächtigen +Blutaustritten in das Gewebe geführt. + +Von einem vierten Schuß war der linke Oberschenkel getroffen worden, der +wagrecht durchbohrt war, die Schenkelanziehermuskeln waren ausgedehnt +zertrümmert, von Blutaustritten durchsetzt und die große Rosenblutader +verletzt. Der linke Arm wies sechs Schußwunden auf, die möglicherweise +von bloß zwei weiteren Schüssen verursacht worden sein können. Der Tod +Robert Eißlers ist infolge dieser Schußverletzungen durch Verbluten +erfolgt. Sowohl der an zweiter Stelle genannte als auch der dritte Schuß +hätten jeder für sich allein den Tod herbeiführen können. + +Otto Eißler kann die Tat nicht in Abrede stellen und behauptet schon in +seinem polizeilichen Verhör, im Jähzorn und ohne Tötungsabsicht +gehandelt zu haben. Dieselbe Verantwortung bringt er am 1. September +beim Untersuchungsrichter vor. „Ich habe,“ sagt er, „im Jähzorn auf den +Mann geschossen, der meines Erachtens Betrügereien zu meinem Nachteil +begangen hat, und ich meine, unter diesen Umständen ist meine Tat zwar +moralisch verwerflich, aber menschlich zu begreifen.“ Da er auf die ihm +vom Untersuchungsrichter vorgehaltenen schweren Verdachtsgründe, die mit +Sicherheit auf die längst gefaßte, wohlüberlegte Absicht schließen +lassen, seinen Gegner zu töten, keine Antwort weiß, erklärte er nunmehr: +„Ich stehe auf dem Standpunkt, daß der Ausbruch einer Wahnidee sich +nicht mit Logik begründen läßt.“ + +Auch in seinem Verhör vom 17. Dezember 1923 stellt er die Tat als das +Ergebnis einer jähzornigen Gemütsaufwallung dar, will dann wieder +glauben machen, er habe im Augenblick des Schießens nicht gewußt, daß er +schieße, behauptet dann wieder, in einer riesigen Zornaufwallung +gehandelt zu haben und weiß auf den Vorhalt, daß alle unbefangenen +Personen seine vollkommene Ruhe unmittelbar vor, bei und nach der Tat +bestätigen, nichts anderes zu entgegnen, als daß er die Wahrheit dieser +Aussagen bestreite. Die Verantwortung Otto Eißlers, nicht in der Absicht +zu töten geschossen zu haben, findet in den Ergebnissen des +Vorverfahrens ihre volle Widerlegung. Die Vorgeschichte der Tat, der +Ankauf der zweiten tötlichen Waffe, das Mitnehmen beider Pistolen von +Baden nach Wien, das klugbedachte und wohlüberlegte Abwarten des +günstigsten Augenblickes, während Robert Eißler durch das Telephonieren +abgelenkt war, die Abgabe von mehreren Schüssen aus zwei ihm als äußerst +gefährlich bekannten Waffen aus unmittelbarer Nähe: alle diese Umstände +lassen keine andere Deutung zu, als die, daß Otto Eißler den lange +vorher bedachten und wohlvorbereiteten Plan zur Ausführung gebracht hat, +einen seiner Feinde, die ihn wirtschaftlich auf das Schwerste geschädigt +hatten, und die er erbittert haßte, zur Befriedigung seines +leidenschaftlichen Rachegefühles ums Leben zu bringen. Nach den Angaben +einer Reihe von Auskunftspersonen ist der Beschuldigte stets um seine +Gesundheit ängstlich besorgt, weicht insbesondere jeder +Ansteckungsmöglichkeit sorgfältig aus, ist von sehr argwöhnischer und +mißtrauischer Sinnesart, so daß er den Eindruck eines Sonderlings macht. +Das Gutachten der Gerichtsärzte, die die Untersuchung seines +Geisteszustandes vorgenommen haben, bestätigt, daß Otto Eißler ein +hypochondrisch-verschrobener Sonderling sei, schließt jedoch völlig aus, +daß er etwa geistesschwach oder gar geisteskrank sei oder sich zur Zeit +der Tat in einem Zustand der Sinnesverwirrung befunden habe. Seine +Verantwortlichkeit für die von ihm begangene Bluttat steht daher außer +jedem Zweifel. + +Staatsanwaltschaft Wien I. + +Am 23. Februar 1924. + +Auf Grund dieser Anklage stand am 8. April Otto Eißler im großen Saale +des „Grauen Hauses“, wie das Landesgericht im Wiener Volksmunde heißt, +vor den Geschworenen. Die Verhandlung war auf drei Tage bemessen; ihren +Beginn verzögerte ein Gebrechen in der Lichtleitung. Die Leitung des +Prozesses gestaltete sich um so rascher. Der schon früher genannte +Richter riß sie straff und unnachsichtlich vorwärts mit einer +Schneidigkeit, die etwas preußisches an sich hatte. Es sollte zu keinem +Kurzschlusse kommen zwischen ihm und dem ewigen Gesetze. Ein Mensch war +getötet worden; der Mörder mochte es büßen, ohne psychologischen +Firlefanz: Hart gegen Hart! + + + + + IX. DER FÜNFTE AKT. + + +Einmischung in eine Privatangelegenheit – unnötige Behelligung der +Öffentlichkeit mit einer Streitsache, die man der Unzulänglichkeit des +geltenden Rechtes wegen persönlich erledigen mußte, – Beschnüffelung von +Opfer und Täter, die hier nur einander betrafen und durch ihr tötliches +Duell die Menschheit als Ganzes, nie aber Neugier und Zuständigkeit +eines bürgerlichen Gerichtes, – ein wenig so betrachtet der mittelgroße, +etwas beleibte ältere Herr im dunkelgrauen Mantel seinen Fall, den er +vor den Schranken temperamentvoll erläutert und begründet. Nicht im +Sinne der Anklage bekenne er sich schuldig, erwidert er dem +Vorsitzenden, Hofrat Ramsauer, der aus seinem hautverkleideten +Granitschädel angespannt der Schilderung Otto Eißlers folgt. Darnach hat +Robert die von dem Vetter beabsichtigte Zwiesprache mit einem +sonderbaren, nicht eben gemütvollen Wunsche im Keime erstickt: „Du +kannst noch sieben Jahre Prozeß führen! Von mir aus könnt ihr alle +krepieren!“ Und er? – – „Nachdem ich die Hände gerade in den Taschen +hatte, habe ich, ohne es zu wissen, und ohne mein Wollen, ohne zu +zielen, ohne zu wissen, daß ich schieße, auf den Mann geschossen.“ Die +Waffen, die er dann gegen sich richten wollte, müssen ihm entrungen +werden. Im übrigen hätte er sie gewohntermaßen bei sich getragen, +deshalb könne keine Rede davon sein, daß er sie vor jener Fahrt, die in +die Bluttat mündete, eigens planvoll zu sich gesteckt habe. Und in Einem +weist er es zurück, er wäre über den Sterbenden mit einem „Es ist nicht +schade um ihn“ weggegangen. Aus dem ersten Verhör mit Regierungsrat +Hanusch steht eine viel wesentlichere Äußerung verzeichnen die er auch +nicht leugnet: „Es muß doch in der Welt endlich einmal etwas geschehen“ +Diese scheinbar banalen Worte legen die eigentliche Achse seiner +Handlung bloß, reichen in das Getriebe der inneren Zwangsläufigkeit +seines Verbrechens, wohin die seelische Autopsie der Psychiater trotz +peinlichster Gewissenhaftigkeit nicht einzudringen vermochte. Er, der +nach Ansicht seiner Vettern zu zerfahren blieb, um in den Generalstab +des Kontores vorzurücken, schmetterte mit seinen mörderischen Schüssen +symbolisch die Firmentafel ein, weil es ihm nicht verliehen war, sich +anders über solche Kränkung wegzuhelfen. Vorsätzlicher Mord oder +Totschlag im Zorn standen also hier in erster Linie zur Frage: beides +lehnt er vehement ab, will einzig auf eine seelische Panik plädiert +wissen, die in jenem tragischen Augenblicke nicht allein seine Waffen, +sondern auch ihn jeder hemmenden Sperre entledigt hätte. Dawider aber +findet er im Gutachten der Psychiater wie in der Anklage entschlossenste +Gegnerschaft. Die vierte Möglichkeit befehdet er selbst, jene, es könne +sich um eine Paranoia handeln, um eine ausgesprochene Geisteskrankheit +aus der Kategorie des Verfolgungswahnes. Wie sein Anwalt, Doktor +_Valentin Teirich_, der dritte, den sich der von Mißtrauen vergiftete +Angeklagte seit seiner Festnahme gewählt hatte, scharfsinnig ausführte, +lag der Keim des Übels wohl nicht in der zur gespenstigen Gegnerschaft +gewordenen Vision seines feindlichen Vetters, mehr in einer durch +gesteigertes Selbstgefühl überkompensierten Urangst vor irgendeinem +Untergang, die sich zunächst als Verarmungsfurcht kundgab und sich erst +nachträglich angeregt durch die ihn tatsächlich gefährdende Einstellung +Roberts den Körper fand, mit dem sie sich in kausale Beziehung als den +endlich Fleisch gewordenen Feind zu setzen vermochte. Doch Zweifel an +der Überlegenheit und unbedingten Klarheit seines Geistes will Otto +Eißler nicht sich und niemand eingestehen; an seinen Geist soll ihm +keiner rühren, nicht einmal an seine Meinung über die Eignung für das +Geschäft, die er, wie er behauptet, mehrfach glänzend bewiesen hätte, +was ja wahrhaftig nicht so sehr für Geist als für rasche Gewitztheit und +rücksichtslose Entschlußkraft zeugte. Ehe er das Primat seines Geistes +anzutasten gestattet, nimmt er lieber noch die Gefahr des äußersten +Strafsatzes auf sich, der sein Verbrechen mit lebenslänglichem Kerker +bemißt. Doch er rechnet bestimmt auf Freispruch, sehr verschieden darin +von dem Vorsitzenden, der sich immer gewichtiger in den Mittelpunkt der +Verhandlung schob, wie in jeder, die bisher unter seiner Ägide vor sich +gegangen war. Ägide in des Wortes furchtbarster Bedeutung: Es war ein +Medusenhaupt des Rechtes, das er den armen Sündern wies. + +Es reizt, vor jedem weiteren Berichte bei seiner Persönlichkeit zu +verweilen, deren gehaltene Natur sich von dem flackernden Nervenbündel, +das ihm da in die Hand gegeben war, nicht bewegen ließ. Bei einem +protestierendem Zwischenrufe fährt er es an: „Ich habe Ihnen schon +gestern gesagt, daß die Art, wie Sie Zeugen anflegeln, nur für das Ende +spricht, das Sie erwartet!“ Was in der Kritik der Presse („Abend“ vom 9. +April 1924) zu dem Hinweis auf einen Justiz-Ministerial-Erlaß vom Jahre +1907 Anlaß gab, der einen Vorsitzenden, der „den Angeklagten bereits als +überführt behandeln würde“, ausdrücklich als mit seinen Pflichten in +Widerspruch stehend bezeichnet. Eißler freilich vermochte da nichts zu +erwidern; er besaß nicht die notwendige blitzhaft einsausende Energie, +wie etwa die Giftmischerin Milica Vukobrankovics, die ihrem +Verhandlungsleiter bei einer ähnlichen Kritik entgegnet hatte: „Hängt +das mit dem Abbau zusammen, daß sie Richter und Staatsanwalt in einer +Person sind?“ und damit die Lacher auf ihrer Seite entfachte. Wie es +aber Ottos Verhängnis blieb, daß selbst der Schatten des toten Robert +mächtiger wirkte als er, so gleitet er auch allmählich hier vor der +Figur seines Richters zur Seite, der nun alle Erwartung und Neugier auf +sich sammelt. Es ist eine bedeutende, doch nicht versöhnlich anmutende +Gestalt, die sich uns in Hofrat Ramsauer darstellt: Hartkantig bis zur +Schroffheit, an dem ganzen Handel fasziniert durch die Paragraphen, nach +denen er erledigt werden muß, ein Matador seiner traurigen Pflicht, die +ihm zur Leidenschaft geworden ist, in unermüdlicher Arbeitskraft jenem +Toten ähnlich, um den der Prozeß geht. Als zweiter „_Holzinger_“ wird er +verschrieen, der Name jenes scharfen Wiener Staatsanwaltes, Schwager des +Dichters _Anzengruber_, der schließlich selbst sein heiliges Gesetz so +sehr verletzte, daß ihm nur freiwilliger Tod den letzten Ausweg bot. Es +wäre aber ebenso wohlfeil wie falsch, einen Charakter von Ramsauers Art +mit dem Klischee des geistigen Sadismus abzutun, wie es zur Not noch auf +Holzinger passen konnte. Ramsauer ist lediglich tätiger Protagonist +seiner Weltanschauung die ihm das Strafrecht zum unantastbaren +Evangelium verklärt hat. Vorgefaßtes Übelwollen äußert er so wenig wie +Güte. Dem Gesetze einzig und allein dient er und wendet es an, so lange +es besteht in der gebotenen Form, ohne Schwäche, jedoch auch ohne +Ansehen der Person und ohne willkürliche Auslegung. Humanitätsappelle, +psychologisierende Entschuldigungen sind freilich seine Sache nicht; der +Blick, der in Herz und Nieren des Inkulpanten forscht, übersieht +vielleicht, daß zwischen ihm und jenem auf dem Richtertische ein Kreuz +mahnt. Als Vollzugsorgan einer Gesellschaftsordnung erachtet er sich, +darin jedes unangebrachte Erbarmen die Fundamente lockern kann. Das +„Ramsauerurteil“ wurde sprichwörtlich, seine Entscheidungen, auch als +Einzelrichter, beschäftigen andauernd den Berufungssenat; der milde +Hofrat _Jakob_ nahm so – einen Tag nach Abschluß des Eißlerprozesses, – +an mehreren von Jenem gefällten Urteilen wegen § 144 (Verbot der +Abtreibung der Leibesfrucht) menschliche Abstriche vor. Was Ramsauer +keineswegs veranlaßte, sich etwa bei der gleichen Gelegenheit später +sichtlich milder zu erweisen. So ist er auf seine Art, die freilich +nicht Jedermanns Art sein mag, ein Römer nach Gerechtigkeit, Reinheit +und gelassener Härte seiner Persönlichkeit. + +Es mochte also mehr an der Form, als an der gerade von diesem Richter +sonst peinlichst korrekt geprüften Sache liegen, die besonders die +Presse fortwährend gegen ihn aufbrachte, die ihm Feinde schuf, wie sie +in solcher Menge und Hartnäckigkeit in Wien selten eine öffentliche +Persönlichkeit zählt. Die Strategie seines Verfahrens setzte auch in der +Causa Eißler – wohl unbewußt – vom Anfange her schon mit einem „Ceterum +censeo“ wider den Beklagten ein. Bereits am ersten Tage des Prozesses +vernahm er bis in die tiefe Nacht sämtliche Entlastungszeugen, um die +folgende Zeit nur mit belastenden Aussagen zu füllen, ein sonst der +ungünstigen Wirkung auf die Geschworenen halber nicht üblicher Brauch. +Denn wie der Verteidiger im Strafverfahren das letzte Wort zugebilligt +erhält, genau so pflegt man die Stimme _für_ den armen Sünder erst +_nach_ jenen anzuhören, die ihn auf Leib und Leben _verklagen_. Und +nicht nur solche ungewohnte Umkehrung beeinträchtigte im Zuge der +Verhandlung die Situation des Angeklagten; auch sein Anwalt Dr. Teirich +mußte manche Bemerkung oder Frage an das Gericht über den Wink des +Vorsitzenden zeitlich verschieben, wodurch sie in ihrer geplanten +Wirkung auf die Geschworenen nichts weniger als gewann. Das große +Schachspiel, das um die Haltung der Zwölfmännerschaft sonst zwischen +Advokat und Staatsanwalt ausgefochten zu werden pflegt, hatte hier zum +Teile auch die sella curulis ergriffen; zwei Partner rückten so gegen +einen in das Feld. Die Entlastungszeugen, Schulfreunde, Bekannte, +Verwandte Otto Eißlers, sowie Leute, die in dienstlicher Beziehung zu +ihm standen, schienen sich eins darin, daß er ein gutmütiger Sonderling +sei mit querulanten Neigungen, aber von einer feinfühligen inneren +Beschaffenheit, die ihn auch für das soziale Elend um ihn nicht taub +machte. Diese Erklärungen wachsen an Wärme, je näher sie dem privaten +Leben des einsamen Melancholikers kommen; die Schwester Ida von Molnar +und Anna Heimerle, die Lebensgefährtin, wissen nicht genug seine Güte +und seine Vornehmheit zu rühmen. Von der Gegenseite geschieht eigentlich +nur durch Doktor Braß, dem Vertreter der Zivilansprüche der Familie +Roberts, eine aus dem Rahmen fallende Attacke; Doktor Fürst polemisiert +sehr diplomatisch, und der neue Firmenchef Doktor Hermann Eißler, ein +Mann erlesenster künstlerischer Kultur, der sich erst spät zu +gerichtlicher Aussage entschlossen hatte, befleißigte sich gleichfalls +möglichster Objektivität. Dennoch schwindet bald jede weichere +menschlichere Stimmung, Ziffern schwirren herum, uralter Verwandtenhaß +brodelt auf, immer dicker wird die Luft im Gerichtssaal. Solcher +anschwellenden Beklommenheit hält niemand stand, wie eine stickige +schmutzig-gelbe Wolke wuchtet das Gold und seine Gier über allem, immer +kleiner, immer trüber schwält durch ihren Dunst die Flamme der +Verantwortung, immer gewaltiger kann die Anklage ausholen zum +unerbittlichen Endspruch. Und doch klaffte in der Sache selbst ein +tragischer Irrtum: Der arme Mensch, der hier Zahl über Zahl türmte, so +daß Vorsitzender und Geschworene dem Eindruck erlagen, eine verunglückte +Valutenspekulation sei da von einem nicht einmal wesentlich Geschädigten +aus gekränktem Egoismus zum Mordmotive aufgebauscht worden, – er war +wirklich nichts weniger als wesenseins mit den Dinaren, jugoslavischen +und österreichischen Kronen, die er sprudelnd hervorstieß. Er konnte +bloß keine andere Sprache gebrauchen, als eine seines Milieus, er meinte +dabei gar nicht jenes Geld, um das man ihn seiner Ansicht nach betrogen +hatte, sondern sein vom Gelde ins Antlitz geschlagenes gutes _Recht_. +Doch sich in Diskussionen über das Thema „Nicht der Mörder, der +Ermordete ist schuldig“ einzulassen, dazu spürte das Gericht wenig Lust; +denn eben durch den sich in Zahlen rechtfertigenden Angeklagten war es +ja auf ein Maß herabgenötigt worden, aus dem es die tragische Kulisse +des ganzen Falles, die zugleich eine Kulisse seiner Zeit wurde, nicht zu +fassen vermochte. Für seinen Wahrspruch stand da bloß ein ihm +unangenehmen von fixen Ideen besessener Herr bereit, der in seinen +ungezügelten Repliken vom Vorsitzenden stets nachdrücklichst abgewiesen +werden mußte, und an dessen Händen überdies das Blut eines der +geachtetsten Großindustriellen des Reiches klebte. Solche Eindrücke +modellierten die Überzeugung der Zwölf, Eindrücke von einer fremden und +keineswegs sympathischen Welt. + +So war im Verlaufe der drei Tage „nichts fürs Gemüt“ vorgefallen, die +unaufhörlichen geschäftlichen Diskussionen langweilten und erbitterten; +einzig die Aussagen der beiden Frauen, die der Vorsitzende chevaleresk +behandelte, hatten etwas Helle verbreitet. In einer umsichtigen, vor +allem gegen das Gutachten der Psychiater gerichteten Rede verfocht +Doktor Teirich die Sache seines Schutzbefohlenen höchst geschickt, indem +er zwingend zu erläutern trachtete, wie ein Mensch von der seelischen +Basis und Belastung des Beklagten, die er mit bezeichnenden +Zeugenattesten umriß, unter den von seiner Sippe gegen ihn verfügten +Maßnahmen in einen seelischen Aufruhr geraten mußte, der seine +Zurechnungsfähigkeit bei der Tat ausschloß. Und selbst der _Staatsanwalt +Doktor Winterstein_, der sich auch während der Dauer der Verhandlung in +höchst rühmenswerter Weise verhielt, die das menschliche Bedauern für +den Beklagten trotz selbstverständlicher schärfster Verdammung der Tat +nicht verhehlte, bat die Geschworenen um Milde: „Der Kampf der Firma +gegen Otto,“ sagte er, „ist hart und ungerecht geführt worden, und er +hatte es nicht gerade mit zärtlichen Verwandten zu tun.“ So mühte sogar +er sich, Verständnis zu erwirken dem, den er auf geplanten Mord verklagt +hatte. + +Der Vorsitzende beharrte auf seinem Standpunkt, für den es, wie er +bekannte, gleichgültig blieb, ob Robert Eißler ein Engel oder der Teufel +in Menschengestalt gewesen sei. Vergossenes Blut heischte Sühne. In der +Schale des Zornes würde es immer schwerer wiegen, mochte noch so viel +Verzeihliches und Begreifliches in der Schale der Versöhnung liegen. + +_Die Geschworenen bejahten die Frage auf vorsätzlichen Mord mit zehn Ja +und zwei Nein._ + +Der Strafsatz bemißt für diese Erkenntnis im bittersten Falle +lebenslänglichen schweren Kerker, der im Berufungswege bis zu einem Jahr +herabgesetzt werden kann. Solche Berufung wird aber der Verteidigung nur +dann gestattet, wenn der Spruch des Richters auf mehr als zehn Jahre +lautet, und wäre es zehn Jahre und einen Tag. Man geht nur meist bei +ähnlichen Gerichtstragödien, wie sie in der bäuerlichen Bevölkerung +nicht zu selten sind, ungerne so hoch hinauf. + +Eine Frage auf Totschlag unterblieb. Über Wunsch des Beklagten. Hofrat +Ramsauer verkündigte das _Urteil_: + +_Zehn Jahre schweren Kerkers!_ + +Keine Stunde mehr! Keine Stunde weniger! Zehn unabänderliche Jahre! + +Die Lebensgefährtin Otto Eißlers brach mit einem Schrei bewußtlos +zusammen. + +Er selbst verharrte aufrecht und starr. Sah er plötzlich hinter die +Dinge, hinter den steinernen Richter, hinter die steifen Geschworenen, +hinter die graue Wand des Gerichtes? Reckte sich nicht eine Gestalt, die +auf ihn niederblickte durch geschlossene Augen, aber aus sechs offenen +Todeswunden? Die wieder sagte: + +„Dummer Kerl!“ – + +Ja; er hatte Unglück, der arme Otto Eißler. Der einen Macht entriß er +sich und ließ dabei eine Leiche am Wege. Um nun von einer anderen Macht +sein Urteil zu empfangen, das dreifach galt für den kränkelnden +fünfzigjährigen Mann. Von einer Macht, die unangreifbar thronte und +unerschütterlich, hart gleich dem Vetter Robert, dessen verwandeltem +Angesicht er hier wieder begegnete, wie einem Schicksale, dem er +bestimmt gewesen war zu verfallen, von allem Ursprunge her. + + + + + X. EPILOG. + + +Am Abend dieser Urteilsfällung über eine Tragödie des Geldes geschahen +Zeichen. Der große gelbe Pan war tot! Der Schrei vom Sterben des _Hugo +Stinnes_ gellte durch die Straßen. + +Zugleich bebte und heulte es auf dem Schottenring. Die Börse bäumte sich +in Krämpfen über den mißglückten Frankenfeldzug. Verhaftungen und +Selbstmorde lösten einander ab. + +Die Spannung, die die Verhandlung gefedert hatte, erschlaffte davor. Man +fand nicht rechte Muse, ein Urteil zu überdenken vor der größeren +Götterdämmerung, darin wieder ein goldener Hort in den Fluten versank. + +Was war auch das Fazit aus Tat und Gericht? – Ob Otto Eißler, der +fünfzigjährige, sein Dezennium Haft unversehrt überstehen würde, ob er +vorher in einer Heilanstalt oder auf einem Friedhofe ersehnte Rast +erführe, – ein Abgeschiedener ist er schon heute für diese Welt, um die +er so verzweifelt gekämpft hat bis zum Verbrechen. Sein Los nahm nun +scheinbar doch die Kurve zur großen Verwirrung hinüber, die die +Psychiater leugneten. In der Strafanstalt _Stein an der Donau_, +derselben, aus der die Revolution einst _Friedrich Adler_ befreit hatte, +spürte sich Otto Eißler vorerst tief erlöst. Die Ruhe, die er nach der +Tat gezeigt, dem Psychiater anstößig, dem Psychologen leicht erklärlich, +folgte ihm auch dorthin. Fühlte er sich ja endlich entladen von dem +Verhängnis seiner Tat, die wie ein keimendes Leben in ihm gewachsen war +und nun mit ihrem Ausbruche sein Innerstes gereinigt hatte. Bald aber +schatteten die alten Ängste wieder um ihn, Stimmen hörte er vor seiner +Zelle tuscheln, er argwöhnte Komplotte und Attentate gegen die Seinen, +wähnte die Kinder in Not, die Gefährtin verfolgt von den Feinden, deren +Rache noch immer nicht gesättigt sei, – und schrie Hilfe herbei, – +schrie, bis man ihn in Einzelhaft steckte, schrie darin fort, – so daß +man ihn schließlich nach Wien zur Beobachtung überwies. Um ihn von dort +wieder ergebnislos zurückzusenden. Als einen, der ja wirklich nicht irre +war nach ärztlichem Ermessen, eher ein irre Gewordener an der +Menschheit. Kein Geisteskranker, doch krank am Geiste, noch nicht +umnachtet, aber in Nebel geraten. Dem lindere Strafe oder Freispruch +vielleicht noch einen anderen Freispruch bedeutet hätte, Freispruch von +seinen Gesichten, denen er nun wehrlos überliefert ist. + +Wen mußte man auch vor diesem ohnehin rettungslos in sich Verkerkerten +schützen? Durch zehn Jahre äußeren Kerker? Die Tat, die, – ob elementar +oder nicht, – aus dem sozialen Gefühle verletzten Rechtes erfolgt war, +ließ sie je Wiederholung durch ihren Urheber befürchten? An wem? In +einem Wiener Vororte stieß weniges später ein roher Bursche einen seiner +friedlichen Wehrlosigkeit allgemein als „Waserl“ bezeichneten älteren +Mann nach vorhergegangenen und bezeugten Drohungen das Messer tötlich in +die Brust; er erhält zwei Jahre, dann wird er wieder auf seine +Mitmenschen losgelassen. Und hier –? Eißler war kein Verbrecher im +strengen Sinne, keiner, vor dem sich das Leben durch seine dauernde +Versperrung hüten mußte, vielmehr vollgültig das, was der Titel dieser +ganzen Sammlung vereinigt: _Ein Außenseiter der Gesellschaft_. Und auch +hierin wieder „cum grano salis“. An der Gesellschaft hatte er sich +versündigt, nicht an der Gemeinschaft. Vor ihrer großen und letzten +Instanz wird er nicht als der Schuldige befunden, noch jener Andere, +jener Gewaltige des Kapitales, der hingestreckt worden war von ihm, weil +sie einander ihre Macht beweisen wollten. Nicht der Mann, der sich +vermaß, mit sechs Schüssen der Gerechtigkeit Gottes zu dienen, nicht der +von ihm Gefällte, der ein freudloser Knecht seiner Bestimmung zeitlebens +geblieben war. _Das Geld_ – war hier Tat und Untat. Wie es Urheber aller +Kriege und Greuel unter der heiligen Einmaligkeit unseres Lebens ist. +Geld – war es, das den Hingemeuchelten zu seinem Kampf gestachelt hatte, +den er mit seinem Blute zahlen sollte, Geld, das den Rächer blendete vor +seinem eigentlichen Feind und seine Hand gegen ein armes, gleich ihm von +seiner Sucht gehetztes Menschenkind erheben ließ. Die Richter griffen +und begriffen bloß das Nächste: Einen Mörder, der ebenso zu Boden lag +wie der Gemordete. + +Frei blieb – das Geld. Und weiter wandert es, von Blut zu Blut, von +Geist zu Geist, von Macht zu Macht. Weiter kuppelt es Verwandtenehen, +daß sein Sakrament nicht der Familie entgleite, weiter zeugt es dort +Lebensschwache, Gezeichnete an Körper und Hirn, weiter spaltet es +Geschwister und Liebende, weiter verführt es Freundschaft, Treue, +Bereitschaft für alle Menschen zu Lüge, Haß und Verrat an der höheren +Sache um seines treulosen Metalles willen. Zur Wissenschaft ist es +geworden, zum höllischen Homunculus aus Unzucht zwischen Mensch und +Ding. Und auch dieser Prozeß, der darum ging, wird in seiner Art ein +Stundenschlag im Mitternachtzeichen einer Weltordnung, die solcher +Wissenschaft eifrigster Adept gewesen. Einer Weltordnung, der das +apokalyptische Chaos eines Jüngsten Tages folgen kann, wenn sich die +Menschheit nicht bald auf eine neue reinere Form der Gemeinschaft +besinnt und sie sich zu einem Gesetze macht, dem es dann nicht mehr +auferlegt werden braucht, über Fälle wie diesen zu richten. + + + + + In der Sammlung + AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT + – DIE VERBRECHEN DER GEGENWART – + sind bis jetzt folgende Bände erschienen: + + + Band 1: + + ALFRED DÖBLIN + DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD + + Band 2: + + EGON ERWIN KISCH + DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL + + Band 3: + + EDUARD TRAUTNER + DER MORD AM POLIZEIAGENTEN BLAU + + Band 4: + + ERNST WEISS + DER FALL VUKOBRANKOVICS + + Band 5: + + IWAN GOLL + GERMAINE BERTON, DIE ROTE JUNGFRAU + + Band 6: + + THEODOR LESSING + HAARMANN, DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS + + Band 7: + + KARL OTTEN + DER FALL STRAUSS + + Band 8: + + ARTHUR HOLITSCHER + DER FALL RAVACHOL + + Band 9: + + LEO LANIA + DER HITLER-LUDENDORFF-PROZESS + + Band 10: + + FRANZ THEODOR CSOKOR + SCHUSS INS GESCHAEFT (DER FALL OTTO EISSLER) + + Band 11: + + THOMAS SCHRAMEK + FREIHERR VON EGLOFFSTEIN + Mit einem Vorwort von ALBERT EHRENSTEIN + + Band 12: + + KURT KERSTEN + DER MOSKAUER PROZESS GEGEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE 1922 + + Band 13: + + KARL FEDERN + DER PROZESS MURRI-BONMARTINI + + Band 14: + + HERMANN UNGAR + DIE ERMORDUNG DES HAUPTMANNS HANIKA + + * + + Ferner erscheinen noch Bände von: + + HENRI BARBUSSE, MARTIN BERADT, MAX BROD, E. I. GUMBEL, WALTER + HASENCLEVER, GEORG KAISER, OTTO KAUS, THOMAS MANN, LEO + MATTHIAS, EUGEN ORTNER, JOSEPH ROTH, RENÉ SCHICKELE, JAKOB + WASSERMANN, ALFRED WOLFENSTEIN. + + + OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT + + + Anmerkungen zur Transkription + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 34]: + ... zurück, wo er der Sorge um seine Gesundheit ... + ... zurück, wo er der Sorge um seine Gesundheit wegen ... + + [S. 57]: + ... berichtet einer, der ihm dabei ertappt. Und ... + ... berichtet einer, der ihn dabei ertappt. Und ... + + [S. 59]: + ... zurückzwingen, aber nun halten sie einem ... + ... zurückzwingen, aber nun halten sie einen ... + + [S. 62]: + ... Darum begegnet man ihn immer wieder. Erledigt ... + ... Darum begegnet man ihm immer wieder. Erledigt ... + + [S. 64]: + ... Rechtstaaten bilden die Psychiater bei jedem ... + ... Rechtsstaaten bilden die Psychiater bei jedem ... + + [S. 66]: + ... in sogenannten „Schüben“ wie der terminus ... + ... in sogenannten „Schüben“, wie der terminus ... + + [S. 86]: + ... ist von sehr argwöhnischer und mißtrauisch ... + ... ist von sehr argwöhnischer und mißtrauischer ... + + [S. 97]: + ... überdies das Blut eines der geachtesten Großindustriellen ... + ... überdies das Blut eines der geachtetsten Großindustriellen ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75925 *** diff --git a/75925-h/75925-h.htm b/75925-h/75925-h.htm new file mode 100644 index 0000000..1319d85 --- /dev/null +++ b/75925-h/75925-h.htm @@ -0,0 +1,3591 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Schuß in's Geschäft | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Schuß in's Geschäft" --> + <!-- AUTHOR="Franz Theodor Csokor" --> + <!-- EDITOR="Rudolf Leonhard" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Die Schmiede, Berlin" --> + <!-- DATE="1924" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; 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DIE SIEGER NACH DER SCHLACHT. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Das <em>Wien</em> der Nachkriegszeit ist verwandelt +wie nie in seiner tausendjährigen +Geschichte. Die Stadt, die neben der Welt +gelebt hat, – selbst ihre Rothschilds waren +noch Träumer, – die Stadt der Sonderlinge, +Eigenbrödler, Sammler, die Stadt der verraunzten +Genies, der unausgenutzten Talente, +die Stadt der Kammermusik und der +Barockpaläste, in der vor alldem wundervollen +Toten kein Lebender atmen kann, die +ewige „Kaiserstadt“, weil sie, eine Seltenheit +unter den alten großen Städten Deutschlands, +nie zur selbstherrlichen Verwaltung, nie zur +freien Reichsstadt gelangt war, – sie wird +nun jäh überschwemmt von Abenteurern, +Glücksrittern, Condottieris des Geldes. Mühelose +Schlachten, gefördert durch die österreichische +Lässigkeit der Verwaltung, sichern +Riesengewinnste, jähe Rückschläge zerstäuben +sie wieder. Namen tauchen aus Dunkelheit +in goldenes Licht, Namen stürzen aus +Glanz in die Nacht. Es geht zu wie im Grunde +überall nach dem Kriege; nur das Tempo wird +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +viel phantastischer genommen, die Kämpfe +sind erregender und wilder. Da ist einer, der +kommt von einer Winkelbank, ein anderer +rettet sich aus einem Schiffbruch, ein dritter +ersteht bei der Demobilisierung Milliardenwerte +mit Verträgen, die später vergeblich +angefochten werden, ein vierter, einst ein +kleiner Händler, ist im Kriege schon fett geworden +an elendem Material, das er der +Heeresverwaltung für ihr wehrloses Schlachtvieh +aufzuschwatzen verstand, ein fünfter +stellt ein Riesenwerk der Kriegszeit auf +„Friedensbetrieb“ um; der Steckbrief kommt +zu spät, – sie alle verschmähen dabei auch +nicht das winzigste Geschäft: Dem Tüchtigsten +im Raffen freie Bahn! Indessen rückt +die Währung reißend zurück, geschwächt +und verlassen von denen, die sie zu stützen +berufen gewesen wären. Im gleichen Maße +schwillt die Börse an, hetzen die Papiere zu +Fieberkursen empor. Plünderungen durchklirren +die Stadt; Pogromdrohungen gellen +wider die von Bankinstituten überwucherten +Nobelstraßen. Aber bei solchen Auswüchsen +eifert jede Rasse, jede Konfession, jeder +Stand, um den traurigen Vorrang; der Bauer +noch tränkt seine Säue mit der Milch, die er +dem Städter verweigert, so ihren Preis zu +treiben. Dabei zerwühlen schwerste politische +Krisen den Staat, an dessen Grenzen +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +drei Mächte bereit zum Einmarsch lauern, +wenn die Verzweiflung zu kommunistischen +Evangelien greifen sollte. Die grüne und die +rote Internationale, die vorwiegend agrarische +<em>christlich-soziale Volkspartei</em> und +die <em>Sozialdemokraten</em> verwalten in einer +fort und fort mühsam gekleisterten Koalition +die hungernde Republik, die im Westen und +im Osten, in dem von Ungarn trotz Friedensvertrages +bestrittenen Burgenland und in +dem nach der Schweiz strebenden Vorarlberg +verdächtige Abbröckelungstendenzen zeigt. +Da geht – nach einer wütenden Philippika +des sozialistischen Abgeordneten Karl <em>Leuthner</em> +– das grünrote Bündnis in Fetzen, die +Regierung <em>Seipel’s</em> beginnt, der den europäischen +Mächten mit Auflösung Österreichs +droht, – das bedeutet: Krieg zwischen Italien, +Jugoslavien, Ungarn, Tschechoslovakei, +um eine Beute, die schließlich doch bei +Deutschland landen wird, wohin die Alpenbevölkerung +in leidenschaftlichen Proklamationen +drängt. Der kluge Prälat, mit Haltung +und Diplomatie einer tausendjährigen kirchlichen +Zucht gesegnet, verrechnet sich nicht. +Die Angst aller leidend Beteiligten erhält den +gefährdeten Donaustaat; Wilsons problematischer +Völkerbund tritt hier zum erstenmal +groß in Funktion. Unter Verzicht auf den +deutschen Anschluß, nach Bestallung einer +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +scharfen Kontrollkommission bezieht Österreich +Unterstützung. Die Krone wird bei +einem Vierzehntausendstel ihres Friedenswertes +gebremst; dem Kapital des Inlandes +wie des Auslandes ist ruhiges Betätigungsfeld +durch den Genfer Vertrag gesichert. Es +schwebt nicht mehr in Gefahr sozialistischer +oder sowjetistischer Gegenmaßnahmen, es +kann also das Tempo mäßigen und sich zugleich +seiner unbequemsten Mitläufer entledigen. +Wie der Ararat aus der Sintflut tauchen +aus den verebbenden Wässern der Spekulation +wieder die Häupter des alten Reichtumes, +die Herren der Schlöte, Schächte und +Forste, die noch nahe mit der Arbeit verknüpft +waren, aus der sich ihre Macht erhoben +hatte. Die neue Generation der Plutokratie +tat sich nun ungleich schwerer: sie hatte ja +nie aus den Dingen selbst geschöpft, sondern +aus der Spannung zwischen ihnen, sozusagen +aus geladener Luft, die sie gewitzt als Kraftfeld +auszubeuten und in Bewegung umzusetzen +verstand; sie gewann allein am Kabeln +und am Stecken von Geschäftskontakten. +Und aus solchem Unsicherheitsgefühl heraus +suchte sie den alten Reichtum nun in ihre +Geschäfte zu verstricken oder sich an den +seinen zu beteiligen, kurz, was von dem +österreichischen Raffke scheinbar sicher blieb, +– der grobe Nackenhieb traf ihn ja erst mit +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +der Frankkatastrophe, – mühte sich, aufgenommen +zu werden in den Gotha des früheren +Großkapitales. +</p> + +<p> +Diese Vorkriegsreichen waren ja wahrhaftig +die Aristokratie jener Zeit geworden. +Hinter dem blendenden Goldschaum, den die +nachgeborenen Geldhelden schlugen, blieben +sie fast unsichtbar. Nun, da er auf sein wahres +Maß zerrann und sie wenig versehrt und gelassen +hervortraten, erkannte man ihre Kraft, +die den Zusammenhang mit ihren Quellen +nie verloren hatte, sondern weiter an den unermeßlichen +Schätzen der ihr dienstbaren +Erde zehrte. Die Tradition begann als Faktor +wieder aufzuleben, der internationale Einfluß +eines Namens von Kredit und Bedeutung +aus dem Frieden her eroberte sich neuerlich +den einstigen Geltungsbezirk. Im alten +Glanze fanden sie sich, diese Familien, darin +Fleiß von Väter auf Söhne ungeschwächt +weiterging, diese Industriegewaltigen mit den +Adelsbriefen jahrelanger Arbeit, diese Finanzdynastien, +zu denen Könige gekommen waren, +– – wo blieb vor ihnen das Nichts von +gestern, das nun jäh „Generaldirektor“ hieß, +um morgen vielleicht wieder Nichts zu sein? +Man zog es heran, insofern man es brauchte, +man erhörte seine Zudringlichkeit, – um von +ihm zu lernen. Denn man konnte ja selbst +nicht mehr arbeiten wie vor dem Kriege. +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Die Amerikanisierung des öffentlichen Lebens +im üblen Sinne ging schon zu weit. Die +Methoden der neuen Zeit mußte man bei den +Neuen erfahren; die Metaphysik nebuloser +Tochtergründungen, der Aktienvermehrungen, +der Steuerverschleierungen, der Geldtransfusion +in andere Unternehmungen, die so +unmerklich in den Kreislauf der Geber gerieten, +besaß dort ihre gediegensten Lehrkanzeln. +Wohl war der Krieg verloren, von dem sie, +die einstigen Mitberater und Mitgenießer an +der nun zersplitterten Monarchie, sich manches +erhofft hatten, – aber schließlich fühlten +sie sich sogar stärker als ein verlorener +Krieg. Elan und Unbedenklichkeit der Jungen +mußte man sich zu eigen machen und +die durch nichts einzuschüchternde Überzeugung +von der letzten sakramentalen Unantastbarkeit +des Geldes. Was immer von +ihrem Eigentume in dem nun siegreichen +Auslande lag, konnte, je umfangreicher es war, +auf die Dauer um so weniger beschlagnahmt +bleiben. Industrie und Großgrundbesitz sind +die bevorrechtete Aristokratie aller konstitutionellen +und demokratischen Systeme, wie +es für die absoluten die Adelsstände waren, +und so muß auch die internationale Solidarität +einer kapitalistisch orientierten Weltordnung +rein gesetzmäßig alle jene verletzenden +Maßnahmen, wie etwa Enteignungen +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +von kurzer Hand, möglichst vermeiden. +So zwingt einer die Regierung eines +siegreichen Erben des alten Kaiserreiches +einen schon damals als höchst ungünstig befehdeten +Vertrag zu übernehmen, indem er +nach eingetretenen Schwierigkeiten seitens +der neuen Herrscher in seinen dort liegenden +Riesenbetrieben die Arbeit durch drei Jahre +einfach einstellt. Tausende werden brotlos, +Bahnen stocken, Not der Geschädigten pocht +an das Parlament des Siegerstaates. Da +schäumen sie, – aber zur Übernahme oder +zur Ablösung fehlt das Geld und vor Expropriation +scheut man zurück aus den genannten +Gründen: Man vergleicht sich also, erkennt +zähneknirschend das Bestandene an. +Eine Gruppe Anderer verheert die Währung +ihres Vaterlandes, um so in stündlich entwerteten +Papieren ihre Goldschuld einzulösen. +Ein dritter einigt sich mit seinem +Konkurrenten im Feindesland, lange vor +ihren beiderseitigen Regierungen, die dann +den Konturen solcher Abkommen folgen +müssen. Ein vierter lockt Strohmänner von +drüben in die eigene Leitung, die unter ihren +Ententeflaggen seinem Geschäfte den internationalen +Freibrief sichern. Derlei Beispiele +gibt es noch viele. Gegenstandslos +bleibt der Ausgang von Kriegen für die Gewaltigen +des Kapitales. Ihre Front lag ja +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +nie an jenen in Blut und Dreck ersäuften +Gräben. Und im Inlande hatten nur jene +verloren, die ihr Vertrauen in die Habe des +Staates oder der Einzelnen setzend es in +irgendeiner Form belehnten, die Banknoten- +und Bargeldsammler, die Kriegsanleiheinhaber, +die Hypotheken- und Mündelgeldbezieher. +Der in Liegenschaften jeglicher Art +verankerte Besitz büßte dabei nichts ein, im +Gegenteil: Die Verarmung der anderen schuf +ihn oft schuldenfrei oder verringerte zumindest +seine Belastung. Nach Revolution und +Gegenrevolution ging die gelbe Flagge hoch. +Der Aufruf „An Alle“, der 1917 vom Osten +her Europa erschüttert hatte, wurde 1924 +zur Devise einer Nacktrevue im Variété. Wie +nach jeder Weltkatastrophe entwickelte sich +auch nun ein Biedermeiertum, das jene wilden +zehn Jahre einfach nicht wahr wissen +wollte. Die Könige hatte es eingebüßt, nicht +durch eigenen revolutionären Geist, sondern +durch die Konsequenz der Ereignisse. So +beugte es sich denn willig der neuen Diktatur, +die über seinem Sichverschweigenwollen des +Gewesenen hart und kalt emporstieg. Ein +Typus Gewaltmenschen, von dem sachlichen +Fanatismus Jener der Neuen Welt, eroberte +sich die Vormacht in Europa. Nur wenige +Unbekannte waren darunter, – sie hielten +sich nicht lange, diese Reisläufer des neuen +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +Kapitals, – der Kern bestand doch aus den +früheren Magnaten der Industrie und des +Bodens, aus Reedern, Kohlenfürsten, Hammerherren +und den Holzriesen des Friedens. +Sie waren es, die jetzt in den Kampf um den +Cup des Lebens traten, der als Zeichen dieser +vital-egoistischen Zeit vor allen ihren Äußerungen +stand, vom Boxermatch bis zur +Literatur. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-2"> +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +II. DIE HERREN DER WÄLDER. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Die <em>Republik Österreich</em> schien nach +dem Kriege das ärmste Land der Alten Welt +zu sein. Von Gebirgen verknöchert blieb es +in dem wesentlichsten Existenzbedarf, in der +Brotfrucht und in der Nahrung seiner Betriebe, +in der Kohle, fast durchweg auf das +Ausland angewiesen. Enorme Industrieanlagen, +dem Maße des vormaligen Fünfzigmillionenstaates +angepaßt, feierten nun aus +Mangel an Rohstoffen. Der „Wasserkopf“ +Wien, den die energische sozialdemokratische +Gemeindeverwaltung mit allen Schrecken des +Nachkriegszustandes übernehmen mußte, saß +auf dem dünnen Leibchen eines Sechsmillionenvolkes +des verstümmelten Bundeslandes. +Die Nachfolgestaaten verschanzten sich hinter +Zollwänden; das künstlich ausgetrennte +Herz des alten Reiches drohte an der so gedrosselten +Blutzufuhr völlig zu erlahmen. +Und doch besaß es noch vier gewichtige +Dinge, an deren Ausbeutung es nun mit +brennender Energie gehen mußte, wollte es +seine durch den Genfer Vertrag gestützte +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +Daseinsberechtigung als autonomes Gemeinwesen +erweisen. Das war das <em>Salz</em>, das es +in Verwaltung nahm, das war die weiße +Kohle seiner <em>Wasserkräfte</em>, die unter +seiner Ägide oder Beteiligung private Gesellschaften +in großen Überlandwerken konzentrierten, +das war das Erz seiner Berge, wo +reichsdeutsche und italienische Konzerne um +das Schürfrecht warben, das war vor allem +der begehrteste Ausfuhrposten, seine <em>Wälder</em>, +die fast das ganze Reich überdeckten. +Hier drängten sich die Abnehmer von Bedeutung; +<em>Italien</em>, das forstarme, <em>Frankreich</em> +mit <em>Straßburg</em> als Stapelplatz, +<em>Deutschland</em>, das seine Reparationsleistungen +zum Wiederaufbau teilweise von dem +Brudervolke bezog; ja bis <em>Holland</em> und nach +<em>England</em> hinüber wanderte das österreichische +Edelholz. Aus zerkrachenden Forsten +gediehen fürstliche Vermögen, zu denen der +Grund noch im tiefsten Frieden gelegt worden +war. Unermeßliche Gebiete standen damals +zur Verfügung. In <em>Bosnien</em>, in der +<em>Herzegowina</em>, in <em>Kroatien</em>, in <em>Siebenbürgen</em>, +in <em>Böhmen</em>, in allen <em>Alpenprovinzen</em>. +Höher als die Herren der Erze und +der Wasser wuchsen so die Herren der Wälder, +formten geradezu einen eigenen Menschenschlag. +Denn wie das Individuum sich +nach seiner Tätigkeit wandelt, so erhielten +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +sie, deren Vorteil mit des Wortes wahrstem +Sinne in der Erde wurzelte, etwas von gewaltigen +Bauern, Bauern, die über tausende +Knechte gebieten, Schnitter von Ackerprovinzen, +auf denen die Ernte, die sie nicht +gesät hatten, bereit stand, in keinen Halmen, +sondern in den Stämmen starrer Bäume. In +der ausgeplünderten hohlwangigen Nachkriegszeit +fußen sie breit mit unentwertbaren +Schätzen. Ihre Macht spottet aller +Angriffe. Ja, sogar ihr Eigentum in den abgespaltenen +Klötzen des alten Reiches ringen +sie wieder ein; sie trotzen und listen es den +neuen Herren dort ab in dieser oder jener +verklausulierten Form. Der Steuerfiskus +findet schwer zu ihnen. Die Erde hat sie +ganz zu Bauern gemacht, zäh, schlau und +karg wie Bauern sind. Und unbeugsam über +das Ihre, unbeugsam, wenn es selbst der +Blutnächste wäre, der seinen Teil zu fordern +käme. Fast äußerlich verändern sie sich +so; ob Christ, ob Jude, ob Landmann, ob +Städter, gilt gleich; die Erde bleibt stärker +in ihnen: Sie gehorchen der Erde. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-3"> +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +III. DYNASTIE EISSLER. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Urwald in <em>Bosnien</em>. Schluchten klaffen, +Berge bäumen sich, Gewässer zischen von +eisenfarbenen Felsen nieder, und überall +nistet, wuchert, drängt sich Gehölz. Heldenliedergegend, +Wild-West des Balkan, kaum +erforschtes Tibet Europas, das hier beginnt +und am Griechenmeere in Saloniki +endet. Land des großen Zaren Dušan, +Land des südslavischen Siegfried, Marko +Kraljevics, Land des serbischen Kaiserreiches +und des türkischen Herrenvolkes +nach dem Abendrot am Kossowo polje, am +Amselfeld. Und Land zuletzt, aus dem der +Anlaß des gräßlichsten Krieges mit zwei +Schüssen an der Lateinerbrücke in Sarajevo +aufblitzte. Stolzester Hengst in der Hürde +der Alten Welt. Der Muselmann hat ihn nie +ganz gebändigt, der Kroate nicht und nicht +der serbische Bruder; der Venetianer langte +wenig über seine dalmatinische Küste herein, +und selbst der großmächtige Herr Ungar +stieß hier auf Widerstand. Aber Geld und +Gewinnsucht scheuen nichts, und wie die +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +Republik von San Marco vor einem halben +Jahrtausend Dalmatiens Waldgebirge in eine +heute noch erschütternde Steinwüste wandelte, +so rückt man auch hier seit Jahrzehnten +den scheinbar unerschöpflichen Forsten an +den grünen Leib. Um ihre Ränder beißen +sich Häuflein Menschen fest; kleine saubere +Häuschen quellen aus dem Boden, ein Klondyke +des Holzes, blanke Maschinen funkeln. +Das knirscht, kracht, splittert und sägt den +ganzen Tag durch, nagt sich furchtlos ein in +die verfitzte Wildnis, über der die Geier nun +wie graue Zeichen des Waldsterbens kreisen, +und zieht seinen vorgesehenen Borkengang. +Hinter sich läßt es Scheiterhaufen von rauchenden +Meilern und riesige Schichten von +Baumleichen, die kleine Lokomotiven auf +schmalspurigen Gleisen flink nach den Umschlagstellen +befördern, wo die großen Eisenbahnen +die Tore zur Welt aufreißen. +</p> + +<p> +Es sind mächtige Herren, die hinter dieser +namenlosen Arbeit sitzen, und auf den Börsen +brausender Städte schreien Papiere, die den +Fleiß tausend gering bedankter Hände anpreisen, +und irgendwo, in Biarritz oder Ostende +oder Capri erholt sich einer, von ihnen +getragen, oder haust zeitentrückt als stiller +Teilhaber und Villenfürst inmitten schöner +alter Gemälde, auf denen Menschen friedlich +in heiligen Hainen wandeln oder hängt kostbare +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +Bernsteinketten, goldfarben wie die +Harztränen der Tannen um einen kühlen +nackten Frauenleib oder sitzt rastlos in einer +Kontorhölle der Metropole, umknattert von +Schreibmaschinen, umschrillt von Telephonen, +umquirlt von Menschen, wie eine +Spinne im Netz, die jeden Faden prüft. Er +ist der Typus seiner Zeit, der Parforcemensch +am Schreibtisch. Stärkster wird er von allen, +weil er sich zum Regulator der Kraft macht, +die ihn umströmt; er vertausendfacht sie +durch die eherne Zwinge, in die er sie nimmt. +Er hieße über dem großen Wasser Rockefeller, +Morgan, Ford oder mit sonst einem +Stahl-, Holz- oder Ölkönigsnamen. Er heißt +in unserem Falle <em>Robert Josef Eißler</em>, +thront als <em>Chef einer hundertjährigen +weltumspannenden Holzindustrie in +Wien</em> und arbeitet, arbeitet wie ein Besessener +ohne sich je auch nur den kleinsten +Genuß zu gönnen, arbeitet um der Arbeit +willen, die ihn ganz verschlungen hat, arbeitet +zu Hause, auf der Bahn, im Auto; nichts +bleibt so abseitig, das er nicht wahrnimmt, +nichts so vollendet, dem er nicht mißtraut, +er ist nur mehr rechnendes Gehirn, schreibende +Hand, Mund, der befiehlt. Unter der +Peitsche seiner Augen leistet jeder das +Äußerste; bis in die entferntesten Länder +spüren sie diesen Blick, in Blockhäusern, auf +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +Sägewerken, durch Urwaldgrün hindurch, +wo immer sein Name zu Werk wird. Und das +wird er in mächtigstem Ausmaß. Da ist allein +die bosnische Satrapie, die er mit dem +Münchner <em>Ortlieb</em> führt, von Vorkriegsjahren +her, und unversehrt sich im verlornen +Land erhalten hat. Von den mehreren hunderttausend +Hektaren werden jährlich an die +tausend geschlagen und einhundertfünfzig +Kilometer Schienennetz seiner Privatbahn, +auf der zwanzig Lokomotiven unter Dampf +stehen, vermitteln den Verkehr der Menschen +und Waren in seinem Reich. Über dreitausend +Arbeiter roden, fällen, schlichten dort +die Wirrnis des Krywayatales, des Zepugebietes, +Namen wie aus dem afrikanischen +Dschungel. Und das alles bedeutet erst eine +Provinz seines Königreiches, die ihn auf +Jahrzehnte mit unversieglichen Rohstoffen +versorgt; in <em>Kroatien</em> besitzt seine Dynastie +ein Gut, in Österreich hat seine Gründung, +die Holzbank, in dem durch Minister Dr. +<em>Schürff</em> zur Parlamentsdebatte gemachten +<em>Reichraminger Holzabstockungsvertrag</em> +der jungen Republik ihren Einfluß +spüren lassen, in <em>Ungarn</em> herrscht die Firma +als „<em>Eissler es testvere</em>“, dort wie in +Bosnien seit Friedenszeit, wo einst der +Finanzminister <em>Kallay</em> seiner Abmachungen +mit dem geschäftstüchtigen Hause wegen im +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +magyarischen Abgeordnetenhaus manche Unannehmlichkeiten +erfuhr. „<em>Eissler i fratti</em>“ +nennt sich die <em>rumänische</em> Kolonie, „<em>J. +Eissler bratri</em>“ heißt sie in der <em>Tschechoslovakei</em>. +Und das lediglich als zentraler +Kommandoraum des ganzen Kraftwerkes +tätige Wiener Stammgeschäft führt den +Titel „<em>J. Eißler und Brüder</em>“. Aber von +den mitgenannten Brüdern ist in der zweiten +von Robert Eißler geleiteten Generation +nichts zu verspüren; was immer da beteiligt +war, verschwand allmählich vor dem despotischen +Chef, der das Geschäft trotz Krieg und +Niederlage wieder zu der europäischen Geltung +gebracht hatte, die es vorher besaß. +In viele Friedensmillionen steigerte er das +Vermögen, sicherte seine Betriebe durch geschickte +Staatsverträge wie ein Monarch, +wußte sich siegreich gegen gewaltige Konkurrenten +auf dem Weltmarkt zu behaupten, +indem er sie verdrängte oder durch Bündnisse +entwaffnete. Seiner robusten Energie +war es nicht gegeben, sich an gefälligen Dingen +zu freuen, an Büchern, an Bildern, an +Schauspielen; aller Trieb seiner Rasse nach +äußerer Tätigkeit nach dem, was <em>Peter +Altenberg</em> „die hundertperzentige Verzinsung +des Lebens“ nannte, blieb in ihm +am stärksten gehäuft und angespannt. Um +sich fand er selten Widerstand; ruhige Menschen, +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +durchtränkt von der etwas müden +Kultur jüdischen Patriziates bis zur Schrullenhaftigkeit, +bildeten seine Verwandtschaft. +Doktor <em>Hermann Eißler</em>, einer von ihnen, +schuf sich eine Gemäldegalerie von internationalem +Ansehen, darin besonders die +Franzosen des neunzehnten Jahrhunderts von +Delacroix und Gericault an glänzend vertreten +sind; <em>Gottfried</em>, ein anderer – kürzlich +verstorben – nannte eine der schönsten +Erstdruckbibliotheken und eine der besten +Wiener Miniaturensammlungen sein eigen. +Gewiß, auch sie hatten sich alle wahrhaft +gerackert, nur waren sie nie so sehr der +Despotie ihrer Arbeit verfallen, daß sie in +ihrem Tagwerk ausschließlich Zweck und +Ziel ihres Daseins sahen. Doch Robert Eißler +kannte nur dieses. Er war rauh wie Esau, +aber ein Esau, der auf seiner Erstgeburt bei +Acker und Herden bestand und hinweggestampft +wäre über Jakob und Abraham. +Dem Märchenhelden Wilhelm Hauffs glich +er, dem Kohlenbrenner Peter <em>Munk</em> mit +dem kalten Herzen. Der barsche, finstere +Mann, der mit seinen Untergebenen im Feldwebelton +verkehrte, sie vor sich stramm +stehen ließ und ähnliche militärische Bräuche +trieb, hatte dem Moloch des Geschäftes sein +Leben hingeopfert in des Wortes blutigster +Wahrheit. Ihm schien es dabei vielleicht +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +nicht so sehr um Gewinn zu tun, wie um das +Würfelspiel der Macht, darin erhöhter Glanz +der Dynastie zum Preise stand. Dazu wäre +ihm nichts zu groß oder zu gering gewesen, +dazu gewann er sich – der Hergang ist noch +später zu erörtern – sechshunderttausend +Goldkronen Mitgift, die ihm als Geschäftseinlage +binnen Jahresfrist von seiner Bewerbung +an zur Bedingung gestellt worden +waren, um als öffentlicher Gesellschafter sich +einzukaufen, und wie er sich der Protokollierung +seines Namens wegen verehelichte, so +geschah auch nachträglich kein Schritt, den +nicht das Kontor gebot. In die Kasteiung +mit Arbeit flüchtete er gewissermaßen vor +sich selbst, wohl aus dem Gefühle, bei einem +einzigen Augenblick Ruhe müßte ihn die +Rasanz des eigenen Motors in Stücke reißen. +„Der Staat bin ich!“ konnte er auch schließlich +von seinem Reiche behaupten, denn alles +um sich hatte er schachmatt gesetzt, zur +Ohnmacht verurteilt. Seine Vettern ließen +sich von ihm abholzen wie die Bäume des +Krywayatales; sie, die in einem Winkel ihrer +Seelen doch noch zu dem alten besinnlichen +Wien zählten, wichen auch widerspruchslos +seiner Keilerwut nach Arbeit, begnügten sich +als Firmenvorstände ohne größeren Einfluß, +erfrischten sich im übrigen bei ihren Bildern, +Statuen und anderen Liebhabereien in einer +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +sanfteren Welt, in die das Ächzen der sterbenden +Wälder nicht mehr herüberdrang. +</p> + +<p> +Nur bei Zweien von ihnen galt es Kampf +bis aufs Messer: Es waren Onkel und Vetter +des allmächtigen Seniorchefs, Vater und +Sohn, beide Phantasten in ihrer Art, die hier +an einen Tatsachenmenschen gerieten, – sie +hießen <em>Heinrich</em> und <em>Otto Eißler</em>. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-4"> +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +IV. KÖNIG LEAR IN DER HOLZBRANCHE. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Wie Fremde vor einem gewaltigen Aufbruch +lebt das <em>Judentum</em> in seinem innersten +Wesen, tausendfach verkleidetes Heimweh +nach einem verlorenen Reich. Immer +sind die Sandalen geschnürt, die Lenden sind +immer umgürtet. Und ob es noch so heftig +in das Diesseits drängen mag, – an ihnen +allen, bald brennender, bald linder zehrt die +gleiche Wunde, vom polnischen Dorf bis in +den Stadtpalast. Das braucht darum noch +kein reales Zion zu bedeuten, – es ist mehr +der Tempel Salomonis, der nie zu Ende +kommt, weil seine Kuppel, der Messias, fehlt. +Heilig gilt hier deshalb, wie bei keinem Volke +sonst, die <em>Familie</em>. Aus Zeltesenge von der +Wüste her, durch Ghettozwang ihrer christlichen +Herren, erlernten sie die Notwendigkeit +der auch religiös gebotenen starren Geschlossenheit +der Sippe. Noch ehelicht bei +ihren Strenggläubigen der Bruder des Bruders +Witwe, noch herrschen alte Menschen bis +über das Grab hinaus, aus dem die Toten dann +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +als Beispiel und Vorbild aller Tugenden den +Jungen immerfort gepriesen werden. In +solchem Patriarchate, das einst, vor der +Diaspora, bis zur Blutgerichtsbarkeit des +Familienhauptes über die Seinen reichte, +steckt, was vom Vieh- und Ackerbauerwesen +des alten Israel seinen zerschmetterten Stämmen +verblieb. Und wie in den Bauern bohrt +auch in ihnen die nagende Angst vor den +Erben. „<em>Der Mensch hat zwei Feinde, +die er liebt</em>,“ warnt ein talmudisches +Sprichwort: „<em>seine Leidenschaften und +seine Kinder</em>.“ Und diese Kinder versuchen +auch fast alle einmal den großen Aufstand, +der aber in den meisten Fällen mißlingt; +dann strecken sie die Waffen, im Büro +des Vaters, wo sie sich einordnen oder in einer +unerwünschten anbefohlenen Ehe, die sie auf +sich nehmen. Und zeugen und gebären Kinder, +die ebenso liebeshungrig und rebellisch +aufwachsen und ebenso der Familie als abstraktem +Begriff geopfert werden. Die Härte +des Sohnes der Hagar haben sie verloren; die +Sehnsucht nach der Erde, von der man sie +forttrieb, mußten sie verwandeln in den +Hang nach ihrem Erträgnis, dem Geld; die +Macht der Mauer, in die man sie durch ein +Jahrtausend Verachtung und Verfolgung gesperrt +hat, schuf ihnen alles jenseits davon +fremd bis zur Lächerlichkeit, nur Furcht und +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +Ehrfurcht vor dem Götzen des Alters erfüllt +sie wie den jungen Bauern, an den der Vater +einen Knecht ersparen will. Seine Kraft freilich +finden sie nicht mehr, wenn er im Kampfe +um den Hof den in den Sielen erlahmten Erzeuger +ins „Ausgeding“ versperrt, in die Versorgung +von der Jungen Gnaden, mildere +Form vorzeitlicher Bräuche, da neben der +Schwelle ein Steinbeil lag, mit dem man die +unnützen Fresser erschlug. Angeprangert für +alle Ewigkeit hat dagegen in der Schrift der +Chronist des trunkenen Noah Verspottung +durch seine Söhne, und in den Häusern seines +Blutes verdämmern Greise und Greisinnen +im Glorienschein der Familie und Schritt und +Stimme dämpfen sich, geht man vorüber an +ihren Gemächern. Das ist der Orient im +Judentum, der mit dem Alter das klare +Reich der Weisheit anbrechen sieht, heiteren +Herbst, darin die Früchte des Lebens reifen +und Trost und Süßigkeit den Nachgeborenen +spenden. Und aus der gleichen Erwägung, +die das weiße Haar zu Häupten der Tafel +setzt, schont man ebenso die Schwachen, die +für die scharfäugige Hast des Tagwerkes +nicht taugen, denn auch sie reden mit ungewohnten +Stimmen. Dekadenzprodukte sind +sie, gefördert durch die Inzucht der Verwandtenehen, +durch die übersättigte Kultur +ihrer stadtverhafteten Eltern. Im hitzigen +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +Ressentiment gegen ihre Herkunft entwickeln +sie sich, doch anders als die ehemaligen Rebellen, +die „Söhne“, die ausgekühlt später +die tüchtigsten Kompagnons und Erben abgeben. +Sie hassen die Betriebsamkeit ihrer +Nächsten, sie flüchten in die Kunst, besonders +in die Musik, in politische Ideologien, in +philosophische Spekulationen, – sie werden +aber trotzdem von den anderen nicht fallen +gelassen, nein, eher blickt man dort voll gerührten +Stolzes nach ihnen, wenn man sich +einmal mit ihrer verminderten Verwertungsfähigkeit +abgefunden hat, wie nach einer geheimen +Rechtfertigung der eigenen fanatischen +Diesseitigkeit, wie nach Sündenböcken, +die manche fremde Dunkelheit auf sich +nehmen. Denn aus der ungeheueren Reichweite +jenes Volkes von äußerster Selbstbehauptung +bis zur äußersten Entselbstung, +Slaventum des Hirnes (wie dieses im Gefühle +maßlos, so hier im Geiste und seinen +Kräften) erstehen immer wieder Propheten +und Richter und gerade von seinen scheinbar +Schwachen her, von den Lebensfremden, wie +unter seinen Alten Geschöpfe von zeitloser +Güte und Weisheit sich baumkronenhaft über +ihren Generationen wölben. Den tätig +Robusten verkörpern diese Zarten, Empfindlichen +stets eine Art unerfüllter eigener Sehnsucht, +und gerne gewährt man ihnen Mittel +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +und Unterhalt für ihr Dasein, das mehr ein +Danebensein bedeutet. Eine Ausnahmestellung +genießen sie, an die man fast nie zu +tasten wagt. +</p> + +<p> +In dem Falle, der hier ausgesponnen wird, +ereignete sich beides, Angriff gegen die Heiligkeit +des Alters in der Familie und gegen einen +Schutzbefohlenen der eigenen Schwäche. Eine +Bauerntragödie brach aus im jüdischen Patriziat. +Allerdings in einem, das sein Beruf +wieder der Erde und ihren unbarmherzigen +Gesetzen genähert hatte; sie verband sich +hier mit dem bäuerischen Urgrund der ganzen +Rasse. Zwei darin sonst unerhörte Taten geschahen: +Der Leiter eines Riesenbetriebes +wird nach einem halben Jahrhundert führender +Arbeit durch eine Palastrevolution der +eigenen Sippe gestürzt, und sein Sohn, mehr +Eigenbrötler, als untüchtig, bloß von verminderter +Lebensintensität, rücksichtslos um +seine Ansprüche gebracht und ausgeschaltet. +Der aber, Kohlhaas des Geldes, sucht das +Haupt der Verschwörung auf, einer „Verschwörung +der Reichen gegen die Armen“, +wie er seinen persönlichen Fall als symptomatisch +in kollektivistischer Erweiterung +nannte, stellt mit sechs Schüssen gegen seinen +Blutsvetter Robert Eißler die ihm falsch geratene +Rechnung wieder her. +</p> + +<p> +<em>Heinrich Eißler</em>, durch vierzig Jahre +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Chef der Firma, zu ihren frühesten Häuptern +gehörig, Kaufmann alten Schlages, voll Rechtlichkeit, +Strenge und Staatsgesinnung, – er +weigerte sich unter anderm Steuerbekenntnisse +zu unterschreiben, die ihm zweifelhaft +erschienen, – war durch unglückliche Privaterlebnisse +innerlich nachhaltig in Anspruch +genommen worden. Seiner Ehe mit einer +kühlen egozentrischen Frau gesellte sich noch +eine ihm unleidliche Einstellung seiner Blutsverwandten. +„Ein Blutsverwandter heißt, +der dir am letzten hilft und dich am ersten +beißt,“ dieses im Judentum sonst wenig gültige +Sprichwort fand in seinem Fall reichlich +Bestätigung. Die häuslichen Sorgen, die an +seiner Energie sogen, die ihm eigene weiche, +gutherzige Art ließ seine Umgebung leichte +Bestimmbarkeit durch fremde Einflüsse befürchten +und ihn darum für die Dauer auf +der Kommandobrücke des großen Werkes +nicht genügend verwendbar erscheinen. Den +ersten Ansturm versuchte der leibliche Bruder; +er mißlang. Der Alte fußte ja mit sieben +und ein viertel Millionen Schweizer Franken, +das war ein Viertel des gesamten Firmenvermögens, +im Geschäft und mit der Nachfolgeschaft +seines Sohnes Otto darin, der sich bei +Abschluß der schwierigen bosnischen Verträge +schon eingearbeitet hatte. Ein erfolgverheißender +Schachzug gegen Heinrich Eißler +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +mußte ihn darum in seinen Stützen +treffen: in seinem an der Firma tätigen Geld +und in dem Sohn, den man erst von ihm +trennte und dann gesondert abfertigte, wenn +das erste gelang. Vor allem hieß es, die vom +Handelsgesetze festgelegten Bestimmungen +nach dem Tode eines öffentlichen Gesellschafters, +die nebst der „pragmatischen Sanktion“ +der Firma, den Sohn und Erben schützten, +durch persönliche Abmachungen zu entkräften. +Statt der darin vorgesehenen Liquidation +ordnete ein 1897 abgeschlossener Gesellschaftsvertrag, +dem Vater und Sohn +ahnungslos beigepflichtet hatten, in einer +solchen Lage lediglich Auszahlung des Kapitalskontos +an, also auch ohne eventuelle +stille Reserven, die hier bestanden. Damit +war der erste Schritt einer gesetzlich unantastbaren +Enteignung getan. Die Einheitsfront +gegen die beiden unbeliebten Familienmitglieder +sollte jedoch erst später zustandekommen: +Unter der Regentschaft des zu +einer solchen Aktion unbedenklich fähigen +Robert Eißler, dem Neffen und Vetter der +Bedrohten. Inzwischen wird fort und fort geplänkelt; +1910 bereits möchte der des Haders +müde und durch ein körperliches Leiden verstörte +Otto Eißler gegen angemessene Entschädigung +gänzlich aus dem Geschäft scheiden, +aber eben um diese ging es ja. So stellt +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +er nun seine Tätigkeit dort ein, die fünfzehn +Jahre gewährt hatte, zieht sich nach Baden +zurück, wo er der Sorge um seine Gesundheit <a id="corr-0"></a>wegen +lebt und mit den Vettern dauernd hadert. +Diese Gefechte ziehen sich über den ganzen +Weltkrieg hin, der weder in seinem Verlauf +noch in seinem Ergebnis und dessen Folgen +die Holzmagnaten ernstlich schädigt. Ohne +wesentliche Einbuße erhalten sie sich ihre +wertvollste Kolonie in Bosnien und die herandämmernde +Inflationskatastrophe versehrt +sie nicht in ihrem Marke, dem Bodenwert. +Ihre geschäftlichen Feldzüge sind also jedenfalls +besser ausgefallen als die militärischen +ihres Vaterlandes, dessen Staatsbürgerschaft +man übrigens sofort gegen jene des tschechoslovakischen +Siegerstaates eintauscht. In +solcher frisch gefestigten Position geht man +nun daran, im Inneren des eigenen Betriebes +„tabula rasa“ zu machen mit allen Elementen, +die für den reißenden Machtkampf der +neuen Zeit ungeeignet erscheinen. Ballast +über Bord! Der achtundsiebenzigjährige +Firmenchef Heinrich Eißler soll nun endgültig +abgesägt werden! Sein Vetter Robert +treibt dazu; nur ungerne halten die beiden +anderen Firmenherrscher <em>Alfred</em> und <em>Hermann</em> +sowie Roberts Schwager, der Anwalt +Dr. <em>Fürst</em>, da mit. Heinrich macht allerdings, +wie sich der Letztgenannte später im +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +Prozesse ausdrückte, „unmögliche Sachen“, +nämlich er lehnte es ab, seinen Namen unter +ihm nicht einwandfrei erscheinende Steuerbekenntnisse +des Geschäftes zu setzen, er erklärt +ferner, wie Dr. Fürst zur Begründung des +obengenannten Vorwurfes erzählte, bei einer +Bücherrevision der bosnischen Filiale, dem +Sachverständigen, die Bilanzen seien falsch, +denn die Firma verdiene viel mehr. Äußerungen +ähnlicher Art, die keineswegs unbedingt +einen Schwachsinnigen verraten müssen, +vielleicht ebensogut einen redlichen +Kaufmann, der sich der Pflichten des Besitzes +der Allgemeinheit gegenüber bewußt +bleibt, verübelte man ihm ungemein. Gewiß +bot auch sein hohes Alter einen triftigen +Grund, ihn verantwortlichen Unternehmungen +zu entziehen. Aber es ist der Ton, der +die Musik macht, und eben dieser Ton, angeschlagen +von Robert Eißler, war unter den +vorliegenden Umständen nichts weniger als +edel und achtungsvoll gegenüber einem +Manne, der durch ein halbes Jahrhundert +sein Leben dem Geschäfte geopfert hatte und +dem eben jener Robert Eißler, wie später +noch auszuführen, seine despotische Stellung +verdankte. Nach wiederholten schriftlichen +und mündlichen Aufforderungen an Heinrich +Eißler, freiwillig zurückzutreten, klagt ihn +schließlich 1919 das von Robert beratene +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +Cheftriumvirat beim Handelsgericht auf Ausschluß +aus der Firma mit Hinweis auf sein +Alter, eine den Greis tief kränkende Maßnahme. +Das anständige Schiedsgericht trachtete +auch diesen von allen übrigen beteiligten +Faktoren einschließlich des beauftragten Klägers +Dr. Fürst als peinlich und unnötig empfundenen +Handel in Güte beizulegen. Es +kam später zu einer Art Ausgleich, der freilich +die tieferen Wunden nicht mehr schließen +konnte, die in Heinrich Eißler bis zu seinem +Ende brannten. Aber die Attacke auf den +Onkel genügte dem strammen Firmenchef +noch nicht; sein Sohn, der Vetter, sollte +ebenso erledigt werden. Ihn als öffentlichen +Gesellschafter an Stelle seines Vaters zu +übernehmen, wie es bisher für die übrigen +Söhne der ehemaligen Firmenchefs nach +Hinscheiden oder Austritt ihrer Vorgänger +gegolten hatte, weigert sich Robert in beiden +Fällen, sucht ihn mit Angebot anderer Kompensationen +mattzusetzen. Doch Otto widersteht; +er wittert die Gefahr und schlägt dem +Dr. <em>Benedikt</em>, dem Rechtsfreund seines +Vaters, ein Bündnis vor, wonach sie beide, +Vater und Sohn, in dem laufenden Zivilprozeß +ihre gemeinsamen Interessen ungeteilt und +untrennbar bis zu Ende verfechten würden. +Dieser Pakt kommt nicht zustande; hingegen +ein anderer, der zu ihrem Verderben führt. +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Der auch dem Vater gegenüber ewig mißtrauische +Otto ließ sich dazu verleiten, mürbe +gemacht durch halbjährige geschickt dirigierte +Verhandlungen, auf seine Rechtsnachfolge +in der Stellung seines Vaters bei der +Firma zu verzichten. Er gibt ihn damit preis +und noch mehr: Nun legt er als stiller Gesellschafter +neuerlich 750000 Franken in das Geschäft +ein und resigniert auf die Einkünfte +aus der bosnischen Zweigstelle, wenn dort im +Ausgange des Steuerkrieges gegen den Nachfolgestaat +die Firma Eißler & Ortlieb aus +taktischen Motiven eine Umwandlung in eine +Aktiengesellschaft vollziehen sollte. Was +diese Klausel bedeutete, sei daraus ermessen, +daß von dem Anteil, der dem alten Heinrich +Eißler zustand, zwei Drittel, viereinhalb +Millionen Schweizer Franken, allein auf das +bosnische Unternehmen zu buchen waren. +Mit diesem Vertrag unterfertigt demnach +Otto Eißler sein und seines Vaters Todesurteil +im übertragenen Sinne; aber noch ein drittes, +ein wirkliches, das er selbst an dem feindlichen +Generalstabschef in jenem Kampfe vollstrecken +sollte, an Robert Eißler. +</p> + +<p> +1920, ein Jahr nach diesem privaten Versailles, +stirbt Heinrich Eißler als Vorletzter +des alten Firmenstabes, der sich noch um den +Großvater, Gründer und Ahnherrn <em>Bernhard +Eißler</em> geschart hatte. Er stirbt und +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +schließt mit seinem Hingang, den Gram und +Erregung über das ihm angetane Leid beschleunigt +haben, den ersten Teil der Eißlerischen +Familientragödie: „Nein, der Robert, +wenn der nicht wäre, könnte ich um zwanzig +Jahre länger leben!“ hat er vor seinem Ende +der Schaffnerin seines Hauses geklagt. Ein +kurzes Satyrspiel hebt an vor der Tragödie +zweiten Teil. Ein Zauberkunststück gelingt, +das unerklärlich scheint und in seinem Resultate +dennoch unantastbar blieb. Der +Hexenreigen des Geldverfalles verhüllt den +Hergang, gegen den juridisch nichts eingewendet +werden kann, obgleich ein Unrecht +fast zu greifen nahe scheint. Angst und +Ungeschick des Opfers tuen das ihre dazu. +Aus der mit über <em>sieben Millionen +Schweizer Franken</em> bewerteten <em>Todesbilanz</em> +des Verblichenen sind binnen Jahresfrist +durch Gottes Segen ihrer <em>fünfzehntausend</em> +geworden, die dem Erben aufgewertet +zu Buche stehen. +</p> + +<p> +Der Erbe hieß <em>Otto Eißler</em>. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-5"> +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +V. DER RÄCHER. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Dramatische Kontrapunktik, die fast schon +ans Kolportagehafte streift, fügte es, daß +Robert Eißler dem durch ihn zur Strecke gebrachten +Heinrich die Stellung zu verdanken +hatte, kraft derer er auf dem Hauptmaste der +Firma saß. Des alten Bernhard Kinder +<em>Heinrich</em>, <em>Johann</em>, <em>Jakob</em> und <em>Moritz</em> +verwalteten gemeinsam das Geschäft unter +einer Art Rückversicherung vor der Nachkommenschaft, +wonach nämlich ihre Söhne +erst nach freiwilliger Abdankung oder Tod +der Väter die Stellungen jener einzunehmen +vermöchten, also im Sinne des zitierten talmudischen +Sprichwortes über den geliebten +Feind. <em>Otto</em>, <em>Alfred</em>, <em>Hermann</em> und +<em>Robert</em> hießen sie, von denen zwei bald +durch Hinscheiden der elterlichen Vordermänner +die Führersitze erobern sollten. Just +der Ehrgeizigste, Robert, war nicht dabei; +ihm brannte das längst unter den Nägeln, +doch sein Erzeuger, der vermutlich Ähnliches +verspürte, saß unerbittlich fest mit begründeter +Aussicht auf hohes Alter und ungeschwächte +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Tätigkeit. In seiner Not kam +Robert zu dem gutmütigen Onkel Heinrich, +er möge bei dem Bruder, Roberts Vater, erreichen, +daß Robert noch zu Lebzeiten des +unverwüstlichen Urhebers seines Daseins +Aufnahme in die Leitung der Firma gewährt +würde. Heinrich, ahnungslos, wie sehr er sich +und seinen Sohn damit gefährdete, bedrängte +unablässig den Bruder, Roberts Ansinnen zu +willfahren und setzte endlich nicht ohne +Schwierigkeiten jenem durch, was ihm für +sein eigenes Fleisch und Blut versagt werden +sollte. Freilich mit drückenden Vorbehalten. +Roberts Vater, aus gleichem Hartholz wie +sein Sprößling, heischte als Preis für seine +Erlaubnis von dem Sohn im Laufe eines Jahres +sechshunderttausend Goldkronen Einlage in +das Geschäft, die er in dem zeitgemäßen Wege +einer Ehe binnen der genannten Frist zu beschaffen +habe. Und wieder hilft die Familie +Heinrichs; diesmal ist es die Gattin, Ottos +Mutter, die ihm die Frau mit den sechshunderttausend +Goldkronen besorgt, und Robert +Eißler heiratet und er besteigt den Firmenthron. +Und sein erstes war, den zu +stürzen, der ihn hinaufgeleitet hatte, vielleicht +gerade weil er vor ihm einst schwach gewesen +war. +</p> + +<p> +Sonderbar und bedrückend mag derlei +trotz tausend alltäglicher Beispiele einem +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +schlichten Hirne erscheinen, das noch an +Worte von Liebe und tieferer Gemeinschaft +zwischen Menschen glaubt. In einer auf den +Besitz eingeschworenen Ordnung zählt es +jedoch zu den einfachsten und ersten Forderungen, +seine Persönlichkeit dem Zwecke zu +unterstellen, und „Einheirat“, meist in verkleideterer +Form als dieser, die noch den Vorzug +der Offenheit aufweist, ist überall gewünscht +und befohlen, wo Geld zu Geld will, +Einfluß zu Einfluß, Ware zu Ware. Und gewiß +erachtete der alte Heinrich des Neffen +Robert Handlungsweise in dieser Sache weit +klüger, als etwa die seines leiblichen Sohnes +Otto, der an einer Ehe als Einlagekapital +wenig Gefallen fand, die in seiner Gesellschaftsschichte +gebräuchliche Synthese zwischen +Merkur und Hymen verwarf und schon +Jahre mit einer braven vermögenslosen Frau +lebte, von der er die schönste Mitgift in drei +zärtlichst geliebten Kindern sein Eigen nennen +durfte. Jedenfalls wußte des Vaters +leidenschaftlicher Einspruch es zu verhüten, +daß dieser Neigungsbund je zur Heirat sich +emporwage; Ottos Beziehung galt ihm „nicht +als standesgemäß“, – was andererseits jegliche +Geldallianz mit wem immer gewesen +wäre, – und selbst auf den Sohn färbte noch +sein Wille ab. Auch nach des Vaters Tod +respektierte er dieses aus dem dynastischen +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Hochmut des Welthauses entsprungene Verbot; +Anna Heimerle – so hieß seine Freundin +– blieb ihm „Lebensgefährtin“ im Sinne des +Gesetzes bis vor die Schranken des Gerichtes, +an denen sie unter Tränen die Wärme, Güte +und Sorgfalt, mit denen der Beschuldigte sie +und die ihren stets umgeben hätte, nicht +genug zu rühmen wußte. Die Frage, ob Otto +eine geschäftlich angetraute Gattin ebenso +zur Seite gestanden wäre und umgekehrt, +stellt sich unwillkürlich ein; hier muß jedoch +der Wahrheit zu Ehren bekannt werden, daß +die Ehe seines späteren Opfers sich gleichfalls +ungemein glücklich gestaltete und daß die +letzte Klage des sterbenden Robert Weib und +Kindern galt. Im übrigen mochten die Verwandten +Recht behalten, wenn sie aus solchen +Symptomen schlossen, daß Otto nichts weniger +sei als eine Führernatur in ihrem Sinne. +Auf dem Wege dahin war er eben im Menschlichen +stecken geblieben und dieses Menschliche +besaß er, weil er gelitten hatte, trotz +alles Geldes, von Jugend auf. Und dieses +Leid, – früh widerfahrenes Unrecht, – +wurde auch zur Wurzel der Verstrickung, aus +der seine Tat gedieh. Das schuldlos Erduldete +schuf den drosselnden Knoten in dem armen +Herzen, das zu seinem Unheil für mehr als +nur für das Hauptbuch schlug und alle nachträglich +ihm widerfahrene Unbill schnürte ihn +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +nur fester und verfitzte ihn, – bis aus dem +Gewürge bloß eine einzige Lösung blieb: Gewalt! +</p> + +<p> +Sproß eines müden, vom Geschäft verzehrten +Mannes und einer kühlen liebeleeren +Frau, war der kleine Otto, der einzige männliche +Sproß, der „Kronprinz“, denn nur zwei +Mädchen folgten ihm, Ida und Melanie. +Nicht sehr kronprinzenhaft wuchs er auf. +Das verschüchterte Kind erfährt häufige und +unbarmherzige Züchtigungen von seiten der +Mutter, für die es sich keinen Grund weiß; +dem Vater kann es sich nicht anvertrauen; +ihn sieht es kaum, denn den hat das Kontor +zwischen den Zähnen; schließlich wird es bezahlten +Kräften überantwortet, Hofmeistern, +Gouvernanten, Dienstboten. So wächst der +Erbe des Reichen auf, welt- und gottverlassen, +um den einzigen und köstlichsten +Schatz menschlichen Werdens vom Anbeginne +bestohlen: Um ungetrübte Jugend. +Sein Schulkamerad Doktor Stefan Schmied +erzählt vor Gericht, der Knabe wäre der +Klasse durch drei für sein Alter recht ungewöhnliche +Eigenschaften aufgefallen: Ernst, +Verschlossenheit und Mißtrauen. Und diese +dunkle Dreieinigkeit, die über jedem der „Erniedrigten +und Beleidigten“ des Lebens +wacht, hielt ihm auch weiterhin treueste Gefolgschaft. +Aus seinem schon im Keime verletzten +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Rechtsgefühl gewinnt er zwar ergriffenes +Verstehen für den leidenden Nächsten +über die Horizonte seiner Herkunft und +seiner Kaste weit hinaus, zugleich aber erfüllt +ihn rechthaberische Reizbarkeit, die aus +derselben Leiderfahrung stammt. Hypochondrie +und Menschenscheu bemächtigen +sich des Beklagenswerten, dem man den Genuß +seiner Kindheit unterschlagen hatte; mit +der tagenden Erkenntnis des Jünglings schaut +er den Himmel über seiner Welt sich stets gefährlicher +verfinstern. Die harte Mutter, der +er übrigens durch Güte vergalt, was sie an +ihm gefehlt hatte, der schwache Vater, müde, +unterlegen im Ehekampf, aus dem er in das +Geschäft floh, wo ihn wieder die Verwandtschaft +geduckt umlauerte, – von nirgendwo +kam dem Heranwachsenden warm +die Stimme eines Menschen entgegen. Verbittert +wirft auch er sich in Arbeit, durch +fünfzehn Jahre steckt er im Betrieb, bereist +die Niederlagen, wirkt an heiklen Operationen +mit, so 1905 an dem berühmten bosnisch-herzegowinischen +Vertrag, – aber er merkt +dabei, daß er sich trotz allem zwischen den +klugen kühlen Rechnern seiner Vetterschaft +nicht gut ausnimmt, ein letzter Eifer mangelt +ihm, eine äußerste Sachlichkeit, die den +Posten Mensch aus ihren Kalkülen streicht. +Als untüchtig sieht er sich zur Seite geschoben; +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Minderkeitskomplexe und Überkompensationen +wechseln in seinem Seelenleben +ab. In dem Pessimismus, der ihn befällt, +wird ihm ein einziges spätes Glück zuteil. +Im besten Mannesalter lernt er Anna +Heimerle kennen, die nun seinen Weg teilt, +und an den Kindern, die sie ihm schenkt, +sieht er sein Dasein doch nicht völlig nutzlos +vertan. Es aber ganz mit frischem Licht zu +füllen und ihm so Vergessenheit des Gewesenen +zu erringen, das vermochte selbst die +so uneigennützige Liebe dieser Frau nicht. +Zu tief hatten sich Schrullenhaftigkeiten verschiedenster +Art schon in ihm eingefressen, +und nun richtete sich überdies die Front der +Familienhierarchie gegen ihn und gegen +seinen Vater und verstärkt so seine Absonderlichkeiten +zum Wahne, dauernd verfolgt +und bedroht zu sein. Ein körperliches Gebrest +behindert zudem seine Bewegungsfreiheit. +Er lebt und handelt unter einem +Schleier von ständiger Angst. Paranoide Gesichte +bemächtigen sich seiner; immer geht +er bewaffnet. Auf einem Sägewerk, das er +inspiziert, trifft ihn ein Bekannter, bekundet +als Zeuge: Otto Eißler wandelt dort in +Schwimmhose, links einen Sonnenschirm, +rechts einen Revolver in der Hand. Nachts +ruft einen Anderen Gepolter in den Schlafraum +des Chefs; kaum kann er durch die +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +Barrikaden von Möbeln eindringen: er sieht +Stühle im gleichen Abstande aufgestellt und +über sie nackt hinspringend – Otto Eißler, +gleich einer phantastischen E. T. A. Hoffmann-Figur. +Gift wolle man ihm in die Speisen +mischen, argwöhnt er. Oder: Man plane, ihm +die Luft des Zimmers durch böse Dünste zu +verderben, und er zerstäubt dort die erdenklichsten +Desinfektionsmittel, daß einmal sein +Cousin Ernst Lanner, der ihn besucht, +schleunigst das Fenster aufreißt, um nicht +in Ohnmacht zu sinken. Zu solchen Zwangsvorstellungen +gesellt sich ausgesprochene +Bakterienfurcht. Darum mißt er den Luftraum +jedes Gemaches ab, darin er schlafen +soll, ob er nicht etwa einen besonderen Brutherd +verheerender Mikroben böte, darum +trägt er lächerlich weite Kleider und läuft im +Hause nur adamitisch umher, die Haut so +stets möglichst frei zu halten, darum ist er +auch Fanatiker des keimvernichtenden Sonnenbades, +das er, unbekümmert um seine +Umgebung, bei jeder möglichen Gelegenheit +genießt; darum läßt er sich sogar die Zeitung +vorwärmen, ehe er sie liest. Solche Maßnahmen +sucht er denen, die sie bestaunen, +mit harmlosen Vorwänden anderer Art zu erklären, +aber gerade sein Eifer, der jedwede +pathologische Deutung heftigst ablehnt, kennzeichnet +das dissimulierende Krankheitsbild +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +des Mannes, der von Kind auf unter dem +Druck vermeintlicher und wirklicher Verfolgungen +endlich in jene Tat ausbrach, der +Resultante all der geschilderten Komponenten, +die ihn, den Fanatiker seines Rechtes, +vor das Gericht bringen sollte. Wer vermöchte +zu beschwören, wo hier Verantwortlichkeit +endet und das zwangsläufige Manische +anhebt, die fixe Idee, die persekutiven +Charakter annimmt? Wer, – außer den +Psychiatern, von denen hier noch zu reden +ist? Alles trieb hier zu einer dissozialen +Aktion, doch weil der vom Schicksal vorgezeichnete +Täter in hohem Maße das war, was +man „moralische Natur“ benennt, trachtete +er sich unbewußt einen Unterbau plausibler +Beweggründe zu schaffen und den Verfolger +festzustellen, von dem alles Widrige seines +zermarterten Lebens seinen sinnfälligen Ausgang +nahm. Und da hier beides zutraf, der +Versuch einer geschäftlichen Entmündigung +sowie sein deutlicher Urheber, ein unsentimentaler +strategischer Gegner, der es sich +zum Ziel gesetzt hatte, ihn ohne wesentliche +eigene Opfer aus dem Sattel zu werfen, – so +wälzt der gehetzte geängstete Mann alle seine +Qual gegen jenen als ihren Begründer, findet +in Robert Eißler die Quelle des Bösen, das +nach seiner und der Seinen Existenz trachtet. +Trotzdem – oder eben darum – bleibt er in +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +einer Art Haßliebe an den weitdisponierenden +Chef gekettet, dessen traumlose straffe Kraft +der Sachlichkeit ihm widerwillig Bewunderung +abnötigt, strebt dauernd zu Vergleichen +zu gelangen, die an Roberts strikter Haltung +und zuwartender Ruhe immer wieder scheitern. +Der ist schon einmal unbeugsam darauf +aus, Heinrich und Otto, den ihm verderblich +dünkenden Anwärter auf die Firmenführung, +auf diesem Boden gründlichst auszujäten. +Und Otto dachte auch schon einmal, 1910, +ernstlich daran, dem Hause seiner Väter +endgültig „Valet“ zu sagen, unterließ es +später, weil er dabei seiner Meinung nach von +den Verwandten schwer übervorteilt worden +wäre; er schied damals nur von dem Büro, +zum Teile aus Hypochondrie. Mittlerweilen +hatten die Verhältnisse noch mehr zu seinen +Ungunsten ausgeschlagen, nicht der durch +Ehen bereits zum Teil versorgten Schwestern +wegen; aber die Lebensgefährtin ist hinzugekommen +und seine drei Kinder. Und so +streitet und queruliert er herum, stets gefaßt +auf einen Satansstreich des Anderen, der in +unheimlicher Stille verharrend, sich durch +nichts aus seiner wachsamen Stellung locken +läßt. Bis Otto in seiner Übervorsicht die +gröbsten Fehler begeht, in die Robert gnadenlos +einhakt. Der Alte ist ja inzwischen schon +verdrängt und war überdies so höflich, durch +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +seinen Tod alle weiteren Schwierigkeiten zu +quittieren, nun mag der Sohn ihm folgen +samt seinen Forderungen, denen die ins +Rutschen geratene Valutenlawine das Rückgrat +brechen soll. Und wirklich hastet er, +betäubt von den Schrecken der niederprasselnden +Kroneninflation, rasch, unüberlegt, +das Seine zu retten, um jeden Preis. +Den aber – bestimmt ihm: Vetter Robert! +Mit Papier und anderen labilen Werten wird +die Goldforderung des lästigen Verwandten +abgespeist. Zu spät tobt der über seine +Blindheit, fleht um Zurücknahme seiner in +seelischer Panik gemachten Konzessionen. +Umsonst! Kein Jota seines verbrieften +Rechtes, kein Gramm seines Pfundes läßt +Vetter Shylock ab. Dem Besiegten schwillt +er zum Oger an, der ihn frißt, seine Geschwister, +seine Gefährtin, seine Kinder, diese +abgöttisch angebeteten Kinder! Immer +mächtiger wächst er sich aus, eherne Stirne, +steinernes Herz, – sonst alles Geld! 1920 und +1921 wird der Vertrag mit Otto in letzte vernichtende +Form gegossen. Endergebnis ist +das bereits bekannte, das unerschütterlich +bleibt: Fünfzehntausend Schweizer Franken +sind für den armen Vetter da, der ihrer +siebenundeinhalb Millionen als sein Teil beansprucht +hat, und der Enteignete sieht sich +zugleich entwaffnet; übereilig hat er gutgeheißen, +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +was ihn nun verstrickt, und wo er +sich stützen will, hascht er nur Luft statt +einer rettenden Hand. Die finanzielle Transfusion, +die dabei stattfand, schilderte er später +in seiner auch schriftlich abgefaßten „Information“ +haarscharf vor Gericht; sie würde +in ihren Zifferndetails hier ermüden. Genug, +daß sogar der Staatsanwalt daraus anerkannte, +an dem Beklagten sei übel gehandelt +worden. Otto versucht durch seinen Rechtsfreund +Dr. Kantor im Wege des Zivilprozesses +gegen die Firma Remedur. Der Advokat +durchschaut, wie er, die Schärfe jener Abmachungen, +die seinem Klienten die Sehnen +zerschneiden, doch auch er gewahrt recht +spärliche Möglichkeiten für einen erfolgverheißenden +Gegenzug. Das moralische Gesetz +mochte Robert tausendmal schuldig sprechen, +– vor dem bürgerlichen bleibt er unantastbar. +Da wirft sich der gehetzte empörte Otto +selbst zum Richter auf in seiner Sache. Der +Vetter ist ihm schon mehr als sein privater +Feind, er ist Feind geworden schlechthin alles +Lebenden, das unter diesen aus den Fugen +gegangenen Zeit hungert, klagt, stirbt. Seinesgleichen +war schuld an dem Kriege, wie es nun +schuld an solchem Frieden ist! Mit überpersönlichem +Legat fühlt Otto Eißler sich +ausgestattet, als er zur Abrechnung schreitet +gegen seinen Feind. Er sieht vor sich nicht +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +den Blutsverwandten mehr und nicht mehr +das leidende Antlitz des Menschen hinter +Trieb und Gier, die ihn zwangen, so zu werden, +wie er ist, er sieht nur die eiserne Maske der +Macht! Ein Feind der Menschheit steht vor +ihm. Ähnlich dem Roßtäuscher Kohlhaas erweitert +auch er seinen Fall ins Allgemeine und +ahnt nicht, daß die Wurzel des Unrechtes tief +lag wie die der geschlachteten Bäume, in den +Orgien des über verwüsteten Wäldern und +wohlfeilen Lohnheloten errichteten <em>Besitzes</em>. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-6"> +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +VI. MONODRAMA DER TAT. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Im „<em>Herzoghof</em>“ des seit Römertagen +gesuchten Kurortes <em>Baden bei Wien</em>, – +„Aquae thermae“ nannten es die Pensionisten +der pannonischen Legionen, die in seinen +Schwefelquellen Heilung erhofften, – haust +Otto Eißler. Das Gebäude, so benannt nach +den fröhlichen Babenberger Herzögen, den +vorhabsburgischen Herrschern von Österreich, +die gerne hier verweilten, stellt eine +passende Unterkunft für Leute dar, die in +der sommerüber von Fremden wimmelnden +Stadt keinen überflüssigen Kontakt wünschen +und dabei eine gewisse vornehme Behaglichkeit +nicht entbehren wollen. Der +Misanthrop aus der Holzdynastie verlegte +darum frühzeitig sein Hauptquartier an dieses +stille Refugium, von dem aus er den Krieg +gegen seinen Vetter führt, zuletzt 1923 in +einer bereits an Irrsinn grenzenden Erregung, +je sicherer die Erfolglosigkeit seiner +Bemühungen zu erwarten schien. Freundin +und Kinder umgeben ihn mit liebereichster +Pflege; dennoch muß der Arzt zu dem von +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +schwersten Nervenkrisen Erschütterten gerufen +werden, stellt seelische Störungen fest, +deren Behandlung strengste Ruhe und Abgeschlossenheit +von der Außenwelt als erstes +Gebot erforderte. Davon will der Unglückliche +nichts wissen, streitet mit punischer +Tapferkeit für seine steigend getrübteren +Aussichten, klingelt nachts Anwälte und +Notare aus dem Schlaf, um dauernd das +Gleiche zu erfahren: Daß er für sich nahezu +nichts zu hoffen habe. Allenfalls den mitgeschädigten +Schwestern würde man im +Wiener Erzhause Kompensationen zubilligen, +– ihm: Nicht die winzigste! +</p> + +<p> +Es ist August, der Monat der Verbrechen +aus Leidenschaft. Seine weiße Glut vergiftet +die Hirne, heizt die Herzen bis zur Explosion. +Achtete eindringlicheres Verfahren, als das +der gegenwärtigen Themis auf die Verknüpfung +von Gewalttat und Gezeiten, es gelangte +zu verblüffenden Erkenntnissen: Winter, +Intellektualverbrechen; Affekthandlungen +im Sommer; Selbstmorde und Revolutionen +in den Brunftzeiten Frühling und +Herbst. Durch die verschlafene Empirestadt, +über der es von Hitze brütet, jagt ein rasendes +Menschentier: Otto Eißler, trächtig von +seinem Schicksal. Klarheit hat er jetzt durch +den Rechtsfreund. Eine Tagsatzung soll in +seiner Sache noch stattfinden, nutzlos wird +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +sie vergehen. Nichts mehr nützt! So wird er +berufen; immer wieder berufen. Hartnäckig +wie ein Bauer, der um einen Grenzstein +streitet. Wohin führt das am Ende? Und +er, Otto Eißler, hat selber beigetragen, daß es +so weit gekommen ist! „Dummer Kerl!“ hört +er zischeln um sich; nein, niemand ist da, nur +die leeren flimmernden Straßen, – aber der +Vetter soll das ja gesagt haben von ihm, der +Vetter Robert, der in Wien hockt, breit, gewaltig, +unangreifbar. Er, der Reiche, kann +ja warten, bis der andere sich zugrunde +prozessiert hat; fünfzehntausend Schweizer +Franken tauchen bald in Expensen auf; dann +fällt die Angelegenheit in nichts zusammen, +weil Otto ein Bettler geworden ist. Was aber +nachher? Die Frau! Die Kinder! Unmöglich +ist es, unmöglich! Im kühlen Waffenladen +kommt der Heißgelaufene zu sich. Ein +Entschluß beginnt. Alle Gerichte bleiben +wehrlos in Sache des Rechtes. Und auch +Gott schweigt; er ist ihm nicht wohlgefällig, +– niemandem ist er wohlgefällig, er, der +Häßliche, von Kind auf Gestoßene. „Gewiß +Herr Müller! Mauserpistole samt Patronen. +Ja ...“ Ob er mit dem Browning vom +Februar zufrieden gewesen sei? – „O, freilich!“ +Den Browning trägt er doch stets im +Sacke, entsichert und wohlgeladen, – umlagert +von Feinden, wie er ist. Aber davon +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +erzählt er nichts. Etwas glättet sich in ihm, +wie er die kalte Waffe am Schafte hält und +mit dem Abzug spielt. Und nun läßt er sich +Munition geben, als gälte es, ein neues Fort +Chabrol zu armieren. Es ist der dreiundzwanzigste +August. +</p> + +<p> +Zu Hause macht er Bilanz über sich und +das Seine. Man hat sich vorzusehen für alle +Fälle. Wogegen? Ach, das wird sich schon +weisen. Das geschieht doch nicht so einfach +aus einem selbst, das packt einem von draußen +und findet statt. So heißt es auch immer +„fand statt“. Also darum jede Schuld berichtigt, +selbst die kleinste! In einer Woche +ist er in Ordnung damit. Keine Rückstände! +Alles soll sauber liegen hinter ihm. Ja, da ist +noch seine Schwester Ida, Witwe nach +Exzellenz von Molnar, ungarischen Staatssekretär. +Immer war die gut zu ihm; sie +sollte man unbedingt aufsuchen, – der +armen Frau daheim, den Kindern, kann man +nichts zumuten, – die Schwester ist ein +kluger starker Mensch, und so einer muß zur +Stelle sein für die Seinen, wenn – ja, irgend +etwas geschieht, – und wäre es das eigene +Leben, das man wegwirft – um den Frieden, +– um den endlichen Frieden, nach dreißig +Jahren Unrast, Verfolgung, Bitterkeit. Und +vorher zwanzig Jahre einsamer Jugend, lichtloser +Kindheit ... „Sorge Dich um die +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +Meinen,“ bittet er die Schwester und noch +allerlei Verworrenes, das der tödlich Erschrockenen +kaum zum Bewußtsein kommt; +da ist er auch schon fort. +</p> + +<p> +Er fahrt nach Wien. Früher Morgen. Der +letzte Augusttag brennt ab. Die elektrische +Kleinbahn surrt grau durch das sommerträge +Land. Ringsum Ebene, schattenlos. Erst +westwärts in den schwarzblauen Bergen am +Rande des Flachlandes strotzen wieder stämmige +Waldbäume. Sie mögen sich hüten, daß +nicht auch sie bald dem großen Vetter verfallen. +Wie es ihm ergeht samt seinem Anspruch +und allem, was daran hängt: Die +Schwestern, die Gefährtin, die drei Kinder. +Das Blut siedet ihm dick in die Schläfen, +wenn er versucht, das zu Ende zu denken. +Ihnen insgesamt wird noch das Mark ausgesogen +durch den höchst unbrüderlichen Bruderssohn, +der früher nicht rastet. Man will +ihn aber jetzt stellen; von Angesicht zu Angesicht +befragen will man ihn, zu letzten Male, +ob er sich nicht doch vergleichen mag in +zwölfter Stunde? Das muß man, ehe man +jede Vernunft fahren läßt, die sich nur mühsam +noch, von Wut umschäumt, hinter der +glühenden Stirne aufrecht hält. Vielleicht +sind die beiden Mitchefs zugegen; die könnten +eingreifen, mildern; die haben sich ja nicht +so verbissen in diese Menschenjagd. Da ist +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +der Luegerplatz mit der Burg des Feindes, +die er nun betritt. Wieder einmal. Denn erst +vor wenigen Wochen war er hier, nachdem er +zuvor lange heraufgestiert hat vom Rathausparke +aus. „Wie eine Wachspuppe“ –, so +berichtet einer, der <a id="corr-1"></a>ihn dabei ertappt. Und +der Herr Robert würdigte ihn damals kaum +einer Antwort und die Bucheinsicht wird ihm +auch verweigert; gerade, daß sie ihm nicht +schon die Türe weisen. Nein, – das tuen sie +doch nicht; von den Angestellten keiner; die +verstehen sich mit ihm, weil er freundlich zu +ihnen ist, nicht so – wie der! Der Robert! +Kommt er heute etwa nicht ins Kontor? Da +erteilt der Kassierer Köhler Bescheid: Robert +allein sei hier, – und geht eilig weg. Robert +– allein –? Stille stemmt einem den Atem +zurück, entsetzliche Stille. Gleicht das Chefzimmer +nicht plötzlich einem gedämpften +Raum, darin eine Leiche liegt? – Der Besuch +lehnt sich an den Schreibtisch; den +kennt er: Vierzig Jahre war sein Vater +Heinrich daran verkettet gewesen, vierzig in +Arbeit geknechtete Jahre, – mit einem Fußtritt +als Dank zum Abschluß! Das verantwortet +– Robert! Immer bleibt er so letzte +Ursache jedwedes Unheiles, das ihn und die +Seinen martert, er – in seiner unbeugsamen +Härte! Auch im Hause hier mögen sie ihn +sicherlich alle nicht. Man tuschelt mancherlei. +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +Da ist der Jakob Singer, – den hat er +einmal mit zerrissenen Schuhen stundenlang +im Schnee warten lassen, und wie der vor +ihm frostzitternd von einem Fuß auf den +anderen tritt, schreit er ihn an: „Hund, +kannst du nicht habt acht stehen?“ Und der +Ernst, sein Cousin, der weiß, wie der Robert +beim Militär die armen Soldaten angeblasen +hat wegen dem Grüßen. Und solche Geschichten +gibt’s genug von dem Robert, zum +Beispiel die mit dem Vetter Otto, he? Mit +ihm selbst? – Die Hände würgen in den +Säcken des schlotternden Anzuges; sie spüren +Kühle, Metall: Die Pistolen! Und da tritt +auch der Vetter ein, scheinbar nicht eben erfreut +über den Gast, den er vorfindet. Freilich, +gerade heute, wo ihn der Kopf wohl von +Wichtigerem summt, wo unter anderem die +deutsche Mark von den rheinischen Kollegen +abgefeilt endgültig ins Bodenlose saust, – da +sind andere Sorgen am Ruder und andere +Pläne. Und schon hält er auch das Telephon +in der Hand und rasch zuvorkommend in des +Wortes engster Bedeutung wirft er es hin +zwischen zwei Geschäftsgesprächen: „Ich +werde lieber sieben Jahre prozessieren, als dir +die Rente bezahlen.“ Da wird alles rot, roter +wogender Nebel, drinnen schwankt der +Schreibtisch des alten Heinrich wie ein Schiff +im Untergang. Wo klammert man sich fest, +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +daß es einen nicht niederreißt, hinab zu den +goldlüsternen Haifischen, die nun wieder +Beute wittern, zahllose Beute? Die Kolben +in den Taschen bäumen sich; man möchte sie +zurückzwingen, aber nun halten sie <a id="corr-2"></a>einen +fest, wachsen einem in die Fäuste, wühlen +sich aufwärts, drängen ans Licht. Was sagt +der drüben? – „Du kannst noch sieben +Jahre Prozeß führen.“ Bis dahin hat man +doch keine Faser am Leibe mehr, die einem +gehört! Und jetzt weiter: „Von mir aus +könnt ihr alle krepieren!“ Nein! Das nicht! +Das muß Täuschung sein, sausen in den +Ohren! Die Kolben rücken über den Rand +der Säcke, – verlängerte Hände sind sie +und ihre Läufe steile Finger, die auf den +Menschen weisen, der dort ruhig sitzt und +telephoniert. Ja hübsch ruhig, während ihm +gegenüber sein Blutsverwandter an der gleichen +Stelle zugrunde geht, wo man schon +seinem Vater die Knochen gebrochen hat. +Trotz des Rechtes, das hinter beiden stand, +sie <em>hatten</em> recht, – bloß der andere war +schlauer! – „Dummer Kerl!“ – Wer ruft +so? – Der drüben? Der – am Telephon? +Und hätte er es auch nicht ausgesprochen, – +jede seiner Gesten, die ihn abstreifen, schreit +es ihm zu, jeder seiner Blicke, der ihn anspuckt. +Wahrhaftig, das ist kein Mensch +mehr! Das ist das Geld selbst, das da vor +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +einem thront, ungeheuer, unbarmherzig, angemästet +mit allem Elend der Erde, vollgesoffen +aus den Wunden ihrer Schlachten und +dennoch unersättlich gierig nach Blut und +Blut und Blut! Alles Bauch, wälderzermalmender, +menschenkauender Bauch! Die +Welt muß man erlösen von ihm – man muß +– und los! – oh jauchzende Himmelfahrt +der feuerblitzenden Hände – weiter – oh +unfaßbare Befreiung im Donner der ersten +krachenden Schüsse – weiter – oh überirdischer +Rausch, der den Krampf eines +Lebens entbindet, – weiter – da drüben +taumelt einer, ächzt, speit rot – weiter – +als Barrikade den Schreibtisch des Vaters, +Opferblock, wo nun wieder geschlachtet wird, +– weiter – Blut wäscht ihn rein, Blut sühnt +– weiter – das krümmt sich dort auf, +röchelt, sinkt ein, wie eine Marionette, der +man die Drähte gekappt hat – weiter – +Türen klaffen, Gesichter schreien und flattern +durch Rauch, – man hört nichts mehr davon +– man sieht nichts mehr, – man weiß nur +eines: Man hat es dem Golde gegeben, man +hat dem Golde in den Bauch geschossen, +sechsmal – +</p> + +<p> +Und nun rasch die letzte Kugel durch den +eigenen Schädel! Abschied im Zenith der +Tat! Ihn soll keiner noch je angrinsen, keiner +ihn verhöhnen, eine Millionenstadt hebt nun +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +seinen Namen über alle Gischt ihrer täglichen +Helden hinaus, – – aber schon dringen aus +dem blassen Haupte drüben, um das sich +Entsetzen und Grauen schart, ein paar furchtbar +klarer Worte: +</p> + +<p> +„Wie oft hat dieser dumme Kerl geschossen?“ +</p> + +<p> +„Dieser dumme Kerl –“ Das war es wieder +und unleugbar laut! Also auch jetzt ist er +für den dort noch nichts anderes, auch daß er +ihm den Tod sechsfach ins Fleisch geimpft +hat, zählt nicht. Der stirbt, ohne Kenntnis +zu nehmen von seinem Mörder, stirbt voll +verzweifelter Wut über einen blöden unsinnigen +Zufall, der ihn mitten aus seinen +Plänen und Werken reißt, – denn das ist +ihm der Vetter samt seiner Tat: Ein Ziegelstein +vom Dache! Ein Auto, das sich mit ihm +überschlug! Stupide Tücke eines Dinges! +Mehr nicht! +</p> + +<p> +Der Mörder läßt die Arme baumeln wie +schlaffe Peitschenschnüre. Mühelos entwindet +man ihm die Waffen; ingrimmig stößt +er etwas hervor, – „es ist nicht schade um +den“ will ein Zeuge gehört haben, – und +dann sagt eine Uniform: +</p> + +<p> +„Im Namen des Gesetzes –“ +</p> + +<p> +Und neuerlich kommt drüben die Stimme +des anderen. Aber dieses Mal ist sie leise und +von einem fremden Klang. „Bauchschuß – +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +ich sterbe, – Herr Doktor, – wie lange habe +ich noch zu leben?“ und „– meine arme Frau, +– meine Kinder –“ Die Maske der Macht gleitet +nieder von dem Antlitz eines Menschen, der +sich sterben weiß. Und dieses Antlitz ist ganz +bleich, ganz rein, – wie das eines Genesenden +von einem schweren qualvollen Leid. +</p> + +<p> +Der Täter gewahrt das nicht mehr. Eine +Entspannung lockert ihn. Ruhig läßt er sich +abführen. +</p> + +<p> +Er gewahrt auch das Größere nicht. Daß +man im Leben stets nur <em>einen</em> Feind hat. +Den man vergeblich vernichten würde, und +wäre es durch tausend Leiber. Weil er sich +im Nebenmenschen am Widerspruche zu dem +Nachbarwesen immer neuerlich entzündet. +Weil das Ich schuld trägt daran und seine +schicksalshafte Gegensätzlichkeit zu einem +ebenso bestimmt gearteten anderen Ich. +Darum begegnet man <a id="corr-3"></a>ihm immer wieder. Erledigt +ihn mit keiner Gewalt. Vielleicht nur +durch klare wehrlose Güte, wenn sie ihn überzeugt: +Mit Selbstaufopferung. +</p> + +<p> +Robert Eißler wurde so sein Feind. Als +Urgegner des Undeutbaren, des Unentschlossenen, +des Wegelosen, des vom Gefühle +Überschwemmten. Ein Ekstatiker seines +Lebensbekenntnisses, das hier „Gold“ hieß. +Aber auch andere Namen hätte führen können: +Kampf, Herrschaft, Gott, Gesetz! +</p> + +<p> +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +Wenige Stunden nach jenem Überfalle stirbt +Robert Eißler. Die Kugeln haben sein Inneres +fast zerfleischt: Zu sechzehn Wunden. +</p> + +<p> +Und acht Monate später steht Otto Eißler +in Wien vor der Apostelzahl der zwölf Geschworenen +und ihrem Vorsitzenden, dem +Gesetze in Menschengestalt. +</p> + +<p> +Der Vorsitzende nennt sich: Hofrat Doktor +<em>Ramsauer</em>. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-7"> +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +VII. CHOR DER PSYCHIATER. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +In den Tragödien der großen Prozesse aller +<a id="corr-5"></a>Rechtsstaaten bilden die Psychiater bei jedem +Strafverfahren, darin sie forensisch zur Kenntnis +genommen werden, zumeist eine Art +tragikomischer Nebenaktion, Satyrspiel als +Intermezzo. Fälle ergeben sich allerdings bei +politischen oder anderen aus Staatsraison +kitzlicheren Vergehen, darin ihre Meinung als +willkommenes Rettungssteuer dient, den ganzen +Handel aus dem Orkane des Meinungsstreites +in den sicheren Hafen eines Irrenhauses +zu lootsen. Womit die Gewissenhaftigkeit +ihrer Personen und ihres Votums keineswegs +angezweifelt sei. Sonst obläge ihnen +nach dem Erachten ihrer Auftraggeber mehr +die Rolle der Regimentsärzte im Kriege, +nämlich festzustellen, ob der ihnen zugewiesene +Klient „tauglich ohne Gebrechen“ für +den Spruch der blinden Themis wäre. Behindernd +wirkt dabei der knappe Platz, den +ihnen die Prozeßordnung und das geltende +Strafgesetz für die Grenzen der Begriffe von +unverantwortlicher Zwangslage und eingeschränkter, +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +jedoch noch als verantwortlich +klassifizierter Willensfähigkeit einräumt. +</p> + +<p> +In der Sache Otto <em>Eißler</em> erschwerte ihnen +der Beschuldigte selbst ungemein ihre Stellungnahme, +gerade indem er sie ihnen scheinbar +erleichterte. Er war es, der um keinen +Preis als geisteskrank betrachtet werden +wollte, der lediglich zugestand, im Augenblicke +der Tat den Kopf verloren zu haben, +und der eben darum, wie durch die ausgesprochene +„Süchtigkeit“ jede seiner abnorm +scheinenden Gewohnheiten rationalistisch zu +fundieren, den Verdacht der „Dissimulation“, +Benehmen eines Kranken, der sich gewaltsam +gesund stellt, erweckte. +</p> + +<p> +Den Psychiatern lagen drei Möglichkeiten +vor: Es konnte sich hier um einen wirklich +Irren, in erster Linie um einen Paranoiker +drehen oder um einen schweren Psychopathen +paranoiden oder schizophrenen Charakters, +der unter den genannten Umständen im auflodernden +Momente der Tat keine Verantwortung +mehr trug für sein Verbrechen oder +lediglich um einen Sonderling von psychopathischer +Minderwertigkeit, der heftigen +Gemütsbewegungen nur sehr geringen Widerstand +zu bieten vermochte, aber doch nach +§ 46 des Öst. Strafgesetzbuches als haftbar +anzusehen war. Nach Eißlers eigenem Geständnis, +nach den durch Zeugen belegten +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +Indizien über sein seelisches Verhalten vor, +während des Ereignisses und darüber hinaus, +ja, nach einem Teil des später noch präziser +zu erörternden Gutachtens selbst lag die Annahme +eines paranoiden Typus nahe. +</p> + +<p> +Populär erläutert stellt der Paranoide die +Form einer geistigen Krise vor, die sich zur +wirklichen Paranoia etwa so verhält wie eine +Herzneurose zu einem organischen Herzleiden. +Wie diese kann sie bei geeigneter Behandlung +völlig abklingen, wie diese in ihr schweres +verhängnisvolles Nachbarstadium übergehen. +Die Ähnlichkeit ist oft frappant, die zwischen +dem klinischen Bilde einer Paranoia und dem +eines paranoiden Zustandes besteht. Auch +bei dem Paranoiden, besonders bei jenem, +der zu Verfolgungs- oder Beziehungswahnvorstellungen +neigt, steigern sich die Anfälle +in sogenannten „Schüben“<a id="corr-6"></a>, wie der terminus +technicus lautet, auch er glaubt sich umlagert +und bespäht, fühlt sich als passives +Zentrum sämtlicher ihm widrigen Ereignisse, +meint elektrische Ströme nach sich entsendet, +hört Stimmen, wittert an Kleidern und +Möbeln Menschenkot, trachtet andauernd +einen Urheber seines Übels zu konstatieren, +– und kann naturgemäß aus solchem Zustand +latenter Überreizungen, die bis zur +totalen Sinnestäuschung reichen, verantwortungslose +Affekthandlungen verüben. Dabei +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +gilt er in des Wortes Sinn nicht für +„geisteskrank,“ vermag neben seinen gefährlichen +Momenten, in denen er einer Rechenschaft +nicht fähig erklärt werden muß, ein +produktives Genie ersten Ranges zu bleiben, +wie etwa August <em>Strindberg</em> in seiner +schlimmsten Pariser Zeit, als „<em>Einsam</em>“ und +„<em>Inferno</em>“ entstanden, diese erschütterndsten +und zugleich trostreichsten Dokumente +eines schaffenden Geistes, weil sie deutlich +beweisen, wie die Schöpferkraft des Individuums +es über die furchtbarsten Nachtklüfte +des „Ich“ hinwegzuheben imstande +ist. Führt aber eine solche paranoide Bedrängnis +in einem Menschen, dem nicht die +Flucht in irgendeine Produktivität oder Hingabe +daran (Kunst, Religion) gegönnt war, +zur antisozialen Tat, wie – bei Otto Eißler, +woferne man ihn paranoid erachtet, – so +mußte diese lediglich als schicksalshaftes +Elementarereignis im Organismus gewertet +werden, für das der Täter keine judizielle +Haftung übernehmen konnte. +</p> + +<p> +Die Psychiater <em>verneinten</em> das. Mit einer +Begründung, die am besten im Wortlaute +wiedergegeben sei: +</p> + +<p> +„... Aus dem betreffenden Akte und der +Aussage Dr. Edmund Benedikts“ (des Anwaltes +des alten Heinrich Eißler) „ist zu ersehen, +daß Beklagter“ (Otto Eißler) „von seiten +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +seiner drei Vettern arg benachteiligt worden +ist, und daß er nach dem rücksichtslosen Vorgehen +derselben gegen seinen hochbetagten +Vater begründete Ursache hatte, ihnen zu +mißtrauen, was bei seiner Gemütsart nur auf +allzu vorbereiteten Boden fiel. Wenn er im +Verlaufe der vorgekommenen Differenzen +immer verbitterter wurde, den Vettern alles +Erdenkliche zutraute, vom ‚Gurgelabschneiden‘, +ja geradezu vom ‚wirtschaftlichen +Morde‘ sprach, so sind das wohl überschwängliche +derbe Ausdrücke, die aber von den Tatsachen +nicht allzuviel abwichen und somit +keineswegs wahnhaft begründet sind. Wenn +er ferners <em>vermutet, daß man von seinem +Militärdienst schädigende Wirkungen +auf seine Gesundheit erhoffte, um +dadurch einen gefährlichen Gegner loszuwerden</em>, +so beruft er sich hierbei darauf, +daß man nicht nur ihn selbst verhinderte, +ein Enthebungsgesuch abzusenden, sondern +auch seinen Vater mit Anzeige bedrohte, als +er ein solches einbringen wollte.“ +</p> + +<p> +Scheint der letzterwähnte Vorwurf schon +unwahrscheinlich, weil er, wäre er richtig, +ein völlig unvorstellbares Maß von Haß und +Unmenschlichkeit involvieren würde, sollte +er nicht vielmehr als typisches Symptom +einer fixen Idee, verfolgt zu sein, bezeichnet +werden müssen, so gewinnt diese Annahme +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +bei den folgenden Details des Gutachtens +noch mehr Raum: +</p> + +<p> +„... <em>Schon seit Jahren am liebsten +bewaffnet</em>, weil er bei seinen ländlichen +Ausflügen schon frühe in den Karpathen und +auch hier infolge seines sonderbaren Wesens +Attacken fürchtete und solche auch tatsächlich +bei Preßburg erlebte, hielt er seit seinen +Differenzen mit den Vettern auch daran fest, +weil er sich nach den gemachten Erfahrungen +vor diesen nicht sicher fühlte. Er beschränkt +sich diesbezüglich aber auf bloße Vermutungen, +wobei er sich auf <em>Vergleiche mit +dem Schicksal verschwundener Millionäre</em> +(!) und darauf beruft, daß Reiche alles +vermögen, ohne aber Symptome von krankhaften +Beachtungs- oder Verfolgungswahn, +der immer weitere Kreise zieht, darzubieten. +Alle diesbezüglichen Äußerungen verlassen +nie den Boden der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit, +wie er durch die vorliegenden +Tatsachen rücksichtsloser Behandlung und +vermögensrechtlicher Übervorteilung von seiten +seiner Vettern geschaffen wurde. Beide +waren wohl imstande, einen solchen psychopathisch +veranlagten Sonderling wie Beklagter +einer ist, nicht nur auf das Tiefste zu +verwunden und zu verbittern, sondern ihn +auch in einen Zustand begreiflicher innerer +Erregung zu versetzen, so daß er schließlich +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +zur Waffe griff und seinen Hauptgegner +niederschoß.“ +</p> + +<p> +Hätte demnach Otto Eißler seinen Vetter +grundlos hingestreckt, so wäre seine Unzurechnungsfähigkeit +damit schlagend erwiesen +worden. Daß aber allein gekränktes Rechtsgefühl +mit oder ohne zureichenden Anlaß, +schon <em>weil</em> es sich ununterbrochen verfolgt +und gegen seine Verfolger wehrlos sieht, in +die ungeheuersten Exzesse ausarten kann, die +seine Verantwortlichkeit aufheben, daß ein +Mensch, der sich schwer benachteiligt meint, +dabei belastet von Geburt her ist, auch durch +wirkliche Tatsachen, die seinen Wahn begründen, +immer tiefer in die Schlingen paranoider +Zwangsvorstellungen gerät, aus denen +er sich nunmehr mit Gewalt reißen kann, – +sollte das wahrhaft ein Novum in der Geschichte +psychopathologischer Erscheinungen +sein? Muß denn ein Paranoiker oder ein +Paranoider durchaus äußerlich unmotiviert +handeln. Wäre hier nicht oft genug eine übersehene +kausale Verbindung denkbar von +einem tatsächlichen ätzenden Erlebnis her, +das er sich als Brücke für die eigene Rechtfertigung +seiner wachsenden Manien errichtet, +solange ihn die große Dämmerung +noch nicht völlig überwuchert hat? Nein; +dieses Gutachten dünkt mich das Schulbeispiel +eines „hysteron proteron“ zu sein, einer +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +geradezu typischen Verwirrung von Voraussetzung +und Ergebnis und als solches reif für +die Lehrbücher der Logik. Auch in dem Überschreiten +seiner Befugnis, das aus der gleichen +Quelle stammt, in dem Judizieren der Tat +selbst, das einzig der Prozeßführung vorbehalten +zu bleiben hat. So, wenn es schreibt: +</p> + +<p> +„Er (Otto Eißler) bestreitet aber in solcher +Absicht(‚vorsätzlicher Mord‘) hingegangen zu +sein und will nur in einer momentanen zornigen +Erregung über die höhnische Ablehnung +seines nochmals versuchten Ausgleichsantrages +durch Robert gehandelt haben. Das +klingt im Hinblick auf seine dem Niedergeschossenen +zugerufene Äußerung: ‚Das hast +du für die sieben Millionen, um die du mich +gebracht hast!‘, die sein klares Tatbewußtsein +bekundet“ (besagte Äußerung steht nebenbei +so gar nicht fest), „im Hinblick auf sein +Ablauern der günstigen Gelegenheit eines +Telephongespräches Roberts und seine offenbar +vorbereitete schwere Bewaffnung,“ (schon +‚<em>seit Jahren am liebsten bewaffnet</em>‘ erzählt +das <em>gleiche</em> Gutachten einige Seiten +vorher), „ganz unglaubwürdig. Letztere diente +offenbar dazu, ganz sicher zu gehen.“ Und +nun kommt das Beste! „Wenn Beklagter behauptet, +gar nicht gezielt zu haben, so widerspricht +dem die Tatsache, daß er nur zu gut +getroffen hat.“ Was sonst? Auf die wenigen +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Schritte Entfernung beim Feuern aus zwei +Pistolen zugleich, wo ein Kind nicht gefehlt +hätte, geschweige denn ein alter Jäger wie +Otto Eißler, dem die Handhabung der Waffe +schon im Blute lag? +</p> + +<p> +Alle diese Dinge wirken um so verwunderlicher, +als das Gutachten sonst Otto Eißlers +Werdegang und die Entwicklung seiner psychopathologischen +Eigenheiten genetisch getreu +schildert, nur ohne daraus die zu erwartenden +Folgerungen zu ziehen. Der Angeklagte +leidet darnach an hereditären seelischen +und körperlichen Belastungen. Aus +einer traurigen Ehe über eine lichtlose Kindheit +liebeleer gelassen, schleppt er das bittere +Erbteil seiner Eltern mit, des Vaters gutmütige +aufrichtige, jedoch von jeder Erregung +unberechenbar aufgepeitschte Art, die +nicht minder reizbare, dem Spielteufel verfallene +Mutter: Sie beide kämpfen fort in der +Seele des Sohnes bis zu seinem Untergang. +Ihn drosselt Ohnmacht gegenüber dem Dasein, +einem Dasein, das die Anverwandten +mühelos meistern, die Kaufleute mit dem +Feldherrnblick, die Wager und Gewinner an +der Bank des äußeren Lebens, deren abenteuerlichste +Schachzüge schließlich immer +Gold entschuldigt, lohnt und verklärt. Und +er, Otto, ein von der Wurzel her Versehrter, +nicht geschaffen in dem groben Machtspiele +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +mitzukommen, dabei doch begabt mit einem +fast künstlerischen Wissen darum, dem es +nur an dem letzten nötigen Schuß Brutalität +mangelt, es zur Tat zu wandeln, ein Abseitiger, +in dem solche ihm schicksalshaft aufgedrungene +Haltung alle dunklen Gewalten +der Einsamkeit erwachen ließ: Furcht, Argwohn +und vergrübelte Sehnsucht. Und nun +gesellt sich noch Krankheit dazu, keine ausgesprochene, +mehr ihre drohenden Zeichen, +die ihn an Körper und Seele tückisch bedrohen. +Seit seinem siebzehnten Jahre +quält ihn ein physischer Schaden; eine Operation +beseitigt ihn, gleich setzen andere +lästige Beschwerden ein in Lunge und Blutkreislauf. +Zirkulationsstörungen verursachen +kongestive Leiden, Migränen nehmen sein +Hirn in den Schraubstock, dabei foltert ihn +Angst vor Bakterien, die sich phantastisch +verstärkt, als er auf Grund einer von Militärärzten +im Kriege bestätigten Bronchitis für +dienstuntauglich erklärt wird. Dieselbe +Diagnose hat er sich in seiner privaten +Existenz schon 1910 gestellt, wo er nicht nur +des beginnenden Zwistes mit den Vettern +halber seine Arbeit bei der Firma nach fünfzehnjähriger +Tätigkeit aufgab. Die erdenklichsten +Vorbeugungsmittel, besonders fleißige +Sonnenbäder gewähren ihm eine gewisse Erleichterung, +die ihm jener C-Befund (Garnisonsdienst) +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +der Musterungskommission wieder +benimmt. Sein Kampf gegen die Bakterien +geht nun so weit, daß er sich metallene +Türklinken wegen Infektionsgefahr zu berühren +scheut und auch bei schärfster Sonnenglut +stets nur in peinlichst verschlossenen +Kutschen ausfährt. Im Laienurteil verschafft +das Eißler unter den Einwohnern des Städtchens +Baden bald den Ruf eines ungefährlichen +Narren, eines verrückten Privatdozenten, +für den man ihn der lehrhaften Art +halber hält, in der er seine Phobien auch ganz +Fernestehenden begründet. +</p> + +<p> +Trotz alle dieser den akuten chokhaften +Eintritt einer seelischen Panik erklärenden +Symptome gelangt das Gutachten dennoch +zur Konstatierung seiner Verantwortlichkeit, +die es allerdings wie folgt etwas einschränkt: +</p> + +<p> +„Er ... ist nicht im Bewußtsein wesentlich +getrübt oder gar sinnesverwirrt. Er hat sich +vielmehr nur nach § 46 des St.-G. in einer aus +den gewöhnlichsten Menschengefühlen entstandenen +heftigen Gemütserregung zu dem +Verbrechen hinreißen lassen, für das ein ausreichendes +Motiv nicht fehlte. Im übrigen ist +er ein keineswegs geisteskranker oder geistesschwacher, +hypochondrischer verschrobener +Sonderling, dessen psychopathische Minderwertigkeit +ihn gegen das Auftreten von Gemütsbewegungen +weniger widerstandsfähig +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +macht, was daher vom gerichtspsychiatrischen +Standpunkt als mildernder Umstand +einer richterlichen Würdigung noch besonders +empfohlen werden muß.“ +</p> + +<p> +Der Angeklagte wurde hiermit verhandlungsreif. +Die Anklageschrift konnte entworfen +werden. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-8"> +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +VIII. DIE ANKLAGESCHRIFT. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Gewalttat stellt meistens eine tragische +Außenhandlung dar, Ergebnis und Erlösung +tiefer gelegener Stauungen und Reize von ihr +oft völlig polarem Charakter, – und an der +Peripherie, wie ihre blinde Aktion, bleibt gewöhnlich +ebenso ihre gerichtliche Sühne. +Denn selbst diese belangt lediglich ein Zeichen, +nicht Wuchs und Wesen des Ereignisses; +nach einem Zeichen muß sie anklagen, +verhandeln, verurteilen. Seit Jahrzehnten +vorgedachte Abstrakta werden Maß und +Mittel der Strafe, erdacht von einer Gesellschaftsordnung, +die mit ihnen steht und fällt. +<em>Rudolf von Iherings</em> so menschlicher +Satz: „Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern +die Begriffe sind des Lebens wegen da,“ +leuchtet über dem Tore zu einer Gemeinschaft, +das sich uns noch nicht aufgetan hat. +</p> + +<p> +Prüft man die Anklageschrift gegen Otto +Eißler, die nach Einholung des psychiatrischen +Gutachtens am 23. Februar 1924 für +den zu Aprilbeginn terminierten Prozeß verfertigt +wurde, so kann man sich ähnlicher +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +Meditationen nicht erwehren. Sie skelettiert +Vorgeschichte und Fall im österreichischen +Kurialstil, wobei sie seine psychogenen Bedingungen +genau so zur Seite schiebt wie sie +anderseits auf Konstatierung einer eventuell +wirklich verübten Benachteiligung des +Beklagten seitens seiner Verwandten verzichtet, +hierin striktest gegensätzlich zu dem +Gutachten der Psychiater, das gerade diesen +Punkt nicht scharf genug betonen kann, weil +er ihnen zum Beweis der geistigen Gesundheit +des Beklagten dient. Einig mit jenen wird sie +wieder in den Folgerungen, dem „dolus“ und +der Verantwortlichkeit des Täters. Im übrigen +bestrebt sie sich ihrem Sinne nach, der ja +auf Korrektur seitens der Verteidigung und +auf Einschränkung durch die Verhandlung +selbst gefaßt ist, die Ereignisse in den ihr +wichtig dünkenden Phasen zu entfalten und +führt dabei weder aus, warum Otto seinen +Haß just auf den Vetter Robert aus dem +Firmentriumvirat so mörderisch konzentrierte, +noch, was solchen Haß berechtigte +oder nicht. Damit genügt sie ihrem Zweck, +der die Suche nach einer Wurzel der vor den +Kadi gebrachten Handlung noch nicht einbegreift. +Wie jede Anklage steht auch sie in +dem Vorgang, den sie in die Schranken fordert. +<em>Über</em> ihn darf sie sich ja nicht erheben; +sie könnte sonst oft genug keine mehr sein. +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +Sie sucht sich Paragraph und Strafe zu der +Schuld, die sie prangert. Sie sei hier gebracht +in einem Auszug, der, von ihrem +Augenpunkte her, durch Darstellung und +Schilderung das bereits Berichtete, vermehrt +um Details fesselnder Art, betrachten lassen +mag: +</p> + +<p> +„Die Staatsanwaltschaft Wien I erhebt +gegen: +</p> + +<p> +Otto Eißler, geboren am 15. Juli 1874 in +Bisenz, nach Wien zuständig, mosaisch, ledig, +ohne Beschäftigung in Baden wohnhaft gewesen, +derzeit in Haft, <em>die Anklage</em>: +</p> + +<p> +Otto Eißler habe am 30. August 1923 gegen +Robert Eißler in der Absicht, ihn zu töten, +durch Abgeben mehrerer Schüsse aus einer +Browningpistole und einer Mauserpistole auf +eine solche Art gehandelt, daß daraus dessen +Tod erfolgte. Otto Eißler habe hierdurch das +Verbrechen des Mordes nach § 134 STG. begangen +und sei nach § 136 STG. unter Bedachtnahme +auf §§ 1, 2 des Gesetzes vom 3. IV. +1919 STG. BL. Nr. 215 zu bestrafen. +</p> + +<p class="noindent"> +<em>Begründung</em>: +</p> + +<p> +Otto Eißler ist der Sohn des im Jahre 1920 +verstorbenen Heinrich Eißler, der bis zu +seinem Tode öffentlicher Gesellschafter der +Firma J. Eißler und Brüder war. Nach einem +im Jahre 1897 zwischen den Gesellschaftern +dieser Firma geschlossenem Vertrage hätte +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +Otto Eißler unter gewissen Voraussetzungen +das Recht gehabt, nach dem Tode seines +Vaters als dessen Nachfolger in die Firma +einzutreten. Schon vor dem Tode Heinrich +Eißlers, nämlich am 1. Oktober 1919, traf +Otto Eißler mit den damaligen Mitgesellschaftern +seines Vaters, seinen Vettern Dr. +Hermann Eißler, Robert Eißler und Alfred +Eißler ein schriftliches Abkommen, demzufolge +Otto Eißler auf das Recht nach dem +Tode Heinrich Eißlers öffentlicher Gesellschafter +der Firma zu werden, verzichtete, +wogegen ihm die Berechtigung zugestanden +wurde, sich als stiller Gesellschafter an den +Geschäften zu beteiligen. Dieses Übereinkommen +wurde jedoch nach dem Tode des +Heinrich Eißler, und zwar mit dem Vertrag +vom 6. Juli 1921 umgestoßen, durch den +Otto Eißler gegen Bezahlung bedeutender +Beträge endgültig aus der Firma schied. +Otto Eißler hatte früher, und zwar seit dem +Jahre 1896 verschiedene Stellungen in der +Firma eingenommen, jedoch im Jahre 1910 +nach Mißhelligkeiten mit den Firmeninhabern +diese geschäftliche Betätigung aufgegeben. +Seit dieser Zeit glaubte er zu erkennen, daß +seine Verwandten darauf ausgingen, ihn +systematisch aus dem Geschäfte zu verdrängen. +Dies rief eine dauernde tiefe Verbitterung +bei ihm hervor, die sich in der +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +letzten Zeit noch steigerte, als sich ihm die +Überzeugung aufdrängte, daß er durch die +Verträge aus dem Jahre 1919 und 1921 nicht +nur seines Anteiles an der von seinem Vater +gegründeten Firma für immer verlustig geworden +war, sondern daß seine Vettern Hermann, +Robert und Alfred Eißler ihn in diesen +Verträgen auf das schwerste geschädigt hatten. +Er brachte im Frühjahr 1923 durch +seinen Rechtsanwalt beim Handelsgerichte +Wien gegen seine Vettern die Klage auf Ungültigkeitserklärung +der beiden Verträge von +1919 und 1921 ein. Für wie wenig aussichtsreich +er diesen Prozeß hielt, geht daraus hervor, +daß er wiederholt bei den feindlichen +Vettern vorsprach, um sie zu einem Ausgleich +zu bewegen. Dabei kam es zu sehr erregten +Auseinandersetzungen, bei denen seine Gegner +bestimmt und nachdrücklich jede gütliche +Austragung ablehnten. Diese unnachgiebige +schroff ablehnende Haltung seiner +Vettern, die Erkenntnis der Aussichtslosigkeit, +seine Ansprüche ihnen gegenüber im +Prozeßweg durchzusetzen, der Gedanke, das +wehrlose Opfer der Treibereien seiner Verwandten +geworden zu sein, haben in Otto +Eißler das Gefühl tiefsten Hasses immer +mehr verstärkt, alle sittlichen Hemmungen +verdrängt und in ihm den Entschluß zur +Reife kommen lassen, an seinen Feinden +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Rache zu nehmen, – einer von ihnen, die ihn +wirtschaftlich zugrunde gerichtet hatten, +sollte die Schuld mit dem Leben bezahlen. +</p> + +<p> +Otto Eißler, der seit Jahren ständig in +Baden bei Wien wohnte, hatte am 9. II. 1923 +beim dortigen Büchsenmacher, Ferdinand +Müller, eine Browningpistole gekauft. Etwa +drei Wochen nach der letzten mündlichen +Zurückweisung seines Ausgleichsanerbietens +kam er, es war am 20. oder 21. August 1923, +wieder in das Geschäft Müllers und verlangte +eine Mauserpistole. Da keine vorhanden war, +bot man ihm eine Steyrerpistole an, die er +ablehnte, worauf vom Geschäftsinhaber die +von Eißler gewünschte Waffe besorgt wurde. +Am 23. August 1923 kaufte er nun die Mauserpistole +samt 25 Patronen. +</p> + +<p> +Am 30. August, also eine Woche später, +fuhr er um halb neun Uhr vormittags mit der +Lokalbahn nach Wien und begab sich in die +im Hause I., Dr.-Karl-Lueger-Platz 2. befindlichen +Geschäftsräume der Firma. Nachdem +ihm geöffnet war, ging er sofort durch das +Vorzimmer in das sogenannte Chefzimmer, +in dem die Schreibtische der Gesellschafter +Robert und Alfred Eißler standen. Das +Zimmer (früher der Arbeitsraum Heinrich +Eißlers) war leer und der Beschuldigte setzte +sich auf den vor dem Schreibtisch Alfred +Eißlers stehenden Sessel und wartete. Der +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +Kassierer der Firma, Albert Köhler, kam +herein und antwortete auf die Frage, welcher +Chef heute anwesend sei, daß nur Robert +Eißler da sei. Nach kurzem, belanglosem Gespräch +verließ Köhler das Zimmer und begab +sich in seine Kanzlei, wo nach einigen Minuten +Robert Eißler mit dem Ersuchen erschien, +Köhler möge ihm einen auf einer +Armbanduhr klebenden Zettel ablösen. Auf +dem Rückweg ins Chefzimmer forderte Robert +Eißler den Geschäftsdiener Josef Kment +auf, ihn telephonisch mit dem Direktor einer +Aktiengesellschaft zu verbinden. Gleich +darauf öffnete Kment die Tür zum Chefzimmer, +in dem sich jetzt Robert Eißler befand, +und meldete, daß die Verbindung hergestellt +sei. Er hörte noch, bevor er sich entfernte, +wie Robert Eißler das telephonische +Gespräch begann. Kaum eine Minute später +öffnete der Kassierer Köhler die Tür des +Chefzimmers, um die Uhr zurückzubringen, +da sah er, daß Otto Eißler vor dem Schreibtisch +Alfreds stand und auf den ihm gegenüber +an seinem Schreibtisch sitzenden Robert +Eißler mit ausgestreckten Armen aus zwei +Pistolen mehrere Schüsse abgab. Robert +Eißler sank getroffen zu Boden. Köhler +nahm dem Beschuldigten die Waffen, wobei +Otto Eißler etwas von „sich erschießen“ +sprach. – – – – – – – – – – – – +</p> + +<p> +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +Als gleich darauf der Arzt erschien, sagte +Robert Eißler noch: „Bauchschuß, – ich +sterbe – Herr Doktor, wie lange habe ich +noch zu leben?“ Dann schaffte man ihn in +ein nahegelegenes Sanatorium, wo er kurz +nach der Einbringung seinen Geist aufgab. +Alle unmittelbar nach der Tat erschienenen +Personen bekunden die vollkommene Ruhe +und Gelassenheit des Beschuldigten, der dem +ihn zum Stadtkommissariat eskortierenden +Wachebeamten Karl Rudolf auf die Frage +nach dem Beweggrund seiner Tat die Antwort +gab: „Wenn man mich statt mit Goldfranken +mit österreichischen Kronen abfertigen +will, dann werden Sie es verstehen.“ +</p> + +<p> +Die gerichtliche Öffnung der Leiche des +Robert Eißler ergab eine Schußwunde in der +rechten Brustseite, diese Kugel hatte auf +ihrem weiteren Weg den rechten Bauchmuskel +durchbohrt, das Zwerchfell breit +durchtrennt und ist in die Bauchhöhle eingedrungen. +An der linken Bauchseite befanden +sich drei weitere, von einem und demselben +Schuß herrührende Wunden. Diese +Kugel hat den Dickdarm durchbohrt, ist +dann in die hintere Bauchwand eingedrungen, +hat die linke Seitenwand des kleinen Beckens +durchsetzt und dabei einige größere Blutadern +zerrissen. Eine weitere Schußverletzung +wies der rechte Oberschenkel auf, +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +wo durch das Geschoß die Muskeln breit +zertrümmert und sowohl die Oberschenkelschlagader +als auch die dazu gehörige Blutader +breit geöffnet wurden. Diese Gefäßverletzungen +haben zu mächtigen Blutaustritten +in das Gewebe geführt. +</p> + +<p> +Von einem vierten Schuß war der linke +Oberschenkel getroffen worden, der wagrecht +durchbohrt war, die Schenkelanziehermuskeln +waren ausgedehnt zertrümmert, von +Blutaustritten durchsetzt und die große +Rosenblutader verletzt. Der linke Arm wies +sechs Schußwunden auf, die möglicherweise +von bloß zwei weiteren Schüssen verursacht +worden sein können. Der Tod Robert Eißlers +ist infolge dieser Schußverletzungen durch +Verbluten erfolgt. Sowohl der an zweiter +Stelle genannte als auch der dritte Schuß +hätten jeder für sich allein den Tod herbeiführen +können. +</p> + +<p> +Otto Eißler kann die Tat nicht in Abrede +stellen und behauptet schon in seinem polizeilichen +Verhör, im Jähzorn und ohne +Tötungsabsicht gehandelt zu haben. Dieselbe +Verantwortung bringt er am 1. September +beim Untersuchungsrichter vor. „Ich +habe,“ sagt er, „im Jähzorn auf den Mann +geschossen, der meines Erachtens Betrügereien +zu meinem Nachteil begangen hat, und +ich meine, unter diesen Umständen ist meine +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +Tat zwar moralisch verwerflich, aber menschlich +zu begreifen.“ Da er auf die ihm vom +Untersuchungsrichter vorgehaltenen schweren +Verdachtsgründe, die mit Sicherheit auf +die längst gefaßte, wohlüberlegte Absicht +schließen lassen, seinen Gegner zu töten, +keine Antwort weiß, erklärte er nunmehr: +„Ich stehe auf dem Standpunkt, daß der +Ausbruch einer Wahnidee sich nicht mit +Logik begründen läßt.“ +</p> + +<p> +Auch in seinem Verhör vom 17. Dezember +1923 stellt er die Tat als das Ergebnis einer +jähzornigen Gemütsaufwallung dar, will dann +wieder glauben machen, er habe im Augenblick +des Schießens nicht gewußt, daß er +schieße, behauptet dann wieder, in einer +riesigen Zornaufwallung gehandelt zu haben +und weiß auf den Vorhalt, daß alle unbefangenen +Personen seine vollkommene Ruhe +unmittelbar vor, bei und nach der Tat bestätigen, +nichts anderes zu entgegnen, als +daß er die Wahrheit dieser Aussagen bestreite. +Die Verantwortung Otto Eißlers, +nicht in der Absicht zu töten geschossen zu +haben, findet in den Ergebnissen des Vorverfahrens +ihre volle Widerlegung. Die Vorgeschichte +der Tat, der Ankauf der zweiten +tötlichen Waffe, das Mitnehmen beider Pistolen +von Baden nach Wien, das klugbedachte +und wohlüberlegte Abwarten des günstigsten +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Augenblickes, während Robert Eißler durch +das Telephonieren abgelenkt war, die Abgabe +von mehreren Schüssen aus zwei ihm +als äußerst gefährlich bekannten Waffen aus +unmittelbarer Nähe: alle diese Umstände +lassen keine andere Deutung zu, als die, daß +Otto Eißler den lange vorher bedachten und +wohlvorbereiteten Plan zur Ausführung gebracht +hat, einen seiner Feinde, die ihn wirtschaftlich +auf das Schwerste geschädigt hatten, +und die er erbittert haßte, zur Befriedigung +seines leidenschaftlichen Rachegefühles +ums Leben zu bringen. Nach den Angaben +einer Reihe von Auskunftspersonen +ist der Beschuldigte stets um seine Gesundheit +ängstlich besorgt, weicht insbesondere +jeder Ansteckungsmöglichkeit sorgfältig aus, +ist von sehr argwöhnischer und <a id="corr-7"></a>mißtrauischer +Sinnesart, so daß er den Eindruck eines Sonderlings +macht. Das Gutachten der Gerichtsärzte, +die die Untersuchung seines +Geisteszustandes vorgenommen haben, bestätigt, +daß Otto Eißler ein hypochondrisch-verschrobener +Sonderling sei, schließt jedoch +völlig aus, daß er etwa geistesschwach oder +gar geisteskrank sei oder sich zur Zeit der +Tat in einem Zustand der Sinnesverwirrung +befunden habe. Seine Verantwortlichkeit für +die von ihm begangene Bluttat steht daher +außer jedem Zweifel. +</p> + +<p> +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +Staatsanwaltschaft Wien I. +</p> + +<p> +Am 23. Februar 1924. +</p> + +<p> +Auf Grund dieser Anklage stand am 8. +April Otto Eißler im großen Saale des „Grauen +Hauses“, wie das Landesgericht im Wiener +Volksmunde heißt, vor den Geschworenen. +Die Verhandlung war auf drei Tage bemessen; +ihren Beginn verzögerte ein Gebrechen +in der Lichtleitung. Die Leitung des +Prozesses gestaltete sich um so rascher. Der +schon früher genannte Richter riß sie straff +und unnachsichtlich vorwärts mit einer +Schneidigkeit, die etwas preußisches an sich +hatte. Es sollte zu keinem Kurzschlusse +kommen zwischen ihm und dem ewigen Gesetze. +Ein Mensch war getötet worden; der +Mörder mochte es büßen, ohne psychologischen +Firlefanz: Hart gegen Hart! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-9"> +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +IX. DER FÜNFTE AKT. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Einmischung in eine Privatangelegenheit +– unnötige Behelligung der Öffentlichkeit +mit einer Streitsache, die man der Unzulänglichkeit +des geltenden Rechtes wegen persönlich +erledigen mußte, – Beschnüffelung von +Opfer und Täter, die hier nur einander betrafen +und durch ihr tötliches Duell die +Menschheit als Ganzes, nie aber Neugier und +Zuständigkeit eines bürgerlichen Gerichtes, +– ein wenig so betrachtet der mittelgroße, +etwas beleibte ältere Herr im dunkelgrauen +Mantel seinen Fall, den er vor den Schranken +temperamentvoll erläutert und begründet. +Nicht im Sinne der Anklage bekenne er sich +schuldig, erwidert er dem Vorsitzenden, Hofrat +Ramsauer, der aus seinem hautverkleideten +Granitschädel angespannt der Schilderung +Otto Eißlers folgt. Darnach hat Robert +die von dem Vetter beabsichtigte Zwiesprache +mit einem sonderbaren, nicht eben +gemütvollen Wunsche im Keime erstickt: +„Du kannst noch sieben Jahre Prozeß führen! +Von mir aus könnt ihr alle krepieren!“ Und +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +er? – – „Nachdem ich die Hände gerade in den +Taschen hatte, habe ich, ohne es zu wissen, +und ohne mein Wollen, ohne zu zielen, ohne +zu wissen, daß ich schieße, auf den Mann geschossen.“ +Die Waffen, die er dann gegen +sich richten wollte, müssen ihm entrungen +werden. Im übrigen hätte er sie gewohntermaßen +bei sich getragen, deshalb könne keine +Rede davon sein, daß er sie vor jener Fahrt, +die in die Bluttat mündete, eigens planvoll +zu sich gesteckt habe. Und in Einem weist er +es zurück, er wäre über den Sterbenden mit +einem „Es ist nicht schade um ihn“ weggegangen. +Aus dem ersten Verhör mit Regierungsrat +Hanusch steht eine viel wesentlichere +Äußerung verzeichnen die er auch +nicht leugnet: „Es muß doch in der Welt +endlich einmal etwas geschehen“ Diese +scheinbar banalen Worte legen die eigentliche +Achse seiner Handlung bloß, reichen in +das Getriebe der inneren Zwangsläufigkeit +seines Verbrechens, wohin die seelische Autopsie +der Psychiater trotz peinlichster Gewissenhaftigkeit +nicht einzudringen vermochte. +Er, der nach Ansicht seiner Vettern +zu zerfahren blieb, um in den Generalstab des +Kontores vorzurücken, schmetterte mit seinen +mörderischen Schüssen symbolisch die +Firmentafel ein, weil es ihm nicht verliehen +war, sich anders über solche Kränkung wegzuhelfen. +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Vorsätzlicher Mord oder Totschlag +im Zorn standen also hier in erster Linie zur +Frage: beides lehnt er vehement ab, will +einzig auf eine seelische Panik plädiert wissen, +die in jenem tragischen Augenblicke nicht +allein seine Waffen, sondern auch ihn jeder +hemmenden Sperre entledigt hätte. Dawider +aber findet er im Gutachten der Psychiater +wie in der Anklage entschlossenste Gegnerschaft. +Die vierte Möglichkeit befehdet er +selbst, jene, es könne sich um eine Paranoia +handeln, um eine ausgesprochene Geisteskrankheit +aus der Kategorie des Verfolgungswahnes. +Wie sein Anwalt, Doktor <em>Valentin +Teirich</em>, der dritte, den sich der von Mißtrauen +vergiftete Angeklagte seit seiner Festnahme +gewählt hatte, scharfsinnig ausführte, +lag der Keim des Übels wohl nicht in der zur +gespenstigen Gegnerschaft gewordenen Vision +seines feindlichen Vetters, mehr in einer durch +gesteigertes Selbstgefühl überkompensierten +Urangst vor irgendeinem Untergang, die sich +zunächst als Verarmungsfurcht kundgab und +sich erst nachträglich angeregt durch die ihn +tatsächlich gefährdende Einstellung Roberts +den Körper fand, mit dem sie sich in kausale +Beziehung als den endlich Fleisch gewordenen +Feind zu setzen vermochte. Doch Zweifel an +der Überlegenheit und unbedingten Klarheit +seines Geistes will Otto Eißler nicht sich und +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +niemand eingestehen; an seinen Geist soll ihm +keiner rühren, nicht einmal an seine Meinung +über die Eignung für das Geschäft, die er, wie +er behauptet, mehrfach glänzend bewiesen +hätte, was ja wahrhaftig nicht so sehr für Geist +als für rasche Gewitztheit und rücksichtslose +Entschlußkraft zeugte. Ehe er das Primat +seines Geistes anzutasten gestattet, nimmt er +lieber noch die Gefahr des äußersten Strafsatzes +auf sich, der sein Verbrechen mit +lebenslänglichem Kerker bemißt. Doch er +rechnet bestimmt auf Freispruch, sehr verschieden +darin von dem Vorsitzenden, der +sich immer gewichtiger in den Mittelpunkt +der Verhandlung schob, wie in jeder, die bisher +unter seiner Ägide vor sich gegangen war. +Ägide in des Wortes furchtbarster Bedeutung: +Es war ein Medusenhaupt des Rechtes, das +er den armen Sündern wies. +</p> + +<p> +Es reizt, vor jedem weiteren Berichte bei +seiner Persönlichkeit zu verweilen, deren gehaltene +Natur sich von dem flackernden +Nervenbündel, das ihm da in die Hand gegeben +war, nicht bewegen ließ. Bei einem +protestierendem Zwischenrufe fährt er es an: +„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt, daß +die Art, wie Sie Zeugen anflegeln, nur für das +Ende spricht, das Sie erwartet!“ Was in der +Kritik der Presse („Abend“ vom 9. April +1924) zu dem Hinweis auf einen Justiz-Ministerial-Erlaß +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +vom Jahre 1907 Anlaß gab, +der einen Vorsitzenden, der „den Angeklagten +bereits als überführt behandeln würde“, ausdrücklich +als mit seinen Pflichten in Widerspruch +stehend bezeichnet. Eißler freilich +vermochte da nichts zu erwidern; er besaß +nicht die notwendige blitzhaft einsausende +Energie, wie etwa die Giftmischerin Milica +Vukobrankovics, die ihrem Verhandlungsleiter +bei einer ähnlichen Kritik entgegnet hatte: +„Hängt das mit dem Abbau zusammen, daß +sie Richter und Staatsanwalt in einer Person +sind?“ und damit die Lacher auf ihrer Seite +entfachte. Wie es aber Ottos Verhängnis blieb, +daß selbst der Schatten des toten Robert +mächtiger wirkte als er, so gleitet er auch allmählich +hier vor der Figur seines Richters zur +Seite, der nun alle Erwartung und Neugier +auf sich sammelt. Es ist eine bedeutende, doch +nicht versöhnlich anmutende Gestalt, die sich +uns in Hofrat Ramsauer darstellt: Hartkantig +bis zur Schroffheit, an dem ganzen +Handel fasziniert durch die Paragraphen, +nach denen er erledigt werden muß, ein Matador +seiner traurigen Pflicht, die ihm zur +Leidenschaft geworden ist, in unermüdlicher +Arbeitskraft jenem Toten ähnlich, um den +der Prozeß geht. Als zweiter „<em>Holzinger</em>“ +wird er verschrieen, der Name jenes scharfen +Wiener Staatsanwaltes, Schwager des Dichters +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +<em>Anzengruber</em>, der schließlich selbst +sein heiliges Gesetz so sehr verletzte, daß ihm +nur freiwilliger Tod den letzten Ausweg bot. +Es wäre aber ebenso wohlfeil wie falsch, einen +Charakter von Ramsauers Art mit dem +Klischee des geistigen Sadismus abzutun, +wie es zur Not noch auf Holzinger passen +konnte. Ramsauer ist lediglich tätiger Protagonist +seiner Weltanschauung die ihm das +Strafrecht zum unantastbaren Evangelium +verklärt hat. Vorgefaßtes Übelwollen äußert +er so wenig wie Güte. Dem Gesetze einzig +und allein dient er und wendet es an, so lange +es besteht in der gebotenen Form, ohne +Schwäche, jedoch auch ohne Ansehen der +Person und ohne willkürliche Auslegung. +Humanitätsappelle, psychologisierende Entschuldigungen +sind freilich seine Sache nicht; +der Blick, der in Herz und Nieren des Inkulpanten +forscht, übersieht vielleicht, daß +zwischen ihm und jenem auf dem Richtertische +ein Kreuz mahnt. Als Vollzugsorgan +einer Gesellschaftsordnung erachtet er sich, +darin jedes unangebrachte Erbarmen die +Fundamente lockern kann. Das „Ramsauerurteil“ +wurde sprichwörtlich, seine Entscheidungen, +auch als Einzelrichter, beschäftigen +andauernd den Berufungssenat; der milde +Hofrat <em>Jakob</em> nahm so – einen Tag nach +Abschluß des Eißlerprozesses, – an mehreren +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +von Jenem gefällten Urteilen wegen § 144 +(Verbot der Abtreibung der Leibesfrucht) +menschliche Abstriche vor. Was Ramsauer +keineswegs veranlaßte, sich etwa bei der +gleichen Gelegenheit später sichtlich milder +zu erweisen. So ist er auf seine Art, die freilich +nicht Jedermanns Art sein mag, ein +Römer nach Gerechtigkeit, Reinheit und gelassener +Härte seiner Persönlichkeit. +</p> + +<p> +Es mochte also mehr an der Form, als an +der gerade von diesem Richter sonst peinlichst +korrekt geprüften Sache liegen, die besonders +die Presse fortwährend gegen ihn aufbrachte, +die ihm Feinde schuf, wie sie in solcher Menge +und Hartnäckigkeit in Wien selten eine +öffentliche Persönlichkeit zählt. Die Strategie +seines Verfahrens setzte auch in der Causa +Eißler – wohl unbewußt – vom Anfange +her schon mit einem „Ceterum censeo“ +wider den Beklagten ein. Bereits am ersten +Tage des Prozesses vernahm er bis in die +tiefe Nacht sämtliche Entlastungszeugen, +um die folgende Zeit nur mit belastenden +Aussagen zu füllen, ein sonst der ungünstigen +Wirkung auf die Geschworenen halber nicht +üblicher Brauch. Denn wie der Verteidiger +im Strafverfahren das letzte Wort zugebilligt +erhält, genau so pflegt man die Stimme +<em>für</em> den armen Sünder erst <em>nach</em> jenen anzuhören, +die ihn auf Leib und Leben <em>verklagen</em>. +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +Und nicht nur solche ungewohnte +Umkehrung beeinträchtigte im Zuge der +Verhandlung die Situation des Angeklagten; +auch sein Anwalt Dr. Teirich mußte manche +Bemerkung oder Frage an das Gericht über +den Wink des Vorsitzenden zeitlich verschieben, +wodurch sie in ihrer geplanten Wirkung +auf die Geschworenen nichts weniger +als gewann. Das große Schachspiel, das um +die Haltung der Zwölfmännerschaft sonst +zwischen Advokat und Staatsanwalt ausgefochten +zu werden pflegt, hatte hier zum +Teile auch die sella curulis ergriffen; zwei +Partner rückten so gegen einen in das Feld. +Die Entlastungszeugen, Schulfreunde, Bekannte, +Verwandte Otto Eißlers, sowie Leute, +die in dienstlicher Beziehung zu ihm standen, +schienen sich eins darin, daß er ein gutmütiger +Sonderling sei mit querulanten Neigungen, +aber von einer feinfühligen inneren Beschaffenheit, +die ihn auch für das soziale +Elend um ihn nicht taub machte. Diese Erklärungen +wachsen an Wärme, je näher sie +dem privaten Leben des einsamen Melancholikers +kommen; die Schwester Ida von Molnar +und Anna Heimerle, die Lebensgefährtin, +wissen nicht genug seine Güte und seine Vornehmheit +zu rühmen. Von der Gegenseite +geschieht eigentlich nur durch Doktor Braß, +dem Vertreter der Zivilansprüche der Familie +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +Roberts, eine aus dem Rahmen fallende +Attacke; Doktor Fürst polemisiert sehr diplomatisch, +und der neue Firmenchef Doktor +Hermann Eißler, ein Mann erlesenster künstlerischer +Kultur, der sich erst spät zu gerichtlicher +Aussage entschlossen hatte, befleißigte +sich gleichfalls möglichster Objektivität. +Dennoch schwindet bald jede weichere +menschlichere Stimmung, Ziffern schwirren +herum, uralter Verwandtenhaß brodelt auf, +immer dicker wird die Luft im Gerichtssaal. +Solcher anschwellenden Beklommenheit hält +niemand stand, wie eine stickige schmutzig-gelbe +Wolke wuchtet das Gold und seine Gier +über allem, immer kleiner, immer trüber +schwält durch ihren Dunst die Flamme der +Verantwortung, immer gewaltiger kann die +Anklage ausholen zum unerbittlichen Endspruch. +Und doch klaffte in der Sache selbst +ein tragischer Irrtum: Der arme Mensch, der +hier Zahl über Zahl türmte, so daß Vorsitzender +und Geschworene dem Eindruck +erlagen, eine verunglückte Valutenspekulation +sei da von einem nicht einmal wesentlich +Geschädigten aus gekränktem Egoismus +zum Mordmotive aufgebauscht worden, – er +war wirklich nichts weniger als wesenseins +mit den Dinaren, jugoslavischen und österreichischen +Kronen, die er sprudelnd hervorstieß. +Er konnte bloß keine andere Sprache +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +gebrauchen, als eine seines Milieus, er meinte +dabei gar nicht jenes Geld, um das man ihn +seiner Ansicht nach betrogen hatte, sondern +sein vom Gelde ins Antlitz geschlagenes gutes +<em>Recht</em>. Doch sich in Diskussionen über das +Thema „Nicht der Mörder, der Ermordete +ist schuldig“ einzulassen, dazu spürte das Gericht +wenig Lust; denn eben durch den sich +in Zahlen rechtfertigenden Angeklagten war +es ja auf ein Maß herabgenötigt worden, aus +dem es die tragische Kulisse des ganzen +Falles, die zugleich eine Kulisse seiner Zeit +wurde, nicht zu fassen vermochte. Für seinen +Wahrspruch stand da bloß ein ihm unangenehmen +von fixen Ideen besessener Herr bereit, +der in seinen ungezügelten Repliken vom +Vorsitzenden stets nachdrücklichst abgewiesen +werden mußte, und an dessen Händen +überdies das Blut eines der <a id="corr-8"></a>geachtetsten Großindustriellen +des Reiches klebte. Solche +Eindrücke modellierten die Überzeugung der +Zwölf, Eindrücke von einer fremden und +keineswegs sympathischen Welt. +</p> + +<p> +So war im Verlaufe der drei Tage „nichts +fürs Gemüt“ vorgefallen, die unaufhörlichen +geschäftlichen Diskussionen langweilten und +erbitterten; einzig die Aussagen der beiden +Frauen, die der Vorsitzende chevaleresk behandelte, +hatten etwas Helle verbreitet. In +einer umsichtigen, vor allem gegen das Gutachten +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +der Psychiater gerichteten Rede verfocht +Doktor Teirich die Sache seines Schutzbefohlenen +höchst geschickt, indem er zwingend +zu erläutern trachtete, wie ein Mensch +von der seelischen Basis und Belastung des +Beklagten, die er mit bezeichnenden Zeugenattesten +umriß, unter den von seiner Sippe +gegen ihn verfügten Maßnahmen in einen +seelischen Aufruhr geraten mußte, der seine +Zurechnungsfähigkeit bei der Tat ausschloß. +Und selbst der <em>Staatsanwalt Doktor +Winterstein</em>, der sich auch während der +Dauer der Verhandlung in höchst rühmenswerter +Weise verhielt, die das menschliche +Bedauern für den Beklagten trotz selbstverständlicher +schärfster Verdammung der Tat +nicht verhehlte, bat die Geschworenen um +Milde: „Der Kampf der Firma gegen Otto,“ +sagte er, „ist hart und ungerecht geführt +worden, und er hatte es nicht gerade mit +zärtlichen Verwandten zu tun.“ So mühte +sogar er sich, Verständnis zu erwirken dem, +den er auf geplanten Mord verklagt hatte. +</p> + +<p> +Der Vorsitzende beharrte auf seinem Standpunkt, +für den es, wie er bekannte, gleichgültig +blieb, ob Robert Eißler ein Engel oder +der Teufel in Menschengestalt gewesen sei. +Vergossenes Blut heischte Sühne. In der +Schale des Zornes würde es immer schwerer +wiegen, mochte noch so viel Verzeihliches und +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Begreifliches in der Schale der Versöhnung +liegen. +</p> + +<p> +<em>Die Geschworenen bejahten die +Frage auf vorsätzlichen Mord mit zehn +Ja und zwei Nein.</em> +</p> + +<p> +Der Strafsatz bemißt für diese Erkenntnis +im bittersten Falle lebenslänglichen schweren +Kerker, der im Berufungswege bis zu einem +Jahr herabgesetzt werden kann. Solche Berufung +wird aber der Verteidigung nur dann +gestattet, wenn der Spruch des Richters auf +mehr als zehn Jahre lautet, und wäre es zehn +Jahre und einen Tag. Man geht nur meist bei +ähnlichen Gerichtstragödien, wie sie in der +bäuerlichen Bevölkerung nicht zu selten sind, +ungerne so hoch hinauf. +</p> + +<p> +Eine Frage auf Totschlag unterblieb. Über +Wunsch des Beklagten. Hofrat Ramsauer +verkündigte das <em>Urteil</em>: +</p> + +<p> +<em>Zehn Jahre schweren Kerkers!</em> +</p> + +<p> +Keine Stunde mehr! Keine Stunde weniger! +Zehn unabänderliche Jahre! +</p> + +<p> +Die Lebensgefährtin Otto Eißlers brach mit +einem Schrei bewußtlos zusammen. +</p> + +<p> +Er selbst verharrte aufrecht und starr. +Sah er plötzlich hinter die Dinge, hinter den +steinernen Richter, hinter die steifen Geschworenen, +hinter die graue Wand des Gerichtes? +Reckte sich nicht eine Gestalt, die +auf ihn niederblickte durch geschlossene +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Augen, aber aus sechs offenen Todeswunden? +Die wieder sagte: +</p> + +<p> +„Dummer Kerl!“ – +</p> + +<p> +Ja; er hatte Unglück, der arme Otto Eißler. +Der einen Macht entriß er sich und ließ dabei +eine Leiche am Wege. Um nun von einer +anderen Macht sein Urteil zu empfangen, das +dreifach galt für den kränkelnden fünfzigjährigen +Mann. Von einer Macht, die unangreifbar +thronte und unerschütterlich, hart +gleich dem Vetter Robert, dessen verwandeltem +Angesicht er hier wieder begegnete, wie +einem Schicksale, dem er bestimmt gewesen +war zu verfallen, von allem Ursprunge her. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-10"> +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +X. EPILOG. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +Am Abend dieser Urteilsfällung über eine +Tragödie des Geldes geschahen Zeichen. Der +große gelbe Pan war tot! Der Schrei vom +Sterben des <em>Hugo Stinnes</em> gellte durch die +Straßen. +</p> + +<p> +Zugleich bebte und heulte es auf dem +Schottenring. Die Börse bäumte sich in +Krämpfen über den mißglückten Frankenfeldzug. +Verhaftungen und Selbstmorde +lösten einander ab. +</p> + +<p> +Die Spannung, die die Verhandlung gefedert +hatte, erschlaffte davor. Man fand +nicht rechte Muse, ein Urteil zu überdenken +vor der größeren Götterdämmerung, darin +wieder ein goldener Hort in den Fluten versank. +</p> + +<p> +Was war auch das Fazit aus Tat und Gericht? +– Ob Otto Eißler, der fünfzigjährige, +sein Dezennium Haft unversehrt überstehen +würde, ob er vorher in einer Heilanstalt oder +auf einem Friedhofe ersehnte Rast erführe, – +ein Abgeschiedener ist er schon heute für +diese Welt, um die er so verzweifelt gekämpft +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +hat bis zum Verbrechen. Sein Los nahm nun +scheinbar doch die Kurve zur großen Verwirrung +hinüber, die die Psychiater leugneten. +In der Strafanstalt <em>Stein an der Donau</em>, +derselben, aus der die Revolution einst +<em>Friedrich Adler</em> befreit hatte, spürte sich +Otto Eißler vorerst tief erlöst. Die Ruhe, die +er nach der Tat gezeigt, dem Psychiater anstößig, +dem Psychologen leicht erklärlich, +folgte ihm auch dorthin. Fühlte er sich ja +endlich entladen von dem Verhängnis seiner +Tat, die wie ein keimendes Leben in ihm gewachsen +war und nun mit ihrem Ausbruche +sein Innerstes gereinigt hatte. Bald aber +schatteten die alten Ängste wieder um ihn, +Stimmen hörte er vor seiner Zelle tuscheln, er +argwöhnte Komplotte und Attentate gegen +die Seinen, wähnte die Kinder in Not, die Gefährtin +verfolgt von den Feinden, deren Rache +noch immer nicht gesättigt sei, – und schrie +Hilfe herbei, – schrie, bis man ihn in Einzelhaft +steckte, schrie darin fort, – so daß man +ihn schließlich nach Wien zur Beobachtung +überwies. Um ihn von dort wieder ergebnislos +zurückzusenden. Als einen, der ja wirklich +nicht irre war nach ärztlichem Ermessen, +eher ein irre Gewordener an der Menschheit. +Kein Geisteskranker, doch krank am Geiste, +noch nicht umnachtet, aber in Nebel geraten. +Dem lindere Strafe oder Freispruch vielleicht +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +noch einen anderen Freispruch bedeutet +hätte, Freispruch von seinen Gesichten, denen +er nun wehrlos überliefert ist. +</p> + +<p> +Wen mußte man auch vor diesem ohnehin +rettungslos in sich Verkerkerten schützen? +Durch zehn Jahre äußeren Kerker? Die Tat, +die, – ob elementar oder nicht, – aus dem +sozialen Gefühle verletzten Rechtes erfolgt +war, ließ sie je Wiederholung durch ihren +Urheber befürchten? An wem? In einem +Wiener Vororte stieß weniges später ein +roher Bursche einen seiner friedlichen Wehrlosigkeit +allgemein als „Waserl“ bezeichneten +älteren Mann nach vorhergegangenen und bezeugten +Drohungen das Messer tötlich in die +Brust; er erhält zwei Jahre, dann wird er +wieder auf seine Mitmenschen losgelassen. +Und hier –? Eißler war kein Verbrecher im +strengen Sinne, keiner, vor dem sich das +Leben durch seine dauernde Versperrung +hüten mußte, vielmehr vollgültig das, was +der Titel dieser ganzen Sammlung vereinigt: +<em>Ein Außenseiter der Gesellschaft</em>. Und +auch hierin wieder „cum grano salis“. An der +Gesellschaft hatte er sich versündigt, nicht +an der Gemeinschaft. Vor ihrer großen und +letzten Instanz wird er nicht als der Schuldige +befunden, noch jener Andere, jener Gewaltige +des Kapitales, der hingestreckt worden war +von ihm, weil sie einander ihre Macht beweisen +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +wollten. Nicht der Mann, der sich vermaß, mit +sechs Schüssen der Gerechtigkeit Gottes zu +dienen, nicht der von ihm Gefällte, der ein +freudloser Knecht seiner Bestimmung zeitlebens +geblieben war. <em>Das Geld</em> – war hier +Tat und Untat. Wie es Urheber aller Kriege +und Greuel unter der heiligen Einmaligkeit +unseres Lebens ist. Geld – war es, das den +Hingemeuchelten zu seinem Kampf gestachelt +hatte, den er mit seinem Blute zahlen +sollte, Geld, das den Rächer blendete vor +seinem eigentlichen Feind und seine Hand +gegen ein armes, gleich ihm von seiner Sucht +gehetztes Menschenkind erheben ließ. Die +Richter griffen und begriffen bloß das Nächste: +Einen Mörder, der ebenso zu Boden lag wie +der Gemordete. +</p> + +<p> +Frei blieb – das Geld. Und weiter wandert +es, von Blut zu Blut, von Geist zu Geist, von +Macht zu Macht. Weiter kuppelt es Verwandtenehen, +daß sein Sakrament nicht der +Familie entgleite, weiter zeugt es dort Lebensschwache, +Gezeichnete an Körper und Hirn, +weiter spaltet es Geschwister und Liebende, +weiter verführt es Freundschaft, Treue, Bereitschaft +für alle Menschen zu Lüge, Haß und +Verrat an der höheren Sache um seines treulosen +Metalles willen. Zur Wissenschaft ist +es geworden, zum höllischen Homunculus aus +Unzucht zwischen Mensch und Ding. Und +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +auch dieser Prozeß, der darum ging, wird in +seiner Art ein Stundenschlag im Mitternachtzeichen +einer Weltordnung, die solcher Wissenschaft +eifrigster Adept gewesen. Einer Weltordnung, +der das apokalyptische Chaos eines +Jüngsten Tages folgen kann, wenn sich die +Menschheit nicht bald auf eine neue reinere +Form der Gemeinschaft besinnt und sie sich +zu einem Gesetze macht, dem es dann nicht +mehr auferlegt werden braucht, über Fälle +wie diesen zu richten. +</p> + +<div class="ads chapter"> +<p class="ser"> +<span class="line1">In der Sammlung</span><br> +<span class="line2">AUSSENSEITER DER GESELLSCHAFT</span><br> +<span class="line3">– DIE VERBRECHEN DER GEGENWART –</span><br> +<span class="line4">sind bis jetzt folgende Bände erschienen:</span> +</p> + + <div class="table"> + <div class="volumes"> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 1: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">ALFRED DÖBLIN</span><br> +DIE BEIDEN FREUNDINNEN UND IHR GIFTMORD +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 2: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">EGON ERWIN KISCH</span><br> +DER FALL DES GENERALSTABSCHEFS REDL +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 3: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">EDUARD TRAUTNER</span><br> +DER MORD AM POLIZEIAGENTEN BLAU +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 4: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">ERNST WEISS</span><br> +DER FALL VUKOBRANKOVICS +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 5: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">IWAN GOLL</span><br> +GERMAINE BERTON, DIE ROTE JUNGFRAU +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 6: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">THEODOR LESSING</span><br> +HAARMANN, DIE GESCHICHTE EINES WERWOLFS +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 7: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">KARL OTTEN</span><br> +DER FALL STRAUSS +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 8: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">ARTHUR HOLITSCHER</span><br> +DER FALL RAVACHOL +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 9: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">LEO LANIA</span><br> +DER HITLER-LUDENDORFF-PROZESS +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 10: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">FRANZ THEODOR CSOKOR</span><br> +SCHUSS INS GESCHAEFT (DER FALL OTTO EISSLER) +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 11: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">THOMAS SCHRAMEK</span><br> +FREIHERR VON EGLOFFSTEIN +Mit einem Vorwort von ALBERT EHRENSTEIN +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 12: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">KURT KERSTEN</span><br> +DER MOSKAUER PROZESS GEGEN DIE SOZIALREVOLUTIONÄRE 1922 +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 13: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">KARL FEDERN</span><br> +DER PROZESS MURRI-BONMARTINI +</p> + + </div> + <div class="r"> +<p class="v"> +Band 14: +</p> + +<p class="t"> +<span class="firstline">HERMANN UNGAR</span><br> +DIE ERMORDUNG DES HAUPTMANNS HANIKA +</p> + + </div> + </div> + </div> +<p class="c"> +* +</p> + +<p class="s c"> +Ferner erscheinen noch Bände von: +</p> + +<p class="c"> +HENRI BARBUSSE, MARTIN BERADT, MAX BROD, +E. I. GUMBEL, WALTER HASENCLEVER, GEORG +KAISER, OTTO KAUS, THOMAS MANN, LEO MATTHIAS, +EUGEN ORTNER, JOSEPH ROTH, RENÉ +SCHICKELE, JAKOB WASSERMANN, ALFRED +WOLFENSTEIN. +</p> + +</div> + +<p class="printer"> +OHLENROTH’SCHE BUCHDRUCKEREI ERFURT +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde vom Bearbeiter den ursprünglichen +Bucheinbänden der Serie nachempfunden und der <i>public domain</i> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... zurück, wo er der Sorge um seine Gesundheit ...<br> +... zurück, wo er der Sorge um seine Gesundheit <a href="#corr-0"><span class="underline">wegen</span></a> ...<br> +</li> + +<li> +... berichtet einer, der <span class="underline">ihm</span> dabei ertappt. Und ...<br> +... berichtet einer, der <a href="#corr-1"><span class="underline">ihn</span></a> dabei ertappt. Und ...<br> +</li> + +<li> +... zurückzwingen, aber nun halten sie <span class="underline">einem</span> ...<br> +... zurückzwingen, aber nun halten sie <a href="#corr-2"><span class="underline">einen</span></a> ...<br> +</li> + +<li> +... Darum begegnet man <span class="underline">ihn</span> immer wieder. Erledigt ...<br> +... Darum begegnet man <a href="#corr-3"><span class="underline">ihm</span></a> immer wieder. Erledigt ...<br> +</li> + +<li> +... <span class="underline">Rechtstaaten</span> bilden die Psychiater bei jedem ...<br> +... <a href="#corr-5"><span class="underline">Rechtsstaaten</span></a> bilden die Psychiater bei jedem ...<br> +</li> + +<li> +... in sogenannten „Schüben“ wie der terminus ...<br> +... in sogenannten „Schüben“<a href="#corr-6"><span class="underline">,</span></a> wie der terminus ...<br> +</li> + +<li> +... ist von sehr argwöhnischer und <span class="underline">mißtrauisch</span> ...<br> +... ist von sehr argwöhnischer und <a href="#corr-7"><span class="underline">mißtrauischer</span></a> ...<br> +</li> + +<li> +... überdies das Blut eines der <span class="underline">geachtesten</span> Großindustriellen ...<br> +... überdies das Blut eines der <a href="#corr-8"><span class="underline">geachtetsten</span></a> Großindustriellen ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75925 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75925-h/images/cover.jpg b/75925-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..98a4cba --- /dev/null +++ b/75925-h/images/cover.jpg diff --git a/75925-h/images/logo1.jpg b/75925-h/images/logo1.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..65381b9 --- /dev/null +++ b/75925-h/images/logo1.jpg diff --git a/75925-h/images/logo2.jpg b/75925-h/images/logo2.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..5c92f90 --- /dev/null +++ b/75925-h/images/logo2.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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