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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-05-18 09:21:02 -0700 |
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TRAVEN, TAMAULIPAS (MEXIKO) + + + + + ERSTES BUCH. + DIE BAUMWOLLPFLÜCKER + + + GESANG + DER BAUMWOLLPFLÜCKER + IN MEXIKO + + Es trägt der König meine Gabe, + Der Millionär, der Präsident; + Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe + In meiner Tasche keinen Cent. + Trab, trab, aufs Feld! + Gleich geht die Sonne auf. + Häng um den Sack, + Zieh fest den Gurt! + Hörst du die Wage kreischen? + + Nur schwarze Bohnen sind mein Essen, + Statt Fleisch ist roter Pfeffer drin; + Mein Hemde hat der Busch gefressen, + Seitdem ich Baumwollpflücker bin. + Trab, trab, aufs Feld! + Gleich geht die Sonne auf. + Häng um den Sack, + Zieh fest den Gurt! + Hörst du die Wage brüllen? + + Die Baumwoll’ stehet hoch im Preise, + Ich habe keinen ganzen Schuh; + Die Hose hängt mir fetzenweise + Am Ursch, und ist auch vorn nicht zu. + Trab, trab, aufs Feld! + Gleich geht die Sonne auf. + Häng um den Sack, + Zieh fest den Gurt! + Hörst du die Wage wimmern? + + Und einen Hut hab ich, ’nen alten, + Kein Hälmchen Stroh ist heil daran; + Doch diesen Hut muß ich behalten, + Weil ich ja sonst nicht pflücken kann. + Trab, trab, aufs Feld! + Gleich geht die Sonne auf. + Häng um den Sack, + Zieh fest den Gurt! + Siehst du die Wage zittern? + + Ich bin verlaust, ein Vagabund, + Und das ist gut, das muß so sein; + Denn wär ich nicht so ’n armer Hund, + Käm keine Baumwoll’ ’rein. + Im Schritt, im Schritt! + Es geht die Sonne auf. + Füll in den Sack + Die Ernte dein! + Die Wage schlag in Scherben! + + + 1 + +Ich stand auf der Station und sah mich um, wen von den wenigen +Eingeborenen, die dort herumlungerten oder auf dem nackten Erdboden +hockten, ich hätte nach dem Wege fragen können. + +Da kam ein Mann auf mich zu, den ich schon im Zuge gesehen hatte. Braun +verbrannt im Gesicht und am Körper. Vierzehn Tage nicht rasiert. Einen +alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe. Einen roten Baumwollfetzen, +der offenbar einmal ein richtiges Hemd gewesen war, am Leibe. Eine, an +fünfzig Stellen durchlöcherte gelbe Leinenhose an den Beinen und an den +Füßen die landesüblichen Sandalen. + +Er stellte sich vor mich hin und sah mich an. Sicher wußte er nicht, in +welche Form und Reihenfolge er die Worte bringen sollte für den Satz, +den er mir sagen wollte. + +„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich endlich, als es mir zu lange +dauerte. + +„Buenos dias, Senjor!“ begann er. Dann gluckste er ein paarmal und kam +endlich heraus: „Könnten Sie mir vielleicht sagen, auf welchem Wege ich +nach Ixtilxochitchuatepec zu gehen habe?“ + +„Was wollen Sie denn da?“ platzte ich heraus. + +Die Unhöflichkeit, ihn nach seinen persönlichen Angelegenheiten zu +fragen in einem Lande, wo es taktlos, beinahe beleidigend ist, jemand +nach Namen, Beruf, Woher und Wohin auszuforschen, kam mir gleichzeitig +zum Bewußtsein. Deshalb fügte ich rasch hinzu: + +„Dort will ich nämlich auch hin.“ + +„Dann sind Sie wohl Mr. Shine?“ fragte er. + +„Nein,“ sagte ich, „der bin ich nicht, aber ich will zu Mr. Shine, +Baumwolle pflücken.“ + +„Ich will auch Baumwolle pflücken bei Mr. Shine“, erklärte er nun und +heiterte auf; zweifellos weil er einen Weggenossen gefunden hatte. + +In diesem Augenblick kam ein langer und stark gebauter Neger auf uns zu +und sagte: „Senjores, wissen Sie den Weg zu Mr. Shine?“ + +„Cotton picking?“ fragte ich. + +„Yes, feller. Ich habe seine Adresse bekommen von einem andern schwarzen +Burschen in Queretaro.“ + +So weit waren wir, als ein kleiner Chinese auf uns zugetrippelt kam. Er +lachte uns breit an und sagte: „Guten Molgen, Senjoles, Gentlemen! Ich +will dolt hin und möchte Sie flagen, wo ist der Weg?“ + +Umständlich brachte er ein Notizblättchen heraus, las und sagte dann: +„Mr. Shine in Ixtilxo...“ + +„Stopp!“ unterbrach ich ihn laut lachend. „Wir wissen ja schon, wohin +Sie wollen, verrenken Sie sich nur nicht die Zunge. Wir wollen auch dort +hin.“ + +„Auch cotton pickin’ dolt?“ fragte der Chinc. + +„Ja,“ antwortete ich, „auch. Sechs Centavos für das Kilo.“ + +Durch diese meine Äußerung war auch mit dem Chinc das kameradschaftliche +Band hergestellt. Die proletarische Klasse bildete sich, und wir hätten +gleich mit dem Aufklären und dem Organisieren anfangen können. + +Auf jeden Fall fühlten wir uns alle vier so wohl wie Brüder, die nach +langer Trennung sich plötzlich unerwartet an irgendeinem fremden fernen +Punkt der Erde getroffen haben. + +Ich könnte nun noch erzählen, in welcher Form ein zweiter Neger, nur +halb so lang wie sein Rassenvetter, aber ebenso pechschwarz wie jener, +auf uns zuschlenderte, und mit welcher Sorglosigkeit und mit welchem +Reichtum an Zeit ein schokoladebrauner Indianer uns ansteuerte, beide +mit dem gleichen Ziel der Reise: Mr. Shine in Ixtilxochitchuatepec, +Baumwolle pflücken für sechs Centavos das Kilo. + +Keiner von uns wußte, wo Ixtil... lag. + +Die Station war inzwischen so leer geworden, lag so einsam und verträumt +in der tropischen Glut, wie eben nur eine Station in Zentralamerika zehn +Minuten nach Abfahrt des Zuges daliegen kann. + +Den Postsack, fünfmal mehr Quadratzoll Leinen als Quadratzoll Inhalt, +selbst wenn man alle Briefe und Umschläge auseinanderfaltete, hatte +irgendein jemand, den kein vernünftiger Mensch für einen Postbeamten +gehalten hätte, mitgenommen. + +Das Frachtgut: eine Kiste Büchsenmilch – in einem Erdstrich, wo das +ganze Jahr hindurch das Gras grünt und ein ganzer Erdteil mit Milch +versorgt werden könnte –, zwei Kannen Gasolin, fünf Rollen Stacheldraht, +ein Sack Zucker und zwei Kisten Bonbons lagen herrenlos auf dem +glühenden Bahnsteig. + +Die Bretterbude, wo die Fahrkarten verkauft und das Gepäck abgewogen +wurde, war mit einem Vorhängeschloß abgeschlossen. Der Mann, der alle +diese Amtshandlungen vorzunehmen hatte, zu denen auf einer europäischen +Bahnstation wenigstens zwölf gutgedrillte Leute notwendig sind, hatte +die Station schon verlassen, als der letzte Wagen des Zuges noch auf dem +Bahnsteig war. + +Selbst die alte kleine Indianerin, die zu jedem Zuge erschien mit zwei +Bierflaschen voll kaltem Kaffee und in Zeitungspapier eingewickelten +Maiskuchen, was sie alles in einem Schilfkorbe trug, schlich bereits +durch das mannshohe Gras in ziemlicher Entfernung heimwärts. Sie hielt +stets am längsten auf dem Bahnsteige aus. Obgleich sie nie etwas +verkaufte, kam sie doch jeden Tag zum Zuge. Wahrscheinlich war es vier +Wochen lang immer derselbe Kaffee, den sie zur Bahn brachte. Und das +wußten offenbar auch die Reisenden. Andernfalls hätten sie in der Hitze +wohl wenigstens hin und wieder einmal der Alten etwas zu verdienen +gegeben. Aber das Eiswasser, das in den Zügen kostenlos gegeben wurde, +war ein zu starker Konkurrent, gegen den ein so kleines Kaffeegeschäft +nicht aufkommen konnte. + +Meine fünf proletarischen Klassengenossen hatten sich gemütlich auf den +Erdboden neben der Bretterbude gesetzt. In den Schatten. + +Freilich, da jetzt die Sonne senkrecht über uns stand wie mit dem Lot +gerichtet, gehörte schon eine langausprobierte Übung dazu, +herauszufinden, wo eigentlich der Schatten war. + +Zeit war ihnen ein ganz und gar unbekannter Begriff; und weil sie +wußten, daß ich ja auch dort hin wollte, wo sie hin wollten, überließen +sie es mir, den Weg auszukundschaften. Sie würden gehen, wann ich gehe, +nicht früher; und sie würden mir folgen, und wenn ich sie bis nach Peru +führte, immer in der Gewißheit lebend, daß ich ja zum gleichen Ort müsse +wie sie. + + + 2 + +Wenn ich nur wüßte, wo Ixtil... zu finden sei. In der Nähe der Station +war kein Haus zu sehen. Die Stadt, zu der die Station gehörte, mußte +irgendwo im Busch versteckt liegen. Ich machte nun den Vorschlag, daß +wir erst einmal in diese Stadt gingen, wo sicher jemand zu finden sein +würde, der den Weg wisse. + +Nach einer Stunde kamen wir in die Stadt. Zwei Häuser nur waren aus +Brettern. In dem einen wohnte der Stationsvorsteher. Ich ging hinein und +fragte ihn, wo Ixtil... liegt. Er wußte es nicht und erklärte mir +höflich, daß er den Namen nie gehört habe. + +Fünfhundert Meter von diesem Holzhause entfernt war das andere „moderne“ +Brettergebäude. Es war der Kaufladen. Er war gleichzeitig Postamt, +Billardsalon, Bierwirtschaft, Schnapsausschank und Agentur für alle +möglichen Dinge und alle möglichen Unternehmungen. Ich fragte den +Inhaber, aber er kannte den Ort auch nicht und sagte mir, innerhalb +fünfzig Kilometer im Umkreis sei er sicher nicht, denn da kenne er jeden +Platz und jeden Farmer. + +Da kam einer von den Billardspielern, die ebenso zerlumpt aussahen wie +wir, an den Ladentisch, setzte sich darauf, drehte sich eine Zigarette, +wobei er den Tabak in ein Maisblatt wickelte, und als er sie angezündet +hatte, sagte er: + +„Den Ort kenn ich nicht. Aber die einzigen Baumwollfelder, die hier in +dem ganzen Staate überhaupt sind, liegen in jener Richtung.“ + +Dabei streckte er den Arm ziemlich unbestimmt nach jener Gegend hinaus, +die er meinte. + +„Von dort her“, fügte er hinzu, „ist vor drei Jahren einmal ziemlich +viel Baumwolle hier verladen worden. Die Farmer kamen mit Autos, also +wird wohl noch etwas Weg übriggeblieben sein. Ob einer von den Farmern +Mr. Shine hieß, weiß ich freilich nicht, ich habe nicht nach den Namen +gefragt, ich habe nur beim Verladen mitgearbeitet.“ + +„Wie weit kann es denn sein?“ fragte ich. + +„Wenigstens achtzig Kilometer von hier, vielleicht neunzig. So genau +weiß ich es nicht. Die kamen mittags an und sind sicher frühmorgens +abgefahren.“ + +„Dann müssen wir also in jene Richtung gehen, wenn in einer andern +Richtung keine Baumwolle gebaut wird.“ + +„Ich glaube sicher,“ sagte er dann, „daß einer von den Farmern Mr. Shine +heißen kann, alle sind Gringos.“ + +„Gringo“ ist in Lateinamerika der Spottname für Amerikaner. Er hat +ungefähr dieselbe mißachtende Bedeutung wie „Boche“ in Frankreich für +Deutsche. Aber die Amerikaner, die viel zuviel unzerstörbaren Humor +besitzen, um sich so lächerlich leicht beleidigt zu fühlen und dadurch +das Leben schwer zu machen, haben diesem Spottnamen die ganze Schärfe +genommen dadurch, daß sie, wenn in Lateinamerika gefragt, was für +Landsleute sie seien, sie sich selbst „Gringo“ nennen. Und sie sagen das +mit einem so heiteren Lächeln, als ob es der schönste Witz wäre. + +Die übrigen Gebäude der Stadt, etwa zehn oder zwölf, waren die üblichen +Indianerhütten. Sechs rohe Stämme senkrecht auf den Erdboden gestellt +und ein Dach aus trocknem Gras darüber. Die besseren hatten Wände aus +dünnen Stämmchen, aber nicht dicht aneinandergefügt. Keine Türen, keine +Fenster. Alles, was in der Hütte vor sich ging, konnte man von außen +sehen. Die einfacheren Hütten, wo ärmere oder bequemere Mexikaner +wohnten, hatten nicht einmal diese angedeuteten Wände, sondern oben um +das Dach herum hingen einige große Palmblätter, um die Strahlen der +Sonne, wenn sie in den frühen Vormittagsstunden und am späten Nachmittag +schräger einfielen, abzuschatten. + +Das Vieh und das Hühnervolk hatten keine Ställe. Die Schweine mußten +sich draußen im Busch irgendwo und irgendwie das Futter zusammensuchen. +Die Hühner saßen nachts in dem Baum, der der Hütte am nächsten stand. +Eine alte Kiste oder ein durchlöcherter Schilfkorb hing an einem Ast, wo +die Hühner brav ihre Eier hineinlegten. + +Rund um die Hütten standen Bananenstauden, die, ohne jemals gepflegt zu +werden, ihre Früchte in reichen Mengen spendeten. Die kleinen Felder, wo +nur gesäet und geerntet wird, sonst kaum etwas getan wird, lieferten +Mais und Bohnen mehr als die Bewohner aufbrauchen konnten. + +In einer dieser Hütten nach dem Wege zu fragen, war zwecklos. Wenn eine +Auskunft überhaupt zu erhalten war, so war sie sicher falsch. Nicht +falsch gegeben mit der Absicht, uns irrezuführen, aber aus purer +Höflichkeit, irgendeine beliebige Auskunft zu geben, um nicht „nein“ +sagen zu müssen. + + + 3 + +So wanderten wir denn frischweg los in jener Richtung, die uns im +Postamt von dem Billardspieler genannt worden war, und die ich für die +einzige glaubwürdige hielt. + +„Achtzig Kilometer“ war uns gesagt worden. Also werden es wohl +hundertzwanzig oder hundertfünfzig Kilometer sein. + +Wir waren unser sechs. + +Da war der Mexikaner Antonio, spanischer Herkunft, der mich zuerst +angesprochen hatte. + +Dann kam der Mexikaner Gonzalo, indianischer Abstammung. Er war nicht +ganz so zerlumpt wie Antonio und hatte ein Bündelchen, eingewickelt in +eine alte Schilfmatte, und eine schöne, nach mexikanischer Art +farbenfreudig gemusterte Decke, die er über der Schulter trug. + +Der Chinese Sam Woe war der eleganteste Bursche unter allen. Der +einzige, der ein heiles und frisch gewaschenes Hemd trug, heile Hosen +hatte, gute Straßenstiefel, seidene Strümpfe und einen runden +städtischen Strohhut. Er hatte zwei Bündel, ziemlich reichlich gepackt. +Sie schienen gar nicht so leicht zu sein. + +Er hatte immer die praktischsten Ideen und Ratschläge, lächelte immer, +konnte das „R“ nicht aussprechen und war scheinbar immer guten Mutes. Es +wurde mit der Zeit unser größter Kummer, daß wir ihn mit nichts, was +immer wir auch taten, wütend machen konnten. Er hatte in einem Ölfeld +als Koch gearbeitet und gut verdient. Sein Geld hatte er vorsichtig auf +einer chinesischen Bank in Guanajuato hinterlegt, was er uns gleich +erzählte, nur damit wir nicht etwa denken sollten, er trüge es bei sich +und könnte dafür geopfert werden. + +Baumwollepflücken war ja nicht gerade seine große Leidenschaft – meine +noch viel weniger –, aber weil es nicht so sehr außerhalb seines Weges +lag, wollte er die sechs bis sieben Wochen Verdienst noch mitnehmen. Er +hoffte dann zum Herbst ein kleines Restaurant – „comida corrida 50“ – zu +eröffnen. Er war der einzige unter uns, der wohldurchdachte Pläne für +die Zukunft hatte. + +Sobald wir an den Busch gekommen waren, schnitt er sich ein dünnes +Stämmchen, hing über jedes der beiden Enden eines seiner Bündel und +legte sich das Stämmchen über die Schulter. Während er bisher mit uns im +gleichen Schritt gegangen war, begann er nun mit kurzen, raschen +Schrittchen zu trippeln. In diesem Trippelschritt hielt er den ganzen +Marsch durch, ohne je langsamer oder schneller zu gehen und ohne jemals +zu ermüden. Wenn wir uns zur Rast niedersetzten oder niederlegten, tat +er es auch, war aber jedesmal erstaunt, daß wir „schon wieder“ ausruhen +mußten. Wir schimpften ihn dann aus, daß wir richtige Christenmenschen +seien, während er als verdammter Chinc von einem gelben, fratzenhaften +Drachenungeheuer ausgebrütet worden wäre, und daß darin die +übermenschliche Ausdauer seiner stinkigen und uns widerlichen Rasse zu +suchen sei. Er erklärte darauf heiter lächelnd, daß er nichts dafür +könne, und daß wir alle von demselben Gott geschaffen seien, aber daß +dieser Gott gelb sei und nicht weiß. Da wir keine Missionare waren und +auf dem Gebiete der Bekehrung auch keine Lorbeeren ernten wollten, +ließen wir ihn in seinem finstern Unglauben. + +Der hünenhafte Neger, Charley, paßte mit seinen Lumpen und seinem in +fettigem und zerrissenem Papier verschnürten Bündel, das unzählige Male +auf dem Marsche aufging, viel besser in unsre Gesellschaft als der +elegante Chinc. Charley behauptete, aus Florida zu sein. Aber da er +weder Englisch geläufig sprechen noch verstehen konnte, auch den +amerikanischen Niggerdialekt sprach, konnte er mich von seiner Herkunft +nicht überzeugen. Vielleicht war er von Honduras oder von St. Domingo. +Aber er sprach auch nur sehr unbeholfen ein notdürftiges Spanisch. Ich +habe nie erfahren können, wo er eigentlich hingehörte. Nach meiner +Meinung war er entweder aus Brasilien heraufgekommen oder er hatte sich +von Afrika herübergeschmuggelt. Er wollte sicher nach den States, und +für ihn als Nigger mit etwas Englisch war es leichter, sich über die +Grenze nach den States zu schmuggeln, als für einen Weißen, der gut +Englisch sprechen konnte. Er war der einzige, der offen erklärte, daß er +Baumwollepflücken als die schönste und einträglichste Arbeit betrachte. + +Dann war noch der kleine Nigger da, Abraham aus New-Orleans. Er hatte +ein schwarzes Hemd an. Weil nun seine Hautfarbe ebenso schwarz war wie +das Hemd, konnte man nicht so recht erkennen, wo die letzten Überreste +des Hemdes waren, und wo die Haut war, die bedeckt werden sollte. Er als +einziger hatte eine Mütze. Und zwar eine Mütze, wie sie von den Heizern +und Maschinenschmierern auf den amerikanischen Schiffen getragen wird. +Dann trug er eine weiß und rot gestreifte Leinenhose, Lackhalbschuhe und +weiße Baumwollstrümpfe. + +Er hatte kein Bündel, sondern trug einen Kaffeekessel und seine +Bratpfanne an einem Bindfaden über der Schulter und in einem Säckchen +seinen Bedarf an Lebensmitteln. + +Abraham war der echte, dummschlaue, gerissene, freche und immer lustige +amerikanische Nigger der Südstaaten. Er hatte eine Mundharmonika, mit +der er uns das blöde „Yes, we have no bananes“ so lange vorspielte, bis +wir ihn am zweiten Tage weidlich verprügeln mußten, um damit vorläufig +nur zu erreichen, daß er es wenigstens nur sang oder pfiff und dazu, +während des Marsches, tanzte. Er stahl wie ein Rabe – der Vergleich war +von Gonzalo, ich weiß nicht, ob er richtig ist – und log wie ein +Dominikanermönch. + +Am dritten Abend des Marsches erwischten wir ihn, wie er einen dicken +Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte, stahl. Wir +nahmen ihm den Raub wieder ab, bevor er ihn in der Pfanne hatte, und wir +erklärten ihm ganz ernsthaft, daß, wenn wir ihn noch einmal beim Stehlen +ertappten, wir Buschrecht an ihm ausüben würden. Wir würden eine +Gerichtssitzung abhalten und ihn dann, nach gefälltem Urteil, mit der +Schnur, die sein Couleurbruder Charley um sein Bündel geschnürt habe, am +nächsten besten Mahagonibaum aufhängen, mit einem Zettel auf der Brust, +wofür er gehängt sei. + +Da sagte er ganz frech, wir sollten ja nicht versuchen, ihn auch nur +anzutasten, er sei amerikanischer Bürger, „native born“, und wenn wir +ihm nur das allergeringste Leid täten, so würde er das an die Regierung +nach Washington berichten, und die werde dann mit einem Kanonenboot und +dem Sternenbanner kommen und ihn blutig rächen; er sei ein freier Bürger +„of the States“, und das könne er durch „c’tificts“ beweisen, und als +solcher habe er das Recht, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu +werden. Als wir ihm nun erklärten, daß wir ihm keine Zeit lassen und +keine Gelegenheit geben würden, nach Washington einen Bericht zu +schicken, und daß wir auch nicht glaubten, daß ein amerikanisches +Kanonenboot mit dem Sternenbanner in den Busch fahren würde, sagte er: +„Well, Gentlemen, Sirs, berühren Sie mich nur mit der Fingerspitze, dann +werden Sie sofort erleben, was geschieht.“ + +Wir erwischten ihn auch richtig einige Tage später, als er dem Chinc +eine Büchse Milch stahl und frech erklärte, es sei seine eigne, er habe +sie in Potosi im American Store gekauft. Er wurde daraufhin so +windelweich gedroschen, daß er keinen Finger krumm machen konnte, um +nach Washington zu schreiben. Bei uns hat er dann nicht mehr gestohlen, +und was er bei umliegenden Farmern zusammenstahl, ging uns nichts an. + +Dann war ich noch, Gerard Gale, über den ich weniger zu berichten weiß, +da ich mich in der Kleidung von den übrigen nicht unterschied und zum +Baumwollepflücken, welche zeitraubende und schlechtbezahlte Arbeit ich +kannte, auch nur ging, weil eben keine andre Beschäftigung zu haben war +und ich bitter notwendig ein Hemd, ein Paar Schuhe und eine Hose +brauchte. Vom Althändler! Denn vom Neuhändler sie zu kaufen, dazu hätte +selbst die Arbeit von vierzehn Wochen auf einer Baumwollfarm nicht +gelangt. Ich war der einzige, der keine Strümpfe trug, weil ich keine +hatte. + +Eine Jacke besaßen nur der Chinc und Antonio. Warum Antonio den Fetzen +eigentlich „seine Jacke“ nannte, ist mir nie klar geworden. Sie mag +vielleicht einmal, in weit zurückliegenden Zeiten, lange vor der +Entdeckung Amerikas, die Ähnlichkeit mit einer Jacke gehabt haben. Das +will ich nicht bestreiten. Aber heute sie Jacke zu nennen, war nicht +Übertreibung, sondern sündiger Hochmut, für den Antonio dereinst wird +büßen müssen. + + + 4 + +Wir wanderten lustig darauf los. + +Über uns die glühende Tropensonne, zu beiden Seiten neben uns der +undurchdringliche und undurchsichtbare Busch. Der ewig jungfräuliche +tropische Busch mit seiner unbeschreiblichen Mystik, mit seinen +Geheimnissen an Tieren der phantastischsten Art, mit seinen traumhaften +Formen und Farben der Pflanzen, mit seinen unerforschten Schätzen an +wertvollen Steinen und kostbaren Metallen. + +Aber wir waren keine Forscher, und wir waren auch keine Gold- oder +Diamantengräber. Wir waren Arbeiter und hatten mehr Wert auf den sichern +Arbeitslohn zu legen als auf den unsichern Millionengewinn, der +vielleicht links oder rechts von uns im Busch verborgen lag und auf den +Entdecker wartete. + +Die Sonne stand schon sehr tief, und es mußte ungefähr fünf Uhr sein. +Wir sahen uns deshalb nach einem Lagerplatz um. + +Bald fanden wir eine Stelle, wo seitlich in den Busch hinein hohes Gras +stand. Wir rissen so viel von dem Gras aus, wie wir Platz zum Lagern +brauchten. Dann zündeten wir ein Feuer an und brannten den Rest des +Grases nieder, wodurch wir uns Ruhe vor Insekten und kriechendem Getier +für die Nacht verschafften. Eine frischgebrannte Grasfläche ist der +beste Schutz, den man haben kann, wenn man nicht mit den +Ausrüstungsstücken eines Tropenreisenden wandert. + +Ein Campfeuer hatten wir, aber es gab nichts zum Kochen, denn wir hatten +kein Wasser. + +Da kam der Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. Wir +wußten nichts davon, daß er einen so wertvollen Stoff mit sich führte. +Er machte den Kaffee heiß und bereitwillig bot er uns allen zu trinken +an. Aber was ist ein Liter Kaffee für sechs Mann, die, ohne einen +Schluck Wasser zu haben, einen halben Tag in der Tropensonne gewandert +sind, vor morgen früh um sieben oder acht Uhr ganz bestimmt auch nichts +Trinkbares haben werden und vielleicht die nächsten sechsunddreißig +Stunden genau so wenig Wasser finden werden, wie sie heute nachmittag +gefunden haben. Der Busch ist das ganze Jahr hindurch grün, aber Wasser +findet man dort nur in der Regenzeit an günstigen Stellen, wo sich +Tümpel bilden können. + +Nur wer selbst im tropischen Busch gewandert ist, weiß, was für ein +Opfer es war, das der Chinc uns bot. Aber keiner sagte „danke!“; jeder +betrachtete es als ganz selbstverständlich, daß der Kaffee in Teile +ging. Wahrscheinlich hätten wir es genau so selbstverständlich gefunden, +wenn der Chinc den Kaffee allein getrunken hätte. Nach einem halben Tag +Wanderung in wasserlosem Landstrich raubt man noch nicht für einen +Becher Kaffee; aber am dritten Tage beginnt man ernsthaft Mord zu sinnen +im Busch für eine kleine rostige Konservenbüchse voll stinkender +Flüssigkeit, die man Wasser nennt, obgleich sie keine andre Ähnlichkeit +mit Wasser hat, als daß sie eben Flüssigkeit ist. + +Antonio und ich hatten etwas hartes Brot zu knabbern. + +Gonzalo hatte vier Mangos und der große Nigger einige Bananen. Der +kleine Nigger aß irgendwas ganz verstohlen. Was es war, weiß ich nicht. +Der Chinc hatte ein Stück Zelttuch, daß er über seinen Schlafplatz +spannte. Dann wickelte er sich in ein großes Handtuch ein, auch den +Kopf, und begann zu schlafen. + +Gonzalo hatte seine schöne Decke, in die er sich einrollte, so daß er +wie ein Baumstamm aussah. + +Ich wickelte mir den Kopf in einen zerlumpten Lappen ein, den ich stolz +„mein Handtuch“ nannte und schlief los. + +Wie sich die übrigen einrichteten, weiß ich nicht, weil die noch lange +um das Feuer herumsaßen und rauchten und schwatzten. + +Vor Sonnenaufgang waren wir schon wieder auf dem Marsche. Abzukochen gab +es nichts, und waschen brauchte man sich auch nicht. Denn womit hätte +man es tun sollen? + +Der Weg durch den Busch war weite Strecken hindurch schon wieder +zugewachsen. Der Nachwuchs der jungen Bäume reichte uns oft bis über die +Schultern und der Grund war mit Kaktusstauden so dicht bewachsen, daß +diese stachligen Pflanzen zuweilen beinahe die ganze Breite des Weges +einnahmen. Meine nackten Unterschenkel waren bald so zerschnitten, als +wenn sie durch eine Hackmaschine gezogen worden wären. Gegen mittag +kamen wir an eine Stelle, wo sich rechts des Weges ein Stacheldrahtzaun +hinzog, der uns die Gewißheit gab, daß hier eine Farm liegen müsse. + +Nachdem wir etwa zwei Stunden lang, immer den Stacheldrahtzaun zur +rechten Hand, gewandert waren, kamen wir an eine weite offene Stelle im +Busch, die mit hohem Gras bewachsen war. Als wir den Platz absuchten, +fanden wir auch eine Zisterne. Aber sie war leer. Einige morsche Pfähle, +alte Konservenbüchsen, verrostetes Wellblech und ähnliche Überbleibsel +einer menschlichen Behausung, offenbarten uns eine verlassene Farm. + +Über eine solche Enttäuschung muß man rasch hinweg kommen. Farmen werden +hier gegründet; zehn, auch zwanzig Jahre lang bewirtschaftet und dann +aus irgendeinem Grunde plötzlich aufgegeben. Fünf Jahre später, oft +schon früher, ist kein Zeichen mehr davon vorhanden, daß hier jemals +Menschen gelebt und gearbeitet haben. Es erweckt den Anschein, als seien +es hundert Jahre her, seit jemand hier gelebt hat. Der tropische Busch +begräbt rascher als Menschen bauen können, er kennt keine Erinnerung, er +kennt nur Gegenwart und Leben. + +Aber um vier Uhr kamen wir doch an eine lebende Farm. Hier wohnte eine +amerikanische Familie. + +Ich wurde im Hause gut bewirtet und fand auch ein Lager innerhalb des +Hauses. Die übrigen als Nichtweiße wurden auf der Veranda beköstigt und +durften in einem Schuppen übernachten. Sie bekamen alle reichlich zu +essen, aber ich war der eigentliche Gast. Mir wurde aufgetischt, wie +eben nur in einem so menschenarmen Lande einem Weißen von weißen +Gastgebern aufgetischt werden kann. Drei verschiedene Fleischgänge, fünf +verschiedene Beigerichte, Kaffee, Pudding und abends heißen Kuchen. + +Am nächsten Morgen bekamen wir alle ein reichliches Frühstück; ich +wieder am Tische des Farmers. + +Der Farmer hatte genügend leere Flaschen, und so bekam jeder einzelne +von uns eine Literflasche kalten Tee mit auf den Weg. + +Er kannte Mr. Shine und sagte uns, daß wir noch etwa sechzig Kilometer +zu marschieren hätten. Kein Wasser am ganzen Weg; die Straße an +verschiedenen Stellen kaum noch erkennbar, weil sie seit drei Jahren +nicht mehr benutzt worden sei. + +Um neun Uhr hatte der kleine Nigger Abraham seinen Tee schon +ausgetrunken und die Flasche fortgeworfen. Es war ihm zu lästig, sie zu +tragen. Wir erklärten ihm, daß er unter diesen Umständen von uns nichts +zu erwarten habe und falls er versuchen sollte, auch nur einen Schluck +zu stehlen, würden wir ihn braun und blau schlagen. + +An diesem Abend im Lager war es, wo er zwar keinen Tee stahl, aber jenen +Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte. Da sich unsre +Drohung nur auf Tee bezog, ließen wir ihn laufen mit der Warnung, daß +von nun an jeder Raub in unsre Drohung einbegriffen sei. Den folgenden +Tag gegen mittag kamen wir bei Mr. Shine an. + + + 5 + +Mr. Shine empfing uns mit einer gewissen Freude, weil er nicht genügend +Leute zum Baumwollepflücken hatte. + +Mich nahm er persönlich ins Gebet. Er rief mich ins Haus und sagte zu +mir: „Was! Sie wollen auch Baumwolle pflücken?“ + +„Ja,“ sagte ich, „ich muß, ich bin vollständig ‚broke‘, das sehen Sie +ja, ich habe nur Fetzen am Leibe. Arbeit ist in den Städten keine zu +haben. Alles ist überschwemmt mit Arbeitslosen aus den States, wo die +Verhältnisse augenblicklich auch nicht rosig zu sein scheinen. Und wo +man wirklich Arbeiter braucht, nimmt man lieber Eingeborene, weil man +denen Löhne zahlt, die man einem Weißen nicht anzubieten wagt.“ + +„Haben Sie denn schon mal gepickt?“ fragte er. + +„Ja,“ antwortete ich, „in den States.“ + +„Ha!“ lachte er, „das ist ein ander Ding. Da können Sie etwas dabei +werden.“ + +„Ich habe auch ganz gut dabei verdient.“ + +„Das glaube ich Ihnen. Die zahlen viel besser. Die können’s auch. Die +kriegen ganz andre Preise als wir. Könnten wir unsre Baumwolle nach den +States verkaufen, dann würden wir noch bessere Löhne zahlen; aber die +States lassen ja keine Baumwolle hinein, um die Preise hochzuhalten. Wir +sind auf unsern eignen Markt angewiesen, und der ist immer gleich +gepackt voll. Aber nun Sie! Ich kann Sie weder beköstigen, noch in +meinem Hause unterbringen. Aber ich brauche jede Hand, die kommt. Ich +will Ihnen etwas sagen; ich zahle sechs Centavos für das Kilo, Ihnen +will ich acht zahlen, sonst kommen Sie auf keinen Fall auf das, was die +Nigger machen. Selbstverständlich brauchen Sie das den andern nicht zu +erzählen. Schlafen könnt ihr da drüben in dem alten Hause. Das habe ich +gebaut und mit meiner Familie zuerst darin gewohnt, bis ich mir das neue +hier leisten konnte. Well, das ist dann abgemacht.“ + +Das Haus, von dem der Farmer gesprochen hatte, lag etwa fünf Minuten +entfernt. Wir machten uns dort häuslich, so gut wir es konnten. Das +Haus, aus Brettern leicht gebaut, hatte nur einen Raum. Jede der vier +Wände hatte je eine Tür, die gleichzeitig als Fenster diente. Der Raum +war vollständig leer. Wir schliefen auf dem bloßen Fußboden. Ein paar +alte Kisten, die vor dem Hause herumlagen, im ganzen vier, benutzten wir +als Stühle. + +Dicht bei dem Hause war eine Zisterne, die Regenwasser enthielt, das +ungefähr sieben Monat alt war und von Kaulquappen wimmelte. Ich +berechnete, daß etwa hundertzwanzig Liter Wasser in der Zisterne seien, +mit denen wir sechs Mann sechs bis acht Wochen auskommen mußten. Der +Farmer hatte uns schon gesagt, daß wir von ihm kein Wasser bekommen +könnten, er wäre selbst sehr kurz mit Wasser dran und habe noch sechs +Pferde und vier Maultiere zu tränken. Waschen konnten wir uns einmal in +der Woche und hatten dann noch zu je drei Mann dasselbe Waschwasser zu +gebrauchen. Es sei aber immerhin möglich, fügte er hinzu, daß es in +dieser Jahreszeit alle vierzehn Tage wenigstens einmal zwei bis vier +Stunden regnen könne, und wenn wir die Auffangrinnen reparierten, +könnten wir tüchtig Wasser ansammeln. Außerdem sei ein Fluß nur etwa +drei Stunden entfernt, wo wir baden gehen könnten, falls wir Lust dazu +hätten. + +Vor dem Hause richteten wir ein Lagerfeuer ein, zu dem uns der nahe +Busch das Holz in reicher Menge hergab. + +Auf die recht nebelhafte Möglichkeit hin, daß es vielleicht innerhalb +der nächsten drei Wochen regnen könnte, wuschen wir uns zunächst einmal, +in einer alten Gasolinbüchse. Seit drei Tagen hatten wir uns nicht +gewaschen. + +Ich rasierte mich. Es mag mir noch so dreckig gehen, ein Rasiermesser, +einen Kamm und eine Zahnbürste habe ich immer bei mir. + +Auch der Chinc rasierte sich. + +Da kam Antonio auf mich zu und bat mich um mein Rasiermesser. Er hatte +sich seit beinahe drei Wochen nicht rasiert und sah aus wie ein +fürchterlicher Seeräuber. + +„Nein, lieber Antonio,“ sagte ich, „Rasierzeug, Kamm und Zahnbürste +verpumpe ich nicht.“ + +Und der Chinc, mutig gemacht durch meine Weigerung, sagte lächelnd, daß +sein schwaches Messer bei diesem starken Bart sofort stumpf würde, und +er hier keine Gelegenheit habe, es schleifen zu lassen. Er selbst hatte +nur dünne Stoppeln. + +Antonio gab sich mit diesen beiden Weigerungen zufrieden. + +Wir kochten unser Abendessen, ich Reis mit spanischem Pfeffer, der andre +schwarze Bohnen mit Pfeffer, der nächste Bohnen mit getrocknetem +Rindfleisch, ein vierter briet einige Kartoffeln mit etwas Speck. Da wir +am nächsten Morgen schon um vier Uhr zur Arbeit gingen, bereiteten wir +auch noch unser Brot für den nächsten Tag, das wir in unsern Pfannen +buken. + +Als wir gegessen hatten, hängten wir unsre armseligen Lebensmittel an +Bindfaden an den Querbalken im Hause auf, weil uns die Ameisen und Mäuse +über Nacht sonst alles fortgeholt hätten, wenn wir diese Vorsorge nicht +getroffen hätten. + +Etwas nach sechs Uhr ging die Sonne unter. Eine halbe Stunde später war +rabenschwarze Nacht. + +Glühwürmchen, mit Lichtern, so groß wie Haselnüsse, flogen um uns her. +Wir krochen in unser Haus, um zu schlafen. + +Der Chinc war der einzige, der ein Moskitonetz hatte. Wir andern wurden +von dem Viehzeug gräßlich geplagt und schimpften und wüteten, als ob +sich diese Gesandten einer Hölle etwas daraus machen würden. Die beiden +Nigger, die Seite an Seite schliefen, sich vor dem Einschlafen +entsetzlich zankten und sich handfeste Backpfeifen anboten, schienen von +den Biestern nicht gestört zu werden. + +Ich entschloß mich, diese Qual für die Nacht zu erdulden, aber morgen +für irgendeine Abhilfe zu sorgen. + +Noch vor Sonnenaufgang waren wir auf den Beinen. Jeder kochte sich etwas +Kaffee, aß ein Stückchen Brot dazu, und fort ging es im halben Trab. Das +Baumwollfeld war eine halbe Stunde entfernt. + +Der Farmer und seine zwei Söhne waren schon dort. Wir bekamen jeder +einen alten Sack, den wir uns umhängten, dann wurde der Gürtel +festgezogen, damit wir die Fetzen nicht verloren, und dann ging es an +die Arbeit. Jeder nahm eine Reihe. + +Wenn die Baumwolle schön reif ist und man den Griff erst weg hat, +bekommt man jede Frucht mit einem einzigen Griff. Da aber die Knollen, +die ähnlich aussehen wie die Hülsen der Kastanien, nicht alle die +gleiche Reife haben, muß man doch bei der Hälfte einige Male gut zupfen, +ehe man die zarte Frucht aus der Hülse gerissen hat und sie in den Sack +tun kann. Bei guter Reife, und wenn die Stauden gut stehen, kann man, +sobald man die Übung hat, gleichzeitig mit beiden Händen an +verschiedenen Stellen rupfen. Aber bei Mittelernte und bei schlechten +Stauden darf man dafür auch oft beide Hände brauchen, um eine Frucht zu +kriegen. Obendrein muß man sich auch noch unaufhörlich bücken, weil die +Früchte nicht alle in bequemer Höhe am Strauch hängen, sondern oft bis +dicht über dem Boden wachsen und, wenn unerwartet starker Regen kam, +sind die Früchte auch noch in den Boden gehauen, wo man sie ’rausklauben +muß. + +Je weiter es gegen mittag geht, desto höher steht die Sonne und desto +mühseliger wird die Arbeit. Man trägt nichts weiter am Leibe als Hut, +Hemd, Hose und Schuhe, aber der Schweiß rinnt in Strömen an einem herab. +Sehr kleine lästige Fliegen, die einem unausgesetzt in die Ohren +kriechen, und Moskitos machen einem das Leben recht schwer. Kommt ein +leichter Wind auf, der die Moskitos verscheucht, geht es noch; aber bei +völliger Windstille wird die Qual mit jeder Stunde größer. Gegen elf +Uhr, nach beinahe siebenstündiger ununterbrochener Arbeit, kann man +nicht mehr. + +Wir suchten den Schatten einiger Bäume auf, die mehr als zehn Minuten +entfernt waren. Wir aßen unser trockenes Pfannenbrot, das, bei mir +wenigstens, ganz verbrannt war, und legten uns dann hin, um zwei Stunden +zu schlafen, bis die Sonne anfängt, wieder abwärts zu wandern. Wir +bekamen furchtbaren Durst, und ich ging zum Farmer, um ihn um Wasser zu +ersuchen. + +„Es tut mir leid, ich habe keins. Ich sagte Ihnen doch schon gestern, +daß ich selber sehr kurz mit Wasser bin. Gut, heute will ich euch noch +etwas geben, von morgen ab müßt ihr euch euer Wasser selbst mitbringen.“ + +Er schickte einen seiner Söhne mit dem Pferde nach Hause, der dann bald +mit einer Kanne Regenwasser zurückkam. + +Baumwolle ist teuer. Das lernt jeder bald, wenn er sich einen Anzug, ein +Hemd, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe oder nur ein Taschentuch kauft. +Aber der Baumwollpflücker, der wohl die härteste und qualvollste Arbeit +für die Stoffe leistet, die ein König oder ein Milliardär oder ein +einfacher Landmann trägt, hat an dem hohen Preis des Anzuges den +allergeringsten Anteil. + +Für ein Kilogramm Baumwolle pflücken bekamen wir sechs Centavos, ich +ausnahmsweise acht. Und ein Kilogramm Baumwolle ist beinahe ein kleiner +Berg, den zu schaffen, man unter ständigem Bücken in der mitleidlosen +Tropensonne zweihundert bis fünfhundert Knollen auszupfen muß. Dazu eine +Nahrung, die als die allerbescheidenste angesehen werden darf, von der +Menschen irgendwo auf Erden leben. Den einen Tag schwarze Bohnen mit +Pfeffer, den nächsten Tag Reis mit Pfeffer, den übernächsten wieder +Bohnen, dann wieder Reis; dazu Brot, selbstgebacken aus Weizen- oder +Maismehl, entweder kleistrig oder zu Kohle verbrannt, Monate altes, +abgestandenes Regenwasser, Kaffee gekocht aus selbstgebrannten +Kaffeebohnen, auf einem Stein zerrieben, und den Kaffee gesüßt mit einem +billigen, übelriechenden, schwarzbraunen Rohzucker in kleinen Kegeln. +Das Salz, das man verwendet, ist Seesalz, das man sich selbst vor dem +Gebrauch erst reinigen muß. Ein paar Kilogramm Zwiebeln in der Woche +hinzugekauft ist bereits Delikatesse und ab und zu ein Streifen +getrocknetes Fleisch ist schon ein Luxus, der, wenn man ihn sich zu oft +leistet, vom Lohn nicht einmal das Reisegeld bis zur nächsten größern +Stadt, wo man neue Arbeit finden könnte, übrigläßt. Bei sehr fleißiger +Arbeit verdient man in einer Woche gerade so viel, daß man sich, wenn +man keinen Centavos für Essen ausgibt, das billigste Paar Schuhe kaufen +kann, das man im Laden vorfindet. + +Der Baumwollfarmer verursacht auch nicht immer die hohen Preise der +Fertigware. Er ist oft tief verschuldet und kann in vielen Fällen die +Pflückerlöhne nur auszahlen, wenn er auf die Ernte einen Vorschuß nimmt. + + + 6 + +Um vier Uhr nachmittags machten wir Schluß, um noch bei Tageslicht „nach +Hause“ zu kommen und unser Essen zu kochen. + +Ich quartierte aus. + +In der Nähe des Hauses, nur etwa zweihundert Meter entfernt, hatte ich +eine Art Unterstand entdeckt. Welchen Zwecken er diente oder gedient +haben mochte, wußte ich nicht. Er hatte ein Dach aus Wellblech, aber +keine Wände, es wäre denn, daß man einige Baumstämme, die an der einen +Seite gegen das Dach gelehnt waren, als Wand bezeichnen will. + +In diesem Unterstand war eine Art Tisch. Es waren vier Pfähle in die +Erde gerammt und auf den Pfählen lagen ein paar Platten Wellblech. +Diesen Unterstand wählte ich als Behausung und den Tisch als Bett. Der +große Nigger wollte den Unterstand mit mir teilen. Er kam hin, sah sich +die Sache an, und es gefiel ihm. + +Plötzlich rief er: „A snake! A snake!“ + +„Wo?“ fragte ich. + +„Da, dicht vor Ihren Füßen.“ + +Richtig, da wand sich eine Schlange auf dem Boden hin, eine feuerrote, +etwa einen Meter lang. + +„Macht nichts,“ sagte ich, „die wird mich nicht gleich auffressen, die +Moskitos sind schlimmer.“ + +Der Nigger zog wieder ab. + +Nach einer Weile kam Gonzalo. Die rote Schlange war inzwischen +verschwunden. + +Es gefiel ihm sehr, und er fragte mich, ob ich etwas dagegen habe, wenn +er auch hier schliefe. + +„Nein,“ sagte ich, „schlafen Sie ruhig hier, mir ist das ganz egal.“ + +Da starrte er auf den Boden. + +Ich folgte seinem Blick. + +Es war wieder eine Schlange. Diesmal eine schöne grüne. + +„Ich will doch lieber im Hause schlafen,“ sagte nun Gonzalo, „ich mag +Schlangen nicht.“ + +Ich mache mir nichts aus Schlangen. So leicht werden sie ja wohl kaum +auf den Tisch kommen; und wenn sie sich wirklich hinaufringeln sollten, +was sie zuweilen tun, so werden sie ja nicht gleich beißen, und wenn sie +beißen sollten, so werden sie wohl nicht gleich giftig sein. Wären sie +alle giftig und würden sie alle einen schlafenden Menschen, der ihnen +nichts zuleide tut, beißen, wäre ich längst nicht mehr am Leben. Da +dieser Unterstand höher lag als das Haus, keine Wände hatte, jedem +kleinen Windzug freieren Durchgang ließ, in der Nähe auch kein +Strauchwerk war und er weit genug von der Zisterne und dem +ausgetrockneten Tränkepfuhl entfernt war, hatte ich hier in der Tat +beinahe gar nicht unter den Moskitos zu leiden. + +Am nächsten Morgen kamen noch etwa zwölf Eingeborene zur Mitarbeit. Die +wohnten ziemlich weit entfernt in einem Dorfe, das irgendwo im Busch +liegen mochte. Sie kamen auf Maultieren geritten; manche hatten weder +Sattel noch Steigbügel. Andre hatten wohl einen Holzsattel, aber keinen +Zaum; an Stelle des Zaumes war den Tieren ein Strick um das Maul +gebunden. + +Diese Leute waren an die Feldarbeit in den Tropen besser gewöhnt als +wir, die wir, mit Ausnahme des großen Niggers alle Städter waren. Aber +sie schafften viel weniger als wir und mußten eine viel längere +Mittagspause machen. Jedoch das ging uns nichts an, und darüber +nachzudenken, lohnte sich auch nicht recht. + +Am Samstag kriegten wir ausbezahlt. Wir ließen uns von den paar Kröten, +die wir in so mühseliger Arbeit verdient hatten, gerade so viel geben, +wie wir brauchten, um Lebensmittel für die nächste Woche einzukaufen. +Den Rest ließen wir beim Farmer stehen, denn auch nur einen Nickel in +der Tasche zu haben, ist nichts als Versuchung für andre. +Selbstverständlich arbeiteten wir Sonntags auch. Der brachte dann knapp +ein Kilo Speck ein, oder fünf Kilo Kartoffeln; weil wir an dem Tage +schon um drei Uhr Schluß machten, um uns wenigstens einmal in der Woche +waschen zu können, und um das verschwitzte Zeug, das man Tag und Nacht +auf dem Leibe hatte, durchs Wasser zu ziehen. + +Der Chinc und Antonio waren in den nächsten Laden gegangen, der etwa +dreiundeinehalbe Stunde entfernt lag, um für uns alle das einzukaufen, +was jeder ihnen auf ein Maisblatt aufgeschrieben hatte. Die +Hieroglyphen, die auf jenen Maisblättern standen, waren nur von den +Einkäufern zu entziffern, denen wir mündlich die Bedeutung der +phantastischen Zeichen ausführlich hatten erklären müssen. + +Den nächsten Sonntag hatten dann ich und Charley einkaufen zu gehen. + +An diesem Sonntag war Charley schon um zwei Uhr von der Plantage +verschwunden. Er war mit seinem Sack Baumwolle zur Wage gegangen und +nicht zurückgekommen. + +Als wir zum Hause kamen, waren Sam und Antonio schon mit den Gütern +angelangt. + +„Eine elende, nichtswürdige Schlepperei“, sagte Antonio. + +„Ach das war nicht so schlimm!“ begütigte Sam. + +„Ruhig, du gelber Heidensohn, du natürlich, mit deiner +Lastträgervergangenheit, was verstehst du von Schleppen?“ rief Antonio, +während er sich auf eine Kiste hinsetzte, die auch noch unter ihm +zusammenbrach und seine Laune durchaus nicht besserte. + +„Hören Sie, Antonio, warum haben Sie denn nicht Mr. Shine um ein Mula +oder einen Esel gebeten?“ fragte ich. + +„Aber das habe ich ja getan. Er hat es abgelehnt. Er sagte zu mir und +Sam: Wie kann ich euch denn ein Mula geben? Ich kenne euch ja gar nicht. +Ihr habt ein paar Tage bei mir gearbeitet, Sachen habt ihr keine, +Papiere habt ihr auch keine, und wenn ihr welche hättet, kann ich mir +für eure Papiere, die vielleicht noch nicht einmal euch gehören, kein +andres Mula kaufen, wenn ihr es im nächsten Ort verschachert und euch +dann hier nicht mehr sehen laßt.“ + +„Von seinem Standpunkt aus hat er recht“, erwiderte ich; „doch von +unserm Standpunkt aus gesehen, ist es eine große Niedertracht. Aber was +können wir machen?“ + +Und gerade jetzt, wo wir so schön im Zuge waren, das Lieblingsthema +aller Arbeiter der Erde anzuschlagen und uns den ungerechten Zustand in +der Welt, der die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Drohnen und +Enterbte teilt, mit mehr Lungenkraft als Weisheit klarzumachen, kam +Abraham an mit sechs Hennen und einem Hahn, die er an den Füßen +zusammengebunden hatte und, ihre Köpfe nach unten hängen lassend, an +einem Bindfaden über der Schulter trug. + +Er warf das Bündel auf die Erde, wo die Vögel sich vergeblich mühten, +aufzustehen oder von den Fesseln los zu kommen. + +„So, fellers,“ grinste er, „jetzt könnt ihr Eier von mir haben. Ich +lasse euch das Stück für neun Centavos, billig, weil ihr ja meine +Arbeitskollegen seid. In der Stadt kosten die Eier zehn, sogar elf.“ + +Wir starrten bald das Bündel Hühner, bald den grinsenden Abraham an. An +ein solches Geschäft hatte keiner von uns gedacht, und es lag doch so +nahe, war so einfach, verlangte absolut keine besondere Intelligenz; +jeder von uns hätte das ebensogut machen können. Sam Woe empfand keinen +Neid, keine Eifersucht, nur Bewunderung für den unternehmungslustigen +Geflügelzüchter; jedoch er schämte sich, daß er sich von einem Nigger +beim Ausdenken einer ehrlichen Nebeneinnahme hatte schlagen lassen. + +Vor unsern Augen, nicht einmal über Nacht, sondern über drei +Nachmittagsstunden war aus einem Enterbten und Ausgebeuteten ein +Produzent, ein Unternehmer geworden. Er hatte sich von seinem Lohn die +Hühner gekauft, wir Lebensmittel. Er hatte keine Lebensmittel mitbringen +lassen, und wir hatten uns schon vorbereitet, wie wir ihm das Stehlen, +auf das er unter diesen Umständen angewiesen war, unmöglich machen +wollten. Aber er hatte uns übertrumpft. Er lieferte Eier und tauschte +dafür an Reis und Bohnen ein, was er brauchte. Trat nun der Fall ein, +daß wir seine Produkte boykottierten, so konnte er ja den Hahn +schlachten, vielleicht noch ein Huhn, bis er wieder Lohn bekam. Am +nächsten Morgen hatte Abraham vier Eier. Das Geschäft konnte beginnen. + +Eier betrachteten wir noch als einen größeren Luxus denn Speck oder +Fleisch. Aber jetzt, wo die Eier so verlockend nahe zur Hand waren, viel +schneller zubereitet werden konnten als irgendeine andre Speise und uns +dadurch eine Möglichkeit gegeben war, zum Frühstück etwas andres und +Kräftigeres in den Magen zu bekommen als den dünnen Kaffee und ein +schmales Stückchen verbranntes Brot, da wollten und konnten wir auf Eier +nicht mehr verzichten. Wir sahen plötzlich ein, daß wir ohne Eier noch +vor Beendigung der Ernte an Unterernährung zugrunde gehen würden, und +wenn wir je wirklich die Ernte überlebten, so würden wir doch so +entkräftet sein, daß uns niemand in Arbeit nehmen würde. Die Sklaven +wurden immer, so erzählte uns Abraham, der es von seinem Großvater +wußte, in gutem Ernährungszustande gehalten, wie Pferde; um den +Ernährungszustand der freien Arbeiter kümmerte sich kein Mensch. Wenn +sie zu schlecht ernährt waren, weil der Lohn für eine bessere Ernährung +nicht reichte, flogen sie ’raus. + +Solche merkwürdigen Ansichten, die natürlich keine wissenschaftliche +Grundlage hatten und auch ganz und gar unrichtig waren, brachte Abraham +vor, nur um seinen Eiern einen regen und dauernden Absatz zu sichern. +Uns leuchtete eine solche Betrachtung menschlicher Verhältnisse um so +mehr ein, als es gerade Abraham gewesen war, der uns gestern mitten in +jener regen Auseinandersetzung unterbrochen hatte, die uns ohne Zweifel, +wenn auch nicht auf dem Wege über Eier, zu genau derselben +Schlußbetrachtung der Welt geführt haben würde. + +Außerdem stundete uns Abraham gutmütig den Betrag für gelieferte Eier +bis zum nächsten Lohntage. Er tat es nur aus Gutmütigkeit, und weil er +nicht wollte, daß wir, seine lieben Arbeitskameraden, im spätern Leben, +also nach der Ernte, wegen Unterernährung Schiffbruch erleiden sollten. + +Nach drei Tagen konnten wir nicht mehr verstehen, wie wir es überhaupt +jemals fertiggebracht hatten, ohne Eier auszukommen. Es gab Eier zum +Frühstück, es wurden Eier zum Mittagessen mitgenommen und abends gab es +erst recht Eier, wir backten Eier sogar ins Brot, nur um die nötige +Arbeitskraft für unser ferneres Leben zu erhalten. + +Abraham verstand die Geflügelzucht, das mußte man ihm lassen. + +Er fütterte seine Hühner reichlich mit Mais. Jeden zweiten Abend mit +Dunkelwerden machte er sich auf den Weg mit einem Sack, um bei den +Farmern Mais einzukaufen. Manchmal ging er schon um drei Uhr vom Felde +heim, um seine Hühner auch gut zu versorgen. Vom Mais einkaufen kam er +aber immer erst zurück, wenn wir schon längst schliefen. + +Die sechs Hühner und der eine Hahn, als ob sie unsern Bedarf schon im +voraus kannten, taten das menschenmögliche, nein, hühnermögliche, um uns +vor der drohenden Unterernährung zu schützen. Und für den reichlich +gelieferten Mais lieferten sie als gerechte Gegenleistung mehr, als +sonst eine Henne zu liefern sich verpflichtet fühlt. + +Am ersten Morgen hätten die Hühner, wie schon berichtet, vier Eier +gelegt, am zweiten Morgen sieben, und als wir bezweifelten, daß dies +möglich sei, führte uns Abraham am darauffolgenden Morgen zu den drei +alten Schilfkörben, die er für den Zweck aufgehängt hatte, und +gestattete uns, selbst nachzuzählen. Wir zählten an diesem dritten +Morgen siebzehn Eier, die von den Hühnern über Nacht gelegt waren. Da +wir die Eier persönlich bei Sonnenaufgang gesehen und persönlich gezählt +hatten, zweifelten wir von dem Tage an nicht mehr an der Zahl der von +Abrahams Hühnern gelegten Eier, obgleich er uns eines Morgens +freudestrahlend, als hätte er in der Lotterie gewonnen, mitteilen +konnte, daß die Hühner achtundzwanzig Eier über Nacht gelegt hätten. Uns +war es ja gleichgültig, wie Abraham seine Hühner behandelte, um solche +Resultate zu erzielen. Als Sam Woe eines Tages erklärte, bei ihm zu +Hause wisse man auch aus einer Krume Erde oder aus einer Henne +herauszuholen, was nur überhaupt ein Gott sonst noch herausquetschen +könne, aber das hätten sie daheim doch noch nicht geschafft, da fuhr ihm +der Nigger gleich übers Maul: „Ihr seid eben Esel, ihr versteht die +rationelle Geflügelzucht ebensowenig wie hier herum die ganzen Farmer, +die noch größere Esel sind, als ihr seid. Aber wir in Louisiana, wir +verstehen Hühner zu behandeln. Ich habe es von meiner Großmutter +gelernt. Es hat viel Prügel gesetzt, ehe ich es begriffen habe; aber +jetzt kommt auch kein noch so tüchtiger Farmer gegen mich mehr auf, wenn +ich in der Nähe eine Geflügelzucht betreibe und einmal zeige, wie man +Hühner rentabel macht.“ + + + 7 + +Wir aßen die Eier nur. Aber die Eier rächten sich: sie fraßen. Sie +fraßen an unserm Lohn so gierig, daß niemand sein gestecktes Ziel +erreichen konnte, sei es ein neues Hemd, eine neue Hose oder eine +Fahrkarte nach einer Stadt mit besserer Arbeitsgelegenheit. + +Auch Sam Woe, dessen Landsleuten sehr zu Unrecht nachgesagt wird, daß +sie sich lieber den Finger abbeißen als Geld für etwas Überflüssiges +auszugeben, hatte ein ganz nettes Schuldsümmchen für Eier bei Abraham +stehen. Ich glaube aber doch, daß er bei jedem Ei, das er aß, immer +bedauerte, daß er nicht der Lieferant sei. + +So vergingen zwei weitere Wochen. Verglichen mit der ersten Woche lebten +wir jetzt in Saus und Braus. Das taten die Eier, und das tat eine Nacht +mit fünfstündigem Wolkenbruch, der uns so gut mit Wasser versorgte, daß +wir hierin fürstlich schwelgen konnten. + +Freilich bedeutete dieser Regen einen halben Tag Verlust an Arbeitslohn. +Das Feld war am Morgen so lehmig und schlammig, daß wir die Füße kaum +herausziehen konnten. Erst gegen Mittag, als die Sonne die übliche +Kruste gebrannt hatte, konnten wir wieder an die Arbeit gehen. Am +dritten Lohntag sehen wir ein, daß wir mit dem Geld, das wir verdienten, +nicht auskommen konnten. Wenn die Ernte vorüber sein wird, werden wir +knapp zwei Wochen Lohn in der Hand haben. Ehe wir bis zur nächsten Stadt +kommen und dort irgendeine Arbeitsgelegenheit finden würden, hätten wir +genau soviel oder richtiger sowenig übrig, als wenn wir nicht sechs +Wochen, jede Woche zu sieben Tagen, in tropischer Sonnenglut von +Sonnenaufgang bis beinahe Sonnenuntergang bei, trotz der Eier, +allerbescheidenster Nahrung hart gearbeitet hätten. Denn außer für Essen +und etwas Tabak gaben wir nichts aus. Es war auch keine Gelegenheit +dazu. Der nächste Saloon, wo es Bier und Schnaps gab, und wo man spielen +konnte, war über drei Stunden entfernt. + +„Daran sind die verfluchten Eier schuld, daß wir für nichts geschuftet +haben sollen!“ sagte Antonio am Abendfeuer, als wir unsre Lage +überdachten. + +„Aber wir hätten sie doch nicht kaufen brauchen,“ warf ich ein, „Abraham +hat sie uns doch nicht aufgedrängt. Er hätte sie doch sammeln und +Sonntags zum Laden bringen können.“ + +„Da hätte er aber mehr Arbeit davon gehabt“, sagte Gonzalo. + +In dem Augenblick kam Abraham gerade von seinem abendlichen Maiseinkauf +zurück. Er warf den Sack auf die Erde und sagte: „Wovon ist denn die +Rede? Vielleicht etwa gar von den Eiern? Ich habe sie doch ehrlich an +euch abgeliefert, und frisch gelegt war jedes einzelne auch, da kann ich +doch auch wohl ehrlich mein Geld verlangen, nicht wahr, fellers? That +so?“ + +„Von Nichtbezahlen hat niemand gesprochen, wenn Sie nicht wissen, wovon +und worüber geredet worden ist, dann halten Sie lieber ihre Gosche“, +sagte ich. + +„Nein,“ sagte Antonio, „die Rede ist davon, daß, wenn wir nicht den +Luxus mit den Eiern einstellen, wir hier die vielen Wochen umsonst +gearbeitet haben.“ + +„Luxus nennt ihr das?“ rief Abraham entrüstet aus. „Ja, wollt ihr denn +als Skelette ’rumlaufen, wenn die Ernte vorüber ist? Meinetwegen, ich +kann meine Eier auch anderswo verkaufen. Also, jetzt kassiere ich. +Antonio, Sie haben – –“ + +Das interessierte mich nun gar nicht, wieviel jeder hatte und was jeder +zu bezahlen haben mochte. Ich bezahlte meine Rechnung bei Abraham und +ging dann nach meiner Behausung schlafen. Als ich unterwegs war, hörte +ich, wie Charley und Abraham in Wortwechsel gerieten. Der große Nigger +behauptete, Abraham habe ihm drei Eier zuviel angerechnet. Abraham +bestritt es und drängte auf richtige Bezahlung. Nach einer Weile Hin- +und Herredens mußte Charley zugeben, daß er sich geirrt habe, und daß +Abraham im Recht sei. In diesen Dingen, die das Geschäft unmittelbar +betrafen, also Lieferung und Bezahlung, war Abraham unbedingt ehrlich. + +Des Abends vor dem Einschlafen nahm ich mir vor, diese Woche einmal ohne +Eier auszukommen. + +Am Morgen, als ich zum Feuer ging, hörte ich Antonio schon rufen: „Wo +sind denn heute morgen die Eier, du rabenschwarzer Yank? Ich will fünf +haben.“ + +Abraham zählte seine Eier, die er in den Körben gesammelt hatte, mit +einem Ernst und mit einer Sorgfalt, als ob er sie wirklich zum ersten +Male in der Hand habe und nicht schon gestern abend genau gewußt hätte, +wieviel Eier die Hühner über Nacht legen würden. Er tat, als habe er den +Geschäftsauftrag Antonios nicht gehört. + +„Ja, Mensch, Nigger, hast du denn nicht gehört, fünf Eier will ich +haben, oder soll ich sie mir vielleicht selber nehmen?“ wütete jetzt +Antonio. + +„Was denn!“ sagte Abraham ganz unschuldig. „Ich will euch doch nicht +meine Eier aufdrängen und euch den sauer verdienten Wochenlohn aus der +Tasche rauben. Spart das Geld lieber! Ihr könnt auch ganz gut ohne Eier +auskommen. Ihr seid ja die ersten Tage auch ohne Eier fertig geworden.“ + +Das war ein ganz neuer Ton, den wir von Abraham bisher nie vernommen +hatten. + +Wir empörten uns gegen eine solche Bevormundung unsrer Lebensweise wie +ein Mann. + +„Was fällt denn dir schwarzem Karnickel ein, mir vorzuschreiben, was ich +essen und was ich nicht essen soll, ob ich mein Geld spare, oder ob ich +es da in die Zisterne werfe, hä!“ mischte sich Gonzalo jetzt ein. +„Sofort gibst du mir sechs Eier, oder ich schlage dir deinen Wollschädel +in Scherben.“ + +„Gut,“ sagte Abraham resigniert, „da ihr es nicht anders haben wollt und +mir sogar mit Schlägen droht, will ich euch die Eier wie bisher +liefern.“ + +„Ja, was hast du dir denn gedacht?“ sagte Sam Woe ganz ruhig und +schulmeisterlich. „Erst verführst du uns, Eier zu essen, und wenn wir +dalan gewöhnt sind, willst du sie uns verweigern. Gib mir dlei Eier!“ + +Der Chinc hatte ein bestimmtes Gefühl bei mir ausgelöst: Jetzt auf +einmal, wo wir uns an die Eier, an die Bequemlichkeit ihrer Zubereitung, +an die Nachhaltigkeit ihres Nährstoffes und an ihre mühelose Beschaffung +so sehr gewöhnt hatten, sollten wir plötzlich einer Laune des Niggers +wegen darauf verzichten! Das war ja nicht anders, als wenn wir aus dem +Zeitalter der drahtlosen Abendunterhaltung in das der Steinaxt +zurückgeschleudert werden sollten. Gestern abend, den Magen übervoll +gefüllt mit einem dicken, prächtigen vollwertigen Eierpfannkuchen, hatte +ich allerdings den Entschluß gefaßt, diese Woche einmal keine Eier zu +beziehen. Aber am Morgen, als der Magen leer war wie ein vertrockneter +Autoreifen, hielt ich den Entschluß für kindisch. Warum sollte ich mich +denn kasteien und meinen mir lieben Körper qualvoll peinigen beim +Anblick der schönen frischen Eier, die bereits lustig in den Pfannen der +andern brutzelten? + +„Gib mir sechs!“ kommandierte ich Abraham. + +Freilich, als ich drei Spiegeleier gegessen und zwei zum Mitnehmen für +das Mittagessen gekocht hatte, fiel mich wieder die reuige Wehmut an. +Also es blieb bei den Eiern. + + + 8 + +Auf dem Nachhauseweg rief mich Mr. Shine an: „Hören Sie, Mr. Gale, +können Sie auf eine Viertelstunde herein? Meine Frau hat einen guten +Kuchen gebacken, Sie können eine Tasse Kaffee mit uns trinken.“ + +Dann, als wir bei Tische saßen, erzählte mir Mr. Shine, wie er mit 260 +Dollar, die er sich sauer erspart hatte, hier angefangen habe, wie er +mit eigner Hand die Farm aus dem rohen Busch herausgearbeitet habe, wie +die Straße, die mehr als drei Stunden zur nächsten Ortschaft führt, bei +seiner Ankunft nur ein schmaler, verwachsener Weg war, gerade breit +genug, um mit dem Maultier durchzukommen, wie er auch diese Straße +verbreitert habe, so daß er sie jetzt mit eignem Ford befahren könne. + +„Vierundzwanzig Jahre harter, sehr harter Arbeit waren notwendig, um +etwas zu werden. Und wir Gringos hier, die wir dem Lande erst Wert +geben, sind trotzdem immer wie auf dem Sprunge, plötzlich fliehen und +alles verlassen zu müssen. Wir werden gehaßt wie der Tod, weil man um +die Freiheit und Unabhängigkeit, die den Leuten hier über alles gilt, +bangt.“ Er war nicht der erste Amerikaner, der mir diese Nöte +schilderte. + +„Manches Jahr ist sehr gut. Ich habe schon häufig vier Ernten im Jahr an +Mais gehabt. Das erreichen wir drüben in den States nicht. Aber dieses +Jahr ist schlecht. Die Baumwolle hat, was seit fünfzehn Jahren nicht +vorgekommen ist, Frost abbekommen; deshalb ist sie nur halb wie sie sein +soll. Und ich weiß auch gar nicht, was mit dem Hühnervolk los ist. Wir +haben nie so wenig Eier gehabt, wie in den letzten Wochen. Auch Mr. +Fringell und Mr. Shape klagen über ihre Hühner.“ + +Am Abend erzählte ich Abraham, was mir Mr. Shine über die Hühner gesagt +hatte. Aber mein Kamerad geriet nicht in die geringste Verlegenheit. + +„Na, da seht ihr es ja, fellers,“ sagte Abraham eifrig, „das sind die +richtigen amerikanischen Farmer wie drüben. Vor Geiz möchten sie am +liebsten ihre Fingernägel aufessen. Da gönnen sie den armen Hühnern kaum +eine Handvoll Mais. Wie können denn die Hühner richtig legen, wenn sie +nicht gut gefüttert werden? Da seht meine Hühner an! Ich spare nicht mit +dem Mais. Aber dafür geben die Tierchen auch etwas her. Man muß sie nur +gut und reichlich füttern und sachgemäß behandeln, dann tun sie auch +ihre Pflicht. Das hat mich meine gute Großmutter Susanne gelehrt, und +die war eine sehr kluge Frau, das könnt ihr mir glauben, fellers. That’s +a fact!“ + +Na, wir glaubten es ihm. Die Beweise lagen ja vor. + + + 9 + +Am selben Abend nach dem Essen setzte wieder die Unterhaltung über die +Frage ein, wieviel uns an Geld übrigbliebe, wenn die Ernte vorüber sei. +Diesmal aber wurden weder die Eier noch Abraham, der dabeisaß, in dem +Gespräche erwähnt. + +An diesem Abend kamen wir alle einmütig zu dem Ergebnis, daß wir +ordentlich essen müßten, um uns arbeitsfähig zu erhalten, daß wir eine +bestimmte Summe am Ende der Ernte übrighaben müßten, um nicht umsonst +gearbeitet zu haben oder wie Sklaven nur für das Essen, und daß also, +kurz und bündig, der Lohn zu niedrig sei. Wenn wir statt sechs acht +Centavos für das Kilogramm bekämen, könnten wir gerade zurechtkommen. + +Mit diesem Gedanken gingen wir schlafen. + +Am nächsten Morgen, sobald die andern Arbeiter auf das Feld gekommen +waren, gingen Antonio und Gonzalo gleich zu ihnen und erklärten ihnen, +daß wir die Absicht hätten, acht Centavos zu verlangen und zwei Centavos +Nachbezahlung für die bisher schon gepflückten Kilos. Diese Leute, alle +unabhängiger als wir, weil sie alle ihr Stückchen Land hatten, waren +ohne weiteres damit einverstanden. + +Nun gingen Antonio und Gonzalo sowie zwei von den andern Leuten zur Wage +und sagten Mr. Shine, was los sei. + +„Nein,“ antwortete Mr. Shine, „das bezahle ich nicht, ich bin doch nicht +verrückt! Das habe ich noch nie bezahlt! Das kommt ja gar nicht rein!“ + +„Gut,“ sagte Antonio, „dann machen wir Schluß. Wir wandern dann noch +heute ab.“ + +Da mischte sich einer von den ansässigen Arbeitern ein: „Hören Sie, +Senjor, wir warten zwei Stunden. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie dann +noch Nein! sagen, satteln wir unsre Mulas. Wir wollen schon dafür +sorgen, daß Sie keine Leute kriegen.“ + +Damit war die ganze Konferenz erledigt. Die vier Abgesandten gingen ins +Feld zurück, berichteten die abschlägige Antwort, und alle Leute +verließen ihre Reihen, gingen zu den Bäumen und legten sich schlafen. +Als ich auch auf dem Wege zu den Bäumen war, rief Mr. Shine herüber: +„He, Mr. Gale! Kommen Sie auf einen Augenblick her!“ + +Ich ging hinüber. „Na,“ sagte ich gleich beim Näherkommen, „wenn Sie +etwa glauben, daß ich hier die Mittelsperson mache, dann sind Sie im +Irrtum, Mr. Shine. Wäre ich Farmer, stünde ich auf Ihrer Seite, und ich +ginge mit Ihnen durch dick und dünn. Da ich aber kein Farmer, sondern +Farm-Hand bin, stehe ich zu meinen Arbeitskollegen. Das verstehen Sie +doch?“ + +„Gar kein Zweifel, Mr. Gale,“ erwiderte er, „es ist auch gar nicht meine +Absicht, Sie herüberzuziehen; denn Sie allein könnten die Baumwolle ja +doch nicht hereinholen. Aber wir wollen das einmal in Ruhe überrechnen.“ + +Mr. Shine zündete sich eine Pfeife an und gab mir Tabak. Sein ältester +Sohn, der etwa sechsundzwanzig Jahre alt war, steckte sich eine Zigarre +an, und der zweite Sohn, der jüngste in der Familie, ungefähr +zweiundzwanzig Jahre alt, pellte ein Stück Kaugummi aus einem Stück +verschweißtem Papier heraus und schob es in den Mund. + +„Sie sind der einzige Weiße hier unter den Pflückern, und da ich Ihnen +ja schon acht bezahle, sind Sie eigentlich parteilos und können hier +mitsprechen. Sie haben doch nicht etwa den andern Burschen gesagt, daß +Sie acht bekommen?“ fügte Mr. Shine, die Pfeife aus dem Munde nehmend, +hinzu. + +„Nein,“ sagte ich, „dazu hatte ich nicht die geringste Ursache.“ + +Dick, der älteste Junge, kletterte in das Lastauto, lehnte sich gegen +einen Ballen Baumwolle und ließ die Beine über die Reling baumeln. + +Pet, der jüngere, setzte sich zum Steuerrad und druselte, unausgesetzt +seinen Gummi knatschend, vor sich hin. + +Der Alte lehnte sich gegen den Wagen und fummelte, unaufhörlich +fluchend, an seiner Pfeife herum, die bald ausging, bald verstopft war, +bald neuen Tabak brauchte, obgleich der Rest noch gar nicht ganz +aufgebrannt war. + +Die ganze Erregung, die den Farmer durchtobte, äußerte sich nur in der +Behandlung seiner Pfeife. + +Nachdem etwa fünf Minuten lang niemand etwas gesagt hatte, platzte +plötzlich Pet heraus: „Weißt du was, Daddy, ich an deiner Stelle würde +bezahlen, ohne viele Worte zu machen.“ + +„Ja, du,“ rief Mr. Shine wütend, „du würdest bezahlen. Es geht ja nicht +aus deiner Tasche, da ist das ‚Bezahlen würden‘ sehr leicht. Aber dann +ziehe ich dir’s von deinem Taschengelde ab.“ + +„Das wirst du nicht tun, Daddy, oder du mußt mir das Geld für die +verkaufte Baumwolle auch geben, sonst wäre es ungerecht.“ + +„Ha! Daß ich nicht platze vor Lachen. Das Geld für die verkaufte +Baumwolle!? Habe ich denn überhaupt schon für einen Dime verkauft? Ich +sage Ihnen, Mr. Gale, noch nicht einen blanken Tinker hat man mir +geboten. Und was für eine Baumwolle in diesem Jahr! Die weißeste +Schneeflocke von Alaska muß sich dagegen schämen. Und sehen Sie einmal +hier, Mr. Gale,“ dabei rupfte er eine Knolle, die dicht neben ihm stand, +ab und quetschte sie, sie mir dicht vor die Nase haltend, in seinen +Fingern, „die weichsten Daunen sind dagegen der purste Stacheldraht. – +Ja, Gosch, sagen Sie doch auch einmal ein Wort! Stehen Sie doch nicht so +da, als ob Sie die Sprache verloren hätten!“ + +„Aber ich bin doch unparteiisch“, sagte ich darauf. + +„Ja richtig, Sie sind unparteiisch. Aber Sie können doch wenigstens den +Mund mal aufmachen!“ + +Es kam ihm nur darauf an, jemand zu finden, dem er widersprechen konnte. + +Da räkelte sich Dick ein wenig bequemer in seine Stellung ein und sagte +ganz langsam und bedächtig mit breit gezogenen Worten: + +„Da will ich dir mal was sagen, Dad –“ + +„Du? Ja du bist mir gerade der Rechte.“ + +„Dann eben nicht. Ich habe Zeit. Es ist ja nicht meine Baumwolle, es ist +ja deine.“ + +Und als Dick nun wieder in seine bulkige Schweigsamkeit zurückfiel, +sagte der Alte plötzlich ganz erbost: „Ja, verflucht noch mal, dann rede +doch schon! Oder soll ich hier vielleicht stehen, bis die ganze +Baumwolle verfault und verwurmt ist?“ + +„Siehst du, Dad, das meine ich gerade: verfault. Wenn die Leute gehen, +andre kriegen wir nicht. Und wenn wir die Leute herschippen lassen von +den Städten, müssen wir mehr Reisegeld bezahlen, als die Sache wert +ist.“ + +„Rede doch schon einen Strich schneller!“ + +„Aber ich muß mir doch erst ausdenken, was ich sagen will. Sieh mal, +Dad, einmal hat es schon geregnet. Und es sieht ganz so aus, als ob wir +eine sehr frühe Regenzeit kriegen oder eine volle Woche Stripregen. Dann +ist die ganze Baumwolle hinüber, dann ist sie in den Dreck gehauen, und +du kannst lange suchen, bis du einen findest, der dir anstatt der +Baumwolle den Sand abkauft. Je eher wir die Baumwolle ‚ginned‘ und auf +den Markt gebracht haben, desto besser ist der Preis. Wenn der Markt +erst mal voll ist, müssen wir froh sein, wenn wir sie mit zwanzig oder +fünfundzwanzig Centavos Verlust losschlagen, wenn wir sie dann überhaupt +unterbringen und sie uns nicht auf dem Halse liegen bleibt. Bis jetzt +sind wir sehr früh dran und sind mit die ersten auf dem Markt.“ + +„Verflucht noch mal, Junge, du hast verteufelt recht! Vor vier Jahren +habe ich sie mit dreißig Centavos das Kilo unter dem Anfangspreis +verkaufen müssen und habe noch dagestanden wie ein armseliger Bettler, +der um ein Stück Brot boomen muß. Aber ich bin doch nicht ganz und gar +wahnsinnig geworden, daß ich acht Centavos bezahle! Früher habe ich +sogar bloß drei, wenn sie schlecht stand, vier bezahlt. Nein, das ist +abgemacht, da lasse ich sie, by Gosh!, zehnmal lieber verfaulen und +verschimmeln, just wie sie dasteht, ehe ich nachgebe.“ + +Dabei schlug er mit der Hand nach einer Staude, als ob er mit dieser +einen Handbewegung das ganze Feld abrasieren wollte. + +Dann kam ihm in seinem Zorn ein andrer Gedanke: + +„Aber an der ganzen Geschichte sind bloß die Fremden schuld, die +Auswärtigen. Die hetzen uns hier die Leute auf. Die können nie den +Rachen vollkriegen. Unsre Leute hier herum sind immer zufrieden. Ja, Sie +auch, Mr. Gale, Sie sind auch einer von den Aufwieglern und von den +Bolsches, die alles auf den Kopf stellen und uns das Land wegnehmen und +das Bett unter dem Hintern fortziehen wollen. Bei mir kommt ihr aber an +die falsche Nummer. Das habe ich selber mitgemacht. Das kenne ich, weiß, +wie es gemacht wird. Aber wir haben keine I. W. W.[1] und alles solchen +Stoff gehabt.“ + +„Wenn Sie mich meinen, Mr. Shine, tun Sie sich keinen Zwang an. Nebenbei +bemerkt, habe ich Ihnen gar keinen Grund gegeben, festzustellen, ob ich +ein Wobbly[2] bin oder nicht.“ + +„Mischen Sie sich doch nicht ’rein, von Ihnen ist ja gar nicht die Rede. +Ich habe Sie ja gar nicht gemeint. Aber bezahlen tu ich nicht, basta!“ + +„Na hör’ mal, Daddy“, sagte jetzt Pet, ohne sich seinem Vater +zuzuwenden, „in bezug auf die Fremden hat du unrecht, durchaus. Die +sechs Fremden schaffen mehr herein als die zwölf oder vierzehn Indianer. +Die tun doch überhaupt bloß etwas, weil sie sehen, wie die Fremden +arbeiten und was verdient werden kann. Wenn unsre Hiesigen einen Peso +machen, dann sind sie zufrieden und halten lieber fünf Stunden +Mittagschlaf, weil ihnen das wichtiger ist. Ohne die Fremden bekämen wir +die Baumwolle vor Weihnachten nicht herein, da wette ich mein Leben +darauf.“ + +„Aber ich bezahle keine acht, und damit Schluß!“ + +„Dann kann ich ja ankurbeln, und wir können heimfahren“, sagte Dick +trocken und kletterte gemächlich von dem Wagen herunter. + +Es waren noch lange keine zwei Stunden vergangen, aber die „Hiesigen“ +wurden jetzt beweglich. Sie fingen ihre Maultiere ein und begannen +aufzusatteln. + +Als einige der Peons schon soweit waren, aufzusitzen, sprangen Antonio +und Gonzalo plötzlich auf, warfen ihre großen Hüte hoch in die Luft und +begannen mit schrillen Stimmen zu singen: + + Es trägt der König meine Gabe, + Der Millionär, der Präsident – + +Die Leute hörten sofort auf, an ihren Tieren zu arbeiten, und standen +stille wie Soldaten nach einem Kommando. Sie hatten das Lied nie gehört, +fühlten jedoch sofort mit dem Instinkt des Mühseligen, daß es ihr Lied +sei, daß dieses Lied mit dem Streik, mit dem ersten Streik, den sie +erlebten, ebenso innig zusammenhing wie ein Kirchenchoral mit der +Religion. Sie wußten nicht, was I. W. W. war, was eine Organisation +bedeutet, was eine Klasse sei. Aber der Gesang hämmerte auf sie ein, die +Worte trafen den Atem ihres Daseins. Und das Lied schmiedete sie +zusammen zu einem ehernen Block. Das erste leise Bewußtsein der +ungeheuren Macht und Stärke der zu einem gemeinsamen Wollen vereinigten +Proleten erwachte in ihnen. + +Als der erste Refrain wiederholt wurde, sang bereits das ganze Feld. Was +vielleicht geschehen könnte, wenn der letzte Refrain begann, ohne +inzwischen die gewünschte Antwort erhalten zu haben, wußte ich. Ich habe +es erlebt. + +Der Gesang, so eintönig und so schlicht in seiner Melodie, aber so +federnd wie feinster Stahl in seinem klingenden Rhythmus, steckte mich +an. Ich konnte nicht anders, ich begann, das Lied mitzusummen. + +„Natürlich! Sie auch!“ sagte Mr. Shine, halb ironisch, halb +selbstverständlich zu mir. „Ich hab’s ja gewußt!“ + +Als der zweite Refrain erklang, wendeten sich die Leute, die bisher +zwanglos in einer losen Gruppe bei ihren Maultieren gestanden hatten, +alle wie ein Mann zu uns herüber, wodurch der Gesang herausfordernd und +persönlich wurde. + +Mr. Shine faßte nervös nach hinten und knöpfte die lederne +Revolvertasche auf, machte sie aber gleich wieder zu mit einer Geste der +Verlegenheit, die ebensogut auch eine der Scham oder gar der +Wurschtigkeit sein konnte. + +„Teufel noch mal,“ rief er dann, „that means business, die scheinen +Ernst zu machen.“ + +„Das machen sie,“ sagte Pet knatschend, „und wenn sie einmal fort sind, +haben wir unsre liebe Mühe und Not, sie wieder heranzuholen.“ + +„Gut,“ sagte Mr. Shine, „ich bezahle acht, aber erst von heute an. Was +bezahlt ist, bleibt bezahlt, da wird nichts nachgegeben. Mr. Gale, seien +Sie doch so gut, bitte, und rufen Sie die Leute heran!“ + +Ich lief ’rüber und brachte die ganze Horde zusammen. + +„Na, was ist?“ fragten die Leute, als sie nahe genug der Wage waren. + +„Also es ist abgemacht,“ sagte Mr. Shine halb erbost, halb von oben +herab, „ich zahle acht für das Kilo, aber –“ + +Antonio ließ ihn nicht ausreden: + +„Und für die schon gepflückten Kilos?“ + +„– zahle ich die zwei Centavos nach. Aber nun auch tüchtig ran an die +Arbeit, daß wir den ganzen Bettel noch trocken hereinkriegen.“ + +„Hurra für Mr. Shine!“ schrie Abraham. + +„Halt’s Maul, damned Nigger, du bist nicht gefragt!“ schrie der Farmer +wütend. + +„Aber was mache ich denn nun mit Ihnen, Mr. Gale?“ sagte er zu mir. „Sie +bekommen doch schon acht.“ + +„Ja,“ sagte ich, „da gehe ich halt leer aus, Mr. Shine.“ + +„Das sollen Sie nicht. Bei einem Mann kommt es mir auch nicht darauf an. +Und weil Sie Weißer sind, der einzige Weiße, Sie sollen zehn haben.“ + +„Mit Nachzahlung?“ + +„Mit Nachzahlung! Ich bin ein fair businessman. Was stehen Sie denn noch +’rum? Machen Sie, daß Sie an die Arbeit kommen! Wir haben, weiß Gott, +beinahe eine Stunde total verquatscht. Gerade um diese Stunde kann uns +der Regen zu früh kommen. Das ziehe ich euch beiden Rangen ab, da könnt +ihr Gift drauf nehmen“, so wandte er sich seinen Söhnen zu, die gerade +dabei waren, die Wage wieder aufzuhängen. + +---------- + +[1] I. W. W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale +Arbeiter-Organisation. + +[2] Wobbly = Mitglied der I. W. W. + + + 10 + +So lief der Trott nun weiter die nächsten zwei, drei Wochen. Ohne +besondere Ereignisse. Ein Tag wie der andre. Rennen im Trab, Arbeit, +Rennen, Essen kochen, Schlafen, Rennen im Trab, Arbeit. + +Eines Nachmittags, als ich vom Feld heimkam, ging ich zu Mrs. Shine und +fragte sie, ob sie mir ein Kilo Speck verkaufen oder bis Sonntag leihen +wolle, da ich vergessen hätte, welchen mitbringen zu lassen. + +„Können Sie haben, Mr. Gale, gegen Bezahlung oder Rückgabe, ganz wie Sie +wollen.“ + +„Gut,“ sagte ich, „dann gegen Bezahlung. Mr. Shine kann es mir ja am +Samstag anrechnen.“ + +Während sie eben dabei war, den Speck abzuwiegen, kam Mr. Shine von der +Stadt zurück, wo er seine Post abgeholt und einige Bedarfsmittel +eingekauft hatte. + +„Da sind Sie ja gerade wie gerufen, Mr. Gale“, sagte er zu mir, als er +ins Zimmer trat. „Ich habe eine Neuigkeit für Sie.“ + +„Für mich? Woher soll die wohl kommen?“ + +„Direkt aus der Stadt. Im Store traf ich den Manager von Camp 97. Er saß +da und trank gerade eine Flasche Bier nach der andern. Er war in großen +Nöten. Da haben sie im Camp ein kleines Malheurchen gehabt. Beim +Auswechseln von Achter-Rohren gegen Zehner hat ein Rohr ausgeschlagen +und dem einen Driller den rechten Arm böse gequetscht, weil einer von +den Indianern wieder mal nicht aufgepaßt und rechtzeitig zugepackt hat. +Der Driller ist ein tüchtiger, erfahrener und verläßlicher Bursche, den +sie nicht gehen lassen wollen. Nun suchen sie einen guten Ersatzmann für +drei bis vier Wochen. So lange wird es wohl dauern, bis der Mann wieder +arbeiten kann. Aber sie sind jetzt gerade an einem heiklen Punkt. Sie +sind auf siebenhundert Fuß und sind auf Lehm, und wenn sie jetzt keinen +guten Driller bekommen, dann können sie vielleicht eine Knickung in der +Bohrung erleben. Na, und was das bedeutet, was das für Scherereien, +Zeitverlust und Kosten verursacht, das wissen Sie ja selbst, Sie haben +ja in den Fields gearbeitet. Das gibt allemal den Sack für die Driller +und Tooldresser, manchmal für das ganze Camp.“ + +„Weiß ich,“ erwiderte ich, „kann dem besten Mann passieren, wenn man +noch so sehr aufpaßt. Ein Stein, den der Satan gerade dort hingefeuert +hat, wo man ihn am allerwenigsten vermutet, kann zwanzigtausend Dollar +kosten.“ + +„Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Shine ein. „Nun ist +der Manager in Sorge, was er machen soll. Er hat schon eine Schicht +selber gearbeitet, aber auf die Dauer geht es nicht. Telegraphiert er +nun zur Kompagnie, dauert es immerhin drei bis vier Tage, bis er den +Mann hier hat. Und ob er einen Mann kriegt, wie er ihn braucht, weiß er +auch nicht. Denn ein tüchtiger Mann nimmt für drei Wochen nichts an, +weil er dadurch vielleicht eine andre Stellung, wo er sechs Monate in +Sicherheit hat, verpassen kann. Ich habe nun zu dem Manager gesagt: +Well, habe ich gesagt, Sie sind just der Mann, auf den ich gewartet +habe, Mr. Beales.“ + +„Aber ich weiß noch immer nicht, was ich eigentlich damit zu tun habe“, +sagte ich. + +„Ja warten Sie doch ab, Gale, was kommt. In drei, höchstens vier Tagen +haben wir die Baumwolle drin. Was wollen Sie denn dann machen?“ + +„Das weißt ich jetzt noch nicht. Ich lasse den Tag erst einmal +herankommen. Ich kann ebensogut nach Norden wie nach Süden, ebenso +leicht nach Ost wie nach West gehen. Eigentlich habe ich vor, nach +Guatemala, Costa Rica und Panama ’runter zu tippeln. Vielleicht nach +Kolumbien. Da soll allerhand Öl ausgemacht worden sein.“ + +„Top!“ sagte Mr. Shine. „Das habe ich auch gedacht, daß es Ihnen ganz +egal ist; und nach Guatemala und allen den übrigen Landschaften kommen +Sie immer noch rechtzeitig genug. Da habe ich nun zu dem Manager gesagt: +Well, habe ich gesagt, auf Sie habe ich gerade gewartet. Ich habe da +einen Fellow, einen Picker, einen weißen Mann, weiß im Gesicht und weiß +unter dem Brustlatz ebensogut, einen Burschen, der Ihnen die +verteufeltste Bohrung aus dem elendesten Dreck herausholt. Man muß doch +ein wenig trumpfen, Gale, wenn man was erreichen will. Also, habe ich +gesagt, Mr. Beales, ich schicke Ihnen den Mann ’runter. Na, was sagen +Sie nun, Gale, Junge, hä? Das habe ich doch fein gemacht. Da gehen Sie +noch morgen früh ’runter zum Store. Der Storekeeper kennt den Weg zum +Camp und kann Ihnen Bescheid sagen. Um fünf Uhr nachmittags sind Sie +schon im Camp und können sich gleich zum Essen hinsetzen.“ + +Das mit dem Essen war allerdings verführerisch. + +„Wenn Sie dann nicht mit der Arbeit zurechtkommen, ist der Verlust auch +nicht allzu groß. Einen Tag kriegen Sie auf alle Fälle ausbezahlt, und +außerdem haben Sie einen Tag wieder mal menschenwürdig gegessen“, setzte +Mr. Shine hinzu. + +Zu überlegen gab es da eigentlich nichts. Hier war noch für drei oder +vier Tage Arbeit, harte und schlechtbezahlte Arbeit. Im Ölfeld mußte man +zwar auch zwölf Stunden arbeiten, weil nur zwei Schichten waren, aber +man arbeitete wenigstens unter dem Derrick, wo die Sonne nicht ganz so +unmittelbar auf einen losbrennen konnte. Dazu hatte man sterilisiertes +Eiswasser, soviel man nur trinken wollte. Vor allen Dingen aber hatte +man, wie schon Mr. Shine richtig gesagt hatte, ein menschenwürdiges +Essen, mit Teller, Messer, Gabel, Eßlöffel, Teelöffel, Tasse und Glas an +einem Tisch, der zwar von einem Zimmermann ziemlich roh gemacht war, +aber es war doch ein Tisch und eine richtige Bank. Man brauchte nicht +aus der Pfanne von der Erde zu essen und sich beim Essen von einer +wackligen Kiste, auf der man saß, herunterzubücken. Man brauchte nicht +mit demselben Löffel, den man aus den fettigen Bratkartoffeln zog, den +Kaffee umzurühren. Das Brot, das man aß, war weder zu Kohle verbrannt, +noch war es klebrig wie Kleister. Die schwarzen Bohnen, immer hart wie +Kieselsteine, hörten auf, ein wichtiger Bestandteil der Mahlzeiten zu +sein. Man schlief nicht ohne jede Unterlage auf einer Tafel Wellblech, +sondern man schlief in gut ventilierten Baracken, in sauberen +Feldbetten, auf weicher Matratze und gut geborgen unter einem +schleierdünnen Moskitonetz. Man hatte jeden Tag ein Brausebad und hatte +ein W.-C. Daß es solche Dinge auf Erden gibt, hatte ich ganz vergessen. +Romantik ist schön, sehr schön! – von ferne gesehen. Wenigstens in der +Entfernung, gerechnet von einem bequemen Sitz im Kino bis zur +Silberwand. Auf dieser Silberwand sind die Helden des Busches und des +Urwaldes der Traum der Mädchen, und sie erregen Ehescheidungsgedanken +bei Frauen; in Wahrheit bohren sie sich beim Essen in der Nase herum und +schmieren dies und das an ihren Sitz oder an die nächste erreichbare +Tischplatte. Und das kann man gerade noch erzählen. Würde man einiges +mehr erzählen, noch nicht einmal alles und noch nicht einmal das +Schlimmste, so würde sich der bunte Schmetterling in die widerwärtigste +Raupe rückverwandeln. Aber trotz alledem, Romantik ist auch im Ölfeld, +das auf den ersten Blick so trostlos prosaisch und so nüchtern aussieht +wie eine Kohlenzeche in Herne. Man muß die Romantik nur zu sehen und nur +zu finden wissen. + +Bei meinem Abschied von den bisherigen Arbeitskollegen war mir nichts so +wichtig, als meine Eierrechnung bei Abraham auf den Cent genau zu +begleichen. Er wäre mir sonst in meinen Träumen erschienen und +nachgelaufen bis nach Paraguay, wenn ich ihm nur zehn Centavos schuldig +geblieben wäre. – + +Als ich zum Öl-Camp kam und mit dem Manager sprach, machte er nicht im +geringsten ein erstauntes Gesicht, seinen neuen Driller so in Lumpen und +Fetzen zu sehen, wie kein Mensch in Europa, selbst nicht in Odessa +herumlaufen könnte. Daran ist man hier gewöhnt. + +Die weißen Arbeiter, ebenfalls alle Gringos, waren froh, daß Dick, der +Driller, einen Ersatzmann hatte und das Camp also nicht zu verlassen +brauchte; denn er war ein beliebter und lustiger Bursche, der im Camp +war, seit der erste Pfeiler für das Derrick gestellt wurde. Sie fixten +mich auf, der eine brachte mir ein Hemd, der andre eine Hose, jener +Strümpfe, ein andrer Arbeitshandschuhe. Ja Handschuhe, denn ein +amerikanischer Arbeiter macht sich beim Arbeiten die Hände nicht +schmutziger, als unbedingt notwendig ist. Keiner von ihnen hatte +irgendein Handwerk gelernt, wie das in Europa üblich ist, aber jeder +konnte ein Auto fahren, Pannen beseitigen, Dampfmaschinen reparieren +oder Werkzeuge schmieden. Vielleicht nicht ganz so sauber und geschickt +wie ein englischer, deutscher oder französischer Arbeiter, aber was er +machte, war brauchbar, und darauf kam es ihm und denen, die ihn dafür +bezahlten, ja nur an. + +Als ich meine Schicht beendigt hatte, sagte Mr. Beales zu mir: „Sie +können bleiben, Junge, vollen Drillerlohn.“ – + +Dick war schneller hergestellt, als wir alle gedacht hatten, und so +mußte ich wieder gehen. Beim Abschied gab mir Dick zwanzig Dollar extra +aus seiner Tasche, für Reisegeld und daß ich mir einen guten Tag machen +sollte, wie er sagte. + +Als ich dann beim Manager meinen Lohn ausbezahlt bekam, sagte er: „Hören +Sie mal, Gale, können Sie nicht hier irgendwo eine Woche oder so +herumhängen?“ + +„Ja,“ erwiderte ich, „das kann ich leicht. Ich gehe ’rauf zu Mr. Shine, +da kann ich gut für eine Weile hausen. Warum?“ + +„Auf einem unsrer Nachbarfelder da ist ein Bursche, der möchte auf +vierzehn Tage in Urlaub gehen, ’rauf in die States. Da können Sie für +die zwei Wochen als Ersatzmann eintreten. Anfang nächsten Monats.“ + +„Mache ich“, sagte ich. „Sie können ja im Store eine Mitteilung für mich +an Mr. Shine hinterlegen, wenn es soweit ist.“ + +„Gut, abgemacht!“ sagte Mr. Beales. + + + 11 + +Ich wanderte also am nächsten Morgen wieder ’rauf zu Mr. Shine und +fragte ihn, ob ich in dem Unterstande, in dem ich seinerzeit gehaust +hätte, ein paar Tage wohnen dürfe. + +„Natürlich, Mr. Gale,“ sagte der Farmer, „solange Sie wollen.“ Ich +erklärte ihm, warum, und fragte ihn dann nach den Leuten, mit denen ich +da gewohnt hatte. + +„Ach,“ antwortete er, „der lange Nigger ist gleich den Tag nach Ihnen +gegangen, ich glaube ’rauf nach Florida. Das geht mich nichts an. Der +kleine Nigger, Abraham heißt er, scheint ein ganz geriebener Schlingel +zu sein.“ + +„Wieso?“ fragte ich. + +„Er hat mir da Hühner verkauft, gute Leghühner, wie er mir versicherte. +Er hatte sie bei Indianern für einen Peso das Stück gekauft, wie ich +inzwischen erfahren habe. Mir hat er anderthalb Pesos dafür abverlangt. +Ich habe sie ihm auch bezahlt dafür, denn die Hühner waren gut genährt. +Aber mit den guten Leghühnern hat er mich ’reingelegt, der schwarze +Teufel. Mit dem Legen ist nicht viel los bei ihnen. Aber na, das Fleisch +ist es ja wert.“ + +„Und was ist mit dem Chinc und den beiden Mexikanern?“ + +„Die sind am Montag sehr früh hier vorbeigekommen. Ich habe sie vom +Fenster aus gehen sehen. Soviel ich weiß, sind sie nach Pozos gegangen. +Diese Station ist nicht ganz so weit wie die, von der Ihr gekommen seid. +Der Weg ist auch besser, weil wir jetzt diese Station selbst benutzen, +während wir in frühern Jahren immer zu der andern gingen. Aber Pozos +liegt bequemer für uns, früher hatten wir nur keinen Weg. Seitdem aber +die Ölleute gekommen sind, haben die einen Weg geschaffen. Ich empfehle +Ihnen, wenn Sie wieder zurückgehen, auch diesen Weg, da können Sie ab +und zu schon einmal ein Auto antreffen, wo Sie jumpen können. Nebenbei +bemerkt, warum wollen Sie denn in dem Unterstand hausen, Sie können doch +in dem Hause wohnen.“ + +Ich lachte. „Nein, Mr. Shine, das Haus kenne ich zur Genüge. Ich betrete +es nicht mit einer Zehenspitze. Das ist die reine Moskito-Hölle.“ + +„Na, wie Sie wollen. Ich habe mit meiner Familie fünfzehn Jahre drin +gewohnt. Wir sind von den Moskitos nicht merklich geplagt worden. Aber +Sie können schon recht haben. Wenn so ein Haus lange nicht bewohnt wird, +nicht genügend Luft ’reinkommt, sammelt sich schon allerlei von diesem +Zeug an. Ich bin übrigens seit einem Vierteljahr nicht oben gewesen, +weiß gar nicht, wie es da herum augenblicklich aussieht. Und +wahrscheinlich komme ich im ganzen nächsten Vierteljahr auch nicht +’rauf. Ich habe ja da oben nichts verloren. Ab und zu lasse ich mal die +Pferde und die Mulas ’rauftreiben, weil sie da herum genügend Gras +finden und ein Tränkepfuhl oben ist. Aber, wie gesagt, es ist mir +gleichgültig, wo Sie Ihre Wohnung aufmachen. Mich stören Sie nicht, und +Sonntags können Sie schon mal ’runterkommen und eine Tasse Kaffee mit +uns trinken und ein Stück Kuchen essen.“ + +Ich richtete mich oben in meinem Unterstande wieder ein. Mein Feuer +machte ich mir jetzt gleich vor dem Unterstand, weil dort in der Nähe +des Hauses, wo sonst unser gemeinschaftliches Feuer gewesen war, ja doch +keine Unterhaltung gepflogen werden konnte, denn es war ja niemand da. + +Ich lebte nun in schönster Einsamkeit. Als einzige Gefährten hatte ich +nur Eidechsen, von denen zwei sich in drei Tagen so an mich gewöhnt +hatten, daß sie all ihre angeborene Scheuheit vergaßen und mir an und +auf meinen Füßen die Fliegen wegfingen, die dort nach Krümelchen von +meinen Mahlzeiten suchten. + +Tagsüber kroch ich in dem nahen Busch herum oder beobachtete die Tiere +bei ihren Handlungen oder las in den Zeitschriften, die ich vom Camp +mitgebracht hatte. + +In Wasser konnte ich schwelgen, so reichlich hatte ich es, weil es +inzwischen einige Male gut geregnet hatte und die Zisterne beim Hause zu +einem Drittel gefüllt war. Wir hatten ja derzeit die Auffänge in Ordnung +gebracht. + +Ich konnte mich waschen und mir sogar den Luxus leisten, mich zweimal +des Tages zu waschen. Kaffee kochte ich in Riesenmengen, teils um mir +die Zeit zu vertreiben, teils um so viel Vorrat in mich hineinzutrinken, +daß ich gut wieder einmal einen Tramp von einigen Tagen durch +wasserlosen Busch aushalten konnte. Da ich im Store tüchtig hatte +einkaufen können, denn Geld hatte ich jetzt reichlich, so lebte ich +wirklich einen guten Tag. Sorgenfrei, weder durstig noch hungrig, ein +freier Mann im freien tropischen Busch, Siesta haltend nach Belieben, +und herumstreifend, wo und wann und solange ich wollte. Es ging mir gut. +Und dieses Gefühl lebte ich auch voll bewußt. + +Die Zisterne, aus der ich mein Wasser holte, war dicht an dem alten +Hause. Und zu diesem Hause hatte ich jedesmal etwa zweihundertfünfzig +Schritte von meinem Unterstand aus zu gehen. + +Das Wasser holte und schöpfte ich mit einer von jenen Konservenbüchsen, +die zwanzig Liter Inhalt haben. Mit Konserven in kleinen Büchsen gibt +man sich hier nicht viel ab, höchstens wenn es sich um schnell +verderbliche Ware handelt. + +Das Haus, das man überall, nur nicht in Zentralamerika, eine ganz elende +Bretterbude nennen würde, kaum gut genug, um auf einem Bauplatz als +Lagerschuppen zu dienen, stand auf Pfählen. Die meisten Häuser hier, +besonders außerhalb der größeren Städte, werden auf Pfählen errichtet. +Stünden sie auf flacher Erde, wären sie vielleicht gar noch +unterkellert, so würden sie in der Regenzeit jeden Tag überflutet. Das +ist aber nicht der einzige Grund. Bei einem auf Pfählen ruhenden Haus +kann der Wind von allen Seiten unter dem Fußboden hin und her fegen und +so das Innere des Hauses kühl halten. Außerdem bekommt ein Haus, das in +dieser Art gebaut ist, nicht soviel unerwünschte Gäste, wie Schlangen, +Eidechsen, Skorpione, Spinnen, Grashopper, Grillen, Milliarden von +Ameisen und tausende andre unangenehme Überläufer aus dem nahen Busch. +Alle diese mehr oder weniger erfreulichen Bewohner des tropischen +Busches klettern natürlich auch an den Pfählen hoch, können aber doch +nicht in solchen Mengen und so leicht ins Haus gelangen, wie wenn das +Haus auf ebener Erde errichtet wäre. + +Alle die Gründe, die den Menschen hier veranlassen, sein Haus in dieser +Form zu erbauen, sind die gleichen geblieben, die unsre Urvorväter +zwangen, sich eine Behausung in den Wipfeln der Bäume zu bauen. + +Ein Holzhaus, so errichtet, erzittert und schwankt oft beim Sturm so, +daß man glauben könnte, es sei in der Tat auf einem Baume errichtet. Die +Indianer freilich haben ihre Hütten zu ebener Erde. So zu ebener Erde +war ja auch mein Unterstand, wo das Busch-Getier aus und ein ging, als +wäre es sein gutes Recht. + +An jeder Seite des Hauses war eine Tür, um Licht und Wind +hineinzulassen. Beim Verlassen des Hauses hatten meine damaligen +Arbeitskollegen die Türen geschlossen, wie üblich mit einem drehbaren +Stückchen Holz. Damals war immer Leben im Hause und vor dem Hause, +Streit um das Feuer, Zank wegen einer Prise Salz, die jemand genommen +hatte, ohne den Besitzer zu fragen, lange und fruchtlose Diskussionen +darüber, wer das Holz heute zu holen habe. An diese lebhaften Bilder +zurückdenkend, erschien jetzt das Haus geisterhaft einsam und still. +Jedesmal, wenn ich Wasser holte, quälte es mich, doch mal einen Blick +hineinzuwerfen, ob jemand etwas zurückgelassen habe. Aber dann wieder +gefiel mir diese gespensterhafte Stille, die über dem Hause lagerte. Sie +fügte sich zu der Einsamkeit der Umgebung nicht weniger als zu der +Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der ich augenblicklich lebte. So +unterdrückte ich jedesmal, wenn ich an das Haus kam, den Wunsch, eine +Tür aufzumachen und hineinzulugen. Ich wußte genau, die Hütte war leer, +vollkommen leer, niemand hatte etwas, sei es auch nur der Fetzen eines +alten Hemdes, zurückgelassen, denn bei uns hatte alles seinen Wert. Die +Ungewißheit, die mysteriöse Stimmung, die um das Haus lagerte, wollte +ich mir nicht zerstören. So, wie es wirkte, mochte ich träumen, daß +vielleicht der Geist eines der alten aztekischen Priester, der wegen der +Dutzende von Menschen, die er auf dem Altar seines Gottes geschlachtet +und ihnen das Herz aus dem lebendigen Leibe gerissen hatte, um es seinem +unersättlichen Gotte vor die goldenen Füße zu werfen, nun keine Ruhe +finden konnte und deshalb aus dem Busch in das gefeite Haus eines +Christen geflüchtet sei, um wenigstens ein paar Wochen von seinem +rastlosen Herumirren auszuruhen. + + + 12 + +Eines Tages, als ich wieder Wasser holte, sah ich eine schwarzblaue +Spinne mit glänzend grünem Kopf, die an der Wand des Hauses nach Beute +jagte. Sie lief blitzschnell ein paar Zoll weit, saß still, lauerte eine +Weile und lief dann wieder ein ganz kurzes Streckchen, um wieder zu +lauern. So überholte sie einen Meter eines Brettes im Zickzackkurs, kein +Fleckchen auslassend, dabei oft, nicht immer, einen ganz feinen Faden +zurücklassend, um Insekten, die an dem Brette hinaufklettern würden, +nicht gerade festzuhalten und zu verstricken, sondern deren Lauf nur zu +verlangsamen, damit die Spinne, wenn sie inzwischen das Nachbarbrett +abgesucht hatte und hier wieder zurückkam, ihre Beute mit einem +mächtigen Satz anspringen konnte. Diese Spinne nimmt ihre Beute nur im +Sprunge, wobei sie das Insekt von hinten anspringt und sofort im Nacken +packt, so daß dieses Insekt von seinen Waffen, seien es nun ein Stachel +oder Zangen oder Scheren, gar keinen Gebrauch machen kann. + +Diese Spinne nun, die zu beobachten ich Tage und Wochen in den häufigen +Perioden von Arbeitslosigkeit verwandt hatte, war es, die sofort wieder +meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich wollte ihr Gesichtsfeld prüfen und +lernen, wie sie sich verhält, wenn sie selbst angegriffen und verfolgt +wird. Ich stellte meine Konservenbüchse mit Wasser auf den Boden und +vergaß, daß ich mir doch meinen Reis kochen wollte. + +Ich bewegte meine Hand in ziemlicher Entfernung über der Spinne hin und +her, und sofort reagierte sie darauf. Sie wurde unruhig, ihre +Zickzackläufe wurden unregelmäßig, und sie suchte diesem großen Etwas, +das ein Vogel sein mochte, zu entwischen. Aber die glatte Wand bot +keinen Schlupfwinkel. Sie wartete eine Weile, duckte sich ganz langsam +und behutsam und machte plötzlich, ganz unerwartet, einen Sprung in +halber Armeslänge auf eines der benachbarten Bretter, natürlich an +senkrechter Wand. Und so sicher war der Sprung, als wäre er auf ebener +Erde vollführt. Dieses Brett nun hatte eine Leiste, die gespalten war +und sich auch ein wenig verzogen hatte, so daß sie einen Unterschlupf +bieten konnte. + +Jedoch ich ließ der Spinne keine Zeit, sich den besten Platz +auszusuchen. Ich nahm einen dünnen Zweig auf, der gerade zu meinen Füßen +lag, und berührte damit die Spinne leicht, sie so zwingend, einen andern +Weg zu wählen. Sie lief nun in rasender Schnelligkeit davon, aber wohin +sie auch fliehen mochte, immer fand sie den angreifenden Zweig, entweder +ihren Kopf berührend oder ihren Rücken. So lief sie kreuz und quer, +immer verfolgt von dem Zweig, der ihr keine Gelegenheit ließ, zu einem +Sprunge anzusetzen. Plötzlich aber, als ich sie gerade im Rücken +berührte, machte sie blitzschnell kehrt, und in rasender Wut und mit +unvergleichlicher Tapferkeit griff sie den sie belästigenden Zweig an, +der gegenüber ihren bescheidenen Ausmaßen, etwa vier Zentimeter, für sie +gigantische Formen und übernatürliche Kräfte haben mußte. Und immer, +wenn ich den Zweig zurückzog, so daß sie glauben mußte, sie habe den +Feind abgeschlagen oder wenigstens eingeschüchtert, lief sie auf die +schützende Leiste zu. Schließlich besiegte sie mich doch und fand dort +Unterschlupf, aber nicht genügend, um sich ganz zu verbergen, denn sie +konnte sich nur zur Hälfte darin verkriechen. + +Nun schlug ich mit der flachen Hand an die Wand. Die Spinne kam sofort +wieder hervor, lief eilends weiter nach oben, wo sie eine günstigere +Höhle fand, in der sie sofort verschwand, ohne daß man noch viel von ihr +sehen konnte. + +Um sie nun auch dort wieder hinauszujagen und zu sehen, was sie zu guter +Letzt tun würde, schlug ich mit voller Gewalt mit der flachen Hand so +fest gegen die Wand, daß das ganze Haus erzitterte. + +Die Spinne kam nicht hervor. Ich wartete einige Sekunden. Und als ich +gerade zum zweiten Male kräftig gegen die Wand schlagen will, fällt +innerhalb des Hauses etwas um. + +Was konnte das sein? Ich kannte das Innere des Hauses. Es war nichts, +absolut gar nichts darin, was mit so einem merkwürdigen Geräusch +umfallen konnte. Eine Stange, ein Stück Holz, das einzige, was es +vielleicht hätte sein können, war es nicht, nach dem Geräusch zu +urteilen. Es war schon eher wie ein mit Mais gefüllter Sack. Aber wenn +ich mir das Geräusch vergegenwärtigte, so war etwas sonderbar Hartes +dabei. Es konnte also kein Sack mit Mais sein. + +Es wäre nun doch so einfach gewesen, sofort die paar Sprossen der Leiter +hinaufzuklettern, die Tür aufzustoßen und hineinzusehen. Aber irgendein +unerklärbares Empfinden hielt mich davon ab. Es war wie Furcht, als +könnte ich drinnen etwas unsagbar Grauenhaftes sehen. + +Ich nahm das Wasser auf und ging zu meinem Unterstand. Ich redete mir +ein, daß es nicht Furcht vor dem Anblick von etwas ganz Gräßlichem sei, +was mich veranlaßte, das Haus nicht zu betreten, sondern ich sagte mir: +Du hast ja in dem Hause durchaus nichts zu suchen, du hast überhaupt gar +kein Recht, es zu betreten, und vor allen Dingen, es geht dich ja gar +nichts an, was da drin ist. So entschuldigte ich mein Gebaren. + +Als ich dann aber beim Feuer saß und darüber immer wieder nachdachte, +was für ein Gegenstand das Geräusch verursacht haben könnte, kam mir +plötzlich ein seltsamer Gedanke: In dem Hause hat sich jemand erhängt, +und zwar schon vor einiger Zeit; die Schnur ist morsch geworden oder der +Hals durchgefault, und nun beim Schlagen an die Wand ist der Körper +erschüttert worden, die Schnur gerissen und der Leichnam umgefallen. So +ähnlich war auch das Geräusch, als ob ein menschlicher Körper umfiele +und der Kopf auf den Boden schlüge. + +Aber diese Idee war ja lächerlich. Sie schien zu zeigen, wohin die +Phantasie einen führt, wenn man sich nicht von der Tatsache überzeugt. +So verwandelt sich ein Baumstamm in der Dunkelheit in einen Räuber, der +auf der Lauer steht. In den Tropen erhängt sich so leicht niemand, ich +wenigstens habe nie davon gehört. Hier sind die Tage nicht trübe genug +dazu. Und wenn es wirklich einer täte, so würde er in den Busch gehen, +wo man drei Tage später bestenfalls nur noch an der Schnalle seines +Gürtels erkennen würde, daß es sich um einen Mann handelt. + +Sooft ich auch noch Wasser holte, ich ging nicht in das Haus und vermied +es sogar, irgendeine Spalte zu suchen und durchzulugen. Das Unbestimmte, +das Geheimnisvolle sagte mir mehr zu als eine vielleicht sehr prosaische +Gewißheit. + +Jedoch abends, wenn ich am Feuer saß oder wenn ich nachts wach lag, +beschäftigten sich meine Gedanken mit nichts anderm als mit der Frage, +was in dem Hause wohl sein könne. + +Am Freitag ging ich zu Mr. Shine und fragte ihn, ob er irgendwelchen +Bescheid vom Manager habe. Aber Mr. Shine war die ganze Woche nicht im +Store unten gewesen und würde auch die nächste Woche nicht hinunter +kommen. Weil nun Montag der letzte Termin war, der für den +Urlaubsantritt jenes Drillers, für den ich Ersatzmann sein sollte, in +Betracht kam, so beschloß ich, Samstag früh, reisefertig mit meinem +Bündel, selbst zum Store zu gehen und nachzufragen. War Bescheid da, +dann konnte ich Sonntag mittag, also rechtzeitig genug, im Camp sein. +War kein Bescheid da, so wußte ich, daß der Driller entweder nicht in +Urlaub ging oder daß er die Sache anders zu regeln gedachte. In diesem +Falle würde ich gleich zur Station gehen und meinen Plan, nach Guatemala +zu wandern, ohne weiteres durchführen. + +Samstag früh holte ich mir Wasser für den Kaffee. Als ich mit dem Wasser +an dem Hause schon ein Stück vorüber war, dachte ich, nun will ich aber +doch noch zu guter Letzt nachsehen, was da drin los ist, denn wenn ich +das nicht tu, so kann es sein, daß mich der Gedanke an das Haus die +nächsten fünf bis sechs Monate nicht los läßt. Es konnte ja die bekannte +Gelegenheit sein, die, einmal verpaßt, nie im Leben wiederkehrt. + +Ich kletterte die paar Sprossen der Leiter hinauf, stieß die Tür, die +hier nur eingeklemmt war, auf und ging in den Raum, den einzigen Raum, +den das Haus hatte. + +An der Wand zur Rechten sah ich etwas liegen, ein großes Bündel. Ich +konnte aber nicht sofort erkennen, was es sein mochte, denn die Sonne +war noch vor dem Aufgehen. + +Ich trat näher hinzu: Es war ein Mann. Tot! + +Es war Gonzalo. + +Gonzalo war getötet worden. + +Ermordet! + +Sein zerfetztes Hemd war schwarz von Blut. Ein Ball Baumwolle, den er +zerknüllt in der rechten Hand hielt, war gleichfalls vollgesogen von +Blut. + +Er hatte einen Stich in der Lunge und noch einige Stiche auf der Brust, +an der rechten Schulter und am linken Oberarm. + +Der Körper war nicht verwest, sondern vertrocknet. + +Er hatte auf dem Boden gesessen, gegen die Wand gelehnt, und als ich +gegen die Wand geschlagen hatte, war der Körper auf die Seite gefallen, +und der Kopf war auf den Erdboden geschlagen. + +Ich suchte seine Taschen durch. Er hatte fünf Pesos und 85 Centavos +darin. Er hätte haben müssen: wenigstens fünfundzwanzig bis dreißig +Pesos. + +Also des Geldes wegen. + +Dann hatte er noch ein kleines Leinensäckchen mit Tabak neben sich +liegen, auch einige geschnittene Maisblätter lagen verstreut herum. + +Während er sich eine Zigarette drehen wollte, war er überfallen worden, +an derselben Stelle, wo er sich jetzt befand. + +Der Chinc und Antonio waren die letzten, die das Haus verlassen hatten. +Der Chinc war nicht der Mörder. Wegen zwanzig Pesos jemand auch nur zu +berühren, dazu war er viel zu klug. Diese zwanzig Pesos waren zu teuer +für ihn. + +Also Antonio. + +Das hätte ich von ihm nie gedacht. + +Ich steckte Gonzalo das Geld wieder in die Tasche, ließ ihn jedoch +liegen wie er lag. + +Dann klemmte ich die Tür wieder ein, wie ich sie gefunden hatte, und +verließ das Haus. + +Kaffee kochte ich nun nicht mehr, sondern ich machte mich sofort auf den +Weg. + +Ich ging zu Mr. Shine und sagte ihm, daß ich nun selber zum Camp gehen +wolle und, falls nichts los sei, gleich weiter marschieren werde. + +„Haben Sie sich da oben in Ihrem luftigen Wohnhause nicht einsam +gefühlt, Mr. Gale?“ fragte er. + +„Nein,“ sagte ich, „ich habe immer so viel zu sehen und so viel zu +beobachten, daß der Tag herum ist, ehe ich es merke.“ + +„Ich dachte, Sie würden vielleicht doch in das Haus übersiedeln, weil es +eben ein Haus ist.“ + +„Daran war nicht zu denken. Ich sagte Ihnen ja schon, als ich zurückkam, +daß es darin vor Moskitos nicht auszuhalten sei.“ + +„Um die Jahreswende wollen meine beiden Neffen auf Besuch kommen und +hier ein wenig herumstreifen und jagen. Die stecke ich dann da hinein, +da können sie hausen nach Belieben. Die werden die Moskitos schon +ausräuchern. Na, dann also ‚Viel Glück!‘ Mr. Gale, für Ihre Zukunft.“ + +Wir schüttelten uns die Hände, und ich ging. + +Warum hätte ich denn etwas sagen sollen? Daß ich der Mörder sein könnte, +diesen Gedanken würde niemand haben; denn ich war ja vor allen den +übrigen Leuten fortgegangen und hatte die ganze Zeit im Camp gearbeitet. + +Und hätte ich etwas von meinem Fund gesagt, so hätte das eine Unmenge +Fragen verursacht, Hin- und Herlaufen und wer weiß was noch. Dabei wäre +ich gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Camp gekommen. + + + 13 + +Nachdem der Driller von seinem Urlaub zurückgekehrt war, wurde ich +ausbezahlt und fuhr mit einem Lastwagen, der Öl zu holen hatte, zur +Station, von der ich nach Dolores Hidalgo reiste. Von dort aus fuhr ich +ohne viel Aufenthalt glatt durch bis zur nächsten größeren Stadt, so daß +ich schon in wenigen Tagen in Guatemala sein konnte, vorausgesetzt, daß +ich meinen Plan nicht wieder einmal änderte. + +In der Stadt wollte ich erst einmal herumhören, was im Süden los sei, +was hinter den Gerüchten von den neuen Ölfeldern und den +Arbeitsmöglichkeiten überhaupt zu suchen sei, und ob ich nicht besser +vielleicht einen windigen Segelkasten ergattern und auf Argentinien los +gehen sollte. Aber von dort kamen mir auch wieder zu viele herauf, die +wahre Schauergeschichten von der furchtbaren Epidemie Arbeitslosigkeit +berichteten. Achtzigtausend lagen in Buenos Aires auf der Straße und +suchten eine Gelegenheit, fortzukommen. Aber schlimmer als in Mexiko +konnte es ja dort auf keinen Fall sein. + +Ich setzte mich auf eine Bank im Park. Ich ließ mir die Stiefel putzen, +trank ein Glas Eiswasser, und als ich mich von diesen Beschäftigungen +gerade so recht ungestört, zufrieden mit mir und der Welt, ausruhen +will, sehe ich, daß auf der Bank, der meinen gegenüber, ein Bekannter +sitzt. + +Es ist Antonio. + +Ich gehe ’rüber zu ihm und sage: „Hallo, Antonio, guten Tag, was machen +Sie denn hier?“ + +Wir gaben uns die Hand. Er war sehr erfreut, mich zu sehen. Ich setzte +mich neben ihn und sagte ihm, daß ich auf der Suche nach Arbeit sei. + +„Das ist gut“, sagte er. „Ich arbeite seit zwei Wochen in einer +Bäckerei, Brot- und Kuchenbäckerei. Da können Sie gleich heute anfangen +als Bäcker. Wir suchen gerade einen Gehilfen. Sie haben doch schon als +Bäcker gearbeitet, nicht wahr?“ + +„Nein,“ erwiderte ich, „ich habe zwar schon in hundert verschiedenen +Berufen gearbeitet, sogar schon als Kameltreiber – und das ist eine +gottverfluchte Beschäftigung –, aber bis zu einem Bäcker habe ich es +noch nicht gebracht.“ + +„Das ist ausgezeichnet, dann können Sie anfangen,“ sagte Antonio darauf. +„Wenn Sie nämlich Bäcker wirklich wären oder etwas vom Backen +verstünden, dann wäre nichts zu machen. Der Inhaber ist ein Franzose, er +hat keine Ahnung vom Backen; wenn Sie ihm erzählen, in ein Brot gehöre +Pfeffer hinein, das glaubt er Ihnen. Der wird Sie natürlich fragen, ob +Sie Bäcker seien. Da müssen Sie ganz dreist sagen, das sei Ihr Beruf, +seitdem Sie nicht mehr in die Schule gingen. Der Meister ist ein Däne, +ein entlaufener Schiffskoch. Er versteht auch nichts vom Backen. Seine +größte Sorge ist nun, daß ein richtiger Bäcker dort anfangen könnte, +einer, der das Backen wirklich versteht. Dann wäre es natürlich mit der +Meisterherrlichkeit des Dänen gleich aus, denn ein richtiger Bäcker +würde doch nach zehn Minuten sehen, was los ist. Wenn Sie nun der +Meister fragt, müssen Sie gerade das Gegenteil sagen von dem, was Sie zu +dem Inhaber sagen. Zum Meister müssen Sie sagen, es sei das erstemal in +Ihrem Leben, daß Sie in einer Backstube stehen. Dann nimmt er Sie sofort +an, und Sie sind sein Freund.“ + +„Das kann ich ja gut machen. Als Bäcker wollte ich schon immer mal +arbeiten,“ sagte ich, „man kann dann, wenn man mal in der Verlegenheit +ist, die Bäcker alle so schön mitnehmen und stoßen. Dann hört die Sorge +um das tägliche Brot auf, und man hält es leichter aus. Also, wird +gemacht. Was ist denn der Lohn?“ + +„Ein Peso und fünfundzwanzig Centavos.“ + +„Nackt?“ + +„Ach wo, mit Essen und Schlafen. Seife haben wir auch frei. Sie kommen +weiter damit als beim Baumwollpflücken, das kann ich Ihnen ganz gewiß +sagen.“ + +„Wie ist denn das Essen? Gut?“ + +„Ach, es ist nicht gerade schlecht, es ist –“ + +„Weiß schon Bescheid.“ + +„Aber man wird immer satt.“ + +„Kenne die Magenkneter zur Genüge.“ + +Antonio lachte und nickte. Er drehte sich eine Zigarette, bot mir Tabak +und Maisblatt an und sagte nach einer Weile: „Unter uns gesagt, das mit +dem Essen ist auszuhalten. Hier wird in den Bäckereien und Konditoreien +mit Eiern und Zucker gewirtschaftet, daß es eine wahre Freude ist. Na +und sehen Sie, da kommt es auf so ein Dutzend Eier auf den Mann nicht +an. Da sind rasch drei Eier in die Tasse geschlagen, mit Zucker +verrührt, und da hilft man der Kost nach. Das macht man in der Nacht und +am Vormittag so vier- oder fünfmal, dann können Sie schon gut +zurechtkommen.“ + +„Wie lange arbeitet ihr denn?“ + +„Das ist verschieden, manchmal fangen wir schon um zehn Uhr abends an +und arbeiten dann durch bis eins, zwei oder drei Uhr nachmittags. +Manchmal wird es auch fünf.“ + +„Das wären dann also fünfzehn bis neunzehn Stunden täglich?“ + +„So ungefähr. Aber nicht immer, manchmal, besonders Dienstags und +Donnerstags, fangen wir auch erst um zwölf an.“ + +„Verlockend ist es ja nun gerade nicht“, sagte ich. + +„Aber man kann ja so lange dort arbeiten, bis man etwas Besseres +findet.“ + +„Natürlich! Wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, würde man ja +auch Zeit finden, sich nach andrer Arbeit umsehen zu können. Aber so! +Immerhin, ich werde anfangen.“ + +Der Gedanke, daß ich von nun an mit einem Raubmörder Tag und Nacht +zusammenarbeiten, mit ihm aus derselben Schüssel essen, mit ihm +vielleicht gar im selben Bett schlafen sollte, der Gedanke kam mir gar +nicht. Entweder war ich moralisch schon so tief gesunken, daß ich für +solche Feinheiten der Zivilisation das Empfinden verloren hatte, oder +aber ich war so weit über meine Zeit hinausgewachsen und über die +herrschende Sitte erhaben, daß ich jede menschliche Handlung verstand, +daß ich mir weder das Recht anmaßte, jemand zu verurteilen, noch mir die +billige Sentimentalität einflößte, jemand zu bemitleiden. Denn Mitleid +ist auch eine Verurteilung, wenn auch eine uneingestandene, wenn auch +eine unbewußte. Und vielleicht ein Gefühl des Schauderns vor Antonio, +Abscheu, seine Hand zu schütteln? Es laufen so viele Raubmörder herum, +wirkliche und moralische, mit Brillanten an den Fingern und einer dicken +Perle in der Halsbinde oder goldenen Sternen auf den Achseln, denen +jeder Ehrenmann die Hand drückt und sich dabei noch geehrt fühlt. Jede +Klasse hat ihre Raubmörder. Die der meinen werden gehenkt; diejenigen, +die nicht meiner Klasse angehören, werden bei Mr. Präsident zum Ball +eingeladen und dürfen auf die Sittenlosigkeit und Roheit, die in meiner +Klasse herrscht, schimpfen. + +Zu solchen Gedanken verwildert man und sinkt man hinab in den Morast und +zwischen den Abschaum der Menschheit, wenn man um Brotrinden kämpfen +muß. + +Aber aus diesem Strudel törichter und verrückter Gedanken, die mir das +Blut zu Kopfe jagten, riß mich plötzlich Antonio mit der Frage: + +„Wissen Sie, Gale, wer noch hier in der Stadt ist?“ + +„Nein! Wie kann ich das auch wissen, ich bin ja gestern abend erst +angekommen.“ + +„Sam Woe, der Chinese.“ + +„Was tut denn der hier? Hat der hier auch Arbeit gefunden?“ + +„Aber nein! Er hat uns doch damals schon immer erzählt von seiner +Speisewirtschaft, die er aufmachen wollte.“ + +„Und hat er eine aufgemacht?“ + +„Natürlich! Das können Sie sich doch denken. Was sich so ein Chinc +einmal vornimmt, das tut er auch. Er hat das Geschäft mit einem +Landsmann in Kompanie.“ + +„Ja, lieber Antonio, wir haben halt nicht die geschäftliche Ader, die zu +solchen Dingen notwendig ist. Ich glaube sicher, wenn ich ein solches +Geschäft gründete, würden sofort alle Leute ohne Magen geboren, nur +damit ich ja nicht etwa auf einen grünen Zweig komme.“ + +„Das kann schon möglich sein“, lachte Antonio. „Geht mir gerade ebenso. +Ich habe schon einen Zigarettenstand gehabt, schon einen +Zuckerwarentisch, habe schon Eiswasser herumgeschleppt und wer weiß was +nicht sonst noch alles versucht. Mir hat selten jemand etwas abgekauft. +Ich habe immer elendiglich Pleite gemacht.“ + +„Ich glaube, die Ursache ist eben,“ erwiderte ich, „wir können die Leute +nicht genügend anschwindeln. Und schwindeln muß man können, wenn man +Geschäfte machen will. Aber gründlich.“ + +„Wir könnten eigentlich mal hingehen zu Sam. Der wird sich auch freuen, +Sie zu sehen. Ich esse ab und zu ganz gern mal draußen irgendwo. Zur +Abwechslung, sehen Sie. Jeden Tag denselben langweiligen Fraß, das wird +einem auch über.“ + + + 14 + +Wir machten uns also auf den Weg in das Gelbe Viertel, wo die Chinesen +alle wohnten, wo sie ihre Geschäfte und ihre Restaurants haben. Nur +wenige hatten ihre Läden in andern Stadtvierteln. Sie hocken am liebsten +immer zusammen. + +Sam war wirklich hoch erfreut, mich zu sehen. Er drückte mir immer +wieder die Hand, lachte und schwatzte drauflos, lud uns zum Niedersetzen +ein, und wir bestellten unser Essen. + +Die chinesischen Speisewirtschaften sind alle über einen Kamm geschoren. +Einfache viereckige Holztische, manchmal nur drei, an jedem Tisch drei +oder vier Stühle. Wegen der Menge der Speisen, die man erhält, können +bestenfalls drei sehr verträgliche Gäste gleichzeitig an einem Tisch +sitzen. Was in der Küche vor sich geht, kann man in den meisten Fällen +von seinem Tische aus mit ansehen. + +Die Art und die Menge der Speisen ist in allen chinesischen +Speisewirtschaften der Stadt die gleiche. So schließen die Chinesen +unter sich jede unreelle Konkurrenz aus. + +Sam hatte fünf Tische. Auf jedem Tische stand eine braunrote, tönerne, +weitbauchige Wasserflasche, von der Art und Form, wie sie schon bei den +Azteken im Gebrauch war. Dann eine Flasche mit Öl und eine mit Essig. +Ferner eine Büchse mit Salz, eine mit Pfeffer, eine große Schale mit +Zucker und ein Glas mit Chile. Chile ist eine dicke aufgekochte Suppe +von roten und grünen Pfefferschoten. Ein halber Teelöffel in die Suppe +getan, genügt, um einen normalen Europäer zu veranlassen, die Suppe als +total verpfeffert und durchaus ungenießbar zu erklären, weil sie ihm +Zunge und Gaumen verbrennen würde. + +Sam bediente die Gäste, während sein Geschäftsteilhaber mit Hilfe eines +indianischen Mädchens die Küche besorgte. + +Zuerst bekamen wir einen großen Klumpen Eis in einem Glase, das wir mit +Wasser füllten. Kein Wirt hier berechnet den Wert seines Geschäftes nach +dem Bierverbrauch, man erhält Bier nur auf ausdrückliches Verlangen; und +kein Wirt verdirbt einem den Genuß beim Essen durch sein ewiges +Lamentieren, daß er am Essen nichts verdienen könne. Dann bekamen wir +ein großes Brötchen, es folgte die Suppe. Es ist immer Nudelsuppe. +Antonio schüttete sich einen Eßlöffel voll Chile in die Suppe, ich zwei, +zwei gehäufte. Ich habe ja bereits erwähnt, daß ein halber Teelöffel die +Suppe für einen normalen Europäer ungenießbar macht. Aber man wird auch +bereits bemerkt haben, daß ich weder normal bin, noch daß ich mich zu +den Europäern zähle. Die Europäer haben mir das abgewöhnt, nicht die +Indianer in der Sierra de Madre. Während wir noch in der Suppe +herumfischten, kamen ein Beefsteak, geröstete Kartoffeln, ein Teller mit +Reis, ein Teller mit butterweichen Bohnen und eine Schüssel mit Gulasch. +Das gibt es hier nicht, daß man sich nach jedem Gang die Galle anärgern +muß, weil der Kellner sich eine halbe Stunde lang erst überlegt, ob er +einem nun den folgenden Gang eigentlich bringen soll oder nicht. Hier +werden alle Gänge gleichzeitig auf den Tisch gestellt. + +Nun ging das Tauschen vor sich. Antonio tauschte seine Bohnen ein gegen +Tomatensalat, den man sich selbst am Tische zubereitet, und ich tauschte +meinen Gulasch ein gegen ein Omelett. + +Antonio schüttete seinen Reis gleich in die Suppe; hätte er seine Bohnen +behalten, würde er sie auch noch dazugeschüttet haben. Aber Bohnen +schien es genug in der Bäckerei zu geben, dagegen wohl seltener +Tomatensalat. + +Ich schüttete mir eine Lage schwarzen Pfeffer auf das Beefsteak und eine +Lage auf die gerösteten Kartoffeln. Dann würzte ich den Reis mit zwei +Eßlöffel Chile und die Bohnen mit vier Eßlöffel Zucker. + +Darauf kam für jeden ein Stück Torte. Antonio bestellte Eistee mit +Zitrone, ich Café con leche, wofür man auch ebensogut sagen kann: Kaffee +mit Milch. Kaffee trinkt man mit einem Drittel des Tasseninhaltes Zucker +darin. Diese Sitte halte ich für sehr gut und für sehr vernünftig. + +Beim Bezahlen an der Kasse bekommt man dann noch einige Zahnstocher. +Deshalb sieht man auch nie, daß ein Mexikaner mit der Gabel in den +Zähnen herumfuhrwerkt, wie ich das in Lyons Cornerhouse am Trafalgar +Square und an andern Plätzen, leider auch in Mitteleuropa, häufig zu +beobachten Gelegenheit hatte. Daß man mit dem Messer recht gut essen +kann, ohne sich gleich die Lippen oder die Mundwinkel aufzuschlitzen, +wie so oft von ungeschickten und furchtsamen Leuten behauptet wird, weiß +ich aus eigner Erfahrung. Etwas unbequem sind die starken +Seemannsmesser, wie ich eines habe, weil die am Ende spitz sind und +nicht breit, deshalb kriegt man die Tunke nicht so gut aus der Pfanne, +und man muß mit dem Finger nachhelfen. Ob man hier den Fisch mit dem +Messer ißt oder mit dem Eßlöffelstiel, weiß ich nicht. Sooft ich +Mexikaner habe Fisch essen sehen, an den offenen Garküchen, auf den +Märkten und an andern Orten, aßen sie ihn immer mit dem Zeigefinger und +dem Daumen. Das heißt, sie aßen ihn natürlich, wie jeder erwachsene und +vernünftige Mensch es tut, mit dem Munde, aber ich meine, sie packen +ihre Beute mit den Fingern. Die Verkäufer haben auch meist gar kein +Messer, das sie dem Gast geben könnten, sondern eben auch nur die +natürlichen Werkzeuge, die sie nicht erst zu kaufen brauchen. + +In diesen Gedankengängen bewegte sich unser Tischgespräch, weil wir, der +besseren Verdauung wegen, während des Essens nichts Gedankenschweres in +unserm Hirn herumwälzen wollten, und weil man beim Essen nur vom Essen +sprechen soll. + +Ich führe dieses Gespräch hier auch nur an, um zu zeigen, daß wir keine +ungebildeten Leute oder, was viel schlimmer ist, etwa gar revolutionäre +Arbeiter waren. Denn das kann man so sehr leicht werden, wenn man sich +gehen läßt und nachgibt, besonders wenn man augenblicklich keine andre +Zukunftsmöglichkeit vor Augen sieht als eine fünfzehn- bis +siebzehnstündige Arbeitszeit für einen Peso fünfundzwanzig. + +Für diese Mahlzeit zahlten wir jeder fünfzig Centavos, alles +einbegriffen. Es war der übliche Preis in einer chinesischen +Speisewirtschaft. Antonio goß sich noch ein Glas Wasser ein, spülte sich +gründlich Mund und Zähne und spuckte das Wasser auf den Fußboden. +Saubern Mund und saubre Zähne zu haben, ist dem Mexikaner wichtiger als +ein trockner Fußboden. Die nimmermüde tropische Sonne trocknet ja den +Fußboden, ehe sich der nächste Gast an unsern Tisch setzt. + + + 15 + +Nun segelten wir zuerst einmal zu der Bäckerei. Ich ging in den Laden +und fragte den Verkäufer nach dem Prinzipal. + +„Sind Sie Bäcker?“ fragte der Inhaber. + +„Jawohl, Brot- und Kuchenbäcker“, sagte ich. + +„Wo haben Sie denn zuletzt gearbeitet?“ + +„In Monterrey.“ + +„Gut, dann können Sie heute abend anfangen. Freie Kost, Wohnung, Wäsche +und einen Peso fünfundzwanzig für den Tag.“ + +„Halt!“ sagte er plötzlich. „Sind Sie sicher auf Torten, auf Torten mit +Gußornamenten?“ + +„Ich habe in meiner letzten Stellung in Monterrey nur Torten mit +Gußornamenten gebacken.“ + +„Das ist fein! Da will ich aber doch erst mal mit meinem Meister +sprechen, was der dazu sagt. Ein sehr tüchtiger Meister, von dem können +Sie viel lernen.“ + +Er ging mit mir in die Kammer, wo der Meister sich gerade die Stiefel +anzog, um auszugehen. + +„Hier ist ein Bäcker aus Monterrey, der Arbeit sucht. Hören Sie mal, ob +Sie ihn brauchen können.“ + +Der Inhaber ging wieder in sein Zimmer und ließ uns beide allein. + +Der Meister, ein kleiner dicker Bursche mit Sommersprossen, zog sich +ruhig erst die Stiefel an, dann setzte er sich auf den Bettrand und +zündete sich eine Zigarre an. + +Nachdem er ein paar Züge getan hatte, betrachtete er mich mißtrauisch +von oben bis unten und sagte endlich: + +„Sie sind Bäcker?“ + +„Nein, ich habe keine blasse Ahnung vom Backen.“ + +„So!?“ sagte er darauf, immer noch mißtrauisch. „Verstehen Sie was von +Torten?“ + +„Gegessen habe ich schon welche,“ sagte ich, „aber wie sie gemacht +werden, davon habe ich keinen Begriff. Ich wollte das gerade lernen.“ + +„Hier haben Sie eine Zigarre. Sie können anfangen, heute abend um zehn +Uhr. Aber pünktlich! Wollen Sie was essen?“ + +„Nein, danke! Nicht jetzt.“ + +„Gut, ich werde mit dem Alten sprechen. Ich will Ihnen nun Ihr Bett +zeigen.“ + +Sein Mißtrauen war geschwunden, und er war sehr freundlich. + +„Ich werde einen tüchtigen Bäcker und Konditor aus Ihnen machen, wenn +Sie gut aufpassen und willig sind.“ + +„Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein, Senjor. Bäcker und Konditor +wollte ich schon immer werden.“ + +„Wenn Sie nun wollen, können Sie schlafen gehen oder sich die Stadt +ansehen. Ganz, wie Sie wollen.“ + +„Gut!“ sagte ich, „dann will ich in die Stadt gehen.“ + +„Also um zehn Uhr, nicht wahr?“ + +Ich traf, wie verabredet, Antonio im Park auf der Bank. + +„Na?“ begrüßte er mich. + +„Ich fange heute abend an.“ + +„Das ist gut“, sagte er. „Vielleicht gehe ich später mit Ihnen ’runter +nach Kolumbien.“ + +Ich setzte mich zu ihm. + +Weil ich nicht recht wußte, was ich mit ihm reden sollte, und um ein +Gesprächsthema zu haben, dachte ich, jetzt ist der gegebene Zeitpunkt, +nach Gonzalo zu fragen. Es war mir eigentlich nicht so sehr darum zu +tun, nur zu schwätzen, als vielmehr zu beobachten, wie er sich benehmen +würde, wie sich ein Mensch beträgt, der einen Raubmord auf dem Gewissen +hat und den man damit überrascht, daß man ihm sagt, man wisse es. + +Eine Gefahr war freilich damit verknüpft. War Antonio in Wahrheit ein +echter Mörder, dann würde er bei erster Gelegenheit mich auf die Seite +schaffen als Mitwisser. Aber darauf wollte ich es ankommen lassen. Diese +Gefahr kitzelte mich erst recht, auf den Busch zu klopfen. Ich war ja +vorbereitet und konnte mich meiner Haut wehren. Mit ihm allein durch den +Busch, vielleicht gar nach Kolumbien zu trampen, würde ich dann schon +wohlweislich vermeiden. + +„Wissen Sie, Antonio,“ sagte ich plötzlich aus heiler Haut heraus, „daß +Sie von der Polizei gesucht werden?“ + +„Ich?“ erwiderte er ganz erstaunt. – „Ja, Sie!“ + +„Weswegen denn? Ich weiß nicht, daß ich etwas verbrochen habe.“ + +Es klang sehr aufrichtig; mir schien, zu aufrichtig, um echt zu sein. + +„Wegen Mordes! Wegen Raubmordes!“ setzte ich hinzu. + +„Sie sind wohl verrückt, Gale. Ich wegen Raubmordes? Da sind Sie aber +böse im Irrtum. Vielleicht eine Namensähnlichkeit.“ + +„Wissen Sie, daß Gonzalo tot ist?“ + +„Was?“ Er schrie es beinahe. + +„Ja“, sagte ich ruhig, ihn im Auge behaltend. „Gonzalo ist tot. Ermordet +und beraubt.“ + +„Der arme Kerl! Er war ein guter Bursche“, sagte Antonio bedauernd. + +„Ja,“ bestätigte ich, „er war ein braver Kerl! Und es ist schade um ihn. +Wo haben Sie ihn denn zuletzt gesehen, Antonio?“ + +„In dem Hause, wo wir alle wohnten.“ + +„Mr. Shine erzählte mir, daß ihr drei, Sie, Gonzalo und Sam, zusammen am +Montag morgen fortgegangen seid.“ + +„Wenn Mr. Shine das sagt, dann irrt er. Gonzalo ist zurückgeblieben. Wir +zwei nur, Sam und ich, sind zur Station gegangen.“ + +„Das verstehe ich nicht“, sagte ich nun. „Mr. Shine hat am Fenster oder +in der Tür gestanden, ich weiß nicht wo, und hat euch drei bestimmt +gesehen.“ + +Da lachte Antonio leicht auf und sagte: „Mr. Shine hat recht und ich +habe auch recht. Aber der dritte, der bei uns war, war nicht Gonzalo, +sondern einer dort aus der Gegend, einer von den Eingeborenen, der die +Hühner von Abraham kaufen wollte, weil er dachte, er könne sie billig +haben. Abraham war aber schon zwei Tage fort und hatte die Hühner +bereits verkauft, ich glaube an Mr. Shine.“ + +„In dem Hause, wo Sie Gonzalo zuletzt gesehen haben,“ sagte ich nun +langsam, „habe ich ihn auch gefunden, ermordet und beraubt. Das heißt, +es ist ihm nicht alles geraubt worden, fünf Pesos und etwas darüber hat +ihm der Mörder gelassen.“ + +„Ich möchte ernst bleiben bei der tragischen Geschichte,“ sagte Antonio, +leicht vor sich hingrinsend, „aber da muß ich doch lachen. Das übrige +Geld von Gonzalo habe ich.“ + +„Na also!“ rief ich. „Davon rede ich ja die ganze Zeit.“ + +„Davon reden Sie allerdings, Gale“, erwiderte Antonio. „Aber das Geld +habe ich ihm doch abgewonnen. Sam weiß das gut, der war doch dabei. Sam +hat selber fünf Pesos dabei verloren. Er hat sich ja mit in die Wette +hineingedrängt.“ + +Das wurde jetzt eine merkwürdige Geschichte. + +„Sam, ich und der Indianer, wir sind zusammen vom Hause fortgegangen. +Gonzalo wollte zurückbleiben und sich gut ausschlafen. Ich bin mit Sam +bis Celaya gefahren. Sam ist dann weitergefahren, und ich bin teils +gelaufen, teils habe ich ein paar Strecken mit den Zügen blind gemacht.“ + +Was Antonio sagte, klang wahr. Außerdem hatte er Sam als Zeugen. Und daß +Antonio diese weite Strecke von Celaya zurückgereist sein sollte, um +Gonzalo zu ermorden, war ganz und gar unwahrscheinlich. Sein Geld hatte +er ihm ja abgewonnen, ehrlich, Sam war Zeuge. Irgendeinen Wertgegenstand +besaß Gonzalo nicht. Wir kannten jeder den ganzen Tascheninhalt des +andern; und auf dem Leibe konnte auch niemand etwas verbergen, wir +liefen ja immer dreiviertel nackt herum. Da war nichts Verdächtiges +übrig, Antonio war unschuldig. + +„Na, lieber Antonio,“ sagte ich, „da bitte ich Sie herzlich um +Verzeihung, weil ich geglaubt habe, Sie könnten am Morde oder Tode des +Gonzalo schuldig sein.“ + +„Macht nichts, Gale,“ antwortete er gemütlich, „nehme ich Ihnen nicht +übel; aber ich hätte doch gedacht, Sie würden nicht gleich das Böseste +von mir denken. Ich habe doch nie jemand irgendeine Ursache hierfür +gegeben.“ + +„Das ist wahr. Das haben Sie nicht“, sagte ich darauf. „Aber sehen Sie, +die Umstände waren so merkwürdig auf Sie gerichtet. Sie und Sam waren +die letzten mit Gonzalo im Hause. Gonzalo hat, wenn er, wie Sie sagen, +nicht mit Ihnen gegangen ist, das Haus nicht mehr verlassen. Er ist +darin ermordet worden. Mr. Shine sagte mir, daß, seit Sie fortgegangen +seien, niemand sonst dort herum war. Es gibt ja nichts zu stehlen da, +und ein Weg, der jemand zufällig dahin bringen könnte, führt auch nicht +vorbei. Ich bin noch mal oben gewesen, weil ich dort auf Bescheid von +einem Öl-Camp warten mußte. Rein aus Neugierde geriet ich in das Haus +und fand Gonzalo tot. Er hatte mehrere Wunden von Messerstichen, die +gefährlichste war ein Lungenstich in der linken Brust, an dem Stich ist +er offenbar verblutet.“ + +Als ich das von den Wunden so langsam erzählte, ging in Antonio eine +erschütternde Veränderung vor sich. Er wurde leichenblaß, starrte mich +mit entsetzten Augen an, bewegte die Lippen und schluckte und schluckte, +konnte aber kein Wort hervorbringen. Mit der linken Hand arbeitete er an +seinem Gesicht und an seinem Halse, als ob er sich das Fleisch +herunterreißen wollte, während er mit der rechten Hand wie im Traum nach +meiner Schulter und nach meiner Brust tastete, als ob er sich +vergewissern müsse, ob da jemand sitze oder ob das nur eine +Wahnvorstellung sei. + +Ich wußte nicht, was ich aus all dem machen sollte. Ich konnte mir jetzt +überhaupt nichts mehr erklären. In Antonio zeigte sich plötzlich das +ganze Schuldbewußtsein eines Menschen, dem seine Tat mit allen ihren +Folgen klar zu werden beginnt. Und eben noch hatte er gelacht, als ich +ihn des Mordes an Gonzalo verdächtigte. Wie sollte ich mir ein solches +Verhalten zurechtlegen, um darüber nicht selbst meine Gedanken zu +verschlingern und mir vielleicht gar noch einzuträumen, daß ich selbst +Gonzalo erschlagen habe! + + + 16 + +Die Lampen im Park flammten auf. + +Die Nacht war blitzschnell über uns hereingebrochen in der kurzen +Zeitspanne, wo der Kampf in Antonio begann. Denn es war im hellen +Tageslicht gewesen, daß ich sein Gesicht offen und unbefangen zuletzt +gesehen hatte. Und nun deckte die Nacht das in seinem Gesicht zu, was +für mich der nackte, der natürliche, der wahre, der unverschleierte +Mensch Antonio war. Das, was für mich ein unvergeßliches Ereignis hatte +werden sollen, die Züge und Gesten eines Menschen zu studieren, den die +finstersten Mächte überfallen haben, den sie schütteln und rütteln und +dem sie jedes Härchen und jede Pore an seinem Körper in Aufruhr +versetzen, wurde mir nun zerstört durch die grellen Lampen, die in das +Gesicht Antonios Schatten und Linien hineinlogen, die in Wahrheit nicht +darinnen waren. + +Wahrheit allein war sein heißes Atmen, und Wahrheit allein waren seine +tastenden und krallenden Finger. Alles andre wurde Rampenlicht. Auf der +Nebenbank saß ein indianischer Arbeiter, zerlumpt wie zehntausende +unsrer Klasse, weil der Lohn kaum für das Essen reicht, häufig nichts +übrigbleibt für eine Dreißig-Centavos-Pritsche in einem der vielen +Schlafhäuser, wo sich morgens fünfzig oder achtzig oder hundert +Schlafgenossen aller Rassen und aller Völker der Erde, behaftet mit +vielleicht ebenso vielen oder mehr Krankheiten, die von den Ärzten +gekannt und nicht gekannt oder nicht einmal erahnt sind, alle in +demselben Wascheimer waschen, alle an demselben Handtuch abtrocknen, +alle mit demselben Kamm kämmen. + +Der indianische Prolet war auf der Bank eingeschlafen. Seine Glieder +entspannten sich, und der ganze ermüdete und abgearbeitete Körper sank +zu einem Häuflein Lumpen mehr und mehr zusammen. + +Da schlich sich ein indianischer Polizist heran. Er umkreiste die Bank +wie ein Raubvogel seine Beute, die er aus seiner Höhe auf dem Erdboden +kriechen sieht. Dann, als er wieder an der Rückseite der Bank war, zog +er seine Lederpeitsche durch die Hand und hieb, mit bestialischer +Brutalität und mit einem tückischen Grinsen auf dem Gesicht, dem +Arbeiter die Peitsche über den Rücken. Ein furchtbarer Hieb. Mit einem +unterdrückten ächzenden Schrei fiel der Oberkörper des Indianers kurz +nach vorn über, als hätte man ihm den Rücken mit einem Schwert +durchschnitten. Dann aber schnellte der Körper rasch nach hinten, und +sich mit einem Gestöhn windend, griff er langsam mit der Hand nach dem +gemarterten Rücken. Der Polizist trat jetzt nach vorn und grinste den +Arbeiter mit einer teuflischen Grimasse an. Dem Gepeinigten liefen vor +Schmerzen dicke Tränen über das Gesicht. Aber er sagte nichts. Er stand +nicht auf. Er blieb ruhig auf der Bank sitzen. Denn das war sein Recht. +Sitzen durfte er auf der Bank, er mochte noch so zerlumpt sein, es +mochten noch so viele elegante Caballeros und Senjoras herumirren, um +die Kühle des Abends auf einer der bequemen Bänke zu genießen und dem +Konzert zuzuhören, das bald beginnen würde. Der Indianer wußte, er war +der Bewohner und der Bürger eines freien Landes, wo der Millionär nicht +mehr Recht hat, auf dieser Bank zu sitzen, und wäre es vierundzwanzig +Stunden lang, als der arme Indianer. Aber schlafen durfte er nicht auf +der Bank. So weit ging die Freiheit nicht, obgleich die Bank auf dem +„Platze der Freiheit“ stand. Es war die Freiheit, wo derjenige, der die +Autorität besitzt, den peitschen darf, der die Autorität nicht hat. Der +uralte Gegensatz zweier Welten. Uralt wie die Geschichte von der +Herauspeitschung aus dem Paradiese. Der uralte Gegensatz zwischen der +Polizei und den Mühseligen und Beladenen und Hungernden und +Schlafbedürftigen. Der Indianer war im Unrecht, das wußte er wohl, +deshalb sagte er nichts, sondern stöhnte nur. Satan oder Gabriel – +dieser hier hielt sich für das zweite – war im Recht. + +Nein! Er war nicht im Recht! Nein! Nein! Mir stieg das Blut zu Kopfe. In +allen Ländern der hohen Zivilisation, in England, in Deutschland, in +Amerika und erst recht in den andern Ländern, ist es die Polizei, die +peitscht, und ist es der Arbeiter, der gepeitscht wird. Und da wundert +sich dann der, der zufrieden an der Futterkrippe sitzt, wenn plötzlich +an der Krippe gerüttelt wird, wenn die Krippe plötzlich umgeschleudert +wird und alles in Scherben geht. Aber ich wundere mich nicht. Eine +Schußwunde vernarbt. Ein Peitschenhieb vernarbt nie. Er frißt sich immer +tiefer in das Fleisch, trifft das Herz und endlich das Hirn und löst den +Schrei aus, der die Erde erbeben läßt. Den Schrei: „Rache!“ Warum ist +Rußland in den Händen der Bolsches? Weil dort vor dieser Zeit am meisten +gepeitscht wurde. Die Peitsche der Polizisten ebnet den Weg für die +Heranstürmenden, deren Schritte Welten erdröhnen und Systeme explodieren +macht. + +Wehe den Zufriedenen, wenn die Gepeitschten „Rache“ schreien! Wehe den +Satten, wenn die Peitschenstriemen das Herz der Hungernden zerfressen +und das Hirn der Geduldigen auseinanderreißen! Man zwang mich, Rebell zu +sein und Revolutionär. Revolutionär aus Liebe zur Gerechtigkeit, aus +Hilfsbereitschaft für die Beladenen und Zerlumpten. Ungerechtigkeit und +Unbarmherzigkeit sehen zu müssen, macht ebenso viele Revolutionäre wie +Unzufriedenheit oder Hunger. + +Ich sprang auf und ging zu der Bank, wo immer noch der Polizist stand, +die Peitsche durch die Hand ziehend, sie ab und zu durch die Luft +pfeifen lassend und mit funkelnden Augen auf sein sich windendes Opfer +grinsend. Er nahm keine Notiz von mir, weil er glaubte, ich wolle mich +auf die Bank setzen. + +Ich ging aber dicht auf ihn zu und sagte: „Führen Sie mich sofort zur +Wache. Ich werde Sie zur Meldung bringen. Sie wissen, daß Ihre +Instruktion Ihnen nur das Recht gibt, sich der Peitsche zu bedienen, +falls Sie angegriffen werden oder bei Straßenaufläufen nach wiederholtem +Aufruf. Das wissen Sie doch?“ + +„Aber der Hund hat hier auf der Bank geschlafen“, verteidigte sich der +kleine braune Teufel, der kaum höher war als fünf Fuß. + +„Dann durften Sie ihn wecken und ihm sagen, daß er hier zu dieser Zeit +nicht schlafen dürfe, und wenn er wieder einschlafen sollte, durften Sie +ihn von der Bank verweisen, aber auf keinen Fall durften Sie ihn +schlagen. Also kommen Sie mit zur Wache. Von morgen ab werden Sie keine +Möglichkeit mehr haben, jemand zu peitschen.“ + +Der Bursche sah mich eine Weile an, sah, daß ich ein Weißer war, und +sah, daß ich es im Ernst sagte. Er hing die Peitsche an den Haken in +seinem Gürtel, und mit einem schnellen Satz war er verschwunden, als +habe ihn die Erde verschluckt. + +Der Indianer stand auf und ging langsam seiner Wege. + +Ich schlenderte zurück zu Antonio. + +Mörder hin, Mörder her! dachte ich. Es ist ja alles egal. Alles ist +Busch. Überall ist Busch. Friß! oder du wirst gefressen! Die Fliege von +der Spinne, die Spinne vom Vogel, der Vogel von der Schlange, die +Schlange vom Coyote, der Coyote von der Tarantel, die Tarantel vom +Vogel, der Vogel von –. Immer im Kreise herum. Bis eine Erdkatastrophe +kommt oder eine Revolution und der Kreis von neuem beginnt, nur anders +herum. + +Antonio, du hast ganz recht gehabt! Du bist im Recht! Der Lebende hat +immer recht! Du bist im Recht! Der Tote ist schuld. Hättest du nicht +Gonzalo ermordet, hätte er dich ermordet. Vielleicht. Nein sicher. Es +ist der Kreis im Busch. Man lernt es so schnell im Busch. Das Beispiel +ist zu häufig, und die ganze Zivilisation ist ja nichts andres als die +natürliche Folge seiner bewundernswerten Nachahmungsfähigkeit. + + + 17 + +„Nein!“ sagte Antonio, ruhiger geworden, „es war ganz bestimmt nicht +meine Absicht, Gonzalo zu töten. Es hätte mich genau so gut treffen +können. Glauben Sie mir doch, oh, amigo, mio! Ich bin nicht schuld an +seinem Tode.“ + +„Ich weiß, Antonio. Es konnte auch Sie treffen. Es kann Sie heute abend +noch treffen. Es ist der Busch, der uns alle am Kragen hat und mit uns +macht, was er will.“ + +„Ja!“ sagte er, „Sie haben recht, Gale, es ist der Busch. Hier in der +Stadt wären wir auf so eine verrückte Idee gar nicht verfallen. Aber da +singt der Busch die ganze Nacht, da schreit ein Fasan seinen +Todesschrei, wenn er gepackt wird, da heult der Cougar auf seinem +Mordwege. Alles ist Blut, alles ist Kampf. Im Busch sind es die Zähne, +bei uns sind es die Messer. Aber es war doch nur Scherz, nur der reine +Spaß. Wirklich nur Spaß. Nichts weiter. + +Ob es nun die Würfel sind, oder die Karten, oder das Rädchen, oder die +Messer! Wir hatten nach siebenwöchiger Arbeit keiner soviel Geld übrig, +wie wir brauchten, um aus dieser verlassenen Gegend fortzukommen und was +andres aufzusuchen. + +Wir hatten ziemlich gleich viel Geld. Gonzalo hatte etwas über zwanzig +Pesos, ich hatte fünfundzwanzig. + +Es war am Sonntag abend. Montag früh wollten wir gehen. + +Abraham war schon ein paar Tage fort, auch Charley war gegangen, Sie +waren auch nicht mehr da. Wir waren nur noch drei, Gonzalo, Sam und ich. + +Wir zählten unser Geld auf dem Erdboden. Wir hatten jeder Goldstücke, +das kleine in Silber. + +Und als das Geld nun da vor uns auf dem Erdboden lag, kaum zu sehen bei +dem Schein unsres Feuers, da fing Gonzalo an zu fluchen. + +Er sagte: „Was tu ich mit den paar lausigen Kröten? Da hat man nun +sieben Wochen geschuftet wie ein verrückter Negersklave, in der Glut, +von früh um vier bis Sonnenuntergang, dann heim. Und dann abgerackert, +daß man kaum noch einen Knochen rühren kann, noch den elenden Fraß zu +kochen und ’runterzuwürgen. Keinen Sonntag gehabt, kein Vergnügen, keine +Musik, keinen Tanz, kein Mädchen, keinen Schnaps und den schlechtesten +Tabak. Was soll ich mit dem Lausedreck da anfangen?“ + +Dabei schob er mit dem Fuß das Geld fort. + +„Mein Hemd ist in Fetzen,“ schimpfte er weiter, „meine Hose ein Lumpen, +meine Stiefel, guck’ sie dir an, Antonio, keine Sohle, kein Oberleder, +kein Nischt, sogar die Riemen sind zwanzigmal geknotet. Und nischt +bleibt übrig, und geschuftet wie ein Pferd. Ja, wären es wenigstens +vierzig Pesos!“ + +Als er das sagte, heiterte sich sein Gesicht auf. + +„Mit vierzig Pesos“, sagte er, „käme ich zurecht. Könnte nach Mexico +Capitale fahren, mir neue Lumpen kaufen, damit man auch anständig +aussieht, wenn man zu einem Mädchen ‚Buenos tardes!‘ sagen will. Und man +hat noch ein paar Pesos übrig, um es ein paar Tage auszuhalten.“ + +„Du hast recht, Gonzalo,“ sagte ich nun, „vierzig Pesos sind es auch +gerade, die ich haben müßte, um wenigstens das Notdürftigste zu kaufen.“ + +„Weißt du was?“ sagte darauf Gonzalo, „laß uns um das Geld spielen. +Keiner von uns kann mit den paar Dreckgroschen etwas Rechtes anfangen. +Wenn du mein Geld noch dazu bekommst oder ich das deine, dann kann doch +einer von uns wenigstens etwas werden, denn so, wie es jetzt ist, ist +jeder ein Bettler. Diese paar Groschen versäuft man doch gleich auf den +ersten Sitz aus lauter Wut, daß man umsonst geschuftet hat.“ + +„Die Idee von Gonzalo war nicht schlecht“, erzählte Antonio weiter. „Ich +hätte mein Geld auch gleich versoffen. Wenn man mit dem gottverfluchten +Tequila erst einmal anfängt, hört man nicht eher auf, bis der letzte +Centavos verwichst ist. Das geht dann durch, besoffen, nüchtern, +besoffen, nüchtern, besoffen immerfort, bis alles hin ist. Und was man +nicht selber durch die Gurgel rasselt, das helfen dann die Mitsäufer +davon, und der Wirt beschwindelt einen ums Dreifache, und der schäbige +Rest wird einem aus der Tasche gestohlen. Das kennen Sie doch, Gale?“ + +Und ob ich das kannte! Ob ich den Tequila kannte, der einem die Kehle so +zerreißt, daß man sich nach jedem Glase schütteln muß und schnell ein +paar eingemachte Bohnen, die einem der kluge Wirt mit einem spitzen +Hölzchen zum Aufspießen hinstellt, hinterher schlucken muß, um den +Petroleumgeschmack los zu werden. Aber man trinkt in einem fort wie +besessen, als ob man behext wäre oder als ob dieser Rachenzerreißer ein +Zaubertrank wäre, den man aus irgendeinem mysteriösen Grunde durch die +Kehle jagen muß, ohne ihn mit der Zunge zu betasten. Und wenn man dann +endlich glaubt, genug zu haben, hat man weder Hirn noch Körper, noch +Blut. Man hört auf, zu existieren. Das Daseinsbewußtsein erlischt +vollständig. Alles ist fortgewischt. Sorgen, Leid, Ärger, Zorn. +Übrigbleibt nur das absolute Nichts. Welt und ich sind verweht. Nicht +einmal Nebel bleibt. + +Antonio brütete eine Weile vor sich hin wie in der Erinnerung suchend. +Dann fuhr er in seiner Erzählung fort: „Wir hatten keine Karten und +keine Würfel. Wir zogen Hölzchen. Aber der gesetzte Peso ging immer hin +und zurück. Es wurden nie mehr als fünf Pesos, die überwechselten. Dann +spielten wir Kopf und Wappen. Merkwürdig, es wurden nie mehr als ein +paar Pesos, die aus der einen Tasche zur andern gingen. Sam spielte auch +mit, und auch sein Geld wechselte nicht von Haus zu Haus. + +Es war nun schon ziemlich spät in der Nacht geworden. Vielleicht zehn +oder elf Uhr. + +Da wurde Gonzalo wütend und fluchte wie ein Wilder, jetzt habe er genug +von diesem Kinderspiel, jetzt wolle er endlich wissen, woran er morgen +früh sei. + +„Ja, weißt du denn einen andern Vorschlag?“ sagte ich zu ihm. + +„Nein!“ erwiderte er, „das ist es ja gerade, was mich so wütend macht. +Wir albern hier herum wie die kleinen Kinder, ohne zu einem Ende zu +kommen. Immer hin und her. Es ist zum Verrücktwerden!“ + +Dann, als er eine Weile beim Feuer gehockt hatte, in die Glut starrend, +sich eine Zigarette nach der andern drehend, die er, kaum angeraucht, +ins Feuer warf, sagte er, plötzlich aufspringend: „Jetzt weiß ich, was +wir tun. Wir machen ein Azteken-Duell um die ganze Summe.“ + +„Ein Azteken-Duell?“ fragte ich. „Was ist denn das?“ + +Gonzalo war aztekischer Abstammung. Er war aus Huehuetoca, und seine +Vorfahren waren einst Caciques gewesen. Das ist so etwas wie Heerführer +und Statthalter. Die Erinnerung an solche Adelsfamilien wird auf dem +Lande durch Tradition festgehalten, so gut festgehalten, daß sehr selten +ein Irrtum unterläuft. + +„Ja, weißt du denn das nicht, was das ist, ein Azteken-Duell?“ sagte +Gonzalo erstaunt. + +„Nein,“ gab ich zur Antwort, „wie sollte ich denn? Wir sind doch +spanischer Abkunft, wenn wir auch schon mehr als hundert Jahre hier +sind, Vaters und Mutters Seite. Aber von einem Azteken-Duell habe ich +nie gehört.“ + +„Aber das ist ganz einfach“, sagte Gonzalo. „Wir nehmen zwei junge, +gerade gewachsene Bäumchen, binden oben unsre Messer fest daran und +werfen sie dann gegenseitig aufeinander los, bis der eine aus Ermattung +nachgeben muß. Einer von beiden muß ja zuerst ermüden. Und wer +stehenbleibt, hat gewonnen, der kriegt dann das ganze Geld. Dann kommen +wir doch wenigstens zu einem Ende.“ + +Ich überlegte mir das eine Weile, denn es schien mir eine ganz verrückte +Idee zu sein. + +„Du hast doch nicht Angst, Spanier?“ lachte Gonzalo. + +Und weil in seinen Worten so ein merkwürdiger Ton von Verhöhnung lag, +brauste ich auf: + +„Angst vor dir? Vor einem Indianer? Ein Spanier hat nie Angst! Das will +ich dir gleich beweisen. Los zum Azteken-Duell!“ + + + 18 + +Wir nahmen ein flammendes Holzscheit vom Feuer und krochen im Busch +herum, bis wir zwei passende Stämmchen gefunden hatten. + +Sam wurde beauftragt, genügend Holz heranzuschleppen, damit wir ein +tüchtiges Feuer bekämen, um beim Kampfe auch Ziellicht zu haben. Wir +befreiten die Stämmchen von den Ästen und banden oben unsre +aufgeklappten spitzen Taschenmesser fest an. + +„Selbstverständlich lassen wir nicht die ganze Messerklinge überstehen“, +sagte Gonzalo. „Denn wir wollen uns ja nicht ermorden. Es ist ja nur um +das Spiel. Das Messer braucht nicht weiter überstehen, als ein +Fingerglied. So, das ist gut!“ fügte er hinzu, meinen Speer betrachtend. +„Jetzt binden wir unten noch ein Stück Holz an, um dem Speer ein +richtiges Schaftgewicht zu geben, damit er nicht flattert.“ + +Dann umwickelten wir unsern linken Arm mit Gras und einem Sack, um ein +Abwehrschild zu haben. „Denn,“ erklärte Gonzalo, „der Schild ist +wichtig. Das ist ja eben gerade das Vergnügen, aufzufangen und +abzuwehren.“ + +Als wir mit allem fertig waren, sagte Sam: „Ja, und ich? soll ich +vielleicht nur zugucken? Ich will auch mitspielen.“ + +Der Chinc hatte recht. Für seine Mühewaltung als Verwahrer der +Spielsumme und als Zeuge mußte er seinen Lohn haben. Sie wissen ja, +Gale, was für Spielratten die Chincs sind. Die würden die Frachtkosten +für ihren Leichnam verspielen, wenn ihnen das nicht gegen alle Moral +ginge. + +„Ho!“ sagte Gonzalo zu Sam, „du kannst ja auf einen von uns wetten.“ + +„Fein!“ erwiderte Sam, „dann wette ich auf dich, Gonzalo. Fünf Pesos. +Wenn du gewinnst, bekomme ich von dir fünf Pesos, und wenn du verlierst, +kliegst du von mir fünf Pesos. Du hast ja kein Intelesse zu verlielen, +weil du dann deine zwanzig Pesos los würdest.“ + +Wir deponierten jeder unsre zwanzig Pesos, die Sam vor sich auf einen +Stein legte, und dann tat er selbst seine fünf Pesos Wetteinsatz hinzu. +Sam schritt fünfundzwanzig Schritte ab, und wir legten jeder ein langes +Stück Holz an die Marken, die keiner der Kämpfer überschreiten durfte, +wenn er nicht sofort fünf Pesos an den andern verlieren wollte. Dann +warfen wir die Speere aufeinander los. Zum Rückwerfen benutzte jeder den +Speer des andern. + +Bei dem flackernden, ab und zu qualmenden Feuer konnte ich Gonzalo nur +in Umrissen sehen, und den Speer, wenn er auf einen zugeflogen kam, +konnte man beinahe gar nicht sehen, denn rundherum war ja stockdunkle +Nacht. + +Gleich beim zweiten Gang bekam ich einen Stich in die rechte Schulter. +Sie können hier die Wunde noch sehen, Gale.“ + +Dabei zog er sein Hemd von der Schulter, und ich sah den Stich, noch +unvernarbt. + +„Nach und nach kamen wir in Bewegung oder eigentlich in Aufregung. Ich +bekam nach einigen weiteren Gängen noch einen Stich, der mir durch die +Hose ins Bein ging. + +Aber ich konnte ganz gut aushalten. + +Wie lange wir warfen, weiß ich nicht. Aber weil keiner nachgeben wollte, +wurde das Tempo immer rascher. + +Es kam so mittlerweile ein gutes Stück Wildheit in die Sache, und +jemand, der uns jetzt beobachtet hätte, würde niemals geglaubt haben, +daß es nur ein Spiel sei. + +Vielleicht warfen wir eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe. Ich +weiß es nicht. Ich wußte auch nicht, ob ich Gonzalo überhaupt schon +einmal ernsthaft getroffen hatte oder nicht. Aber ich fing dann doch an, +müde zu werden. Der Speer wurde mir bald so schwer, als ob er zwanzig +Kilo wiege, und das Werfen wurde langsamer bei mir. Ich konnte mich bald +kaum noch bücken, um den Speer aufzuheben, und einmal wäre ich beim +Niederbücken beinahe zusammengesunken. Aber ich hatte doch das Gefühl, +ich darf nicht niedersinken, sonst kann ich bestimmt nicht mehr +aufstehen. + +Gonzalo konnte ich nicht mehr sehen. Ich konnte überhaupt nichts mehr +sehen. Ich warf den Speer immer nur in der Richtung, in der ich ihn +bisher geworfen hatte und wo Gonzalo stehen mußte. Es wurde mir ganz +gleichgültig, ob ich ihn traf oder nicht. Ich wollte nur nicht zuerst +aufhören. Und weil von drüben immer wieder der Speer kam, warf ich ihn +eben immer wieder zurück. + +Plötzlich, als das Feuer einmal hell aufflammte, sah ich, daß Gonzalo +sich umdrehte, um den Speer zu suchen, der offenbar weit an ihm +vorbeigeflogen war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand den Speer, +hob ihn auf und, als er sich mir zuwandte, um ihn zu werfen, sank er auf +einmal so heftig in die Knie, als habe ihn jemand mit großer Wucht +niedergeschlagen. + +Ich warf meinen Speer, den ich in der Hand hatte, nicht, weil ich froh +war, ihn zu stellen und mich darauf zu stützen, sonst wäre ich +umgefallen. + +Wenn Gonzalo jetzt aufgestanden wäre und geworfen hätte, ich hätte +meinen Arm nicht mehr heben können, um zu erwidern. + +Aber Gonzalo blieb in die Knie gesunken. + +Sam lief hin zu ihm und rief dann: + +„Jetzt habe ich meine fünf Pesos verloren. Antonio, Sie haben gewonnen. +Gonzalo gibt auf.“ + +Ich schleppte mich zu einer Kiste am Feuer, hatte aber nicht mehr die +Kraft, mich drauf zu setzen. Ich sank neben der Kiste auf den Boden. Sam +führte Gonzalo schleifend zum Feuer und gab ihm Wasser, daß er gierig +hinuntergoß. + +Ich sah jetzt, daß seine nackte Brust blutig war. + +Aber ich hatte für nichts mehr Interesse. Mir fiel der Kopf schläfrig +auf die Brust, und als ich gleichgültig die Augen aufschlug, bemerkte +ich, daß mein Hemd und meine Brust ebenso voll Blut waren, wie die +Gonzalos. Aber ich legte keinen Wert darauf. Es war mir alles egal. + +Sam brachte mir die vierzig Pesos und schob sie mir in die Hosentasche. +Ich hatte das Empfinden, als ob das alles irgendwo in ganz weiter Ferne +geschähe. Wie durch einen Schleier sah ich, daß Sam dem Gonzalo die fünf +Pesos ebenfalls in die Tasche steckte. + +So hockten wir wohl eine halbe oder eine ganze Stunde. Das Feuer wurde +kleiner und kleiner. + +Da sagte Sam: „Jetzt lege ich mich schlafen.“ + +Ich wiederholte diese Worte, als wären sie meine eignen gewesen: „Ja, +jetzt lege ich mich schlafen.“ + +Ich sah, wie sich auch Gonzalo erhob und ebenso schwankend und sich +festkrallend wie ich die Leiter zum Hause raufkletterte. + +Und als ich mich dort hingeworfen hatte und eben eindämmerte, hörte ich, +wie Gonzalo sagte: „Wenn ihr morgen zeitig geht und ich bin noch nicht +auf, braucht ihr mich nicht wecken. Ich will lange durchschlafen, ich +bin furchtbar müde. Ich fahre ja doch nicht mit euch, ich habe ja kein +Fahrgeld.“ + +Lange vor Sonnenaufgang stieß mich Sam an. Es war Zeit. Um acht Uhr +abends mußten wir auf der Station sein, sonst verloren wir zwei Tage. Es +war noch stockfinster. Ich konnte nichts in der Hütte sehen. Sah auch +Gonzalo nicht, der noch fest in seiner Ecke schlief. + +Wir weckten ihn nicht, sondern ließen ihn ruhig weiterschlafen. + +Wir packten rasch unsre Bündel zusammen, und als gerade der Tag zu +grauen anfing, gingen wir. + +Ein paar Schritte weiter trafen wir den Indianer, der die Hühner kaufen +wollte. + +Ja, sehen Sie, Gale, das ist die Geschichte, die wahre Geschichte.“ + +„Ihr hättet Gonzalo an diesem Morgen auch gar nicht wach gekriegt“, +sagte ich. + +„Warum denn nicht?“ fragte Antonio, die Wahrheit schon halb ahnend. + +„Weil er bereits tot war!“ + +„Aber das ist die Wahrheit, Gale. Wir können noch gleich jetzt zu Sam +gehen, der weiß es auch.“ + +„Ist nicht nötig, Antonio. Lassen Sie nur sein. Ich glaube es. Es ist +die Wahrheit!“ + + + 19 + +Die Musik im Park hatte angefangen zu spielen. „Die Ehre der Bauern in +Sizilien.“ Was ging mich deren Ehre an! + +Ich schloß die Augen, um die starren elektrischen Lampen nicht sehen zu +müssen. + +Aber ich sah Gonzalo auf dem Boden liegen. Vertrocknet. Ausgelöscht aus +den Lebenden und Hoffenden. Seine Hand mit einem Knäuel roher, schwarz +verfärbter Baumwolle auf die Brust gepreßt. + +Die Baumwolle. + +Antonio hatte mich offenbar eine Zeitlang schon angesehen, ohne daß ich +es bemerkte. + +„Warum weinen Sie denn, Gale?“ sagte er. + +„Halten Sie’s Maul!“ rief ich wütend. „Ich glaube, Sie sehen Gespenster. +Bilden Sie sich doch keine Dummheiten ein.“ + +Er schwieg. + +„Diese himmelgottverfluchte Begräbnismusik!“ sagte ich ärgerlich. +„Sollen lieber spielen ‚Lustige Witwe‘ oder ‚Kratz mir den Affen mal am +Hintern‘. Es ist ja alles so lustig, die Witwen tanzen, und die Bananen, +yes, die haben wir nicht. Das ganze Leben ist so lustig. Begräbnismusik +für die Verreckten und dudelige Operetten für die Lebenden. Kommen Sie, +Antonio. Es geht auf zehn. Was hat der Hundesohn gesagt? Seien Sie +pünktlich, hat er gesagt. Für einen Peso fünfundzwanzig.“ + + + + + ZWEITES BUCH. + DER WOBBLY + + + 1 + +Der Inhaber der Bäckerei La Aurora, Senjor Doux, sah aus, als ob er die +Ewige Malaria hätte. Er war auch immer kränklich und lief herum wie ein +Todkranker. Aber essen konnte er für zwölf Lebende. Frühmorgens um vier +Uhr stand er auf, trank einen Liter Milch und aß sechs Eier mit +geröstetem Schinken. Dann trank er einen Kognak, und hierauf ging er auf +den Markt, um für den Tagesverbrauch einzukaufen. Neben der Bäckerei und +Konditorei hatte er noch ein gutgehendes Café-Restaurant, wo man außer +den üblichen Eisgetränken, Sahne-Eis, Frucht-Eis, geeiste Früchte, +Weine, Bier, auch Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen konnte. +Das Café war zu ebener Erde. In dem Stockwerk darüber befand sich ein +Hotel, das Senjor Doux aber nicht selbst leitete, sondern verpachtet +hatte. Mit dem Pächter hatte er täglich eine erfrischende Unterhaltung. +Wenn man dieser Unterhaltung einmal beigewohnt hatte, dann konnte man +begreifen, warum Senjor Doux nie gesund werden konnte, und warum er so +elend, so gelbgrünweiß im Gesicht aussah. + +Der Streit ging meist um das Wasser. Wasser ist ja nun in den Tropen +nicht nur eines der kostbarsten Dinge, sondern auch eines der Objekte, +um die ewig gekämpft wird. Die Natur kämpft um das Wasser auf Leben und +Tod; die Tiere zerfleischen sich um das Wasser oder vertragen sich um +seinetwillen so sehr, daß der durstige Jaguar dem kleinen Zicklein am +Wasser kein Leid antut, sondern es in ehrfurchtsvoller Entfernung vom +Wasser auf dem Rückwege erwartet. + +Wehmütig zuweilen ist der Kampf der Pflanzen und Bäume um das Wasser. +Aber wenn sich die Menschen um das Wasser streiten, so sind sie allen +andern irdischen Geschöpfen in den Kampfesmitteln überlegen. Die +Menschen führen den Kampf am erbarmungslosesten gegen Tiere, Pflanzen +und Nachbarn. + +Das Gebäude hatte nur zwei Stockwerke, unten das Café, oben das Hotel. +Nach Art der meisten Gebäude in Latein-Amerika war das Haus eigentlich +ein Hausblock, herumgebaut um einen Hof, in dem tropische Pflanzen +standen, die bis über den obersten Stock hinauswuchsen. Die Vorderfront +nahm das Café ein; die rechte Seitenwand die Restaurationsküche, +Toiletten, Waschräume und Vorratskammern; die linke Seite bildete +Bäckerei und Konditorei und den Schlafraum der Bäckereiarbeiter. In der +Hinterfront waren die Wohnräume des Inhabers. + +Das Hotel erstreckte sich gleichfalls in einem Viereck um den Hof herum, +alle Türen und Fenster lagen nach dem Hofe hin, nur die Fenster der +Vorderfront gingen auf die Straße. Dort befand sich ein Balkon, der die +ganze Länge des Hotelstocks einnahm. + +Auf dem Dache standen zwei große Wassertanks. Der eine war für den +unteren Stock, der andre für den oberen. Jeder Tank hatte seine eigne +Pumpe, die das Wasser mit motorischer Kraft in die Tanks pumpte. Wenn +die trockene Jahreszeit kam, lief der Brunnen, der zur Bäckerei und zum +Café gehörte, leer, während der Brunnen für das Hotel reichlich Wasser +hatte. Das Café und die Bäckerei konnten ohne Wasser nicht durchkommen, +und nun begann der Kampf. Senjor Doux wollte jetzt das Wasser aus dem +Hotelbrunnen in seinen Tank pumpen unter der wahren Behauptung, daß er +ja der Besitzer beider Brunnen sei. Der Hotelpächter aber gestattete das +nicht; er hatte es in seinem Kontrakt, daß ihm der Hotelbrunnen allein +zustehe. Er befürchtete, wenn er dem Café erlaubte, Wasser aus seinem +Brunnen zu entnehmen, daß er dann eines Tages selbst kein Wasser haben +würde und den Gästen keine Bäder geben könne. Ohne Bäder ist ein Hotel +in den Tropen wertlos. + +Beide Brunnen waren abgeschlossen. Der Pächter hatte einen Schlüssel für +seinen und Senjor Doux hatte einen Schlüssel für den Cafébrunnen. Es +blieb also Senjor Doux nichts andres übrig, als in der Nacht den Brunnen +seines Pächters aufzubrechen, die Rohre zu koppeln und die Pumpe laufen +zu lassen. Wenn der Pächter die Pumpe hörte, wachte er natürlich auf, +und es gab einen Mordsspektakel mitten in der Nacht. Die Hotelgäste +mischten sich ein, die Cafégäste, manchmal in angeheiterter oder in +kampffreudiger Laune, nahmen Partei, es flogen Flaschen, Stühle, Brote, +Eisbrocken und entsetzliche Flüche und Verwünschungen durch die Luft. +Die Pumpe, parteilos und absolut gleichgültig gegen das Getobe, +arbeitete allein und pumpte den Tank inzwischen voll. Dann koppelte +Senjor Doux die Rohre ab, und der nächtliche Frieden begann und wurde am +nächsten Morgen aufs neue gestört. Es begann damit, daß der Hotelpächter +einen Handwerker kommen ließ, der den Brunnen besonders schwer +verrammeln mußte. Dann lief Senjor Doux zur Polizei, weil nach dem +Gesetze niemandem das Wasser abgesperrt werden darf. Dann zeigte der +Hotelpächter seinen Kontrakt, den Senjor Doux eigenhändig unterschrieben +hatte, und der auch die vorgeschriebenen Steuermarken trug, und die +Polizei zog wieder ab. In der Nacht wurde der Brunnen wieder +aufgebrochen, weil Senjor Doux ja Wasser haben mußte. + +Es hatte also wohl seine guten Gründe, daß Senjor Doux wie ein +Sterbender aussah und trotzdem gut essen konnte. + +Wenn Senjor Doux vom Markt heimkam, gegen sechs Uhr etwa, frühstückte er +erst einmal. Fisch und Braten und eine halbe Flasche Wein, hinterher +Kaffee mit drei oder vier Stücken Kuchen. + +Inzwischen kamen schon Frühgäste. Dann mußte mit den Lieferanten +verhandelt und abgerechnet werden; es lief die Post ein; nun kamen +Bestellungen auf Brot, Brötchen, Kuchen, Torten, Backwaren und kandierte +Früchte. + +Um halb neun machte Senjor Doux zweites Frühstück, an dem seine Frau +teilnahm. Diesmal gab es neben einem Eiergericht noch zwei +Fleischgerichte und großen Nachtisch mit Bier. + +Senjora Doux war eine hübsche Frau, aber sehr behäbig. Im Widerspruch +mit der Auffassung, daß alle Wohlgenährten immer guter Laune seien, war +Senjora Doux ewig mißgelaunt. Nur wenn sehr viele Bestellungen auf +Backwaren einliefen, verzog sie das Gesicht zu einem kurzen Lächeln, das +jedoch nur ein paar Sekunden währte. Das Café konnte zum Brechen voll +sein, die Leute mochten sich um die Sitze schlagen, Senjora Doux machte +trotzdem ein saures Gesicht und guckte jeden Gast an, als ob er ihr +persönlich schweres Leid zugefügt und die Absicht habe, sie für ihr +ferneres Leben unglücklich zu machen. Sie trug nie Schuhe oder Stiefel, +sondern immer nur weiche Pantoffel. Ich glaube nicht, daß sie jemals +ausging; gesehen habe ich es nie. Sie fürchtete, daß während ihrer +Abwesenheit ein Kellner sie betrügen könnte. Sie hatte ihre Augen +überall; es geschah nichts im ganzen Hause, was sie nicht wußte, oder +worüber sie keine Kontrolle hatte. Was sie am meisten bedauerte +(eigentlich bedauerte sie alles), das war, daß der Mensch, wenigstens +sie, auch schlafen müsse. Denn während sie schlief, konnte ja irgend +etwas geschehen, was sie nicht sah. Aus diesem Grunde betrachtete sie +niemanden mit größerem Mißtrauen als die Arbeiter in der Bäckerei und +Konditorei. Die arbeiteten nachts, zu der Zeit, wo Senjora Doux schlafen +mußte, um den ganzen Tag über, bis spät in die Nacht hinein, das Café zu +überwachen. Obgleich sie schon alles am Halse hängen hatte, übernahm sie +auch noch die Kasse. Eine Kassiererin würde es bei ihr auch nicht +ausgehalten haben. Die Senjorita hätte ehrlich sein können und +unbestechlich wie der Erzengel mit dem Schwert, Senjora Doux würde sie +trotzdem täglich ein paarmal angeschuldigt haben, daß sie wieder zehn +Pesos unterschlagen habe. Diese Geschichte mit der Kasse war eine +schwere Arbeit. Senjora Doux traute keinem Kellner. Sie saß an der Kasse +oder wanderte im Lokal umher und beobachtete die Gäste, was sie +verzehrten. Wenn der Gast ging und bezahlt hatte, so mußte der Kellner +das Geld sofort zur Kasse bringen und abliefern. Denn hätte man ihm das +Geld, das er während seiner Arbeitszeit eingenommen hatte, und das +manchmal einige hundert Pesos betrug, in der Tasche gelassen, damit er +erst dann mit der Kasse abrechne, wenn er abgelöst wurde, so hätte er ja +eine Viertelstunde vorher mit der ganzen Einnahme und unter +Zurücklassung seines Hutes und seiner Jacke verschwinden können auf +Nimmerwiedersehen. Es muß freilich zugestanden werden, daß solche Dinge +vorkamen, sogar wenn der Kellner manchmal nur sechzig oder siebzig Pesos +in der Tasche hatte. Aber in dem Café La Aurora des Senjor Doux war das +nicht durchführbar. + +Wenn wenig Bestellungen für die Bäckerei einkamen, hatten die Bäcker und +Konditoren nichts zu lachen. Dann fegte Senjora Doux mit ihnen herum, +daß meist einer oder der andre seinen Lohn verlangte und ging. Denn an +solchen Tagen betrachtete sie die Ausgabe für die Bäckerei als +verschwendetes Geld. Kamen am nächsten Tage die Bestellungen doppelt +oder dreifach ein, so mußten die Leute drei, vier oder fünf Stunden mehr +arbeiten, weil inzwischen natürlich kein neuer Bäcker oder Hilfsarbeiter +eingestellt worden war. + +Die Musiker im Café hatten es nicht besser, sondern noch viel +schlechter. Die Bäcker schafften ja noch etwas wenigstens, aber die +Musik war die unsinnigste Verschwendung, die Senjor und Senjora Doux +sich nur denken konnten. Die Musik produzierte nicht, sie fraß nur und +wollte immer Geld haben. Da aber andre Cafés Musik hatten, mußte Doux +schon mitmachen, um auf der Höhe zu bleiben. Er hatte jeden Tag Krach +mit der Musik. Waren wenig Gäste da, dann erklärte er den Musikern, daß +sie schuld seien, weil sie saumäßig spielten. Dann packten die Musiker +ihre Instrumente ein, ließen sich ihr Geld geben und gingen. Senjora +Doux war darüber recht zufrieden, denn nun hatte sie einen Grund, das +Geld für die Musik zu sparen und den Gästen zu erklären, daß die Musiker +fortgelaufen seien. + +Waren dann wieder die Gäste nach ein paar Tagen unzufrieden und +verlangten sie Musik, dann mußte Senjor Doux den Musikern nachlaufen. +Oft geschah es, daß er nur einen Bandonium- oder Gitarrespieler bekam. +Die Gäste verzogen sich, und endlich brachte Doux wieder eine gute +Kapelle ins Haus, bis nach einer Weile der Krach wieder da war und sich +die ganze Geschichte wiederholte. + +Eines Tages kam eine ganz vorzügliche Kapelle von acht Mann aus +Mexiko-City und bot sich in den Cafés an. Sie kamen zuerst zu Senjor +Doux. + +„Fünfzig Pesos den Tag für acht Mann? Zahle ich nicht. Auch noch das +Essen? Ich bin doch nicht verrückt. Und nur wochenweise und mit +dreitägiger Kündigung? Da können Sie in der ganzen Stadt herumlaufen, +gibt Ihnen niemand. Fünfundzwanzig will ich zahlen und tägliche +Kündigung. Ich kriege genug Leute.“ + +Die Kapelle ging in ein andres Café, bekam, was sie verlangte, und das +Café war jeden Abend gut besetzt, obgleich die Leute sich hier wenig in +Cafés oder Restaurants setzen; nur gerade so lange, bis sie ihr Eis +geschluckt oder ihre Coca-Cola gesaugt haben. Dann gehen sie wieder, +weil sie lieber auf den Plätzen spazierengehen oder auf den Bänken +sitzen. + +Aber die Kapelle hielt die Leute auch für zwei Eisgetränke oder eine +extra Flasche Bier, und das um so lieber, weil der Wirt anständig genug +war, keinen Preisaufschlag auf die Getränke zu nehmen. + +Dieses Café war nur fünf Häuser weit von der La Aurora, noch im selben +Block, und La Aurora war so leer, daß es wie ein beleuchteter Leichnam +aussah. Senjora Doux wollte das Licht auf die Hälfte abdrehen, weil es +überflüssig brenne; aber Senjor Doux widersetzte sich diesem Gedanken. +Jede Stunde einmal ging er, ohne Hut und ohne sich Jacke oder Weste +anzuziehen, zum Kino, um sich die ausgestellten Plakate anzusehen. Er +kannte sie auswendig. Aber in Wahrheit ging er nur, um die Gäste in der +La Moderna zu zählen; denn da mußte er vorüber, wenn er zum Kino wollte. +Er ging vorbei, ohne den Kopf zu wenden. So sah es aus. In Wirklichkeit +aber sah er doch jeden Gast in der La Moderna, und zu seiner Trauer sah +er viele, die sonst bei ihm saßen. + +Ein paar Tage sah er sich das mit an. Dann stellte er sich vor die Tür +seines Cafés und paßte auf, wann der erste Geiger der La-Moderna-Kapelle +vorüberkam. + +„Einen Augenblick, Senjor!“ + +„Bitte?“ + +„Wollen Sie nicht zu mir kommen? Ich zahle Ihnen fünfzig.“ + +„Bedaure, wir bekommen fünfundsechzig.“ + +„Das bezahle ich nicht.“ + +„Muy bien, Senjor, Adios.“ + +Als wieder eine Woche vorbei war, fragte er den Geiger abermals. + +„Gut, für fünfzig, Senjor.“ + +„Abgemacht. Dann von Freitag an.“ + +Senjor Doux stürmte rein zu seiner Frau: „Ich habe die Kapelle. Für +fünfzig. Fein.“ + +Die Kapelle konnte es dafür machen, denn sie war in der La Moderna +gekündigt und hatte kein anderes Engagement in der Stadt. + +Aber die Sahne war herunter. Die Leute hätten gern wieder einmal eine +andre Kapelle gesehen. Es kamen zwar genügend Gäste nun in die La +Aurora, aber doch bei weitem nicht so viel, wie in der La Moderna jeden +Abend gesessen hatten. Senjor Doux sagte der Kapelle, daß sie saumäßig +spiele. Die Musiker ließen es sich nicht gefallen, es kam zum Krach, und +sie verließen das Café. Senjor Doux brauchte ihnen nicht zu kündigen und +sparte das Geld. + + + 2 + +Mittags gegen halb zwölf hatte Senjor Doux auch seine Bücher ausgefüllt, +und dann setzte er sich zum Mittagessen hin. Um zehn hatte er ein kaltes +Huhn verzehrt, weil es ihm bis zum Mittagessen zu lange dauerte. Jetzt +aß er zum ersten Male am Tage richtig. Dann ging er schlafen, weil, +abgesehen von den Mittagsgästen, jetzt stille Zeit kam. Um fünf stand er +wieder auf, wusch und rasierte sich und eilte ins Café, vom Hunger +getrieben. + +Von jetzt an blieb er im Café bis Schluß. Die Polizei kümmert sich hier +nicht um die Sitten, um Sittlichkeit und um Gesittung der Menschen. Das +überläßt sie den Leuten selbst. Wer Zeit und Geld hat, sich die ganze +Nacht im Café herumzudrücken, mag es tun. Es ist sein Geld, seine Zeit +und seine Gesundheit. Wenn der Wirt keine Gäste mehr hat, macht er schon +von selbst zu und braucht dazu keine guten Ratschläge und Strafmandate +der Polizei, denn er ist ja ein erwachsener Mensch und kein Säugling, +der noch in die Windeln macht und die Milchflasche nicht allein halten +kann. Und weil keine Polizeistunde ist, niemand einen Spaß darin sieht, +die Polizei zu ärgern und an verbotenen Früchten zu naschen, so hat das +Café um zwölf selten noch genügend Gäste, daß es sich lohnt, Licht zu +verbrennen. Denn die Leute, die aus Gründen ihres Berufes nachts auf +sein müssen, gehen nun nicht ins Café, sondern in die Bars, wo zu jeder +Stunde des Tages oder der Nacht vollständige Mahlzeiten oder +Spezialplatten verabreicht werden zu billigeren Preisen als im Café. + +Zu dieser Zeit waren wir mitten drin in der dicksten Arbeit. + +„Putzen Sie mal die Bleche“, sagte der Meister zu mir. „Das werden Sie +ja wohl können. Wenn mal die Alte (das war Senjora Doux, die keineswegs +alt, sondern kaum dreißig war) reinkommen sollte – die muß ja ihre Nase +in jeden Dreck reinstecken –, dann putzen Sie nur immer Bleche. Dann +merkt sie nicht, daß Sie nichts von der Bäckerei verstehen. Aber jetzt +kommt sie nicht, jetzt ist gerade der Alte drüber; die haben ja sonst +keine Zeit. Mich wundert es nur, daß sie dafür überhaupt noch Zeit und +Gedanken finden. Aber Gedanken werden sie sich dabei wohl kaum machen. +Die denken dabei an uns, ob wir uns etwa keine Eier verrühren. Das +wollen wir jetzt erst mal machen.“ Nun wurden tüchtig Eier +eingeschlagen, Butter rein und dann in den Ofen geschoben. Als die +Fütterung vorüber war, lernte ich Bleche sauber machen. Das kann man +nicht so ohne weiteres, wie man vorher wohl denkt. Es muß gelernt sein. +Dann mußte ich Mehl abwiegen. Auch das hat seine Kniffe. Und dann mußte +ich fünfhundert Eier aufschlagen, das Gelbe und das Weiße voneinander +trennen. Würde man das so machen, wie es Mutter in der Küche tut, so +brauchte man dazu eine Woche. Hier muß das in kaum zwanzig Minuten +geschehen sein, und es darf kein Pünktchen Gelb in der Weißmasse +gefunden werden, weil das allerlei Schwierigkeiten zur Folge hätte. + +Dann lernte ich die Teigteilmaschinen bedienen, das Feuer in Ordnung +halten, Brot- und Brötchenteig ansetzen, Kleingebäck glasieren, Torten +beschneiden und für die Ornamentierung vorarbeiten, Schüsseln und +Geschirre reinigen, die Tische abwaschen, die Backstube ausfegen, Eis +mahlen, Eismasse ansetzen und so manches andre mehr. Alles so nach und +nach, alles in der Weise, wie man jedes Ding lernen kann. Es gibt +überhaupt nichts, das man nicht lernen könnte. + +Dann kam der Samstag. Lohntag. Aber Lohn gab es nicht. „Manjana, +morgen“, sagte Senjor Doux. Morgen war Sonntag, und wir mußten mehr +arbeiten als die übrigen Tage. Hinsichtlich des Lohnzahlens aber +erklärte Senjor Doux, es sei Sonntag, und Sonntags zahle er keinen Lohn: +„Morgen.“ Montag zahlte er aber auch nicht, weil er noch nicht zur Bank +gewesen sei. Dienstag gab es kein Geld, weil er das Geld, das er von der +Bank geholt, bereits ausgegeben habe. Mittwoch bekamen die Kellner erst +mal ihr Geld, und Donnerstag hatte er überhaupt kein Geld und konnte +nicht zahlen. Freitag war er nicht zu finden; immer, wenn man ihn +suchte, war er gerade in seine Wohnung gegangen und wollte nicht gestört +werden. Samstag waren bereits zwei Löhne fällig, aber da hatte er zu +große Ausgaben, weil er für den Sonntag mit einkaufen mußte und die +Banken schon mittags schlossen. „Morgen“, sagte er. Aber morgen war +Sonntag, wo er keine Löhne zahlte. „Morgen“, das war Montag, aber da war +er noch nicht zur Bank gewesen. + +Nach drei Wochen bekam ich das erstemal Geld von ihm, nicht für drei +volle Wochen Arbeitslohn, sondern nur für eine Woche. So ging das immer +durch, immer war er Wochen und Wochen mit dem Lohn im Rückstand. Wir +aber durften mit der Arbeit nicht eine Viertelstunde im Rückstand sein, +dann gab es Radau. Fünfzehn, sechzehn, ja einundzwanzig Stunden Arbeit +am Tage hatten wir zu leisten. Das hielt er für ganz selbstverständlich, +und für ebenso selbstverständlich hielt er es, daß er den Lohn zahle, +wann es ihm beliebe, und nicht, wenn er fällig sei. + +Aber andre Arbeit war nicht zu finden, und wäre sie zu finden gewesen, +wir hatten ja keine Zeit, sie zu suchen. Wenn wir in der Backstube des +Nachmittags fertig waren, dann waren die andern Werkstätten oder +Bureaus, wo man nachfragen konnte, meist schon geschlossen. Man mußte +eben aushalten. Wenn man leben will, muß man essen, und wenn man auf +irgendeine andre Art kein Essen findet, muß man tun, wie es dem, der das +Essen hat, gefällt. + +Den Kellnern ging es nicht besser. Sie bekamen nur zwanzig Pesos den +Monat und sollten im übrigen vom Trinkgeld leben. Aber hier ist man +nicht freigebig mit dem Trinkgeld, und wenn die Gäste knapp waren, dann +hatten wieder die Kellner nichts zu lachen. Dann waren sie schuld daran, +daß die Gäste ausblieben, und Senjora Doux gönnte ihnen nicht einmal die +zwanzig Pesos Lohn. Wir wohnten im Hause, die Kellner nicht. Die hatten +Familie und wohnten mit ihren Familien. Dadurch hatten sie besondere +Ausgaben. Sie bekamen nicht einmal volles Essen, sondern nur so +nebenbei, als Gnade oder als besondere Vergünstigung. Unser Meister +hatte schon vier Monate Lohn stehen. Selbst wenn er hätte gehen wollen, +er konnte nicht, weil Senjor Doux ihn wochenlang vielleicht mit der +Restsumme hingehalten hätte. Wir sollten jeder täglich zum Mittagessen +eine Flasche Bier bekommen. Das war ausgemacht. Aber wir bekamen Bier +nur dann, wenn Senjora Doux bei sehr guter Laune war, wenn viele +Bestellungen vorlagen, und wenn wir zwanzig Stunden zu arbeiten hatten. +Das Essen selbst war sehr gut. Es gab viel Fleisch, zwei oder drei +Fleischgerichte zu Mittag. Aber nach einer Woche konnte man nichts mehr +essen; denn es gab jeden Tag genau dasselbe zum Essen. Da war auch nicht +ein Reiskörnchen heute anders, als es gestern war, und nicht eine +Fleischfaser schmeckte heute anders, als sie morgen schmecken würde. + +Ein Kellner bekam Fieber und war in drei Tagen tot. Er war ein Spanier +gewesen, der erst vor zwei Jahren herübergekommen war. An seiner Stelle +trat ein Mexikaner ein, namens Morales. Er war ein flinker, +intelligenter Bursche. Wenn ich gelegentlich Backware in das Café zu +bringen hatte, so sah ich beinahe jedesmal, daß Morales mit dem einen +oder dem andern seiner Kollegen sprach. Sie sprachen ja natürlich immer +zusammen, wenn sie nicht bedienten. Aber hier fiel mir das Sprechen doch +zum ersten Male auf. Wenn sonst die Kellner zusammen miteinander +sprachen, so war das immer so oberflächlich. Sie redeten über +Lotterielose oder über Nebengeschäfte oder über Mädchen oder über ihre +Familien. Meist lachten sie dabei oder witzelten. + +Dagegen wenn Morales mit einem sprach, wurde nicht gelacht, sondern +immer sehr andächtig zugehört. Morales war immer der Sprecher und die +übrigen immer die Zuhörenden. Ich sah es blühen. Das „Syndikat der +Restaurationsangestellten“ arbeitete. + +Die Gewerkschaften in Mexiko haben keinen schwerfälligen +bureaukratischen Apparat. Ihre Sekretäre fühlen sich nicht als „Beamte“, +sondern sie sind alle junge brausende Revolutionäre. Die Gewerkschaften +hier sind erst durch die Revolution der letzten zehn Jahre entstanden. +Und so sind sie gleich in die allermodernste Richtung geraten. Sie haben +die Erfahrung der amerikanischen Gewerkschaften, die Erfahrung der +russischen Revolution, die Explosivgewalt des Jungen Stürmers und +Drängers und die Elastizität einer Organisation, die noch nach ihrer +eignen Form sucht und noch täglich ihre Taktik wechselt. + +Richtig, in der La Moderna war der Streik da. Kellnerstreik. Senjor Doux +lachte sich eins. Bei ihm brauchte er das nicht zu befürchten. Und nun +kamen die Gäste der La Moderna alle in sein Lokal, weil sie sich in dem +Café, wo der Streik war, fürchteten. Die Furcht ist berechtigt. Denn die +Polizei ist in Arbeiterkämpfen neutral. Wenn einem Gast, der in ein Café +geht, wo gestreikt wird, ein Stein an den Kopf fliegt, so darf er zur +Sanitätspolizei gehen und sich verbinden lassen. Im übrigen aber kümmert +sich die Polizei nicht darum. Die Streikposten, die vor dem Café stehen, +haben ihm ja gesagt, daß in dem Café gestreikt wird. Außerdem steht es +in der Zeitung, und Flugblätter werden ihm auch genug in die Hand +gedrückt. Er weiß, was ihm bevorsteht. Er braucht ja nicht in dieses +Café zu gehen, er kann ja in ein andres gehen oder sich auf die Bank auf +der Plaza setzen oder spazierengehen. Wer da hingeht, wo Steine in der +Luft umherfliegen, dem geschieht es ganz recht, wenn er einen an den +Kopf kriegt. + +La Moderna bewilligte nach vier Tagen alles. + + + 3 + +Drei Wochen später ging Morales zu Senjor Doux und sagte: „Also +achtstündige Arbeitszeit, zwölf Pesos die Woche, eine Vollmahlzeit und +zweimal Kaffee mit Gebäck.“ + +Senjor Doux, der die ganze Zeit voller Schadenfreude gewesen war, weil +seinem Konkurrenten so übel mitgespielt wurde, kriegte zuerst einen +Schreck. Dann sagte er: „Morales, kommen Sie zur Kasse. Da ist Ihr Lohn, +und Sie können gehen, Sie sind entlassen.“ + +Morales drehte sich um, zog seine weiße Jacke aus, und sofort zogen die +übrigen Kellner gleichfalls ihre Jacken aus und kamen zur Kasse. + +Ein wenig verstört zahlte Senjor Doux die Löhne, und dann ließ er die +Leute gehen. Er war ganz sicher, daß er andre Leute kriegen würde. Die +paar Gäste, die gerade drin waren, bediente Senjora Doux. Dann verließen +die Gäste auch das Café. Aber wenn andre kamen und sahen, daß keine +Kellner drin waren, setzten sie sich gar nicht erst, sondern gingen +gleich wieder raus. Nur einige Fremde kamen, setzten sich, bestellten +etwas und betrachteten diese Art von langsamer Bedienung als die hier +übliche. An diesem Abend standen keine Streikposten vor dem Café. Aber +am nächsten Tage waren sie da, und es wurden eifrigst Flugblätter +verteilt. Es waren wieder nur Fremde, die in das Café gingen, die die +spanisch geschriebenen Flugblätter nicht lesen konnten und auch nicht +verstanden, was die Streikposten zu ihnen sagten. + +Aber um diese Fremden kümmerten sich die Posten nicht viel. Außerdem +fühlten die Fremden, meist Amerikaner, Engländer oder Franzosen, auch +immer sehr bald, daß die Luft merkwürdig schwül war, und sie verließen +das Café ziemlich rasch, oft ohne ihr Eisgetränk auch nur anzurühren. + +Den zweiten Tag darauf hatte Senjor Doux zwei Kellner, einen Deutschen +und einen Ungarn. Beide waren erbärmlich zerlumpt. Senjor Doux hatte +ihnen weiße Jacken gegeben, einen Kragen und einen schwarzen Schlips. +Aber er gab ihnen weder Hosen noch Schuhe. Und gerade in diesen beiden +Dingen sahen die Burschen entsetzlich aus. Sie verstanden kein Wort +Spanisch und waren nicht zu gebrauchen. Aber Senjor Doux wollte mit +ihnen ja nur protzen vor den Streikposten. + +Nach dem Mittagessen, das sie mit allerlei bösen Zwischenfällen serviert +hatten, war ein wenig Ruhe im Café. Senjor Doux war schlafen gegangen, +und Senjora Doux saß schläfrig in einer Nische. Ich brachte ein Blech +Backware hinein und hörte, daß die beiden Vögel deutsch sprachen. + +„Sind Sie Deutscher?“ fragte ich den, der richtig deutsch sprach. + +„Ja, der hier ist ein Ungar“, antwortete er erfreut, daß jemand mit ihm +deutsch sprach. + +„Wissen Sie, daß die Kellner hier streiken, und daß Sie hier den +Streikbrecher machen?“ + +„Die streiken nicht“, sagte er. „Die wollen nur nicht arbeiten, die sind +nicht zufrieden.“ + +„Was zahlt Ihnen denn der Alte?“ + +„Fünf Pesos die Woche, das ist ganz schönes Geld. Und das Essen und +Schlafen“, gab er zur Antwort. + +„Na, nun mal deutlich, lieber Freund, schämen Sie sich denn nicht, hier +den Streikbrecher zu machen?“ + +„Streikbrecher? Das bin ich nicht. Die streiken nicht, die haben nur +aufgehört, weil sie mit dem Lohn nicht zufrieden sind. Ich bin mit fünf +Pesos zufrieden. Was soll ich auch machen. Ich bin ganz herunter, habe +nichts zu essen und keinen ganzen Fetzen.“ + +„Dann gehen Sie lieber betteln“, riet ich. + +„Betteln? Nein, das ist unanständig.“ + +„Streikbrechen ist anständiger?“ + +„Was will ich denn machen, wenn man Hunger hat?“ + +„Dann stehlen Sie, wenn Ihnen Betteln zu unanständig ist, aber +Streikbrechen ist ein dreckiges Geschäft.“ + +„Sie haben gut reden,“ platzte er nun los, „Sie arbeiten hier schön in +der Konditorei, haben zu essen, haben ein Dach und kriegen Ihr Geld.“ + +„Das ist richtig“, erwiderte ich. „Und ich will Ihnen nun etwas sagen. +Ich kann Ihnen hier keinen Vortrag darüber halten, in welchem +Zusammenhang der Streik jener Leute und Ihr Hungerleben steht. Ich kann +Ihnen hier so auf einen Ruck nicht klarmachen, wie durch jeden Streik, +ob er gewonnen oder verloren wird, das Hungerleben der arbeitslosen +Arbeiter um einen Grad seltener wird. Wenn die Leute hier die +achtstündige Arbeitszeit durchsetzen, muß der Alte zwei, vielleicht gar +drei arbeitslose Kellner mehr einstellen. Das ist nur gerade das Nächste +und Klarste. Darüber hinaus kommen noch andre Umstände zugunsten der +Arbeiter in Betracht, die viel weiter reichen als gerade bis zu dem +kleinen Vorteil, den man vor der Nase sieht.“ + +Durch unser Gespräch wachte Senjora Doux aus ihrem Nickerchen auf, und +sie rief herüber: „Sie, hören Sie mal, Sie wollen wohl die beiden +Deutschen da verhetzen? Scheren Sie sich in die Backstube, wo Sie +hingehören, Sie haben hier gar nichts verloren.“ + +„Verhetzen? Ich? Die beiden Deutschen? Nein, ich lehre sie nur ein paar +wichtige spanische Worte, damit sie besser im Leben zurechtkommen“, +sagte ich. + +„Das ist gut,“ sagte Senjora Doux, „das tun Sie nur, das ist sehr gut.“ + +„Nun will ich Ihnen mal noch was sagen“, fuhr ich fort, mich wieder an +den Deutschen wendend. „Bis jetzt haben sich die Streikposten um euch +noch nicht viel gekümmert. Sie wissen, daß ihr Fremde seid. Aber das +geht nur ein oder zwei Tage so weiter. Morgen abend oder übermorgen seid +ihr erstochen oder erschossen, damit Sie es wissen. Hier fackelt man +nicht lange mit solchem Kroppzeug wie ihr seid. Wir können hier nur +anständige Leute gebrauchen.“ + +„Die tun uns nichts“, sagte der Mann. „Wir gehen nicht raus.“ + +„Keine Angst, lieber Freund. Die kommen rein und machen das hier drin +ab, unter voller Kaffeehausbeleuchtung mit Musikbegleitung. Verlassen +Sie sich drauf. Nebenbei bemerkt, das einzig richtige Mittel, wie man +mit Streikbrechern umgehen muß. Einen Mexikaner oder einen Spanier +kriegen sie hier nicht als Streikbrecher, die wissen, was es bedeutet.“ + +Er war ein wenig bleich geworden. Nun fragte er: „Gibt es denn hier +keine Polizei?“ + +„Natürlich, so gut wie bei euch zu Hause“, sagte ich. „Aber die Polizei +mischt sich hier nicht in Streitigkeiten zwischen Arbeiter und +Unternehmer so ein wie bei euch da drüben. Die ist hier neutral. Wenn +sie den Mörder erwischt, wird er mit einigen Jahren verknackst. Aber +einen Mann, der einem Streikbrecher die letzte Wahrheit gesagt hat, den +kriegen sie nicht. Der ist nicht unter den Streikenden. Sie suchen ihn +auch gar nicht. Den Raubmörder suchen sie. Aber dem hier laufen sie +nicht lange nach. Es hat euch ja niemand geheißen, in die Gefahrzone zu +gehen. Wenn ihr trotzdem geht, habt ihr auch die Verantwortung zu +tragen. Als vernünftiger Mensch stellen Sie sich doch nicht auch bei +einem Gewitter direkt unter einen einzelnen hohen Baum? Oder vielleicht +doch? Ihre Schuld, wenn der Blitz Sie erschlägt. Da kann die Polizei gar +nichts tun. Die Polizei ist hier nicht für die Kapitalisten da, sondern +für die Kapitalisten und für die Arbeiter, die Betonung liegt auf dem +Und. Sie steht weder dem Kapitalisten bei noch dem Arbeiter, wenn die +beiden einen Handel miteinander auszufechten haben. Der Streikbrecher +hat in diesem Handel gar nichts verloren.“ + +Der gute Mann wußte nicht, worum es ging, vielleicht wollte er es nicht +einmal wissen. Er sagte: „Ich denke, das ist ein freies Land? Wo ist +denn da die Freiheit, wenn man nicht arbeiten darf, wo man will?“ + +„So wenig wie Sie da stehen können, wo ein andrer steht, ebensowenig +können Sie an dem Platze arbeiten, wo ein andrer arbeitet. Denn die +Leute haben ihren Platz nicht verlassen, sie haben nur die Arbeit +unterbrochen, und sie kehren zurück, sobald der Alte Vernunft annimmt.“ + +„Ich finde so leicht nicht wieder Arbeit“, sagte er nun. „Ich bin froh, +daß ich die hier habe. Ich bleibe hier und lasse mich auf der Straße +nicht sehen.“ + +„Seien Sie nur ganz unbesorgt, die haben ein gutes Gedächtnis und kennen +Sie auch noch nach Monaten wieder. Aber wir beide haben uns wohl von nun +an nichts mehr zu erzählen. Und wagen Sie ja nicht, sich in der +Backstube sehen zu lassen. So gesund, wie Sie reingekommen sind, kommen +Sie nicht mehr raus, darauf können Sie sich verlassen. Sie sind für mich +kein Deutscher, sondern ein Lump. Wenn Sie auch sonst nichts verstehen +wollen, das werden Sie ja wohl noch verstehen.“ + +Jeder Mensch, der in das Café gehen wollte, mußte sich an den +Streikposten vorbeidrängen, und jedem wurde gesagt, daß gestreikt wurde. +Darauf kehrten die Leute regelmäßig um. Polizei war nicht zu sehen. Es +war ja ganz ruhig. Niemandem geschah etwas. + +Aber am Abend, es war vielleicht halb neun, da stand der Deutsche an der +einen Tür. Die Türen sind ja alle offen, und man sieht von draußen +alles, was drinnen vorgeht, so klar, als ob es mitten auf der Straße +geschähe. Die Gäste wollen raussehen und wollen gesehen werden, und die +Nichtgäste wollen reinsehen und sich daran erfreuen, wie sich andre +einen angenehmen Abend machen. + +Er stand da an der Tür und wippte mit der Serviette. Er schien recht +stolz zu sein, daß er es zum Kellner gebracht hatte. Unter normalen +Umständen hätte er vielleicht Geschirrwäscher werden können. Die +Streikposten kümmerten sich gar nicht um ihn. Sie schielten nur +gelegentlich zu ihm rüber. + +Da kam ein junger Bursche vorbei mit einem Stück Holz in der Hand. Der +Streikbrecher ging ein wenig zurück, aber der Bursche ging mit einem +ruhigen Schritt die eine Stufe hoch und hieb ihm zwei gesunde Hiebe über +den Schädel. Dann warf er das Holz weg und ging ruhig seiner Wege. + +Der Notkellner stürzte hin und blutete nach Kräften. Kaum hatte Senjor +Doux das gesehen, da trat er vor die Tür und rief: „Polizei!“ Es kam +gleich einer an, seinen Knüttel in der Hand schwingend. + +„Den haben sie totgeschlagen“, rief Senjor Doux dem Polizisten entgegen. +– „Wer?“ fragte der Beamte. + +„Das weiß ich nicht“, antwortete Senjor Doux. „Wahrscheinlich die +streikenden Kellner.“ + +Sofort sprangen zwei Streikposten hinzu und schrien: „Wenn du Hurensohn +das noch mal sagst, schlagen wir dir die Knochen entzwei.“ + +Senjor Doux verschwand sofort im Café und sagte nichts mehr. + +„Haben Sie gesehen, wer den Mann hier geschlagen hat?“ fragte ein +zweiter Polizist, der hinzugekommen war, die Posten. + +„Ja, so halb. Ein junger Bursche kam vorbei mit einem Stück Holz – da +liegt es noch – und schlug auf den Mann los“, sagte der eine Posten. + +„Kennen Sie den Burschen?“ + +„Nein. Zu unserm Syndikat gehört er nicht.“ + +„Dann hat er mit dem Streik gar nichts zu tun. Wahrscheinlich eine andre +Geschichte“, sagte der Polizist. + +„Zweifellos“, bestätigte der Posten. + +Die beiden Polizisten führten den Notkellner zur Wache, wo er verbunden +und für die Nacht dabehalten wurde. + +„He, du da drin, du Hurensohn“, riefen die Posten jetzt hinein zu dem +Ungarn. „Wie lange bleibst du noch da drin? Du kriegst eins mit der +Eisenstange, wir haben kein Holz mehr.“ + +Der Ungar verstand kein Wort. Jedoch er fühlte, was sie sagten. Er wurde +blaß und ging zurück. + +Senjor Doux aber hatte es verstanden. Er lief zur Tür und rief nach der +Polizei. Aber es kam keine. Nach einer Viertelstunde aber sah er einen +an der Ecke stehen. Er rief ihn heran. + +„Die Posten haben meinen Kellner mit dem Tode bedroht“, sagte er, als +der Polizist herangekommen war. + +„Welcher hat ihn mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist. + +„Der da“, antwortete Senjor Doux und zeigte dabei auf Morales. Morales +hatte gar nichts gesagt, aber ihn haßte Doux am besten. + +„Haben Sie den Kellner mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist. + +„Nein. Fällt mir auch gar nicht ein. Dieser Bastard ist mir viel zu +dreckig, als daß ich das Wort an ihn richten würde“, sagte Morales. + +„Kann ich mir denken“, erwiderte der Polizist. „Wer hat ihn denn mit dem +Tode bedroht?“ fragte der Polizist nun. + +„Ich habe gesagt, er möge nicht so dicht zur Tür kommen, es könne ihm +sonst vielleicht eine Eisenstange auf den Kopf fallen, da oben vom +Balkon.“ Das sagte einer der Posten. + +Senjor Doux stand noch in der Tür. Der Polizist drehte sich jetzt zu ihm +herum und sagte: „Nun, hören Sie, Senjor, wie können Sie denn so etwas +sagen? Es ist doch gar nicht wahr.“ + +„Sie haben doch den andern auch schon halb erschlagen“, verteidigte sich +Doux. + +„Vertragen Sie sich lieber mit Ihren Leuten,“ riet jetzt der Polizist, +„dann kommt so etwas nicht vor.“ + +„Das ist ja eine nette Geschichte hier, daß man nicht mal seinen Schutz +bekommt“, rief Doux wütend. + +„Ruhig!“ sagte der Polizist laut, „sonst nehme ich Sie zur Wache. Keine +Beleidigung hier.“ + +„Ich zahle doch meine Steuern, und da kann ich doch verlangen ...“ + +„Was Steuern?“ unterbrach ihn der Polizist. „Die Kellner zahlen auch +Steuern, genau so gut wie Sie. Und nun lassen Sie uns in Ruhe. Machen +Sie Ihre Geschäfte mit Ihren Leuten ab, aber stören Sie uns nicht +immerwährend.“ + +Der Ungar stand eine Weile im Café unschlüssig, während hier draußen die +Verhandlungen waren. Es hatten sich Leute angesammelt, die alle auf +seiten der Kellner waren. Und zum Teil waren es deren Ausbrüche der +Sympathie, die dem Polizisten, der ja auch Prolet war, das Rückgrat +steiften. Fr wußte ja nicht, ob nicht vielleicht Doux einen dicken +Freund unter den Inspektoren hatte, der ihm sagen könnte, daß er seine +Pflicht vernachlässigt habe. + +Als der Polizist gegangen war, zog der Ungar seine weiße Jacke aus und +ging zur Kasse, um sich seine zwei Tage Lohn geben zu lassen. Er stand +jetzt da in Hemdsärmeln. Diese Hemdsärmel waren nur Fetzen und Dreck. +Zwei Gäste waren im Café, und die sahen den Unglücklichen. Ihnen verging +der Geschmack am Kaffee und am Gebäck, als sie bemerkten, welchen +Schmutz und welche Lumpen die weiße Jacke verdeckt hatte. Sie standen +auf, zahlten an der Kasse und gingen. + +Senjor Doux fragte den Ungarn, was los sei, und warum er gehen wolle. +Der konnte nicht antworten und versuchte nun, mit Gebärden, die er +überreichlich verschwendete, klarzumachen, daß sein treuer Kollege etwas +über den Schädel gekriegt habe, und daß er wohl der nächste sein würde, +der dran glauben müsse. Draußen standen die Posten und andre Leute, die +diese Gebärdensprache aus fossiler Vorzeit mit Vergnügen verfolgten. +Doux versuchte dem Ungarn begreiflich zu machen, daß er hier im Café +durchaus sicher sei. Aber der Ungar traute dieser Zusage nicht. Wäre er +mit den Sitten und Gebräuchen besser bekannt gewesen, so würde er gewußt +haben, daß er nie und nirgends sicher ist, daß er ja nicht ewig +innerhalb der vier Wände bleiben könne, und daß er, sobald er das Haus +verließe, geliefert ist. Denn sein Gesicht kennen jetzt schon alle +Arbeiter der Stadt, die brauchen keine Photographie und keinen +Steckbrief. Die vier Wände schützen ihn auch nicht. Eines Tages, morgen +oder übermorgen schon, geht einer rein, tut als ob er Eis an den Tisch +gebracht haben will, und wenn der Ungar kommt, hat er das Messer sitzen +oder den Spucknapf so geschickt über den Schädel gehauen, daß die +Ambulanz ihn abholen muß. Ehe man drinnen weiß, was geschehen ist, ist +der Strafvollziehende einige Block weit. Niemand, der beste Detektiv +nicht, findet ihn je. Einer der Gründe, warum es hier nie Streikbrecher +gibt. Man kennt die wirksamsten Mittel und scheut sich nicht eine Minute +lang, sie rücksichtslos anzuwenden. Krieg ist Krieg. Und die Arbeiter +sind im Kriege, bis sie endlich nicht nur eine Schlacht, sondern den +ganzen Feldzug gewonnen haben. Wenn den Staaten jedes Mittel im Kriege +erlaubt ist, warum nicht den Arbeitern in ihrem Kriege ebenfalls? Der +Arbeiter begeht nur immer den Fehler, daß er als ein anständiger Bürger +angesehen werden will. Aber dafür gibt ihm niemand etwas. + +Der Ungar kam heraus, und einer der Posten nahm ihn gleich in Empfang. +Sie brachten ihn zum Bureau des Syndikats, gaben ihm ein Nachtquartier +und versprachen ihm, man wolle versuchen, ihm eine Stelle in einer +Blechschmiede zu verschaffen. + +Senjor Doux hatte ihn auch noch um seinen Streikbrecherlohn betrogen, +ihm nur fünfzig Centavos gegeben und vierzig Centavos für ein +zerbrochenes Wasserglas berechnet. + +Der Deutsche machte andre Erfahrungen, wie mir später erzählt wurde. Am +folgenden Morgen wurde er dem Polizeioffizier vorgeführt. Anstatt daß +man ihn gelobt hätte für seine treue Streikbrecherarbeit, fragte ihn der +Offizier, wo er seinen Einwanderungsschein habe. + +„Ich habe keinen“, sagte er mit Hilfe eines Dolmetschers. + +„Wie sind Sie denn hier in das Land gekommen?“ + +„Mit einem Schiff.“ + +„So. Also von einem Schiff ausgerückt.“ + +„Nein, ich habe abgemustert.“ + +„Ja, diese Abmusterung kennen wir schon. Wir übergeben Sie jetzt Ihrem +Konsul mit der Bedingung, daß er Sie mit dem nächsten Schiff wieder nach +Deutschland zurückschickt. Wir können die Deutschen sonst sehr gut +leiden, aber Sie machen dem deutschen Namen keine Ehre. Sie stiften hier +nur Unfrieden, und für solche Leute haben wir hier keinen Platz.“ + +Zwei Polizisten brachten ihn zum Konsul. + +Von nun an war der Konsul für ihn verantwortlich. Er mußte ihn +verpflegen, bis ein deutsches Schiff da war, das ihn mitnahm. + +„Was haben Sie denn hier ausgefressen? Gestohlen?“ fragte der Konsul. + +„Nein. Ich habe in der La Aurora als Kellner gearbeitet und eins über +den Kopf gekriegt“, sagte der Mann. + +„In der La Aurora wird doch gestreikt. Wußten Sie das nicht?“ + +„Freilich. Sonst hätte ich doch nicht da als Kellner arbeiten können, +ich bin doch Tischler.“ + +„Ja, lieber Freund, Sie sind hier nicht in Deutschland. Streikbrecher +sind hier nicht beliebt. Wir haben hier eine Arbeiterregierung, und zwar +eine richtige Arbeiterregierung, die zu den Arbeitern hält. Wenn hier im +Wasserwerk oder im Elektrizitätswerk gestreikt wird, dann gibt es keine +Technische Nothilfe wie in Deutschland oder in Amerika, sondern dann +gibt es eben kein Wasser und keine Elektrizität, bis die Streikenden +sagen: So, nun gibt es wieder was. Hier ist die Regierung neutral in +solchen Streitigkeiten. Also, Ihre Tätigkeit hier ist erschöpft. Laufen +Sie mir nicht davon. Ich kriege Sie, und dann lasse ich Sie daheim +verknacken. Sie stehen jetzt unter meiner Autorität; ich habe gebürgt +für Sie, andernfalls müßten Sie hier im Gefängnis warten, bis ein Schiff +da ist. Und das Gefängnis hier ist kein Spaß, sondern ist eine ernste +Sache.“ + +Damit war nun die Frage der Streikbrecher in der La Aurora entschieden. + + + 4 + +Es waren immer ein paar Gäste im Café, die von Senjor und Senjora Doux +bedient wurden. Aber Geschäft konnte man es nicht nennen. Wir in der +Bäckerei hatten auch nicht viel zu tun, nur gerade die Bestellungen, die +aus dem Hause gingen. + +Es war zwei Tage später und am Nachmittag. Es mochten vielleicht sechs +oder acht Gäste im Lokal sein. Unter ihnen war ein Polizeiinspektor +namens Lamas. Er war ständiger Gast in der La Aurora, kam am Nachmittag +und kam am Abend. Er hatte bei Senjor Doux eine ganz nette Rechnung +stehen, die er immer „morgen“ bezahlen wollte. Obgleich er gut +verheiratet war und zwei Kinder besaß, hatte er doch außerdem drei +Geliebte, die er alle unterhalten mußte. Das kostete Geld, und das Geld +mußte herangeschafft werden. Darum hatte er auch überall Schulden. Also +die Gäste saßen da drin im Café und aßen ihr Eis oder tranken geeiste +Erfrischungen. An einem Tisch wurde Domino gespielt und an einem andern +Karten. + +In den Vereinigten Staaten sind ja die Streikposten gute und fromme +Bürger, die an Gesetz und Autorität glauben. Wenn sie Streikposten +stehen, so tun sie das gerade so, als ob sie einem aufgebahrten Leichnam +die Ehrenwache geben. Sie sagen kein Wort, und wenn die Polizisten +kommen und sagen: „Sie müssen weiter zurücktreten, Sie stören den +Verkehr“, so tun sie das sofort, als ob der Polizist sie bezahlte und +nicht der Polizist von ihrem Gelde lebte. Dort haben die Arbeiter noch +Disziplin, und sie sind gedrillt wie Soldaten. + +Hier dagegen haben die Arbeiter nur wenig Disziplin, und die Sekretäre +müssen tun, was die Mitglieder wollen. Und es ist merkwürdig, sie +gewinnen beinahe jeden Streik. + +„He, du Hurensohn da drin,“ rief einer der Posten einem Gaste zu, „friß +doch nicht das Eis. Das ist doch nur Wasser und Zucker. Nicht ein Löffel +voll Sahne drin. Der Sauhund da will doch aus deiner Portion das +herausschlagen, was er sonst verdient, wenn nicht gestreikt wird.“ + +Der Gast hielt es offenbar mit dem Wirt; er rief hinaus: „Bezahlst du +das Eis oder ich, du Dreck.“ + +„Paß nur auf, du Eiterbeule, daß ich dir nicht mal reinkomme“, sagte +jetzt der Posten, und seine Rede wurde mit lautem Gelächter begleitet. +Einer der Gäste hatte eine Dame bei sich, die aus Strohhälmchen ihre +Squeeze saugte. + +„Ist sie noch eine Jungfrau?“ rief jetzt ein andrer Streikposten hinein. +„Mach nur schnell, Rodriguez, ehe dir ein andrer zuvorkommt.“ + +Die Dame tat, als hätte sie nichts gehört. Aber der Herr, der bei ihr +saß, rief zurück: „Dann lade ich dich ein, du Faulenzer. Für nützliche +Dinge bist du ja nicht zu gebrauchen.“ + +„Richtig, Faulenzer,“ sagte der Posten, „an wen verkaufst du sie denn +heute abend? Zwanzig Centavos bezahlt einer wohl noch und ein Glas +Eiswasser.“ + +Nun kam Senjor Doux zur Tür und sagte: „Stören Sie hier meine Gäste +nicht, wer nicht hergehört, fort!“ + +„Gäste? Sind ja alles Hurenbengel, aber keine Gäste“, schrien nun nicht +nur die Streikposten, sondern auch andre Burschen, die dabeistanden. +„Bezahlen Sie mal einen anständigen Lohn und geben Sie richtiges Essen. +Wir sollen Ihnen wohl erst einmal das Leder abziehen. Machen Sie nur ja +recht rasch. Lange warten wir nicht mehr und stehen hier auch nicht mehr +lange Posten. Dazu haben wir keine Zeit. Dann werden wir mal einen +andern Ton anstimmen.“ + +Nun kam der Inspektor Lamas zur Tür. Er mußte sich wohl für seine +Schulden einsetzen. Vorige Woche hatte er auch noch eine Torte für +fünfundzwanzig Pesos bekommen mit dem schönen Namen „Adelia“ +draufgegossen. Adelia war eine jener drei Geliebten, und die Torte war +für ihren Geburtstag bestimmt. Er war noch besonders in die Backstube +gekommen und hatte Rosenranken als Verzierungen gewünscht. Diese Torte +war er auch noch schuldig. + +Er stand eine Weile in der Tür und hörte sich die Reden mit an. Dann zog +er seinen Revolver und schlug dem Posten, der ihm am nächsten stand, mit +dem Knauf eins über den Kopf, so daß gleich das dicke Blut herausquoll. +Dann pfiff er. Es kamen zwei Polizisten, und er ließ alle Posten und +einige andre Leute, die in Sympathie mit den Streikenden waren, zur +Hauptwache führen. + +Kaum waren sie abgeführt, da kam Morales zurück, der drei Stunden +abgelöst worden war und jetzt wiederkam, um seinen Posten von neuem +anzutreten. Als er hörte, was geschehen war, rief er rein: „Du Hundesohn +da drin,“ er meinte Doux damit, „jetzt geht es dir schlecht, das sollst +du mal sehen. Bis jetzt haben wir nur Spaß gemacht. Aber wenn du das +nicht anders haben willst, wir können auch noch eine andre Flöte +blasen.“ + +Morales ging sofort zum Bureau des Syndikats. + +Zehn Minuten darauf war schon der Sekretär auf der Wache. + +„Was wollen Sie?“ + +„Sofort her mit dem Inspektor. Mit dem werde ich jetzt mal ein Wörtchen +reden. Der ist besoffen.“ + +Der Inspektor kam, und der Sekretär wollte seine verhafteten Leute +sehen. Auch diese Leute kamen, und der Sekretär fragte nun nach dem +Polizeidirektor. Auch der kam, wurde ganz aufgeregt, als er den Sekretär +des Syndikats sah, und machte sich gleich an das Geschäft. + +„Warum haben Sie den Mann geschlagen?“ fragte der Direktor. + +„Er hat die Leute im Café beschimpft.“ + +Der Direktor sah ihn jetzt voller Wut an: „Wo steht, daß Sie einen Mann, +der jemand beschimpft und sonst nichts tut, schlagen dürfen?“ + +Lamas wollte was sagen, aber der Direktor fiel ihm gleich ins Wort: +„Kennen Ihre Instruktion nicht!“ Er wandte sich zum Schreiber: +„Schreiben Sie, Lamas ist in Unkenntnis über seine Instruktionen.“ + +Dann sagte er zu Lamas: „Das ist hier kein guter Platz für Sie. Ich +werde sehen, daß ich ein Dorf für Sie kriege, wo Sie kein Unheil +anrichten können. Und wenn noch mal etwas Ähnliches vorkommt, werden wir +ohne Sie fertig werden müssen. Wird uns nicht schwerfallen. Warum haben +Sie die Leute hier verhaftet?“ + +„Die haben alle Gäste und Senjor Doux beschimpft“, sagte Lamas +schüchtern. + +„Beschimpft. Beschimpft. Was heißt das, beschimpft?“ + +„Sie haben Hurensohn gesagt“, verteidigte sich Lamas. + +„Wenn Sie jeden verhaften wollen, der Hurensohn sagt, dann werden Sie +wohl gleich um das ganze Land eine Gefängnismauer ziehen müssen. Ich +glaube, Sie sind nicht ganz richtig im Kopfe.“ + +„Sie haben die Leute aber auch noch bedroht.“ Es klang recht kläglich, +was Lamas sagte und wie er es sagte. + +„Bedroht. Was verstehen Sie denn darunter?“ + +„Sie haben gesagt, sie wollen Senjor Doux erschlagen.“ + +„Das haben wir nicht gesagt“, riefen die Verhafteten. + +Der Direktor sah Lamas ironisch an und sagte: „Hat zu Ihnen noch nie +jemand gesagt, daß er Sie erschlagen wolle? Haben Sie dann Ihre Frau und +Ihre Freunde und Bekannten auch gleich verhaftet und mit dem +Revolverkolben über den Kopf geschlagen?“ + +„Das schien aber hier sehr ernst zu sein“, sagte Lamas. + +„Um Ihre Haut oder um was? Hat einer von denen, die Sie verhaftet haben, +jemand geschlagen oder beraubt oder das Café des Senjor Doux demoliert? +Sicher nicht, denn dann würden Sie mir das gleich erzählt haben. Wir und +Sie sind dazu da, um das Eigentum und die Person des Senjor Doux zu +schützen, aber es steht nicht in der Verfassung, daß wir dazu da seien, +ihm zu helfen, Löhne zu zahlen, von denen kein Mensch leben kann, und +ihm zu helfen, seine Leute jeden Tag so lange zu beschäftigen, daß sie +nicht einmal mehr Zeit finden, mit ihrer Familie spazierengehen zu +können. Wenn die Leute sich das gefallen lassen, das geht uns nichts an; +aber wenn sie es sich nicht mehr länger gefallen lassen wollen, dann ist +es nicht unsre Aufgabe, die Leute deshalb zu verhaften. Warum verträgt +sich Senjor Doux nicht mit seinen Leuten? Dann hätte er gleich Ruhe. +Aber diese Unordnung kann nicht weitergehen. Das kann ja zu +Ruhestörungen führen. Ich werde sofort anordnen, daß das Café La Aurora +für zwei Monate geschlossen wird. Dann ist da Ruhe.“ + +Er wandte sich zum Schreiber: „Füllen Sie gleich das Schließungsdokument +aus, für zwei Monate. Ich werde es unterzeichnen und beim Gouverneur +verantworten. Und Sie, Senjor Lamas, betrachten sich als vorläufig Ihres +Dienstes enthoben, bis ich vom Gouverneur unterrichtet bin, wohin Sie +versetzt werden. Die Verhafteten sind entlassen. Außerdem irgendwelche +Beschwerden?“ + +„Nein“, erklärten die Leute. + +Der Direktor stand auf, gab dem Sekretär des Syndikats, der sich +verabschiedete, die Hand und sagte zu ihm: „Wir haben ja nun in der +Angelegenheit nichts mehr zu tun. Das Weitere liegt jetzt bei Ihnen. Es +war gut, daß ich so schnell zu erreichen war. Es sind immer noch welche +da, die nicht mitkönnen.“ + +„Oder die nicht mitwollen, weil sie gebunden sind“, setzte der Sekretär +fort. + +„Er wird einen Platz bekommen, wo er Ersparnisse machen kann, weil er +keine Ausgaben hat. Ich habe schon einen Platz für ihn, eine +Banditenregion. Wenn er etwas wert ist, da kann er es zeigen. Und wenn +er nichts wert ist, werden wir ihn feuern. Er gehört immer noch zu dem +alten Stock, die glauben, daß die Diktatur die einzig richtige Form des +Regierens ist. Wir haben sie bald alle raus, und es ist ganz gut, wenn +die Letzten, die wir drin haben, in alte Fehler verfallen und sich uns +so zu erkennen geben.“ + +„Ha!“ rief der Sekretär aus, „in den Staaten drüben sind diese alten +Fehler urmoderne Einrichtungen.“ + +„Weiß ich,“ erwiderte der Direktor, „aber wenn wir schon vieles +nachmachen, so müssen wir doch nicht alles nachmachen, und besonders +müssen wir nicht das nachmachen, was in unsre Zeit nicht mehr +hineinpaßt. Diese Mittel waren einmal gut, vielleicht, heute sind sie +die dümmsten Mittel, die man anwenden kann. Und sie werden auch drüben +nur von Eseln angewandt; und Esel haben die da drüben ja viel mehr als +wir, wenn es sich um zweibeinige handelt.“ + + + 5 + +Die beiden Beamten mit ihren grünen Schnüren am Rock kamen zu Senjor +Doux und übergaben ihm das Dokument. Doux bekam einen heillosen +Schreck und schrie zu seiner Frau: „Na ja, da haben wir ja die +Bolschewistenregierung. Die haben mir einen netten Streich gespielt.“ + +„Was ist denn los?“ sagte seine Frau näherkommend. + +„Die haben uns geschlossen.“ + +„Ich habe es dir ja immer gesagt, laß uns nicht hierhergehen. Das ist +ein ganz verrücktes Land, wo es weder Recht noch Gesetz gibt. Du kannst +nur immer Steuer zahlen, und zwar tüchtig, aber zu sagen hast du +nichts.“ + +„Sie müssen gleich zumachen,“ sagte nun der Beamte, der das Protokoll +überreicht hatte, „sonst gibt es ein Strafmandat über hundert Pesos.“ + +„Die Gäste werden doch wohl noch ihre Getränke austrinken dürfen?“ +fragte Senjor Doux. + +Der Beamte sah nach der Uhr und sagte: „Eine halbe Stunde, dann ist +Schluß. Sie kriegen einen Wachtmann her, der aufpaßt, daß Sie keine +Gäste aufnehmen für das Lokal. Den Wachtmann müssen Sie bezahlen. Das +ist ein Beamter.“ + +„Ich auch noch den Wachtbeamten bezahlen?“ + +„Sie glauben doch nicht etwa, daß wir ihn bezahlen? Wir haben kein Geld +dafür, um umsonst aufzupassen, daß Sie das Protokoll auch einhalten.“ + +Die beiden Beamten gingen raus und stellten sich vor die Tür, um die +halbe Stunde Gnadenzeit abzuwarten. Als sie um war, riefen sie hinein, +und Senjor Doux schloß wütend die Türen. Nur der Gang für das Hotel +blieb offen, weil das Hotel ja die Ruhe und Sicherheit nicht gestört +hatte. Im Lokal aber zog keine Ruhe ein, sondern es wurde lebhafter, als +es je in den letzten Tagen gewesen war. Die Douxens gerieten sich in die +Haare. Sie wurde wie eine Furie, jeder Centavo, der dem Geschäft +verlorenging, fraß an ihrem Herzen. Sie watschelte in ihren Pantoffeln +hin und her zwischen den Tischen und machte dem Manne das Dasein heiß. +Sie trug nur Hänger, gerade so übergeworfen. Die dicken fleischigen +Waden waren frei und steckten in hellgelben seidenen Strümpfen. Nacken +und der Oberteil der Brust waren auch frei, fleischig und quabbelig. Nur +ihre Jugend hielt diese ausgewachsenen Massen in einer Form, die nicht +gerade häßlich wirkte, sondern mehr verlockend. Aber fünf Jahre mehr +würden das Verlockende sicher auslöschen, und das Häßliche würde nicht +nur bleiben, sondern verstärkt werden. Die Arme guckten ihrer ganzen +Länge nach nackt aus den Ärmellöchern des Hängers. Sie hätte, nach dem +Aussehen ihrer Arme zu urteilen, als Ringkämpferin auftreten können. +Aber es war nur quabbeliges Fleisch, wie alles übrige ihres Körpers. Im +Nacken hatte sie einen Fleischwulst, der vorläufig nur schüchtern sich +hervorwagte, aber in einigen Jahren Landmarke sein würde. So wie sie +jetzt herumlief, lief sie immer im Lokal herum. Wäre es ein andres Lokal +gewesen, man hätte sie gut für eine Bordellmutter halten können, mit der +nicht gut zu spaßen war. Die Hänger wechselte sie zuweilen. Sie hatte +einen grauen, einen rosafarbenen, einen grünen, einen dunkelgelben und +einen hellvioletten. Ob sie irgendein andres Kleid besaß, weiß ich +nicht. Ich habe nie ein andres an ihr gesehen. + +Senjor Doux lief auch stets in Hemd und Hose umher. Nur wenn er zum +Markt ging, setzte er einen Hut auf. Er trug immer eine schwarze Hose, +die er mit einem schmalen Ledergürtel hielt, ein weißes Hemd mit Kragen +und schwarzem Schlips. Sein Bauch stand spitz vor, als ob er am +Aufblasen sei. Auch die Senjora schien einen ähnlichen spitzen Bauch zu +haben. Man konnte das nur nicht so beurteilen, weil der Hänger das +ausglich. Aber was sie vorn zuviel hatte, fehlte ihr hinten. Das heißt, +hinten war schon allerlei vorhanden; aber das proportionale Verhältnis +zum Bauch war doch nicht kräftig genug, um der ganzen Figur die mollige +Form zu geben. Und weil vorn viel mehr war als hinten, so sah es in dem +Hänger immer so aus, als ob sie hinten nur das Allernotwendigste habe, +und als ob selbst dieses Allernotwendigste gerade am Überlegen sei, ob +es nicht auch noch nach vorn rutschen solle. Jedenfalls brauchte Senjor +Doux nicht verlegen sein, er konnte gut etwas in den Händen halten und +brauchte nicht zu befürchten, sich an Knochen wund zu stoßen. „Du bist +ja rein verrückt gewesen,“ schrie sie auf ihn ein, „hier in dieses +wahnsinnige Land zu gehen.“ + +„Ich?“ schrie er zurück. „Warst du es nicht, die jeden Tag mir die Ohren +volljaulte, daß hier das Geld auf der Straße läge, und daß man es nur +aufzuschaufeln brauche?“ + +„Du gemeiner Lügner, du,“ brüllte sie los, „du dreckiger Marseiller +Zuhälter, der du bist, hast du nicht mein ganzes Geld abgehoben und mir +gesagt, daß es hier tausend Prozent bringe in zwei Jahren?“ + +„Habe ich vielleicht nicht recht damit gehabt? Wir sind hierhergekommen +mit nichts. Oder wieviel haben wir denn gehabt? Achthundert Pesos. Oder +vielleicht mehr? Und jetzt haben sie mir schon achtundsechzig tausend +Pesos für das Haus und Café geboten. Und ich verkaufe es nicht dafür, +weil es viel mehr wert ist.“ + +„Mehr wert? Mehr wert?“ erboste sie sich. „Nicht einen Dreck ist es +wert. Wo denn? Es ist zu. Die werden dir kaum die Ziegelsteine bezahlen. +Aber das habe ich dir ja schon damals gesagt, als die neue Regierung +herankam. Wie heißt denn der Hund, der Obregon, der Spitzbube! Da war es +vorbei.“ + +„Wir haben doch erst seitdem angefangen, zu etwas zu kommen. Oder +vielleicht vorher? Vorher vielleicht? Wo wir einhundert Pesos nach den +andern schmieren mußten, um die Augen aufbehalten zu dürfen. Jeder hielt +die offne Hand hin.“ + +„Und jetzt,“ widersprach sie ihm, „ist es jetzt anders? Jetzt stehen die +Leute immer mit der offnen Hand da. Erst die Küche, nun die Kellner, und +du wirst sehen, die Bäckerei kommt auch noch hintennach. Dann können wir +heimfahren, bettelarm.“ + +„Laß mich jetzt in Ruhe, zum Donnerwetter nochmal“, schrie er in voller +Wut. „Du verdirbst alles mit deiner Habgier und mit deinem verfluchten +Geiz.“ + +„Ich geizig? Geizig ich? Wo ich doch das ganze Geld zusammenhalten muß, +weil du es sonst verhuren würdest mit den Weibsbildern. Und das nennst +du geizig? Du freilich kümmerst dich nicht um die Kinder und was daraus +wird. Du gehst huren, und ich habe die Kinder am Halse.“ + +Da hörten wir ja feine Familiengeheimnisse. Ich glaube kaum, daß die +Senjora recht hatte; denn ich wüßte nicht, wann er sich Zeit genommen +hätte, Seitensprünge zu machen. Aber solche Auseinandersetzung war wohl +das, was man „ein eheliches Zwiegespräch“ nennt. Denn die beiden lebten +in durchaus glücklicher Ehe und Harmonie. Diese glückliche Ehe wurde nur +eben dadurch gestört, daß Arbeiter anfingen, aufzuwachen und die Gewinne +derer zu überrechnen, für die sie arbeiteten. Solches Überrechnen stört +zuweilen Könige und ganze Staaten. Warum soll es nicht auch die Harmonie +von Ehen stören? + +Diese ehelichen Zwiegespräche wurden in den nächsten Tagen nicht nur +heftiger, sondern auch häufiger. Sie füllten das ganze Tagesleben der +beiden Doux aus und zogen sich die ganze Nacht hin, während die beiden +nebeneinander im Bett lagen. Dadurch lernten wir das ganze Leben der +beiden kennen, von dem Tage an, wo sie geboren wurden, bis zu der +Stunde, wo sie sich im Bett schlugen, Lampen und Waschschüsseln und +Nachttöpfe zerhämmerten. Das alles hatte ihr Freund, der +Polizeiinspektor verursacht. Sie aber behaupteten, die junge +Organisation, das „Syndikat der Hotel- und Restaurantangestellten“ sei +schuld. Nicht schuld an den ehelichen Liebesgesprächen, wohl aber an der +allmählichen Verschiebung der Machtverhältnisse im Lande. + +Als sie beide jenes Stadium erreicht hatten, in dem sie mit der Absicht +umging, ihm Rattengift in den Kaffee zu mischen, und er die ganze Nacht +hindurch an das Rasiermesser dachte, mit dem er ihr die Kehle +durchschneiden wolle, bewies er, daß der Mann der Frau überlegen ist. + +Er ging zum Polizeidirektor und fragte, was zu tun sei, um die +zweimonatige Schließung des Lokals aufzuheben. Der Polizeidirektor sagte +ihm, daß er da gar nichts tun könne; die Schließung sei für zwei Monate +angeordnet, der Gouverneur habe es bestätigt, und ehe die zwei Monate +nicht vorüber seien, könne er nicht wieder öffnen. + +„Dann bin ich bankrott“, sagte Senjor Doux. „Und dann haben die Kellner +und Bäcker keine Arbeit mehr.“ + +„Machen Sie sich nur darum keine Sorge, Senjor,“ erwiderte der Direktor, +„solange Leute Brot essen wollen, so lange werden auch Leute, die Brot +backen, Arbeit finden, und solange jemand im Café sitzen und Erdbeereis +löffeln will, wird man auch Kellner verlangen, die es ihm auf den Tisch +stellen. Das sehen Sie ja an der ‚La Moderna‘, die ist jetzt immer gut +besucht. Alle Ihre Gäste sind da. Aber ich kann nichts tun. Das Lokal +ist geschlossen, und es bleibt zwei Monate geschlossen.“ + +Am Nachmittag dieses Tages traf Senjor Doux den Morales. + +„Hören Sie, Morales, ich will alles bewilligen,“ sagte ihm Doux in +bescheidener Ansprache, „können Sie nicht dafür sorgen, daß mein Lokal +wieder aufgemacht wird?“ + +Morales sah ihn von oben bis unten an und gab ihm zur Antwort: „Wer sind +Sie denn? Ach so, Sie sind ja der Doux vom Café La Aurora. Wir haben mit +Ihnen nichts zu tun. Unsre Beziehungen sind nun gelöst. Wenn Sie was +wollen, gehen Sie zum Syndikat. Aber uns geht das nichts an. Adios.“ + +Senjor Doux schrieb einen Brief an das Syndikat, daß er den Herrn +Sekretär sprechen wolle, er bitte ihn höflichst, zu ihm zu kommen, um +die Angelegenheit in dem Kellnerstreik mit ihm zu besprechen. Am andern +Tage erhielt Senjor Doux die Antwort vom Syndikat. Es waren keine +Höflichkeitsfloskeln darin enthalten, sondern nur in einem kurzen klaren +Satze war gesagt: „Wenn Sie etwas vom Syndikat wünschen, das Bureau ist: +Calle Madero Nr. 18. Segundo Piso. Der Sekretär.“ + +Er hielt es nicht einmal für nötig, der Sekretär, seinen Namen zu +nennen. Was blieb Senjor Doux übrig, er mußte gehen; denn das +Rasiermesser verfolgte ihn Tag und Nacht, und selbst wenn er aß, hatte +er das Gefühl, daß sein Tischmesser ein Rasiermesser sei. „Setzen Sie +sich da in den Vorraum“, sagte ein Arbeiter, der im Bureau aushalf. „Wir +haben noch zu tun, eine Besprechung. Es wird nicht lange dauern.“ Es +dauerte aber doch über eine halbe Stunde, und Senjor Doux hatte +inzwischen Zeit, die Sinnsprüche, die an den Wänden hingen, auswendig zu +lernen. Jeder dieser Sprüche erregte zuerst seine Wut. Je länger er sie +aber studierte, desto mehr Angst bekam er vor den Dingen, die ihm hinter +der Tür bevorstanden, wo er eine Schreibmaschine klappern hörte. + +Endlich kam der Arbeiter und sagte: „Senjor, der Sekretär will Sie +sprechen.“ + + + 6 + +Senjor Doux schluckte, als er den kleinen Raum des Sekretärs betrat. Er +hatte beabsichtigt, dem Sekretär gleich fest in die Augen zu sehen; aber +er kam nicht dazu. Denn hinter dem Sekretär war über die ganze Wand eine +Fahne, zur Hälfte rot, zur andern Hälfte schwarz, gespannt und darüber +stand in dicken Lettern: + +¡Proletarios del mundo, unios! (Proletarier aller Länder, vereinigt +euch!) + +Das machte Senjor Doux ganz verwirrt. Er hatte plötzlich den Eindruck, +als ob da vor ihm nicht der Sekretär sitze, sondern alle Kellner der +ganzen Welt ihn wütend anblickten. Seine Stimme, die so fest sein +sollte, wurde ganz zaghaft, als er nun sagte: „Guten Tag, ich bin Senjor +Doux vom Café La Aurora.“ + +„Gut. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie?“ fragte der Sekretär. + +„Ich möchte gern wissen, ob Sie veranlassen können, daß mein Café wieder +geöffnet wird.“ + +„Das können wir veranlassen“, erwiderte der Sekretär. „Sie brauchen nur +die Bedingungen zu erfüllen.“ + +„Oh, ich bin bereit, alles zu bewilligen, was die Kellner fordern.“ + +Der Sekretär nahm einen kleinen Zettel, warf einen Blick darauf und +sagte: „Die Forderungen sind nicht mehr die gleichen, die gestellt +wurden, als die Kellner Ihnen die Mitteilung machten.“ + +„Nicht mehr die gleichen?“ schluckte Doux erschreckt. + +„Nein. Es sind fünfzehn Pesos die Woche“, sagte der Sekretär +geschäftsmäßig. + +„Die forderten aber nur zwölf.“ + +„Das ist leicht möglich. Aber dann wurde gestreikt. Und Sie verlangen +doch nicht etwa, daß die Leute umsonst streiken. Jetzt macht es +fünfzehn. Hätten Sie gleich bewilligt, wäre es bei zwölf geblieben.“ + +„Gut,“ erwiderte Doux, sich aufrichtend, „ich bewillige die fünfzehn +Pesos.“ + +„Freitag ist Zahltag. Freitags für die ganze Woche. Diese unpünktlichen +Zahlungen können wir nicht mehr zulassen“, sagte der Sekretär. + +„Aber das kann ich nicht so ohne weiteres machen. Wir haben das immer so +gemacht, daß wir zahlten, wenn wir das Geld eben gerade dazu frei +hatten.“ + +Der Sekretär sah auf: „Was Sie immer getan haben, geht uns nichts an. +Wir bestimmen, was Sie von nun an zu tun haben. Mit dieser alten +Wirtschaft, wie sie Hunderte von Jahren bestanden hat, wollen wir nun +endlich ein Ende machen. Da ist die Arbeit, hier ist der Lohn, Ebenso +pünktlich wie Sie die Arbeit von den Leuten verlangen, haben Sie den +Lohn zu zahlen!“ + +„Das wird aber schwer gehen“, verteidigte Doux seine Position. „Dann +fehlt mir oft das Geld für Einkäufe.“ + +„Das kümmert uns nichts. Löhne gehen vor, sonst fehlen den Leuten die +Pesos, um _ihre_ Einkäufe zu machen. Und wir denken, es ist besser, daß +Ihnen das Geld für Einkäufe fehlt als den Arbeitern.“ + +Senjor Doux atmete schwer. „Aber am Samstag ist doch erst die Woche um. +Warum soll ich da Freitag schon den Lohn zahlen?“ + +„Warum? Warum? Ist Ihnen denn das nicht klar?“ Der Sekretär tat ganz +erstaunt. „Der Arbeiter borgt Ihnen ja sowieso schon fünf Tage Lohn. Er +gibt Ihnen seine Arbeitskraft fünf volle Tage, während Sie mit dem +Kapital Geschäfte machen. Wie kommt denn der Arbeiter überhaupt dazu, +Ihnen fünf Tage Arbeit zu borgen? Eigentlich sollten Sie Montag früh im +voraus für die ganze Woche bezahlen, das würde sich gehören. Aber so +weit wollen wir nicht gehen.“ + +„Gut, also damit bin ich auch einverstanden. Auch mit dem einen +Vollessen und dem Kaffee mit Zugebäck. Dann ist ja wohl das alles in +Ordnung?“ Senjor Doux stand auf. + +„Setzen Sie sich nur noch einen Augenblick“, lud ihn der Sekretär ein. +„Da sind noch einige Nebenfragen zu erledigen. Die Streiktage müssen Sie +bezahlen.“ + +„Ich? Die Streiktage bezahlen?“ schrie Senjor Doux. „Ich soll auch noch +die Faulenzerei bezahlen?“ + +„Streik ist keine Faulenzerei. Und wenn bei Ihnen gestreikt wird, müssen +Sie den vollen Lohn weiter zahlen. Streik ist auch Arbeit. Sonst könnten +Sie alle, die ganzen Hotelbesitzer und Kaffeehausbesitzer, uns ja zu +einem langen Streik treiben, um unsre Kassen zu zerstören, so daß wir +nie wieder streiken könnten. Nein, Senjor, darauf lassen wir uns nicht +ein. Der Streik wird von uns finanziert. Wir sind nur die Lehnsbank für +die Arbeiter. Aber zu zahlen haben Sie den Streik. Sie haben ja Zeit, +reichlich, sich zu überlegen, ob Sie es zum Streik kommen lassen wollen +oder nicht. Die Kriegskosten muß der bezahlen, der den Frieden braucht, +um wieder Geschäfte zu machen.“ + +„Das ist die größte Ungerechtigkeit, die mir je vorgekommen ist“, rief +Senjor Doux. + +„Ich will Ihnen nicht die Ungerechtigkeiten hier vorzählen, die Sie und +Ihresgleichen jahrelang verübt haben“, sagte der Sekretär. + +„Es bleibt mir wohl nichts andres übrig, ich muß auch das bezahlen“, +gestand Doux nun kleinlaut. + +„Am besten gleich heute,“ erklärte der Sekretär, „denn morgen kostet es +bereits einen Tag mehr.“ + +„Dann werde ich noch vor fünf Uhr herkommen und alles bezahlen“, sagte +Senjor Doux und erhob sich abermals. + +„Bringen Sie aber etwas mehr mit“, warf der Sekretär ein, während er +sich gleichfalls erhob. + +„Noch mehr?“ fragte Senjor Doux erschreckt. + +„Ja, ich denke, Sie wollen doch das Café jetzt schon geöffnet haben und +nicht erst nach zwei Monaten.“ + +„Ist denn das nicht damit verbunden, wenn ich alles bewillige?“ Senjor +Doux wurde ganz nervös. + +„Keineswegs“, erwiderte der Sekretär. „Das Schließen des Lokals hatte +andre Gründe als den Streik. Das wissen Sie wohl recht gut. Sie haben +den Inspektor aufgefordert, den Streikposten einen Denkzettel zu geben.“ + +„Das habe ich nicht getan“, wehrte sich Doux. + +„Wir sind darüber andrer Meinung. Es ist jedenfalls in Ihrem Lokal +geschehen, und Sie sind für die Vorgänge in Ihrem Lokal verantwortlich. +Sie konnten es leicht verhindern, daß so etwas vorkommen konnte.“ + +„Dann sagen Sie doch schon, was ich noch zu tun habe“, drängte Senjor +Doux. + +„Sie haben zehntausend Pesos in die Kasse unsres Syndikats zu zahlen als +Sühnegeld. Sobald Sie die Summe eingezahlt haben, werden wir für Sie die +Garantie übernehmen, und dann kann das Café geöffnet werden, und die +Siegel werden abgelöst.“ + +„Zehntausend Pesos soll ich zahlen?“ Senjor Doux war wieder in den Stuhl +gefallen. Der Schweiß brach ihm aus. + +„Sie brauchen es nicht zu bezahlen. Wir zwingen Sie nicht. Dann bleibt +das Café zwei Monate geschlossen.“ Der Sekretär wurde ganz trocken und +kaufmännisch. „Natürlich haben Sie nach zwei Monaten die Löhne für die +Kellner für die vollen zwei Monate nachzuzahlen. Die können doch nicht +verhungern. Und wir können ihnen leider nicht erlauben, andre Arbeit +anzunehmen, weil sie sich bereit halten müssen, bei Ihnen wieder +anzufangen, sobald Sie öffnen. Wir können doch nicht zugeben, daß Sie +eines Tages, wenn Sie öffnen wollen, keine Kellner haben und vielleicht +geschäftlichen Schaden erleiden. Und damit Sie gleich im klaren sind, +ein für allemal: Es ist nicht unsre Absicht, das Geschäftsleben zu +vernichten oder auch nur zu stören. Durchaus nicht. Aber es ist unsre +Absicht, dafür zu sorgen, daß der Arbeiter von dem, was er produziert, +nicht nur einen angemessenen Anteil erhält, sondern den Anteil, der ihm +zukommt bis zu der höchsten Grenze, die das Geschäft tragen kann. Und +diese Grenze ist viel höher, als Sie glauben. Damit beschäftigen wir uns +augenblicklich besonders eingehend, die Tragfähigkeit jedes +Arbeitszweiges zu errechnen. Arbeitszweige, die dem Arbeiter nicht so +viel eintragen, daß er ein Leben führen kann, wie es einem Menschen von +heute zukommt, sollen zugrunde gehen. Dabei wollen wir helfen. Und wenn +solche Arbeitszweige wichtig sind für die Allgemeinheit, dann werden wir +dafür sorgen, daß die Allgemeinheit dem Arbeiter ein menschenwürdiges +Dasein gewährleistet. Daß Ihr Café für die Allgemeinheit so sehr wichtig +wäre, bestreite ich. Aber es ist nun einmal da. Und solange Sie es dazu +benutzen, Ihr Vermögen zu vergrößern, bringt es auch genügend ein, um +anständige Löhne zu zahlen. Wenn Sie nichts mehr verdienen können, +werden Sie schon von selber zumachen. – So, das habe ich Ihnen gesagt, +damit Sie nicht denken, wir sind Erpresser. Nein, wir wollen nur, daß +die Leute, die Ihnen ein Vermögen produzieren, den Anteil bekommen, auf +den sie ein Recht haben. Für Sie bleibt noch genug übrig.“ + +Senjor Doux hatte das sicher nur zur Hälfte verstanden. Er saß ganz +verdöst da. In seinem Kopfe surrten nur immer jene zehntausend Pesos +herum, die er da auf den Tisch legen sollte. Er traute sich nicht ja zu +sagen aus Angst vor seiner Senjora. Aber ebensowenig traute er sich ein +glattes Nein hier hinzuwerfen, gleichfalls aus Angst vor der Senjora. Er +wußte ja nicht, was sie vorziehen würde. Jeder Tag Zögerung kostete +Geld. Schließlich kam es auf mehr heraus als auf diese zehntausend +Pesos, wenn er zwei Monate geschlossen halten mußte und dann außerdem +die Löhne nachzuzahlen hatte. So arbeitete er mit den Summen in seinem +Kopfe, bis er halb verrückt wurde. + +Er stand auf und sagte: „Ich werde es mir überlegen.“ + +Er verließ das Bureau, ging die Treppe hinunter und trat auf die Straße. +Er wischte sich den Schweiß und schnappte nach Luft. Dann machte er sich +auf den Heimweg. Dabei kühlte er ab und fing an, die Sache ruhig zu +überlegen. Er rechnete auf einem Papierstückchen hin und her und kam +endlich zu der Überzeugung, daß es billiger sei, sofort alles zu +bezahlen. + +Nun aber Senjora Doux. Ging er erst heim, so gab es die furchtbarsten +Kämpfe. Sagte er ein bündiges Nein, würde sie sagen: „Warum hast du +nicht ja gesagt?“ Umgekehrt hätte sie gesagt: „Warum hast du nicht nein +geantwortet.“ Er konnte in diesem Falle tun, was er wollte, er würde es +ihr nie recht machen, denn es kostete Geld, und zwar reichlich Geld. Und +in allen Dingen, die Geld kosteten und nicht das Doppelte einbrachten, +gab es Krakeel. Endlich aber packte ihn ein stolzer Mannesmut, einmal +seinen Willen ganz allein, und ohne seine Frau zu fragen, durchzusetzen. +Und er dachte das am besten in der Weise zu tun, wenn er eine +Entscheidung traf, die sie in die hellste Wut treiben müßte. Und das +war, sofort zur Bank zu gehen, das ganze Geld, das nötig war, abzuheben +und sofort wieder, ohne auch nur seine Frau zu sprechen, zum Bureau +zurückzugehen und alles glatt zu bezahlen. + +Eine halbe Stunde später war er im Bureau, zahlte jeden Peso, der +aufgesetzt war, und dann sagte ihm der Sekretär: „Abends um sieben +dürfen Sie Ihr Café wieder aufmachen. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen +bis dahin das Aufhebungsprotokoll zugestellt wird.“ + +Senjor Doux faltete die Quittungen zusammen, nachdem die Marken +draufgeklebt waren, und sagte dann: „Ich habe nur eine kleine Einwendung +zu machen.“ + +„Ja?“ fragte der Sekretär. + +„Ich soll doch jetzt die Löhne Freitags zahlen für die ganze Woche?“ + +„Allerdings“, erwiderte der Sekretär. + +„Was dann aber, wenn der Mann am Samstag nicht wiederkommt? Dann hat er +ja einen Tag Lohn, mit dem er fortgelaufen ist.“ + +„Sehen Sie mal an,“ sagte der Sekretär lächelnd, „wie gut Sie rechnen +können. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet. Sie sind ja bisher +den Leuten manchmal sechs Wochen lang mit dem Lohn davongelaufen, nicht +nur mit einem Tag, nein, mit sechs Wochen Lohn.“ + +„Aber die Leute haben doch dann immer ihren Lohn bekommen, und ich bin +ihnen doch sicher.“ Senjor Doux warf sich in die Brust. + +„Ob Sie so sicher sind, ist noch sehr die Frage. Sie können ja unter der +Hand verkaufen und laufen davon mit den stehenden Löhnen. Aber das kommt +vielleicht nicht vor. Was aber vorkommt, das ist, daß Sie immer einige +Wochen lang die Löhne festhalten und mit diesem Gelde, das den Kellnern +gehört, Geschäfte machen, ohne den Leuten Zinsen dafür zu zahlen. Wie +kommen die Leute dazu, Ihnen Geld kostenlos vorzustrecken? Das wird nun +aufhören. Sie können noch froh sein, daß wir nicht anordnen, die Löhne +werden Mittwoch abend für die ganze Woche bezahlt, so daß also das +Risiko auf halb und halb geht. Lassen wir es bei Freitag. Wenn Sie +anständig zu den Leuten sind, läuft Ihnen schon keiner mit dem einen Tag +Lohn davon. Und sollte es wirklich einmal einer tun, so werden Sie daran +nicht zugrunde gehen. Also diese Frage ist nun geklärt. Besser, Sie +beeilen sich, daß Sie bis um sieben mit allem fertig sind und Ihre Gäste +zufriedenstellen können.“ + +Senjor Doux verließ das Bureau und ging heim. + + + 7 + +„Das ist ganz vernünftig, daß du das gemacht hast“, sagte seine Senjora +wider Erwarten. „Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir das +alles sparen können.“ + +„Nach dir?“ fragte Senjor Doux erstaunt. „Es ist ja alles nach dir +gegangen. Du hast mir ja geraten, ich sollte die Kellner alle +rausfeuern, es wären genug auf der Straße, die froh seien, wenn sie +dafür arbeiten könnten.“ + +„Das ist doch auch richtig“, erwiderte Senjora Doux. „Sie laufen uns ja +das Haus ein, um Arbeit zu kriegen. Daß mit einem Male niemand kommen +würde außer diesen beiden Vagabunden, hatte ich nicht gedacht. Das war +mein ganzer Fehler in der Rechnung. Laß nur gut sein, wir holen das Geld +schon wieder herein; die Bäckerei und die Konditorei muß es bringen. Die +sind ja anständiger als die Kellner, die sind ja keine Bolschewisten.“ + +So war es. Die Bäckerei und die Konditorei mußten den Schaden gutmachen. +Senjor Doux tat etwas für Reklame. Er ließ in den Kinos und in den +Zeitungen inserieren, was für gute Brötchen er backe, wie gut seine +Kuchen und Torten seien und wie vorzüglich das Kleingebäck. + +Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend nun um elf, Samstags um zehn +anfangen mußten, und daß es dann durchging bis zum andern Tage +nachmittags um vier oder fünf. Das wurde nun schon die Regel. Wem es +nicht gefiel, der hörte auf. Das war Senjor Doux recht angenehm. Dann +erklärte er, daß niemand wegen Arbeit nachfragen käme, und wir mußten +eine Weile für den einen oder gar zwei, die aufgehört hatten, noch +mitarbeiten. + +In Wahrheit aber war es so, daß Senjor Doux so lange wie nur irgend +möglich den fehlenden Mann nicht ersetzte, um den Lohn für ihn zu +sparen. Denn wir schickten ihm Leute zu, die er nicht annahm, und zu +denen er sagte, es sei nichts frei. Das ging dann so lange, bis wir +einfach Bestellungen liegen ließen. Wenn es sich um Bestellungen +handelte, die für einen Geburtstag oder einen Namenstag sein sollten, +dann gab es immer Unannehmlichkeiten für Senjora Doux. Er drückte sich, +und sie hatte sich mit der Kundschaft herumzuschlagen. Endlich wurde es +ihr zu bunt, und sie selbst nahm einen oder zwei neue Leute an, immer +die billigsten, die nichts von der Bäckerei verstanden und auch nicht +genügend Intelligenz besaßen, es rasch zu begreifen. + +Mit Senjor Doux hatte der Meister auch jeden Tag seine +Auseinandersetzungen. Den einen Tag fehlte der Zucker. Der Meister ging +zum Doux und sagte ihm, daß wir zweihundert Kilo Zucker benötigten. + +„Gut, gut,“ erwiderte Senjor Doux, „werde ich gleich bestellen.“ + +Aber er bestellte nicht, nur um ein paar Tage länger das Geld in der +Tasche behalten zu können. Dann kam eine Stunde, in der überhaupt kein +Zucker da war und wir uns mit den Kellnern herumschlugen, die in die +Backstube kamen, um auch noch den letzten Rest von Zucker für das Café +herauszuholen, wo die Gäste vor leeren Zuckerdosen saßen. Dann sauste +Senjor Doux los, um rasch den Zucker heranzuschaffen. Wir konnten mit +unsrer Bäckerei dann stehen und warten, konnten nicht weiterarbeiten, +bis der Zucker da war, konnten aber auch nicht zu Bett gehen, weil die +Ware noch fertig werden mußte und wir auf den Zucker zu warten hatten. + +So ging es mit den Eiern. Da waren fünfhundert Kisten bestellt. Die +kamen auch. Dann, wenn wir an den letzten fünfzig Kisten arbeiteten, +sagte der Meister dem Senjor Doux: „Eier müssen bestellt werden.“ + +„Hat es nicht Zeit bis morgen?“ fragte Doux. + +„Ja, bis morgen hat es Zeit, aber dann müssen sie bestellt werden.“ + +„Gut denn“, sagte Doux, und er war recht zufrieden, daß er bis morgen +warten durfte. + +Am folgenden Vormittag hatte der Meister dann wieder reinzulaufen. „Es +wird aber höchste Zeit, übermorgen sind wir fertig mit den Eiern.“ +Diesmal fragte Doux nicht, ob es Zeit habe bis morgen, sondern er +wartete selbst auf eignes Risiko bis morgen. Und dann kam richtig die +Stunde, wo wir umherstanden und auf die Eier zu warten hatten. + +Und ebenso ging es mit dem Eis. Das Speiseeis sollte bis zwei Uhr fertig +sein. Die Masse hatten wir längst fertig. Aber das Roheis kam nicht, +weil Doux es zu spät bestellt hatte. Dann kam es statt um eins um drei +oder um vier, und wir hatten zu warten und umherzustehen, weil wir nicht +Schluß machen konnten, ehe das Eis fertig war für das Café. + +So wurde mit unsrer Zeit gewüstet. Es war nicht alles reine Arbeitszeit, +nein, es war verwüstete Zeit, die wir nutzlos vergeuden mußten, nur weil +Senjor Doux ein paar Stunden länger sein Geld behalten wollte, und weil +unsre Arbeitszeit, unsre Lebenszeit ja nicht für Stunden, sondern für +die ganze Woche von ihm gekauft wurde. Und jede Minute unsres Lebens +gehörte ihm, nicht uns. Er bezahlte dafür. + +Wenn es uns nicht gefiel, gut, wir konnten ja gehen. Wir konnten gehen +und verhungern. Arbeitsgelegenheit war rar. Und die Arbeit, die zu haben +war, wurde von den Eingeborenen weggeschnappt, die es für einen Lohn +taten, von dem man nicht leben kann, selbst wenn man Eingeborene davon +mit ihren Familien leben sieht. Was blieb einem übrig? Verhungern oder +tun, was dem Herrn beliebte. Mit den Kellnern konnte er nicht mehr tun, +was ihm beliebte. Wir hatten jetzt alles das mit zu übernehmen, was er +an ihnen nicht verüben konnte. Wir waren Gesindel. Wenn wir gingen, +zwanzig andre warteten, überselig, in eine Bäckerei zu kommen, wo es +nicht nur Brot reichlich zu essen gab und Kuchen, nein, wo es sogar +Mahlzeiten gab, so gut, wie sie diejenigen, die als Arbeiter für die +Bäckerei in Frage kamen, nie auf ihrem Tische gesehen hatten. + +Die Kellner waren Mexikaner oder Spanier, intelligente Burschen, +aufgeweckt und rührig. Aber wir in der Bäckerei waren zusammengelesenes +Gesindel, ohne Familie, ohne Wohnort. Einige konnten nicht einmal +Spanisch sprechen. Die Arbeitsverhältnisse und Löhne boten auch nicht +die geringste Anziehungskraft für Arbeiter, die Klassenstolz haben. +Bürgerstolz hatten wir schon. Aber mit Bürgerstolz kann man die +Lebensverhältnisse des Arbeiters nicht verbessern. Denn Bürgerstolz hat +der Unternehmer selbst genug, und er weiß, wie er ihn zu seinen Gunsten +zu gebrauchen hat. Das ist sein Schlachtfeld, wo er jeden Kniff kennt +und jeden Angriff mit Erfolg zu parieren versteht. Wir strebten nur +danach, etwas zu sparen und dann einen kleinen Handel anzufangen oder +das Reisegeld zusammenzubekommen, um nach Colombia zu gehen. Wir +versuchten aus dem Acker, den wir bebauten, soviel herauszuholen wie nur +möglich. Ob die, die nach uns auf diesem Acker sich ansiedeln mußten, +darauf verreckten, das war uns gleichgültig. Jeder ist sich selbst der +Nächste. Ich grase einmal ab und ziehe auch noch die Wurzeln mit heraus, +wenn das Gras nicht langt. Nach uns die Sündflut. Was gehen mich meine +Mitsklaven an? + +Senjor Doux und alle seine Geschäftskollegen in der Stadt verstanden es +schon, uns jede Möglichkeit zu nehmen, nachdenken zu lernen. Es ist ja +hier Neuland. Jeder hat nur einen Gedanken: Reich zu werden, recht rasch +reich zu werden; ohne Rücksicht darauf, was aus dem andern wird. So +machen es die Ölleute, so die Minenleute, so die Kaufleute, so die +Hotelbesitzer, so die Cafeterios, so jeder, der ein paar Kröten hat, +etwas auszubeuten. Wenn er kein Ölfeld, keine Silbermine, keine +Ladenkundschaft, keine Hotelgäste ausbeuten kann, so beutet er den +Hunger der zerlumpten Arbeiter aus. Alles muß Geld bringen, und alles +bringt Geld. In den Muskeln und Adern hungernder Arbeiter liegt das Gold +genau so gut aufgespeichert wie in den Goldminen. Goldminen auszubeuten, +erfordert oft große Kapitalien und ist häufig mit einem großen Risiko +verknüpft. Die Goldminen, die hungernde Arbeiter in ihren Kadavern +tragen, sind bequemer auszubeuten als unsichere Ölfelder, wo man zehnmal +auf zweitausendfünfhundert Fuß bohren kann mit großen Kosten und nichts +als tote Brunnen macht. Solange der Arbeiter seine Knochen rühren kann, +ist er kein toter Brunnen. Da ist der Ungar Apfel. Er kam her mit +einigen hundert Pesos und fand keine Arbeit. Dann mietete er sich eine +kleine Baracke und kaufte sich bei einem Althändler Werkzeuge und bei +einem andern Althändler altes Blech. Davon machte er Eimer und +Wassertanks. + +Eines Tages kam ein Amerikaner vorbei und sagte: „Können Sie mir nicht +einen Tank machen?“ + +„Den kann ich machen, wenn Sie mir hundert Pesos Vorschuß geben“, +erwiderte Apfel. + +Er konnte ihn aber nicht machen. + +Dann traf er in einer chinesischen Speisewirtschaft einen hungrigen und +zerlumpten Landsmann aus Budapest, der vor der Blutgier des Herrn Horthy +hatte fortrennen müssen. Der kam in die Wirtschaft und kam auch an den +Tisch Apfels und fragte bescheiden mit einem paar Brocken Spanisch, ob +er nicht das halbe Brötchen da haben könne, das Apfel noch auf dem +Teller liegen habe, und das abgeräumt werden sollte. + +„Nehmen Sie es“, sagte Apfel. „Was sind Sie denn für ein Landsmann?“ + +„Ungar“, antwortete der Mann. + +Und nun sprachen sie Ungarisch. + +„Suchen Sie Arbeit?“ fragte Apfel. + +„Ja, schon lange, aber es ist nichts zu kriegen.“ + +„Nein, es ist nichts zu kriegen“, bestätigte Apfel. „Aber ich kann Ihnen +Arbeit verschaffen.“ + +„Wirklich?“ sagte der Mann erfreut. „Ich wäre Ihnen ja so dankbar +dafür.“ + +„Aber es ist vierzehnstündige Arbeitszeit.“ + +„Das macht nichts,“ erwiderte der Mann, „wenn es nur Arbeit ist und ich +zu essen habe.“ + +„Der Lohn ist auch nicht hoch. Nur gerade zwei Pesos fünfzig.“ + +„Damit wäre ich schon zufrieden.“ + +„Dann kommen Sie nur morgen früh dort hin“, sagte Apfel und machte dem +Manne klar, wo er seine Werkstatt habe. „Da arbeite ich auch, ich habe +da einen kleinen Kontrakt übernommen.“ + +„Da bin ich ja recht froh, daß ich mit einem Landsmann zusammenarbeiten +kann.“ + +„Das dürfen Sie auch,“ sagte Apfel, „denn irgend jemand anders stellt +Sie nicht ein. Es ist durchaus keine Arbeit zu haben.“ + +Der Mann kam und fing an zu arbeiten. Und er arbeitete tüchtig. Vierzehn +Stunden am Tage. In tropischem Lande. In einer Holzbaracke unter einem +Wellblechdach. Man kann eine solche Arbeit nicht beschreiben. Man kann +nur dabei zusammenbrechen oder ein Skelett werden. + +Zwei Pesos fünfzig den Tag. Fünfzig Centavos für die Nacht in einem +Bett, nein, kein Bett, ein Holzgestell, über das ein Stück Segeltuch +gespannt ist. In einer Lumpenherberge, wo Wanzen und Tausende von +Moskitos die Nacht zur Hölle machen. Fünfzig Centavos für Mittagessen +beim Chinesen und fünfzig Centavos für Abendessen beim Chinesen. Zwanzig +Centavos für ein Glas Kaffee und zehn Centavos für zwei trockene +Brötchen. Ein paar Zigaretten den Tag. Ein Glas Eiswasser für fünf +Centavos oder auch zwei oder drei im Laufe des Tages. Dann geht auch das +Hemd in die Brüche, die Schuhe waren schon hinüber, ehe er anfing zu +arbeiten, und ein Paar neue kosten einen vollen Wochenlohn, ein Hemd +zwei Tage Lohn, vorausgesetzt, man ißt nichts. Das geht zwei Wochen, das +geht drei Wochen, das geht vielleicht sogar vier Wochen. Dann muß er ins +Hospital gebracht werden. Als Landarmer. Vielleicht kann man den Konsul +zahlen machen, vielleicht nicht. Malaria, Fieber, wer weiß was. Zwei +Tage darauf kommt er in eine Holzkiste und wird verscharrt. + +Apfel hat aber seinen Kontrakt erfüllt und drei neue Tanks in Auftrag +bekommen. Er findet immer wieder hungernde Landsleute. Wenn es keine +Ungarn sind, dann Österreicher, oder Deutsche, oder Polen oder Böhmen. +Sie schwirren ja nur so herum. Alle sind ihm ja so dankbar dafür, daß er +ihnen Arbeit gibt, jetzt nur noch zwölf Stunden den Tag, weil er modern +wird und kein Ausbeuter ist. Aber zwei Pesos fünfzig und dem Antreiber +drei Pesos fünfzig. Denn den Antreiber braucht er, weil er – es sind nur +gerade vier Jahre, seit er den ersten Tank baute – im eignen Auto +spazierenfährt und sich im amerikanischen Viertel ein schönes Haus bauen +ließ. + +Auch die Knochen der Landsleute, denen man Wohltaten erweist, und die +infolge der Wohltaten, infolge der Überarbeit, infolge der Schlafhöhlen, +in denen sie ihre Nächte verbringen, infolge der schlechten Ernährung +dutzendweise am Fieber verrecken und als Niemand verscharrt werden, kann +man zu Gold machen. + +In Budapest schreiben die Zeitungen: „Unser Bürger Apfel hat durch +Tatkraft und Unternehmungsgeist da drüben in wenigen Jahren ein +Riesenvermögen gemacht.“ Möchten doch die Zeitungen immer so genau die +Wahrheit drucken wie in diesem Falle. Reichtümer über Nacht werden hier +gemacht! Das ist richtig. Man hat nichts weiter nötig, als die Goldminen +auszubeuten. + +Und die Fremden können es am leichtesten. Wenn ihnen von den +Nichtlandsleuten ein Strich durch die Rechnung gemacht werden soll, dann +stehen sie unter dem Schutze ihrer Hohen Gesandtschaft, und das freie +Amerika droht mit dem militärischen Einmarsch. + + + 8 + +Wir schliefen nicht in einer Lumpenherberge, aber doch auch in einer +Schlafhöhle. Haus konnte man es nicht gut nennen. Es war eine große +Holzkiste mit einem Blechdach. Das Licht kam nur durch die Tür herein +und durch die Fensterluken, die weder Glas noch Drahtgaze hatten. Es +führte eine Holztreppe hinauf in den Raum, sechs Stufen. Unter dem Hause +lagen alte Eierkisten und leere Schmalzdosen, alte Stricke und morsche +Lumpen. In der Regenzeit war das alles ein wüster Schlamm und eine +wundervoll ideale Brutstätte für Hunderttausende von Moskitos. + +Der Raum war gerade groß genug, daß man zwischen den Klappgestellen, die +man Betten nennen muß, weil sie es vorstellen sollen, vorbeigehen und +sich dazwischen ankleiden konnte. Der Raum diente nicht nur uns zum +Aufenthalt, sondern auch großen Eidechsen und fingerlangen Spinnen. +Außerdem trieben sich da noch immer drei Hunde herum. Einer von ihnen +war immer krank und hatte die Räude oder so etwas Ähnliches. Er sah +grauenerregend aus. Wenn er sich besserte, bekam der andre die +Krankheit. Aber die Hunde liebten uns sehr, und darum jagten wir sie +nicht fort. Sie waren oft unser einziges Vergnügen, wenn wir keine Zeit +hatten, mal auf die Straße zu gucken, sondern nur gerade so auf die +Segelleinwand fielen und vor Übermüdung nicht einschlafen konnten. + +Hin und wieder wurde der Raum von einem von uns ausgefegt. Gescheuert +wurde er nie. Da aber das Dach leckte, so bekamen wir reichlich Wasser +in die Bude, wenn ein tropischer Wolkenbruch losging, was im letzten +Monat der Regenzeit alle halbe Stunde geschah. Wir wurden dann natürlich +auch naß, und unser Schlafen bestand dann darin, daß wir immerfort +aufstehen mußten, um das Schlafgestell unter eine Stelle des Daches zu +schieben, wo wir glaubten, daß da kein Regen hindurch käme. Aber der +Regen folgte uns mit beharrlicher Bosheit, wohin wir uns auch +verkrochen. + +Wir hatten jeder ein Moskitonetz. Aber das klaffte an einem halben +Dutzend Stellen auseinander. Und die Moskitos fanden nicht nur die +klaffenden Stellen sehr leicht, sondern ebenso leicht und sicher jene +Stellen, wo wir glaubten, da könne kein Loch sein. Wir nähten an den +Netzen herum, so gut wir konnten. Aber am nächsten Tage war es neben dem +alten Loch wieder aufgerissen. Man darf ruhig sagen, jedes Netz bestand +nur aus großen Löchern, die durch morsche Stoffetzen zusammengehalten +werden, damit die Löcher auch wissen, wo sie hingehören. + +Außerdem besaßen wir jeder ein sehr schmutziges Kopfkissen. Und jeder +hatte eine zerlumpte Decke. An der Wand hing ein alter Spiegel in einem +Weißblechrahmen und einige Photographien von nackten, ganz nackten +Mädchen und andre Photographien von Vorgängen, die in vielen Ländern von +dem Staatsanwalt beschützt werden. Diese Photographien hier hätte keine +noch so moderne Kunstkommission verteidigen können, weil sie mit Kunst +absolut nichts, dagegen mit Naturvorgängen alles zu tun hatten. Aber in +einem Lande, wo man solche schönen Sachen in jedem anständigen Laden +kaufen kann, und wo sie ein zehnjähriger Junge genau so leicht kaufen +kann wie ein alter Seemann, macht niemand damit Geschäfte, weil sie +niemand interessieren, und weil sie niemand kauft. Nur Verbotenes +interessiert. Wir sahen auch nichts Besonderes daran, wir hatten keine +Zeit dazu. + +Zwischen neun und zwei Uhr konnte man sich in dem Schlafraum nicht +aufhalten, man wäre sofort Dörrfleisch geworden. Aber in dieser Zeit +hatten wir ja darin nichts verloren, sondern da arbeiteten wir vor den +Backöfen. Und gerade dann immer, wenn es so schön kühl zu werden begann, +daß man herrlich schlafen konnte, mußte man raus. + +Die Arbeit an sich war nicht schwer, das könnte ich nicht sagen. Aber +fünfzehn bis achtzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein, +unausgesetzt hin und her rennen, sich bücken und strecken, Dinge da +hinstellen und dort forttragen, macht viel mehr müde, als wenn man acht +Stunden sehr schwer arbeitet und an eine Stelle gebunden ist. Dann ging +es immerwährend: „Flink, flink, das Rundgebäck aus dem Ofen. Rasch, +Teufel noch mal, die Bleche gefettet. Kreuzdonner, den Schläger in die +Rührmaschine geschraubt, schnell, schnell, ich muß Schnee haben. Die +Masse ist versalzen, fix, fix, weg damit, neue angesetzt. Ich brauche +zwei Kilo Glasur, habe ich Ihnen doch vor einer Stunde schon gesagt. Ja, +Himmelelement, haben Sie denn die Zuckerlöse nicht gestern eingekocht? +Jetzt sind wir aufgeschmissen! Heiliger Nepomuk, nun rutscht auch noch +der José mit der Eismasse aus, und die Suppe schwimmt auf dem Zement. +Danke schön, José, das geht heute wieder bis sechs, wenn solche +Schweinereien gemacht werden.“ + +Das war ein immerwährendes Hetzen und Jagen und Kommandieren und Rennen. +Ich bin sicher, daß ich täglich meine vierzig Kilometer da bin und her +raste. Und dann der ewige Wechsel. Kaum war ein neuer angelernt, schon +ging ein andrer wieder fort. Das Anlernen hielt am meisten auf. Senjor +Doux sagte dann: „Nun habt ihr zwei neue Leute bekommen, die ich +bezahlen muß, und ihr schafft doch nicht mehr. Was hat es da für Zweck, +überhaupt neue einzustellen? Es kommt ja nichts heraus dabei.“ + +Er hatte schon recht, aber es kam doch nie einer, der etwas vom Backen +verstand. Man mußte ihnen jeden einzelnen Griff zeigen, sogar wie sie +ein Blech oder den Mehllöffel anzufassen hatten. Und ehe man es ihnen +zeigte, hatte man es zehnmal selbst gemacht. Manche begriffen es ja +rasch. Manche aber standen ewig im Wege herum und hielten nur auf. Wir +bekamen einen Konditor, der mit dem einfachsten Blätterteig nicht fertig +wurde, und doch konnte er Zeugnisse vorzeigen, daß er in ersten +Konditoreien gearbeitet hatte. + +Es waren nur die Fremden, die ausländischen Arbeiter, an denen Senjor +Doux verdienen und die er ausbeuten konnte. Die mexikanischen Arbeiter +ließen sich nicht so ausbeuten. Sie machten das zwei, drei, höchstens +vier Wochen mit, dann sagten sie: „Das ist zu viel Arbeit“ und hörten +auf. Dann hatten sie aber auch genügend Geld, daß sie einen kleinen +Handel mit Zigaretten, Kaugummi, Ledergürteln, Revolvertaschen, +Backwaren, Zuckerwaren, kandierten Früchten, frischem Obst oder +ähnlichen Dingen anfangen konnten. Der Handel brachte ihnen vielleicht +nur einen Peso durchschnittlich im Tag, aber sie richteten sich damit +ein und waren freie Männer, die nicht andern Leuten ihre Knochen +verkauften. Manche dieser kleinen Händler kamen immer höher rauf, bis +sie sich in einer winkligen Nebengasse ein dunkles kleines Lokal mieten +konnten, das sie zu einem Laden einrichteten. Wir dagegen blieben immer +versklavt. Wir gaben uns mit dem Peso Reingewinn, den wir als freie +Männer hätten machen können, nicht zufrieden. Wir verdienten ja auch +viel mehr. Einen Peso und fünfzig Centavos den Tag und Essen und +Wohnung. Und wir stellten höhere Ansprüche an das Leben. Jene Leute, die +nur gerade so lange arbeiteten, bis sie genügend verdient hatten, um +sich selbständig zu machen, gaben sich mit einer Zwirnhose für drei +Pesos fünfzig Centavos zufrieden. Eine solche Hose war uns natürlich +nicht gut genug. Unsre mußte sieben oder acht Pesos kosten. In einer +andern glaubten wir uns nicht sehen lassen zu können, ohne unsre Würde +als Weißer zu verlieren. Jene freien Leute kauften rohe Stiefel für +sieben oder acht Pesos. In solchen Stiefeln konnten wir nicht über die +Straße gehen. Wie hätte denn das ausgesehen? Schon der Mädchen wegen +konnten wir das nicht tun. Unsre Stiefel kosteten nie unter sechzehn +oder achtzehn Pesos. Wir waren ja auch Weiße. Und um das bleiben zu +können in den Augen der übrigen Weißen, der Amerikaner, der Engländer, +der Spanier, mußten wir Sklaven bleiben. Adel verpflichtet. Nirgends +mehr als in tropischen Ländern, die eine eingeborene Bevölkerung haben +so groß, daß die Weißen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen. + +Freilich, wenngleich wir uns auch die größte Mühe gaben, Kaste zu +behalten, wir lebten dennoch in einer merkwürdigen Schwebestellung. Die +Amerikaner, Engländer und Spanier zählten uns nicht zu ihresgleichen. +Für die waren wir doch nur das dreckige Proletariat, und das blieben wir +auch. Zu den Mischblütigen gehörten wir auch nicht. Für die waren wir +die fremden Bettler, der Schlamm, der den wohlhabenden Weißen in der +ganzen Welt nachfolgt und ihnen an den Fersen haftet, wohin sie auch +immer gehen. Diese Großen machen natürlich den Schlamm, aber wenn sie +ihn wegräumen sollen, dann gehen sie heim. + +Zu den reinblütigen Eingeborenen gehörten wir auch nicht. Auch diese +wollten nichts mit uns zu tun haben. Alle diese und sieben Achtel der +Halbblütigen waren Proleten wie wir, aber es trennte uns doch eine Welt +voneinander, die nicht überbrückt werden konnte. Sprache, +Volksvergangenheit, Sitten, Gebräuche, Anschauungen, Ideen waren so +trennend, daß sich kein gemeinsames Band zeigen konnte. + +Laßt es gehen, wie es will. Laßt uns leben. Und das wollen wir. + + + 9 + +Wir hatten wieder mal Lohn ausbezahlt bekommen. Osuna und ich gingen +einkaufen. Er kaufte einen neuen Hut, Hemd und neue Stiefel; ich legte +mir eine neue Hose und ein Paar schöne braune Schuhe zu. Wir gingen +gleich nach Hause und zogen das an. Dann sagte Osuna: „Was tun wir denn +mit dem Geld, das wir jetzt noch übrig haben?“ + +„Das möchte ich wissen“, sagte ich. „Ich habe mir auch schon Gedanken +darüber gemacht. Überflüssige Sachen zulegen, hat gar keinen Zweck.“ + +„Nein, das hat gar keinen Zweck“, bestätigte Osuna. + +„Das Geld hier in der Tasche behalten, wäre eine Dummheit“, fuhr ich +fort. + +„Das wäre gewiß eine sehr große Dummheit“, gab Osuna zu. „Es wird einem +ja doch gleich gestohlen.“ + +„Es auf die Bank zu tragen, halte ich auch nicht für gut“, erklärte ich. + +„Wir würden uns damit nur lächerlich machen, wenn wir mit unsern paar +Pesos da angerückt kommen und sagen, daß man uns damit ein Konto +eröffnen soll“, sagte Osuna, und er hatte recht. + +„Zweifellos würden wir uns damit unsterblich blamieren“, unterstrich ich +die kluge Bemerkung Osunas. „Außerdem ist die Bank jetzt schon +geschlossen. Während der Geschäftsstunden haben wir auch gar keine Zeit +hinzugehen.“ + +„Was sollen wir nur tun mit dem Geld? Auf Tequila habe ich gar keinen +Appetit.“ Das sagte Osuna. + +„Ich kann ihn nicht riechen.“ Das sagte ich. + +„Wissen Sie, was wir tun könnten?“ fragte Osuna. + +„Ja?“ + +„Wir könnten runtergehen zu den Senjoritas.“ + +„Das Beste, was wir tun können“, antwortete ich. „Dann wissen wir +wenigstens, wo unser Geld geblieben ist, und wir können es auch gar +nicht besser anlegen.“ + +„Richtig“, sagte Osuna. „Da sprechen Sie die Wahrheit. Wir sehen ja +jetzt ganz anständig aus und können uns da sehen lassen. Immer die +Backstube vor Augen oder die Kammer, da wird man noch ganz verrückt.“ + +„Ja,“ sagte ich, „und die Photographien tun es auch nicht für immer. Ich +glaube überhaupt, wir müssen uns mal nach einigen neuen Photographien +umsehen. Ich kann diese Frauenzimmer nun bald nicht mehr angucken.“ + +„Ich auch nicht“, gab Osuna zu. „Es ist beinahe so, als ob man mit ihnen +verheiratet wäre. Sie mischen sich bereits in alles rein, und sie +scheinen sich in der Tat um alles zu bekümmern, was wir tun. Ich bin es +nun leid. Man kennt sie schon zu gut, und ich will mal andre Gesichter +sehen.“ + +Osuna stand auf von dem Rand des Bettgestells, ging zur Wand und riß die +ganzen schönen nackten Frauen herunter. Dann legten wir jeder einen Peso +beiseite, versteckten die beiden Pesos in einem alten Schuh und machten +aus, daß wir morgen nachmittag neue Frauen und neue „Vorgänge“ kaufen +würden, um unsre einsamen Kammerwände damit zu zieren und unsre +Phantasie nicht verhungern zu lassen. Um auch die richtige Auswahl +treffen zu können und zu wissen, was am eindrucksvollsten auf unsre +Phantasie wirken könne, machten wir uns jetzt elegant und suchten nach +den Wirklichkeiten des Lebens, wo es nicht nüchtern, sondern schön ist, +ohne der Betäubung durch den Tequila zu bedürfen. + +Es war bereits Abend geworden. Wir hatten ziemlich weit zu gehen, denn +die Senjoritas wohnten am Rande der Stadt. Sie bewohnten ein ganzes +Viertel für sich allein. Das war ihnen ebenso lieb wie den Männern, die +nach der Schönheit des Lebens suchten, ohne Verpflichtungen dafür +übernehmen zu müssen, wenn sie die Schönheiten genießen dürfen. + +Es tönte uns gleich Musik entgegen und frohes Lachen. Mit jedem Schritt, +den wir näher kamen, vergaßen wir mehr und mehr die Trockenheit und die +Stumpfheit des Lebens. Die entsetzliche Nüchternheit des Lebens kann man +auch im Tequila vergessen, aber doch nicht so. Es bleibt immer ein +wüster Strudel im Kopf zurück und ein dickes dreckiges Gefühl im Munde. +Nein, Schönheit ist, wo Musik ist und rotbemalte Mädchenlippen lachen. + +An den Häusern entlang waren zementierte Fußwege, kaum zwei Schritte +breit. Die Straße lag einen Meter oder zuweilen noch viel mehr tiefer +als die Fußsteige. Es führten keine Stufen hinunter, sondern wenn man +auf die Straße wollte, mußte man einen gewagten Sprung machen. Diese +Straßen waren lehmige Moraste, Schlamm und große Wasserlachen füllten +das Straßenbett. Und dieser Morast und die Wasserlachen waren dick und +stinkig. Große Steine und irgendwo abgebrochene Zementbrocken lagen +wahllos umher. Tiefe Löcher machten die Straßen so gut wie unpassierbar. +Trotzdem arbeiteten sich Autos und Droschken durch diese Straßen, um +Gäste zu bringen, zu erwarten oder abzuholen. Zuweilen blieben die Autos +in den morastigen Löchern stecken. Und mit furchtbarem Geknatter, +Heulen, Schießen, Knallen, Keuchen und Stampfen arbeiteten sie sich +wieder heraus und weiter. Aber die Autoführer und die Droschkenkutscher +schimpften nicht. Sie lachten nur und nahmen das alles als einen Spaß, +der mit dazu gehöre, und ohne den das Viertel hier nicht das sein +könnte, was es wirklich ist. + +An Straßenecken standen kleine Musikkapellen, die sehr gut spielten, +viel besser spielten als die Straßenkapellen in der Stadt, wo sie so +dick herumwimmelten, daß sie sich die Füße gegenseitig abtraten. Jede +dieser Kapellen hatte eine Geige, eine Baßgeige, eine Klarinette und +eine Flöte. Manche hatten keine Flöte, sondern dafür eine Trompete. +Andre wieder hatten nur Geige, Baßgeige und Gitarre. Die waren beinahe +immer die besten. Wenn sie gespielt hatten, gingen sie einsammeln. Es +gab selten jemand etwas. Meist gaben eigentlich nur die Senjoritas den +Musikern etwas Geld. + +Aber dann gingen die Kapellen auch wieder in die Restaurants und +spielten dort. Dort bekamen sie schon eher etwas, häufig aber auch +nichts. Das Dasein der Künstler. Dem die Musik am besten gefiel, dem sie +am meisten sagte und am meisten gab, hatte kein Geld, um sie zu +bezahlen. Und die andern, die zahlen konnten und es auch manchmal taten, +sagten, es seien Bettelmusikanten, und sie sollten doch lieber „It ain’t +goin’ rain’ no’ mo’ –“ spielen, statt diese blöden Opern. Es waren aber +keine Opern, sondern es waren altmexikanische Lieder und Gesänge, die so +süß klangen und doch so voller Kraft waren. + +Eigentlich war die Musik ja überflüssig. Aber hier konnte nicht genug +Musik sein. Schönheit und Liebe war doch überall herum. In jedem Lokal +wurde getanzt. Jedes Lokal hatte seine Senjoritas, die mit den Herren +lächeln und tanzen und trinken mußten, und deren Aufgabe es war, den +Herrn zu veranlassen, daß er Geld ausgebe. Dafür bekamen die Senjoritas +auch je einen Raum im Hinterhause des Restaurants, wo sie sich mit ihrem +Herrn ungestört vergnügen konnten, und sie brauchten für den Raum keine +Miete zu bezahlen, und die Wäsche wurde ihnen auch noch gestellt. Denn +Wäsche wird viel gebraucht. + +Und überall wurde getanzt. Jeder durfte tanzen, wie er wollte. Und jedes +Paar durfte tanzen, wie es wollte. Es war kein Tanzordner da, und die +Leutchen durften sich im Tanz alles sagen, was sie auf dem Herzen +hatten, ohne sich der Sprache zu bedienen. Niemand hinderte sie daran, +so zu tanzen, daß eigentlich, wenn es gerecht zuginge, jeder von ihnen +zwanzig Jahre Zuchthaus bekommen müßte. Aber es ging ja eben nicht +gerecht zu, und darum tanzten alle so, daß ihnen die Engel im Himmel +hätten zuschauen dürfen, ohne zu erröten. + +Zuweilen tanzte aber doch ein Paar in der Weise, daß des Satans +Großmutter ihr Gesicht in der Schürze verbergen mußte, wenn sie es sah. +Aber sie sah es ja nicht, und andre Leute kümmerten sich nicht darum, +und die vorbeipatrouillierenden Polizisten steckten sich eine Zigarette +an und sahen lächelnd zu oder gingen weiter, weil es sie langweilte. Das +Paar langweilte es nach einer Runde selbst, und es tanzte wieder den +Engeln zur Freude, weil es schöner war und das andre niemandem zum +Ärgernis wurde. + +Eine Negerin aus Virginia trat auf in der Casa Roja, wo wir gerade +vorbeikamen. Sie tanzte mitten im Lokal. Bauchtanz. Aber der wahre +Bauchtanz, der echte und unverfälschte. Der Bauchtanz war es, den Eva +erfand, als sie das Paradies los war und sich frei bewegen konnte. Nicht +nur alle Herren, sondern auch alle Senjoritas, die im Lokal waren, +standen auf, um dieses Kunstwerk zu sehen und Gesten zu lernen, die +ihnen von Nutzen sein konnten, wenn sie nicht allein schliefen. Und in +alle Türen drängten die Herren und die Senjoritas, die auf der Straße +waren; denn die Türen waren offen. Kunst ist das, was unsre Seele jubeln +macht. Und der Bauchtanz der Negerin aus Virginia war reife und +vollendete Kunst. Auch sie war eine Senjorita und hatte ihr Haus hier, +um darin mit Herren zu plaudern. Aber keiner der Herren, der sie eben +tanzen gesehen hatte, wagte sie anzusprechen. Sie war himmelhoch über +alle die Senjoritas hier emporgeflogen. Sie war gottbegnadete +Künstlerin, und keiner der Herren glaubte so viele Pesos in seiner +Tasche zu haben, daß er es wagen dürfe, mit ihr zu gehen. Ein tosender +Beifall brach aus, als sie geendet hatte und niedergesunken war auf den +Fußboden. Dort kniete sie, die Arme zurückgeworfen, den Leib mit den +quellenden Brüsten drehend und schiebend wie in einem letzten +aushauchenden Seufzer, der dem letzten müden Tropfen einer sterbenden +Bergquelle folgt. Dann mit einem kurzen, schmerzhaften Ruck zog sie den +Unterleib zurück und ließ den Kopf matt und müde sinken, bis die Stirn +den Boden berührte. Nun sprang sie auf mit einem jubelnden Schrei +gesunder und vollbefriedigter Freude, stand schlank und gerade im Saal, +die linke Hand in die Hüfte gepreßt, den rechten Arm in runder weicher +Geste hochgeworfen. Ihre Augen blitzten, und ihre weißen Zähne +leuchteten zwischen den vollen Lippen hervor. Und sie lachte ein +sieghaftes Lachen, streckte ihren Leib hervor mit einer Geste, als ob +sie einen Kontinent einladen wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie +rief: „El amor y la alegria, senjores mios!“ + +Es folgte ein kurzes Schweigen, dann donnerte der Beifall aufs neue los, +und die Musik setzte mit einem Schmettern ein, das einige Takte dauerte, +während die Negerin, ihr dünnes Kleid zupfend und sich das Haar +zurückstreichend, zu ihrem Platze ging, wo sie eine Flasche Bier und ein +Glas stehen hatte. Alle Herren betrachteten sie mit einer scheuen +Bewunderung, ohne sich ihr zu nähern und sie zu dem einsetzenden +Foxtrott aufzufordern. Sie gingen zu den andern Senjoritas, die sich +bescheidener benahmen und nicht Orkane erwarten ließen, die den +gewandtesten Mann mit einer Fingerbewegung aus dem Sattel zu heben +drohten. Die Senjoritas betrachteten die Negerin nicht als eine +Nebenbuhlerin, die sich eines unlauteren Wettbewerbes bediente. Durchaus +nicht. Sie gab dem Geschäft einen ganz ungeheuerlichen Schwung, der zehn +Minuten vorher nicht zu spüren war. Die Herren hatten Feuer in den +Augen, während sie bisher ziemlich gleichgültig und interesselos +dreingeschaut hatten. Und die Senjoritas versuchten jetzt beim Tanzen +einige der Bewegungen, die sie soeben gesehen hatten, nachzuahmen. Aber +es sah häßlich aus und widerlich. Sie preßten sich hart an die Männer +und spielten mit ihren hinteren Partien. Aber die Herren reagierten nur +sehr schwach darauf und hielten sich auffallend steif zurück, bis die +Senjoritas anfingen, die Gesten, die bei ihnen so aussahen, als ob ein +kleiner Gemüsekrämer plötzlich die Reklame eines großen Warenhauses +nachmachen möchte, aufzugeben und immer mehr zu lassen und in normaler +Weise zu tanzen. Ja, nun benahmen sie sich wie die sogenannten +anständigen Damen. Das gefiel den Herren viel besser und erinnerte sie +sicher an ihre Bräute oder Frauen oder an begehrte Mädchen und brachte +sie in die Stimmung, die allein für das Geschäft nutzbringend war. + +Sie luden ihre Tänzerinnen ein, sich mit ihnen zu einer Flasche Bier +oder einem Whisky an einen Tisch zu setzen. Sekt trinkt man nur, wo den +Kleinen alles verboten und den Großen mehr erlaubt ist, als sie in +normaler Weise leisten und genießen können. Wo Sekt getrunken werden +muß, um lachen zu dürfen und sich der Schönheiten des Lebens zu +erfreuen, artet die Unterhaltung häufig zur Schweinerei aus. Und an +diesen Ausartungen mißt der Zensor seine Normalmeterstäbe ab, mit denen +er den Kleinen die Länge des Vergnügens zumißt, die er ihnen zubilligt. +Immer nur da, wo die Röcke nicht hochgehoben werden dürfen, begeht man +Verbrechen und tut den törichten Unsinn, nachzusehen, was unter den +Röcken ist. + + + 10 + +Die Straßen waren voll von Händlern. Da waren Tische, wo es heiße +Enchiladas gab. An andern gab es Kaffee. Wieder an andern kaltes Huhn +oder gebratenen Fisch oder Roastbeef mit Brötchen oder mit Tortillas. +Man konnte Salat kaufen, oder Bananen, Papayas, Äpfel, Weintrauben, +Apfelsinen. Kleine Buden verkauften Zigaretten, Zigarren und Tabak. +Andre Zeitungen und Zeitschriften. An vielen Tischen gab es Eiswasser in +fünf oder sechs verschiedenen Sorten, Lemones, Hochata, Jamaica, +Tamarindo, Pinja, Naranja, Papaya und was nicht noch. Dazwischen liefen +Jungen und Frauen herum mit Körben oder Zigarrenkistchen. Sie verkauften +Kaugummi, Süßigkeiten, getrocknete Kalavasaskerne, Peanuts, Obst und +Blumen. Andre liefen herum mit Eimern mit Eiswasser, das sie glasweise +abgaben. Hundert Menschen, wenn nicht mehr, fanden hier ihren +Lebensunterhalt. Frauen trugen ihre Säuglinge auf den Armen oder führten +kleine Kinder an der Hand, während sie ihrem Handel nachgingen. Weder +die Sittlichkeit der halbwüchsigen Jungen, die ihre Zeitungen oder +Zigaretten ausriefen, noch die der ehrbaren Handelsfrauen oder deren +Kinder wurde vernichtet in dieser Umgebung. Wer Sittlichkeit hat, der +verliert sie nicht, wenn er etwas sieht, das als Unsittlichkeit +anzusehen ihn niemand gelehrt hat. + +Hunderte von ehrbaren Frauen und Mädchen und Kindern und ganzen Familien +hatten den ganzen Tag hindurch das Quartier der Senjoritas zu passieren, +um zu ihren Wohnungen zu gelangen. Sie fühlten sich nicht gefährdet. Sie +konnten einen andern Weg wählen, wenn sie wollten; aber der Weg durch +das Quartier war kürzer. Und wenn man mit einer Frau, die etwas vom +Leben verstand, darüber sprach, so sagte sie: „Einen Mann zu gewinnen +und zu behalten, ist nicht so schwer; aber jeden Tag ein halbes Dutzend +Männer zu gewinnen, ist eine Kunst. Warum soll ich mit Entrüstung auf +die Senjoritas sehen? Ich glaube, die Entrüstung und das Ärgernis bei +vielen ehrbaren Frauen kommt nur daher, weil es ihnen nicht gelänge, +sich auf diese Art ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Herren wollen +für ihr Geld etwas haben, und die Mehrzahl der ehrbaren Frauen ist zu +langweilig, zu dumm, zu häßlich, um den Herren das geben zu können, +wofür die Herren zahlen. Um ihre Nachteile zu verschleiern, nennen sie +sich anständig, und sie haben große Mühe, ihrem eignen Manne zu +gefallen.“ Und die Dame, die das sagte, war die ehrbar angetraute Frau +eines wohlsituierten Kaufmannes in der Stadt, der einem vornehmen Klub +als Mitglied angehörte. Und sie war eine schöne Frau, die sich gut und +geschmackvoll zu kleiden verstand und sicher nie einem andern Manne als +dem ihrigen auch nur die kleinste Gunstbezeigung erwiesen hatte. Aber +sie war ja auch keine Puritanerin, sondern eine Tochter aus alter +spanisch-mexikanischer Familie. In puritanischer Umgebung können solche +Anschauungen nicht wachsen, und wenn sie auftauchen, sind sie +widerwärtig. + +Es kam ein junger Amerikaner eines Tages hierher. Er hatte eine sehr +hübsche junge Frau und drei niedliche Kinderchen. Ich wurde bei ihm zum +Dinner eingeladen. Vor Tisch und nach Tisch betete er, und Sonntags +vergaß er nicht, mit seiner Frau die amerikanische Kirche zu besuchen. +Als er mich bat, ihm die Stadt zu zeigen, sagte er: „Ich habe gehört, +hier in diesen Ländern gibt es das und das. Wo ist denn das?“ Ich zeigte +es ihm, und er besuchte mehr als eine der Senjoritas. Als er dann wieder +zurückreiste, sagte er mir: „Das ist doch ein schrecklich unsittliches +Land. Dem Himmel sei Dank, daß so etwas bei uns nicht gestattet ist.“ + +Da log er zum zweitenmal. Es war gestattet. Wie alles gestattet ist, was +gegen die natürlichen Triebe des Menschen gerichtet ist. Es wurde +gestattet durch Vergewaltigung von Frauen und Kindern, durch +Verheiratung elfjähriger Mädchen an fünfzigjährige reiche Männer, die +sich nach acht Wochen wieder scheiden ließen. Es wurde gestattet durch +das Herumschleichen von Frauen und Mädchen in den Seitengassen zur +Abend- und Nachtzeit. Es wurde gestattet dadurch, daß von hundert +Männern wenigstens fünfzehn und von hundert Frauen und Mädchen achtzehn +an üblen Krankheiten litten, die in den dunklen Seitengassen wucherten +und wuchsen. Dann werden Millionen und aber Millionen von Dollar +ausgegeben, um diesen Krankheiten, von denen zu sprechen schamlos ist, +Einhalt zu gebieten, während hunderttausend Dollar genügten, sie auf das +kleinste Maß zu beschränken, dadurch, daß man den Leutchen Gelegenheit +gibt, sich innerhalb beleuchteter vier Wände guten Abend zu sagen, +Wasser und Seife zur Hand zu haben und die ganze Sache ebenso als +Geschäft zu betrachten wie die bezahlte Krankenpflege, das Dampfbad oder +das Massieren. Aber wenn das von diesem natürlichen und gesunden +Standpunkt aus betrachtet würde, hätten ja die alten Betschwestern, die +kastrierten Traktätchenschreiber und die sabbernden Verkünder Goldner +Regeln nichts mehr zu tun. Wohin mit ihnen so schnell? Man kann sie doch +nicht eingraben. Sie würden ja nicht einmal Dung machen, weil sie zu +trocken, zu ledern und zu saftlos sind. + +Die Senjoritas sprachen alle mehrere Sprachen. Die nur Spanisch sprechen +konnten, hatten wenig Erfolg. Sie mußten sich mit den Peons begnügen, +und diese armen Teufel konnten nur gerade den denkbar kleinsten Betrag +in diesen Spekulationen anlegen. Diese ungebildeten Senjoritas wohnten +in den abgelegensten Teilen des Quartiers, wo die Zimmer am billigsten +waren, am einfachsten möbliert, und wo die Musikkapellen nur so +gelegentlich hinkamen, wenn in den andern Sektionen die Konkurrenz zu +groß war. Hier in dieser Sektion trugen die Senjoritas Kleider so +einfach, daß sie mit ihnen sofort zur Stadt hätten gehen können, ohne +aufzufallen. Die Einnahmen reichten kaum zur Schminke und zum Puder; +aber Wasser, Seife, antiseptische Lösung, für jeden Besucher reine +Tücher mußten sie haben. Denn der Gast, der da vorbeikam, konnte ganz +gut der Inspektor der Gesundheitskommission sein, der plötzlich das +Zimmer betrat, nach dem Gesundheitspaß fragte und sich die Materialien +für die Sauberkeit ansehen wollte, Puder, Schminke und Parfüm brauchten +nicht in Ordnung sein, aber die andern Materialien mußten in +vorschriftsmäßiger Verfassung sein, sonst gab es Quarantäne, und die war +kostspielig und war mehr gefürchtet als Geldstrafe oder Gefängnis. + +Es gab keine Sklaverei. Jede Senjorita war frei. Sie durfte morgen oder +sofort das Haus verlassen. Keine alte Hökerin, kein Faulenzer hielt sie +unter irgendeiner Form von Pfand für Mietschulden, Kostgeld oder +Wäscherechnungen. Die Miete mußte eine Woche im voraus bezahlt werden. +Wer nicht bezahlen konnte, mußte das Quartier verlassen. Wer auf der +Straße zu Geschäftszwecken angetroffen wurde, kam in Quarantäne. Für +Privatzwecke durfte sie aber auf den öffentlichen Straßen +spazierengehen, soviel sie wollte, und wann sie wollte. In der Goldnen +Sektion, die am Eingang des Quartiers war, wo alles im strahlenden +Lichte der Tanzsalons lag, wohnten die Französinnen. Sie sprachen ein +rasend schnelles Französisch, und sie alle schworen, daß sie aus Paris +seien. Aber mehr als die Hälfte hatten Paris nie gesehen, sondern kamen +aus London, aus Berlin, aus Warschau, aus Budapest, aus Petersburg oder +aus Städten noch viel ferner von Paris. Keine von ihnen konnte die +Erlaubnis erhalten, hier in dieses Land zu kommen, weil Damen, die sich +diesem ehrenwerten Geschäft widmen oder widmen wollen, die Einreise +nicht erlaubt ist. Aber sie waren alle hier und waren alle eingereist. +Jede mit Hilfe eines andern Tricks. + +Die Pariserinnen waren die Elegantesten; das mußten sie schon sein, um +in dieser Sektion bestehen zu können. Sobald die Einnahmen für die +notwendige Aufmachung nicht mehr ausreichten, was sehr rasch geschehen +konnte und sehr häufig vorkam, mußte die Senjorita der drückenden +Konkurrenz wegen in die nächst billigere Sektion verziehen. Und so kam +es vor, daß manch eine, die das Geschäft nicht verstand und die Kunst +nicht lernte, um es mit den Meisterinnen aufzunehmen, immer weiter von +der Goldnen Sektion abrücken mußte, bis sie in dem dunkelsten Teil +endlich landete, wo nur die Peons hingingen, die um fünfzig Centavos +handelten. + +Hier aber in der Goldnen Sektion erschienen die, die das Geld nicht +ansehen, wenn sie herkommen. Die Ölleute, die sechs oder acht Monate im +Busch oder im Dschungel gelebt hatten, wo sie nichts ausgeben konnten, +und jetzt zweitausend Dollar in der Tasche hatten, von denen sie nur +zwanzig auszugeben gedachten, von denen sie aber am Ende der Nacht nur +noch so wenig hatten, daß sie sich einen Peso von einem Landsmann +betteln mußten, um das Auto zu bezahlen, mit dem sie zum Hotel fahren +wollten. Da kamen die Schiffskapitäne, die ein gutes Nebengeschäft am +Tage gemacht hatten; die Spekulanten, die einigen Grünlingen Aktien für +Ölfelder verkauft hatten, in denen man nur Öl sah, wenn man eine Kanne +voll hinbrachte. Da waren die Riggers, die ihren Kontrakt gestern +fertiggebracht und heute das Geld kassiert hatten. Diese Geldstrotzenden +gingen von Haus zu Haus, von Senjorita zu Senjorita, augenscheinlich +ausgestattet mit unverwüstlicher und unerschöpflicher Lebenskraft. Aber +sie gingen ja zu Meisterinnen ihrer Kunst, die es wohl verstehen, aus +dem trockensten Baumstamm eine muntere Quelle rieseln zu lassen, +sicherer noch als der heiligste indische Fakir. + +Die Häuser waren meist aus Holz gebaut. Jedes Haus hatte nur einen Raum. +Ein Haus sah genau so aus wie das andre, und jedes Haus war dicht an das +Nachbarhaus geklebt. Der Raum hatte nur eine Tür, die unmittelbar von +der Straße in das Zimmer führte. Und jeder Raum hatte nur ein Fenster, +das keine Glasscheiben hatte, manchmal jedoch statt der Scheiben +Moskitodrahtgaze. + +Auf der Fahrstraße konnte man nicht gehen, man mußte auf dem schmalen +zementierten Wege gehen, der an der Häuserreihe entlang führte. Die +Senjoritas saßen alle vor der offenen Tür auf einem Stuhl, oder sie +standen herum, allein oder in kleinen Gruppen, schwatzend und lachend. +An keiner Tür konnte man vorbeigehen, ohne daß man von der Senjorita, +der diese Tür gehörte, festgehalten und mit den süßesten Worten +eingeladen worden wäre, hineinzukommen und sich mit ihr zu unterhalten. +Dabei machten sie so gewagte Versprechungen, daß die Versprechungen +allein genügten, die eisernste Widerstandskraft und die teuersten +Gelübde spielend über den Haufen zu werfen. Erreichte man das nächste +Haus, ließ einen die Senjorita sofort los, denn das nächste Haus war das +Bereich der Nachbarin, wo nur die das Recht besaß, Versprechungen zu +machen, die noch um einige Grade weitergingen als die der eben +verlassenen Dame. + +Man konnte sich nur durch eine einzige Ausrede vor diesen fortgesetzten +Angriffen retten: „Ich habe kein Geld.“ Dann war man sofort frei, +vorausgesetzt, daß die Senjorita es glaubte. Meist glaubte sie es nicht +und fühlte einem dann die Taschen ab. Aber keine hätte den Versuch +gemacht, einem auch nur fünfzig Centavos wegzunehmen. + +Ihre Menschenkenntnis bewiesen sie dadurch, daß sie ehrbare Bürger, die +das Quartier zu passieren hatten, um zu ihren eignen Wohnungen zu +gelangen, nie belästigten oder nur in ganz bescheidener, +unaufdringlicher Weise. Viele suchten sich ihre Gesellschaft recht +sorgfältig aus und berührten keineswegs jeden, der vorbeikam. Andre +weigerten sich entschieden und liefen sich selbst durch überbotene +Beträge nicht gewinnen, wenn ihnen der Herr aus irgendeinem Grunde nicht +gefiel. Manche sahen keinen Chinesen an, andre keinen Neger, viele +keinen Indianer. Und doch, wenn schlechte Geschäftstage kamen, wenn es +zum Ende des Monats ging, zwang sich manche, jemand zuzulächeln, den sie +zu Anfang des Monats oder noch drei Tage vorher entrüstet angesehen +hätte, wenn er sie nur angetippt haben würde. + +Die Großen des Reiches sprachen nicht nur fließend Französisch, sondern +auch sehr geläufig Englisch, Spanisch, Deutsch. Manche Unterhaltungen +bereiten nur dann Vergnügen, wenn die Begleitmusik die Muttersprache +ist. Und gewisse Empfindungen kommen nur dann voll zur Entfaltung, wenn +sie mit Worten erweckt werden, die bestimmte Gefühlsnerven treffen, die +eine angelernte Sprache niemals treffen kann. Denn solche Worte bringen +die Erinnerung an das erste Schamgefühl, die Erinnerung an das erste +Mädchen, das man begehrte, die Erinnerung an die mysteriösen Stunden des +ersten Reifegefühls zurück. Die Meisterinnen der Kunst wissen das recht +wohl. Darum kommen die Stümperinnen, die nur eine Sprache kennen, nicht +voran; sie bleiben immer die Centavoskrämer in den dunklen Sektionen. + +Aber die Bajadere Goethes sucht man vergebens. Zeit ist Geld. Und zum +süßen Tändeln, zum zarten Spielen, zum stundenlangen Heransehnen an die +Erfüllung fehlt diesen Meisterinnen das, was man die Liebe einer +angebeteten Frau nennt. Hier ist hohe und höchste Kunst, nichts mehr. +Aber die bekommt man voll, und man wird für sein Geld nicht betrogen. +Der Rest ist: Die süße heilige Sehnsucht nach der Geliebten. Hier wird +der unbezahlbare Wert der geliebten Frau bestätigt. Das wissen die +Künstlerinnen auch, und sie machen kein Hehl daraus. Darum verkaufen sie +eben nur das, was die Herren wünschen. Mehr wird nicht verlangt für das +Geld. Diese Künstlerinnen sind gute Kaufleute, die es verstehen, +Kundschaft heranzuziehen und zu halten. + + + 11 + +„Wenn Sie es gern hören, kann ich auch Deutsch sprechen“, sagte +Jeannette. „Ich bin ja aus Charlottenburg.“ + +„Ich habe geglaubt, aus Paris.“ + +Darüber fühlte sie sich sehr geschmeichelt; denn die echten Französinnen +riefen ihr „Boche“ entgegen, wenn sie sich zankten. Und die Senjoritas +zankten sich gern und häufig. Wenn der Zank vorüber war – er war nicht +immer wegen der Kundschaft, sondern häufiger wegen Preisdrückerei –, +dann war Jeannette wieder „Meine Teure aus Straßburg“, für die sie ein +Mitleid empfanden, das auf patriotischer Grundlage ruhte, ein Mitleid, +das daheim in Frankreich bereits anfängt, andern Gefühlen Platz zu +machen. Aber davon wußte man hier nichts; denn die Französinnen hatten +Frankreich schon eine Reihe von Jahren nicht mehr gesehen. + +Jeannette, die in Charlottenburg vielleicht Olga hieß, in ihrem +Gesundheitspaß aber Jeannette genannt wurde – und dieser Name war durch +Photographie beglaubigt –, hatte sich während des Krieges in Buenos +Aires aufgehalten. Auch dort war sie sehr tätig in ihrem Beruf gewesen +und war zu einem Vermögen gekommen. + +„Ich bekam plötzlich Lust, einmal nach Hause zu fahren und zu sehen, wie +es dort aussieht“, sagte sie. + +Sie fand Vater und Mutter in den elendesten Verhältnissen. Der Vater war +in Friedenszeiten ein geachteter Bürger gewesen, Fabrikportier bei einer +großen Berliner Firma. Nach dem Kriege war er entlassen worden, weil ein +Kriegsinvalide, den das Vaterland nicht unterhalten wollte, +untergebracht werden mußte. + +Die Leute hatten ihr ganzes Leben lang sich nichts gegönnt, immer nur +gespart und gespart, um auf ihre alten Tage etwas zu haben. Sie hatten +ihr Geld auf einer mündelsicheren Sparkasse. Als aber dann der Staat +durch die Entwertung des Geldes die Mündel, die Dienstmädchen und die +alten ehrbaren Leutchen um ihre kleinen Spargüter so gewissenlos betrog, +wie es kein Privatmensch je hätte wagen dürfen, ohne daß die Menschen +ihn in Stücke gerissen hätten, verwandelte sich das Goldgeld der Familie +Bartels – Jeannette sagte mir, das sei ihr deutscher Name, aber ich +glaube es nicht – in Papierschnitzel, die so wertlos waren, daß man sie +nicht einmal auf verschwiegenem Ort mit Erfolg verwenden konnte. + +Die Bartels beschlossen, sich mit Gas zu vergiften; aber von irgendeiner +Wohltätigkeits-Vereinigung bekamen sie für zwei Wochen Graupen, Reis, +Trockengemüse und eine Büchse Corned Beef. Damit hielten sie sich vier +weitere Wochen am Leben, und da fuhr eines schönen Nachmittags Jeannette +vor, die soeben von Hamburg und von Buenos Aires gekommen war, ohne sich +vorher anzukündigen. Sie brachte so viel Geld mit, daß sie eine ganze +Straße in Charlottenburg hätte kaufen können; denn sie hatte Dollars. + +„Mädel, Mädel, wie kommst du nur zu so viel Geld?“ hatte die Mutter nur +immer wieder gefragt. + +„Ich habe einen Viehherdenbesitzer in Argentinien geheiratet, der zwei +Millionen Stück Rindvieh hatte. Der ist nun gestorben und hat mir sein +ganzes Vermögen hinterlassen.“ + +„Wer hätte das gedacht, Mädel, daß du einmal solches Glück im Leben +haben würdest!“ sagte die Mutter, und Jeannette wurde in der Straße bald +bekannt als die „Argentinische Millionenwitwe“. Das klang besser als zu +sagen, die Olga Bartels, die in Argentinien einen Millionär geheiratet +hat. Mit „Argentinischer Millionenwitwe“ konnte die Verwandtschaft, die +Bekanntschaft und die Nachbarschaft besser prunken und mehr Geschwätz +machen als mit Olga Bartels. Eine Olga Bartels in der Familie oder in +der Nachbarschaft zu haben, das konnte jeder, eine argentinische +Millionenwitwe zu kennen, das umgab einen mit einem Glorienschein. + +Mit einer Handvoll Dollar kaufte Jeannette ihren Eltern ein Etagenhaus, +das im Frieden wenigstens dreihunderttausend Mark wert gewesen war. Sie +ließ es auf ihren Namen schreiben – so geschäftstüchtig war sie, das +lernt man draußen –, aber alle Einkünfte aus dem Hause ließ sie den +Eltern. Dann kaufte sie ihnen noch eine gute Anzahl solider Aktien, die +den Kurs immer mitmachen mußten, und hinterlegte sie bei einer guten +Bank mit der Anordnung, daß die Dividenden gleichfalls ihren Eltern an +den Fälligkeitstagen ausgezahlt werden sollten. + +Und dann machte sich Jeannette einige gute Wochen. Die hatte sie auch +nach den anstrengenden Jahren ehrlich verdient. + +Zum richtigen Genuß dieser guten Wochen gehörte natürlich auch die +Mitwirkung des andern Geschlechts. Das gehört immer dazu, sonst kann man +schwerlich von einem guten Leben oder von Vergnügen sprechen. Aber +Jeannette machte kein Geschäft daraus, und sie suchte sich die Herren +aus, mit denen sie sich erfreuen wollte. + +Die Familie war in das große Haus gezogen und hatte, mit hoher +obrigkeitlicher Genehmigung des Wohnungsamtes, die Mansardenwohnung +einnehmen dürfen, die Jeannette auf ihre Kosten zuvor einbauen ließ. +Eines Morgens, als der Vater zu ihr in das Schlafzimmer kam, das sie +sich eingerichtet hatte, fand er einen Herrn in ihrem Bett. Die beiden +Bettgäste hatten lange in einem Restaurant gesessen, reichlich Sekt +getrunken, und so war es geschehen, daß der Herr nicht rechtzeitig +erwacht war, um sich zu anständiger Stunde angemessen und schweigend zu +empfehlen. + +Der Vater wollte den Herrn verprügeln oder erschießen oder sonst irgend +etwas Grauenhaftes mit ihm angeben. Der Herr hatte Takt, war gut +erzogen, und mit äußerster Geschicklichkeit gelang es ihm, sich trotz +der Angriffe des Vaters anzukleiden und dann mit Hilfe Jeannettes die +Tür und die Treppe zu erreichen. + +Damit war er in Sicherheit. Nicht so Jeannette, die nun allein den +Angriffen ihres Vaters, der seine Kräfte nicht mehr nach zwei Fronten zu +verausgaben brauchte, ausgesetzt war. Die Mutter sprang ihr bei. + +Die guten, wohlsituierten Familien, die dort im Hause wohnten, würden +von den Ereignissen gar nichts gehört haben, wenn nicht der Vater in +seiner gekränkten und schwer beleidigten Bürgerehre sich so blöde +betragen hätte, daß die Leute es erfahren mußten, auch wenn sie +vielleicht gar kein Interesse daran gehabt hätten, ob Jeannette lieber +allein oder in Gesellschaft schlafe. + +„Bist du dazu hergekommen, du Hure, daß du uns solche Schande hier vor +den Leuten antust?“ brüllte der alte Bartels auf Jeannette ein. „Da +wollte ich doch lieber, daß ich mich hier anständig vergiftet hätte, als +solche Schmach an meiner eignen Tochter zu erleben. Eine Hure bist du, +nichts weiter. Ich verfluche dich, ich sage mich los von dir, ich +verstoße dich aus meinem Hause.“ + +Die Mutter wollte schlichten, aber der Alte wurde dadurch nur noch +verrückter. Die Ehre des Fabrikportiers war für ewig in den Kot +getreten. Mit Ehren war er grau geworden, wie er hundertmal versicherte, +und nun, während er schon mit einem Fuße im Grabe stand, mußte er noch +so etwas an seiner Tochter erleben, die er wie einen Engel im Paradiese +angesehen hatte. + +Jeannette hörte sich das alles an, ohne zu antworten. Es kam ihr so fern +vor, so fremd, so lächerlich und so unsagbar dumm zugleich. Es war ihr, +als ob das irgendwo auf einer Theaterbühne geschehe, wo sie Zuschauerin +sei, und sie fand das Stück herzlich abgeschmackt und unmodern. + +Erst als der Vater zum dritten Male wiederholte: „Ich verstoße dich aus +meinem Hause. Du bist nicht mehr meine Tochter!“ da begriff sie, daß sie +selbst gemeint sei. Und nun legte sie los, und sie sprach viel weniger +aufgeregt als der Vater. Sie regte sich überhaupt nicht auf dabei, +sondern sagte es in Form einer erregten Unterhaltung: „Deine Tochter? +Das Leben hast du mir allerdings gegeben. Aber ich habe dich nicht darum +ersucht, und ob ich gerade dich gewählt haben würde, wenn ich gefragt +worden wäre, das glaube ich kaum. Denn mit deiner mickrigen Ehrlichkeit +und Wohlanständigkeit ist es nicht weit her, wenn sie dir nicht einmal +einen Lebensabend verbürgt, wo du wenigstens satt zu essen hast. Dann +schon lieber Schneppe, das sage ich dir ganz frei ins Gesicht, oder +Bandit oder Einbrecher. – Mit welchem Recht willst du mich denn +überhaupt verstoßen? Vielleicht mit dem Rechte meines zufälligen Vaters? +Ein schöner Vater bist du mir. Noch niemals in meinem Leben hat jemand +Hure zu mir gesagt. Ich hätte ihm das Gesicht zerfleischt. Aber es hat +auch nie jemand gewagt, das zu mir zu sagen. Das konntest du nur +fertigbringen. Und damit wir nun gleich ganz klar miteinander sind: Du +hast recht, ich bin was du sagst. Aber wovon lebst du denn? Womit habe +ich dir das Leben gerettet? Mit Hurengeld.“ + +Der Vater sagte nichts darauf. Er starrte sie nur an. Die Mutter hatte +sich auf einen Stuhl gesetzt und weinte leise vor sich hin. Sie als Frau +mit dem feineren Empfinden, das Männern meist versagt ist, hatte wohl +schon ein wenig von der Wahrheit geahnt. Aber eine schlichte +Lebensklugheit, gewonnen in einem mühseligen arbeitsreichen Leben, hatte +sie geleitet, die Dinge nicht unnötig anzutasten, die umfallen können. +Die bestimmte Wahrheit nicht zu kennen und nicht zu erforschen, hielt +sie für weise und für zweckmäßig. Das Leben ließ sich dann leichter +ertragen. + +Jeannette war im Zuge, ganze Arbeit zu machen und volle Klarheit zu +verbreiten. Dieser Nimbus als Millionärswitwe hatte ihr von Anfang an +nicht recht gefallen. Sie hatte es eigentlich auch nicht selbst +erfunden, sondern es war so beim Ausfragen nach der Herkunft ihres +Reichtums in sie hineingeredet worden. Und sie hatte es gehen lassen +damit. Sie dachte sich, wozu große Trommeln rühren für die kurze Zeit, +die sie hier auf Besuch war. + +„Jawohl, mit Hurengeld“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Jede zwei, +drei, vier oder fünf Dollar bedeuten einen Mann, der bei mir war. Jetzt +kannst du dir ja ausrechnen, wie viele ich hatte, und wie viele ich +haben mußte, um dich vor der Gasvergiftung zu retten und deinen +ehrlichen Namen zu schützen, damit du und Mutter nicht im +Skandalanzeiger und in der Morgenpost als Selbstmörder erschienen. Das +hätte dein langes, in Ehren verbrachtes Leben mit einem Schlage +verdreckt, denn als Selbstmörder verrecken, ist keine große Ehre. Aber +von allen den Männern, die mich besucht haben, hat keiner jemals Hure zu +mir gesagt, weder Betrunkene, noch halb verrückte und halb tierische +Seeleute, die von langer Fahrt kamen und wie die jungen Stiere sich +benahmen. Alle sagten sie einen freundlichen und höflichen guten Abend +zu mir, wenn sie mich verließen, und die meisten sagten sogar ein +höfliches und ernstgemeintes ‚Herzlichen Dank, Senjorita!‘ Und warum? +Weil ich nie jemand betrog. Das, was du vielleicht Ehre nennst, ist +nicht meine Ehre. Meine Ehre und mein Stolz sind, daß jeder, der bei mir +war, für sein gutes und oft sehr schwer verdientes Geld gute und echte +Ware bekam. Ich war das Geld immer wert und bin es heute mit meiner +reichen Erfahrung erst recht wert. Und das ist mein Stolz, und das ist +meine Ehre, nie jemand zu betrügen. + +Na gut, ich bin eine Hure. Aber ich habe Geld, und du mit deinen Ehren +hast keins. Heute aber gibt dir niemand etwas für deine Ehre, noch nicht +einmal eine gutbezahlte Vertrauensstellung; selbst da mußt du noch +Kaution stellen, und wenn ich die nicht vorstrecke, kannst du hier den +ganzen Tag in der Bude hocken und Muttern das Leben zur Hölle machen mit +deinem ewigen Herumlamentieren. Wenn es dir Vergnügen macht, kannst du +ruhig auf die Straße gehen und allen Leuten erzählen, daß die +argentinische Millionenwitwe eine Schneppe ist. Ich mache mir nicht so +viel daraus, nicht so viel. Ich habe bereits mein Visum. Ich wollte erst +in drei Wochen reisen, aber nun fahre ich in einer Stunde schon. Mache +mir noch ein paar schöne Wochen in Scheveningen und Ostende – ich kann +es mir ja erlauben –, und dann geht es wieder los. Um mein Ziel zu +erreichen, brauche ich nämlich noch fünfzehntausend Dollar. Und nun +bitte, laß mich allein, ich ziehe mich an und packe meine Koffer.“ + +Der Vater verließ das Zimmer wie ein Automat; die Mutter blieb noch eine +Weile. Aber als die Tochter ihr sagte: „Sieh nach dem Vater, laß ihn +nicht allein. Er macht vielleicht Dummheiten. Er begreift ja so langsam, +daß es in der Welt verschiedene Wege gibt, um sein Leben zu fristen“, da +ging die Mutter auch, und Jeannette packte so rasch, daß sie in kaum +einer halben Stunde angezogen und mit ihren beiden gepackten und +verschlossenen Koffern in dem kleinen Korridor stand. + +Dann sprang sie rasch zur vierten Etage hinunter, wo sie bat, das +Telephon benutzen zu dürfen, um ein Auto zu bestellen. + +Ehe die Alten überhaupt recht zur Besinnung kamen, was eigentlich los +war, tutete unten das Auto, Jeannette rief den Chauffeur herauf, die +Koffer zu holen, und als die Koffer heraus waren, öffnete sie ihre +Handtasche, legte zweihundert Dollar auf den Tisch, umarmte und küßte +ihre Mutter, dann nahm sie, ohne zu fragen, ihren Vater beim +Schlafittchen, küßte ihn ab und sagte: „Na, lieber Vater, lebe wohl. +Nimm es mir nicht so übel und sei nicht so tragisch. Ich wäre sonst am +Typhus gestorben. Und um das Hospital bezahlen zu können und die +Injektionen, brauchte ich Geld, und so fing es an. Und als ich raus kam, +war ich zu schwach, um arbeiten zu können, und weil ich so abgezehrt +aussah, gab mir auch niemand Arbeit, und so ging es dann weiter. Es hat +mir das Leben gerettet und dir und Muttern. So, nun weißt du alles und +kannst dir den Rest zusammenreimen. Na, lebe wohl. Wer weiß, ob ich dich +noch einmal lebend wiedersehe.“ + +Da fing der Alte an zu weinen, nahm sie in seine Arme, küßte sie und +sagte: „Leb’ wohl, Kind. Ich bin halt alt. Das ist alles. Es ist schon +gut. Du mußt das besser wissen. Schreibe manchmal. Mutter und ich, wir +werden uns immer freuen, wenn wir etwas von dir hören.“ + +Dann töffte sie ab. Die Alten haben sich mit der Zeit mit dem Hurengelde +völlig abgefunden. Jeannette sendet vierteljährlich eine schöne Summer +rüber, und die Annahme wird nie verweigert. Ehre entwickelt sich nur und +erhält sich nur, wenn man nicht zu hungern braucht; denn das Ehrgefühl +richtet sich nach den Mahlzeiten, die man hat, nach denen, die man sich +wünscht, und nach denen, die man nicht hat. Darum gibt es drei +Hauptklassen und drei verschiedene Ehrbegriffe. + +„Und dann“, erzählte mir Jeannette weiter, „bin ich nach Santiago +gekommen, darauf nach Lima und endlich hierher. Man muß schon etwas +können und muß schon gute Männerkenntnis haben, wenn man hier Geschäfte +machen will. Die Konkurrenz ist groß.“ + +„Das können Sie doch nicht für immer betreiben, dieses Geschäft“, sagte +ich. + +„Natürlich nicht“, erwiderte Jeannette. „Das Traurigste unter diesem +Himmel ist eine alte Dame, die hier vor der Tür sitzen oder auf und ab +wandern muß und sich zu Dingen hergeben muß, die wir mit energischer +Handbewegung ablehnen. Ich mache mit, bis ich sechsunddreißig bin, und +dann wird Schluß gemacht. Ich habe gespart und habe nie gelumpt. Wollen +Sie wissen, wie hoch mein Bankguthaben hier auf der amerikanischen Bank +ist? Sie würden es ja doch nicht glauben, und es tut ja auch nichts zur +Sache. Dann kaufe ich mir ein Gut in Deutschland oder eine Farm in +Kanada, und dann wird geheiratet.“ + +„Geheiratet?“ fragte ich. + +„Was dachten Sie denn? Natürlich. Mit sechsunddreißig. Dann fängt doch +die Freude am Leben erst an. Und ich werde schon etwas aus meinem Leben +und aus meiner Ehe machen. Ich habe ja die Erfahrung und die +Männerkenntnis, ich verstehe schon, meinem Manne ein Leben und ein Bett +zu bereiten, daß er den Wert seines Schatzes erkennt.“ + +„Aber das ist doch etwas viel gewagt. Die Welt ist klein, sehr klein. +Und es kann doch gelegentlich eine Begegnung mit einer, nun sagen wir es +ruhig, mit einer Zwei- oder Fünf-Dollar-Bekanntschaft stattfinden, die +das paradiesische Eheleben zerschmettert.“ + +Jeannette lachte und sagte: „Nicht mit mir. Da kennen Sie mich nicht. +Ein solches Höllenleben führe ich nicht. Das überlasse ich den dummen +Frauenzimmern. Ich habe damals meinem Vater gesagt: Meine Ehre ist, daß +ich niemals jemand betrogen habe, und daß ich niemals jemand betrügen +werde. Also vor allen Dingen nicht meinen Mann. Bevor wir zu ernsten +Abmachungen kommen, werde ich ihm ohne irgendeine Einschränkung sagen, +wo ich mein Geld herhabe. Steht er über dieser Angelegenheit, dann werde +ich ihm sagen: Gut, wir heiraten unter folgender Bedingung: Du wirfst +mir niemals vor, wie ich zu meinem Vermögen kam, und ich werfe dir +niemals vor, daß du von diesem Gelde ein angenehmes Leben führen darfst. +Denn das Geld behalte ich in der Hand, und er kriegt genug, daß er mich +nicht anzubetteln braucht. Ich werde ihn mir vorher schon gut genug +ansehen, daß ich nicht in den falschen Hut greife, wenn ich mein Los +ziehe.“ + +Der Mann, der sie bekam, durfte dem Schicksal vielleicht dankbar sein. +Denn wenn er kein Spaßverderber war, würde er nach einer Woche erfahren, +daß Jeannette das Fünffache ihres Vermögens wert sei, weil sie die Ehe +sicher nicht langweilig werden läßt. Sie gewißlich ließ keine Wünsche +unerfüllt. + + + 12 + +„Da sind Sie ja, Osuna“, rief ich ihm entgegen. „Ich habe Sie schon +lange gesucht, glaubte, Sie seien bereits heimgegangen.“ + +„Nein,“ sagte er, „an Heimgehen dachte ich gerade nicht. Aber wir +könnten jetzt einmal ein wenig zusammenbleiben und in den Pacifico +Saloon gehen.“ + +„Gut, gehen wir, vamonos!“ + +Es war ein sehr großer weiter Raum, weiß, mit Gold verziert. An der +einen Seite waren Nischen. In jeder Nische ein kleiner Tisch und drei +gepolsterte Bänke herum. An der andern Seite, den Eingangstüren +gegenüber, waren gepolsterte Bänke die ganze Front entlang. An der +Seite, die der Wand mit den Nischen gegenüberlag, war das Büfett mit +hohen Sitzen für die Gäste. In der Ecke war eine Jazzkapelle, die auf +einem Podium saß. Die Wände waren mit Gemälden geschmückt. Diese Gemälde +waren recht gut gemalt. Es waren die Darstellungen nackter Frauen in +Lebensgröße. Diese schönen Frauen gebrauchten keine Feigenblätter, um +jemand daran zu erinnern, daß es etwas zu verbergen gäbe, dessen +Vorhandensein jedem Menschen bekannt ist, und das nur darum auf Gemälden +und Statuen heuchlerischerweise abgelogen und abgeleugnet wird, damit +man nicht vergessen soll, daß es unanständig ist. Und immer nur dann, +wenn es unter einem Feigenblatt verborgen wird, bückt man sich, um +nachzusehen, was darunter ist, weil man bei seiner Schwester oder bei +seinem Bruder, wenn man mit ihnen in der Badewanne saß, nie bemerkt +hatte, daß da ein Blatt aus dem Bauche wächst. Hier freilich wäre es +lächerlich gewesen, den Leuten, ob sie nun Männer oder Frauen waren, +einzureden, daß die Menschen am untern Ende des Bauches eingewachsene +oder festgewachsene Blätter hätten. Sie würden es nicht geglaubt haben. +Woanders glaubt man es offenbar oder hält wenigstens die Menschen für +dumm genug, daß sie es glauben. Denn wären die Blätter nicht, würden die +Menschen nie wissen, daß sich dieser Teil des menschlichen Körpers von +den übrigen Teilen in irgendeiner Weise unterscheidet. Das aber muß den +Menschen gelehrt werden, damit sie wissen, was Sünde ist, und damit sie +die bezahlen und in Ehren halten, die behaupten, daß sie das Recht +hätten, die Sünden vergeben zu dürfen. Was würden wir armen Menschen +tun, wenn wir nicht wüßten, was Sünde ist! Das so schön aufgebaute +Gebäude würde zusammenbrechen. Denn es ist ja nur auf Suggestion +aufgebaut. + +Auf der langen gepolsterten Bank saßen die Senjoritas und warteten auf +ihre Tänzer. Die Herren saßen entweder an der Bar oder in den Nischen. +Zwei oder drei der Herren hatten eine oder zwei der Senjoritas bei sich, +mit denen sie sich sehr anständig unterhielten, ebenso geistvoll wie in +einem Ballsaal der oberen Zweitausend von Neuyork. Es war nur +interessanter, weil man, wenn man wollte, auch das sagen durfte, was man +auf dem Herzen hatte, während man das bei jenen Zweitausend nur sagen +darf, wenn angenommen wird, daß man die Landessprache nicht genügend +versteht, um den wahren Sinn der Worte zu begreifen. Ein Onestep +rasselte vom Podium herunter. Aber die Herren waren recht tranig. Nur +da, wo alles verboten ist, weiß man immer, was man tun will, um sich zu +amüsieren. Hier, wo alles erlaubt ist, was man sich nur denken kann, +sind die Herren immer verlegen und schüchtern, und wenn die Senjoritas +nicht gar so freundlich und aufmunternd herüberlächeln würden, kämen die +Herren nicht zum Tanzen. Und trotz des schönen Lächelns: die Senjoritas +müssen meist mit ihresgleichen tanzen, weil die Herren ihre Verlegenheit +und Schüchternheit dadurch zu verbergen suchen, daß sie an der Bar +sitzen und trinken und trinken, mehr trinken, als sie wollen. Durch das +Trinken wollen sie den Senjoritas beweisen, daß sie Männer seien; es +ihnen auf andere Weise zu zeigen, dazu fehlt ihnen in dieser +ungezwungenen Umgebung der Mut. Und sie trinken, um hierbleiben zu +können, in der Nähe der Senjoritas, deren Lächeln sie lieben, und deren +schöne Gesichter sie gern sehen. + +Dann aber raffen sich doch einige auf und bitten die Senjoritas um einen +Tanz. Es ist zum Lachen. Sie tanzen überformell, die Herren. Und die +Senjoritas, um es den Herren zu erleichtern, schmiegen sich ihrer ganzen +Länge nach an ihre schüchternen Tänzer. Es ist fruchtlos. Und die +Senjoritas tanzen nun ebenso formell wie die braven Herren. Aber das +gefällt nun den Herren nicht, und jetzt beginnen sie, etwas schmiegsamer +zu werden. Die Senjoritas lächeln ihr schönstes Lächeln. Aber die Herren +drucksen und wissen nicht, was sie zu den Damen sagen sollen. Es ist wie +in einer Tanzschule. + +Die Senjoritas, die mit ihresgleichen tanzen, tanzen zuweilen in der +überdeutlichsten Weise, um die Herren auf sich zu lenken. Aber +merkwürdig, es zieht nicht. Sie erreichen ihre Absichten viel leichter, +wenn sie elegant tanzen, ohne Wackelagen und Schmiegelagen. Die +Künstlerinnen unter ihnen, die Weisen, wissen, daß sie die meisten +Erfolge haben, wenn sie die Herren an deren Bräute oder deren +Freundinnen aus der Gesellschaft erinnern können. Aus diesem Grunde +sitzen auch viele der Senjoritas vor ihren Türen und häkeln feine +Spitzen oder sticken feine Tücher. Es ist ein Trick, der seine Wirkung +nicht verfehlt. Er erinnert die Herren, die hier in fremdem Lande sind, +wochen- oder monatelang auf See, im Dschungel, im Busch waren, an traute +Häuslichkeiten der heimatlichen Erde. + +Manchmal führen die Herren ihre Senjoritas wieder zurück zu ihren +Plätzen, während sie selbst wieder an die Bar gehen oder sich einen +Platz in den Nischen nehmen. Dann aber ladet auch ein Herr eine oder +zwei oder – besonders wenn er sich nicht recht traut, mit einer allein +zu sitzen – drei oder vier Senjoritas an seinen Tisch. + +„Was trinken Sie, Senjorita?“ + +„Ich, einen Whisky und Soda. Ich, einen Jugo de Naranja, einen +Apfelsinensaft. Ich, eine Flasche Bier. Ich möchte ein Paketchen +Zigaretten.“ Keine bestellt Sekt oder einen teuren Wein. Sie neppen +nicht. Wenn freilich der Herr protzen will, oder er will durchaus seine +vier Monate Arbeitslohn in einer Nacht verhauen, dann bestellt er Sekt +und wer weiß was sonst noch und ladet mit einemmal sämtliche Senjoritas, +die anwesend sind, zwanzig oder fünfundzwanzig, ein, an dem großen +Gelage, das nun beginnt, teilzunehmen. Dann wird es lustig. Es ist +nichts verboten, und Polizeistunde gibt es nicht. Der Saloonbesitzer hat +seinen Stempelbogen mit den Steuermarken im Lokal hängen und hat das +Recht, sein Geschäft so zu betreiben, daß es keinen Schaden leidet. Wo +geneppt wird, geht morgen niemand mehr hin, die ganze Stadt weiß es in +zwölf Stunden. Der Besitzer muß zumachen. Um das Neppen zu verhüten, hat +er große Plakate im Saloon hängen: „Jedes Getränk ein Peso“ oder: „Jedes +Getränk fünfzig Centavos“. Sie brauchen keine Polizeivorschriften. Gäste +und Restaurateure regeln das selbst durch die Freiheit von Angebot und +Nachfrage, durch die Freiheit der Konkurrenz und durch das Fehlen von +Konzessionsverpflichtungen. Wenn zu viele einen Saloon aufmachen, +braucht keine Behörde einzugreifen, die überflüssigen gehen von selbst +pleite. Nur die Nichtnepper, nur die, die für gutes Geld gute Ware +liefern, überleben. Vier Polizisten und ein Inspektor halten in diesem +großen Viertel die Wache, und sie haben so selten etwas zu tun, daß es +auffällt, wenn sie einmal eingreifen müssen. Sie brauchen nur ganz +selten einen Betrunkenen in Sicherheit zu bringen, weil selten ein +Betrunkener zu sehen ist. Und wenn man doch einen sieht, so ist es ein +indianischer Arbeiter oder ein heruntergekommenes Halbblut. Im +Streitfalle mit den Senjoritas und den Herren sind sie auf seiten der +Schwächeren, der Senjoritas. Und nur, wenn der Herr zweifelsfrei im +Recht ist, dann wird ihm beigestanden. + +Zwei oder drei Detektive mischen sich unter die Leute. Sie suchen nach +den Opium- und Kokainverkäufern, die hier in diesem Viertel ihre +Kundschaft finden. + +Osuna und ich, wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Bier. Dann +tanzten wir mit zwei Senjoritas und luden sie ein, sich zu uns zu +setzen. Sie tranken ein Gläschen Whisky. Wir wußten nicht, was wir zu +ihnen reden sollten. Und es tat mir leid um die Senjoritas, die sich die +größte Mühe gaben, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich war immer +froh, wenn wieder ein Tanz einsetzte, weil man mit den Füßen leichter +fortkonnte als mit der Zunge. + +Um überhaupt zu reden, fragten wir die Senjoritas nach allen möglichen +dummen Sachen. Ob sie jede Woche den Arzt sehen müßten oder nur alle +zwei Wochen. Ob diejenigen, die nicht in den Saloons tanzten, für ihre +Häuser hundertfünfzig oder zweihundert Pesos den Monat zu zahlen hätten. +Wieviel sie durchschnittlich verdienten. + +Sie hielten uns sicher für außerordentlich stupid, daß wir so blöde +geschäftliche Fragen an sie richteten, statt von den mehr interessanten +Dingen des Lebens zu sprechen. Aber sie verloren ihre gute Laune nicht. +Das konnten sie auch nicht gut, weil sie keine Launen hatten. Die +durften sie nicht haben, weil es dem Geschäft hinderlich werden könnte. +Und weil sie keine Launen hatten, fühlten sich viele Herren, die Familie +hatten, hier wohler als in ihrem Hause; denn es gibt nur wenige Männer, +die launische und zänkische Frauen lieben. Die Erholung hier war für +solche Herren die Geldausgabe wert. Hier waren die Herren immer +vergnügt. Und ich glaube sicher, wenn sie zu Hause stets ebenso vergnügt +wären wie hier, würden manche keine zänkischen und launischen Frauen +daheim vorfinden. + +Endlich sagte Osuna: „Es ist elf, ich glaube wir gehen.“ + +„Gut,“ sagte ich, „gehen wir.“ + + + 13 + +Wir kamen heim um halb zwölf. Um zu der Kammer zu gelangen, wo wir unsre +Arbeitshose anziehen wollten, mußten wir an der Backstube vorüber. Sie +waren feste am Arbeiten da drin. Wir guckten durch die Tür, und der +Meister sah uns. + +Er zog seine Uhr und sagte: „Es ist gleich zwölf.“ + +„Das weiß ich,“ erwiderte ich, „wir haben es eben an der Kathedrale +gesehen. Und überhaupt, ich höre auf.“ + +„Wann?“ fragte der Meister. + +„Jetzt“, sagte ich. + +„Dann sagen Sie es dem Alten. Er ist vorn im Café.“ + +„Das habe ich gesehen. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich bin ja +durch das Café gekommen.“ + +„Ich höre auch auf“, sagte nun Osuna. + +„Warum wollt ihr denn beide aufhören?“ fragte der Meister. + +„Wir sind doch keine Blödhammel, daß wir hier jeden Tag fünfzehn und +achtzehn Stunden arbeiten“, sagte Osuna. + +„Ihr habt wohl getrunken?“ fragte der Meister. + +Osuna ging gleich auf ihn zu: „Was sagen Sie?“ + +„Ich werde doch wohl noch sagen dürfen, daß es gleich zwölf ist,“ +rechtfertigte sich der Meister, „wenn wir hier schon seit zehn arbeiten +und so viel zu tun ist.“ + +„Sie können sagen, was Sie wollen,“ meinte ich, „aber nicht mehr zu uns. +Sie sind nicht mehr unser Meister.“ + +„Gut,“ sagte der Meister darauf, „dann geht aber auch gleich. Dann +braucht ihr hier auch nicht mehr zu schlafen, und morgen früh noch das +Frühstück mitnehmen, gibt es auch nicht.“ + +„Darum haben wir Sie gar nicht gefragt,“ erwiderte Osuna, „und wenn wir +das wollten, würden wir gerade Sie nicht darum anbetteln.“ + +Wir gingen in die Kammer, packten unsre Arbeitslumpen jeder in einen +leeren Zuckersack und gingen. + +Mit einmal sagte Osuna: „Wir haben ja unsre zwei Pesos in den alten +Schuhen gelassen, nur gleich geholt. Wenn die Bilder haben wollen, dann +mögen sie sich selber welche kaufen.“ + +Wir nahmen unsre zwei Pesos und kamen wieder vorbei an der Backstube. + +„Wer hat denn die Bilder da zerrissen?“ fragte der Tscheche. + +„Wir“, antwortete Osuna. „Vielleicht was dagegen? Nur sagen. Wir sind +gerade in der Stimmung. Ich denke doch, daß wir mit unsern Bildern +machen können, was wir wollen.“ + +„Das habe ich nicht gewußt, daß das eure Bilder waren. Die hättet ihr +doch nicht zu zerreißen brauchen“, sagte ein andrer. + +„Solche unanständigen Bilder mag ich nicht leiden“, antwortete Osuna. +„Wenn ihr so etwas vor Augen haben wollt, kauft sie euch. Wir brauchen +keine Bilder, was Gale?“ + +„Nein, wir haben solche Bilder nicht nötig, glücklicherweise nicht“, +unterstützte ich Osuna. Und ich tat es mit voller Überzeugung. + +Dann gingen wir zu Senjor Doux und verlangten unser Geld, das wir noch +zu kriegen hatten. Er gab es uns nicht und sagte, wir sollten morgen +wiederkommen. + +„Ihr Morgen kennen wir reichlich“, gab ich ihm zur Antwort. + +Osuna stellte seinen Sack auf den Boden, lehnte sich ein wenig über das +Büfett, hinter dem Senjor Doux stand, und sagte ziemlich laut: + +„Wollen Sie uns jetzt sofort unser Geld geben oder nicht? Oder soll ich +erst die Polizei hereinholen, daß Sie uns unsern verdienten Lohn +auszahlen?“ + +„Schreien Sie doch nicht so, daß die Gäste aufmerksam werden“, sagte +Senjor Doux leise und griff in die Hosentasche, um das Geld +herauszunehmen. „Ich zahle Ihnen ja, ich bin Ihnen doch nie einen +Centavos Lohn schuldig geblieben. Wollen Sie noch eine Flasche Bier +trinken?“ + +„Können wir machen“, erwiderte Osuna. „Wir sind nicht zu stolz dazu.“ +Wir setzten uns an einen Tisch, und ein Kellner brachte uns zwei +Flaschen Bier. + +„Das Bier wollen wir ihm nicht schenken, diesem Geizkragen“, sagte ich. +„Er hat sicher geglaubt, wir würden nein sagen, sonst hätte er es uns +nicht angeboten.“ + +„Sicher nicht,“ meinte Osuna, „deshalb habe ich ja auch ja gesagt. Ich +habe gar keinen Appetit darauf.“ + +Warum wir gingen, danach fragte Senjor Doux nicht. Solche plötzlichen +Abschiede kamen bei ihm zu häufig vor, als daß er sich darüber aufgeregt +hätte. Ebensowenig fragte er uns, ob wir nicht bleiben möchten. Er wußte +wohl, daß es bei uns ebenso erfolglos gewesen wäre wie bei früheren +Abschieden. + +Er ging zur Kasse, wo seine Frau stand, und holte das Geld für uns. Dann +brachte er es an unsern Tisch, legte es hin und verschwand wieder hinter +dem Büfett, ohne noch etwas zu sagen, und ohne nochmals zu uns +rüberzusehen. + +Dann gingen wir zu einem indianischen Kaffeestand, wo wir ein Glas +Kaffee tranken und die Frau fragten, ob wir nicht unsre Säcke hier bis +zum Morgen unterstellen könnten. Dann würden wir wiederkommen, bei ihr +frühstücken und die Säcke abholen. + +Danach gingen wir wieder zu den Senjoritas, wo es angenehmer war als in +der Backstube. + +Am nächsten Tage, nachdem wir den Vormittag über uns auf den Bänken der +Plaza herumgedrückt hatten, gingen wir zu einer Casa de Huespedes, wo +wir jeder ein Bett belegten für fünfzig Centavos und unsre Säcke in dem +Kofferraum abgaben. + +Bett ist ja nun auf keinen Fall richtig. Einzelne jener Betten waren von +dem Muster unsrer Bäckerbetten, also Hängematten aus Segelleinen, die in +einem Scherengestell aufgespannt waren. Wir aber bekamen bessere Betten. +Das waren Drahtmatratzen, die durchgelegen waren, so daß man immer in +einer Höhle lag, wo man so zusammengepreßt war, daß man kaum atmen +konnte. Die Unterlage war so dünn und zerschlissen, daß man den Draht +fühlte, und da man ja nicht viel Fleisch am Körper hatte, kerbte sich +der Draht in die Knochen. Und das war ein recht angenehmes Gefühl. Diese +Betten könnten in einer Folterkammer gute Dienste leisten. + +Da war ein weißüberzogenes Kopfkissen und ein weißes Leinenlaken in +jedem Bett. Aber da diese weiße Leinenwäsche nur jede Woche oder alle +drei Wochen gewechselt wurde, während der Bettgast jeden Tag wechselte, +so waren die Sachen eigentlich nicht weiß, sondern fettig, fleckig und +streifig. Außerdem gehörte zu jedem Bett eine Decke, die sicher nie +gewaschen und nie geklopft wurde. Es wurde nicht gelaust, und niemand +wurde untersucht, ob er krank sei. Wer sein Bett bezahlte, durfte darin +schlafen, ob er von den Läusen bald aufgefressen wurde, ob er Syphilis, +Tuberkulose, Malaria, Leprose, Krätze, schwarze Pocken oder sonst etwas +hatte. + +Die Schlafräume lagen zu ebener Erde. Türen hatten sie nicht, oder es +waren nur noch die Reste ehemaliger Türen vorhanden. Man trat vom Hofe +unmittelbar in den Schlafraum. Jeder Schlafraum hatte sechs bis acht +Betten. Die Betten standen kreuz und quer im Raum, gerade wie sie am +besten Platz fanden. Ein Raum lag neben dem andern, so daß die Räume +eine lange Reihe bildeten. Am Ende der Reihe schloß sich im rechten +Winkel wieder eine Reihe an und an diese wieder eine Reihe, so daß also +der ganze viereckige Hof mit Schlafräumen eingezäunt war. Die +Vorderfront bildete ein großes zweistöckiges gemauertes Haus mit der +stolzen Inschrift „Continental-Hotel. – Bäder zu jeder Tages- und +Nachtzeit“. Hier in diesem Vordergebäude waren die Zimmer für einen +Peso; in jedem Raume standen zwei Betten. Diese Betten hatten +Moskitonetze, während die billigen keine hatten. + +Viel wert waren die Netze nicht, weil sie große Löcher hatten. Außerdem +war in dem Gewebe der Atem von Tausenden von verschiedenen Menschen +aufbewahrt. + +Bäder konnte man in der Tat zu jeder Nachtzeit bekommen. Es waren +Brausebäder, und jedes Bad kostete fünfundzwanzig Centavos. Dafür bekam +man Seife und Handtuch und einen Bastwisch zum Abreiben dazu geliefert. +In diesen Baderäumen wimmelte es von riesengroßen Schaben. An der +Wasserrohrleitung war kein Hahn, den man einstellen konnte, so daß das +Wasser laufen konnte. Man hatte eine Kette zu ergreifen und an der zu +ziehen. Beim Baden konnte man also nur immer eine Hand zum Waschen +gebrauchen, während man mit der andern an der Kette ziehen mußte. Wusch +und seifte man sich mit beiden, so mußte man die Kette loslassen und das +Wasser hörte auf zu laufen. Das wurde getan, um Wasser zu sparen; denn +Wasser ist hier ein kostbarer Artikel. + +In den billigen Schlafräumen gab es alles erdenkliche Ungeziefer und +alle möglichen Insekten der Tropen, alles natürlich in tropischen +Ausmaßen, nur die Moskitos waren klein. Die großen widerlichen Schaben +liefen in den Betten umher und an den Wänden auf und ab, als ob ihnen +die Räume gehörten. + +Die Reihen der billigen Schlafräume waren alle aus dünnen Brettern +erbaut, die halb zerfault waren. Die Dächer waren aus Wellblech und bei +manchen Räumen aus Pappe. Ob sie aber aus Blech oder aus Pappe waren, +alle leckten, wenn es regnete, so fürchterlich, daß an ein Schlafen +nicht zu denken war. + +Die Gäste alle rauchten. Und da es ja nicht ihr Haus war, so flogen die +ganze Nacht hindurch die glühenden Zigarettenstummel und brennenden +Zündhölzer in den Räumen herum. Die Zündhölzer hier sind aus Wachs und +brennen schön weiter, wenn man sie weggeworfen hat. Aber trotzdem sind +Feuer sehr selten. Wenn sie ausbrechen, brennt alles nieder, weil die +Feuerwehr zwar die modernsten Löschmaschinen besitzt und sehr gut +gedrillt ist, aber kein Wasser hat. Nur gerade so viel Wasser, wie in +den fahrbaren Maschinen mitgeführt wird. + +Die Fußböden waren alle zertreten und morsch und faul. Ratten und Mäuse +hatten ideale Heime und trugen die Beulenpest umher. + +Die billigen Schlafräume waren immer voll besetzt, die teuren für einen +Peso standen zur Hälfte immer leer. + +Wir kamen, gaben einen Namen an, der eingeschrieben wurde, und erhielten +unsre Raum- und unsre Bettnummer. Dann legten wir uns schlafen, nachdem +wir ein Brausebad genommen hatten. + +Gegen acht Uhr abends standen wir auf und gingen wieder in die Stadt. +Das Bett gehörte uns noch für die kommende Nacht, und wir brauchten +nicht noch einmal dafür zu bezahlen. + +Bedürfnisanstalten gibt es hier nicht, dafür müssen alle Wirtschaften, +die darauf eingerichtet sind, jedem, auch wenn er nichts verzehrt, die +Benutzung gestatten. Aber manche Wirtschaften haben selbst keine +Einrichtung dafür, weil sie keinen überflüssigen Raum haben. Dann muß +sogar der Besitzer in ein Nachbarrestaurant gehen. + +Das war der Grund, daß ich in eine Bar kam. Ein Riese von einem Mann +stand an dem Büfett und trank Tequila. Er hatte hohe Reitstiefel an mit +Sporen. Sein Gesicht war sehr roh, und er trug einen mächtigen +Hindenburgbart. + +„Hallo!“ rief er, als ich wieder hinausgehen wollte. „Suchen Sie +Arbeit?“ + +„Ja. Was für welche? Wo?“ + +„Baumwolle pflücken. In Concordia. Mr. G. Mason. Zahlt den üblichen +Pflückerlohn. Bahnstation. Kostet drei Pesos sechzig.“ + +„Sind Sie beauftragt, Leute anzunehmen?“ + +„Natürlich, sonst würde ich es Ihnen doch nicht sagen.“ + +„Gut, geben Sie mir einen Zettel.“ + +Er ließ sich ein Stück Papier von dem Wirt geben, nahm ein +Bleistiftstümmelchen aus seiner Hemdtasche und schrieb den Zettel aus. + +Ich las den Zettel: Mr. G. Mason, Concordia. Dieser Mann kommt zum +Pflücken. L. Wood. + +Als ich später Osuna traf und ihn fragte, sagte er mir, daß er nicht +mitkäme. Am nächsten Morgen fuhr ich ab. + +Ich kam an und fand Mr. Mason. Auf dem Felde waren viele Pflücker tätig, +und die Arbeit hatte schon tüchtig angefangen. + +Als Mr. Mason meinen Zettel sah, sagte er: „Mr. L. Wood? Kenne ich +nicht. Hat keinen Auftrag von mir, Pflücker anzunehmen. Kann gar keine +brauchen. Habe genug.“ + +„Sie sind doch Mr. G. Mason?“ fragte ich. + +„Nein, ich bin W. Mason.“ + +„Wohnt hier in der Nähe ein Mr. G. Mason?“ fragte ich. + +„Nein“, antwortete der Farmer. + +„Dann sind Sie doch damit gemeint“, sagte ich. „Das mit dem G. ist dann +nur ein kleiner Irrtum. Sie pflücken doch. Wie kann denn Mr. Wood oder +ganz gleich wie er heißt wissen, daß hier ein Mr. Mason wohnt, der +Baumwolle baut und jetzt gerade mit dem Pflücken beginnt?“ + +Der Farmer machte ein unbestimmtes Gesicht und sagte dann: „Das weiß ich +auch nicht. Jedenfalls kenne ich keinen Mann namens Wood, und mein +Vorname ist nicht G., sondern W.“ + +„Schöne Sache,“ sagte ich, „einem so das Geld aus der Tasche zu lotsen +für die Eisenbahnfahrt, wenn man schon so gut wie nichts hat. Ich will +Ihnen etwas sagen, Mr. Mason, etwas stimmt hier nicht, und es ist an +dieser Stelle hier schwer herauszukriegen, wer der verfluchte Gauner +ist, der einen um seine Zeit und sein Geld betrügt.“ + +„Wenn Sie wollen, können Sie ja hier anfangen zu pflücken,“ lenkte Mr. +Mason nun ein, „aber Sie kommen nicht aufs Geld. Ich habe nur +Eingeborene zum Pflücken, und die tun es billig. Sie können auch hier +nirgends wohnen.“ + +„Verstehe auch ohne Hörrohr, was los ist“, sagte ich. + +„Haben Sie schon einmal als Zimmermann gearbeitet?“ fragte nun Mr. +Mason. + +„Ja, das habe ich, ich bin ein geübter Zimmermann.“ + +Wenn man hier nicht verhungern will, muß man alles sein können, auch +wenn man nie eine Axt oder ein Zieheisen in der Hand gehabt hat. Ich +jedenfalls hatte keine blasse Ahnung von der Zimmerei. Aber ich dachte, +wenn ich erst einmal vor der Arbeit stehe und mir eine Axt gegeben wird, +dann geht das übrige schon von selbst. Es kann jemand in England oder in +Frankreich oder in Deutschland vier oder fünf Jahre Buchbinder oder +Gelbgießer oder sonst was gelernt haben und ein Meister in seinem Fache +sein. Das ist hier gar nichts wert, weil selten oder nie ein Buchbinder +oder Gelbgießer verlangt wird. Wer bei seinem Handwerk bleiben will wie +der Schuster beim Leisten, der bekommt hier nicht einmal verschimmeltes +Brot in den Magen. Heute ein Auto reparieren, morgen einen guten Maurer +machen, übermorgen Stiefel besohlen, die folgende Woche ein Bohnenfeld +pflügen, dann Tomaten in Blechbüchsen konservieren und verlöten, hierauf +Werkzeuge schmieden und Drillmaschinen in Ordnung bringen in den +Ölfeldern, dann ein Kanu, mit Papayas gefüllt bis zum Sinken, über +Stromschnellen und Sandbänke, zwischen Alligatorenherden und durch +undurchdringliches Dornengestrüpp tagereisenweit die Flüsse +hinunterpaddeln, wenn man das nicht alles nebenbei kann, ist das so +mühevoll gelernte Handwerk und das lange Studium des Ingenieurs oder des +Arztes nicht so viel wert, daß man sich fünfzig Centavos für ein +chinesisches Mittagessen verdienen kann. + +„Wenn Sie Zimmermann sind, kann ich Ihnen Arbeit besorgen“, erläuterte +Mr. Mason. „Da baut ein Farmer ein neues Haus, und er wird nicht gut +damit fertig, weil er nichts von Holzarbeit versteht. Ich gebe Ihnen +einen Zettel mit. Es ist nur eine Stunde von der Bahnstation entfernt.“ + +Ich bin alt genug und lange genug aus den Windeln, um zu wissen, daß +niemand einen Zimmermann brauchte, und daß Mr. Mason nur nach einer +Gelegenheit suchte, mich recht rasch loszuwerden, damit ich nicht etwa +das Reisegeld von ihm verlange. Denn es war kein Zweifel, daß er den Mr. +Wood beauftragt hatte, sich nach Pflückern umzusehen. Inzwischen aber +hatte er indianische Pflücker angeworben, die es billiger machten, weil +sie von Frijoles und Tortillas leben konnten. Das ist der Trick, den sie +mit den Arbeitslosen spielen. Überall wird angeworben, weil sie nicht +wissen, wer kommt und wer nicht kommt. Überallhin, wo sie einen +Bekannten haben, schreiben sie Briefe, daß sie Pflücker brauchen, und +von überallher finden sich immer wieder Gutgläubige und Verhungernde, +die den letzten Peso für die Bahnfahrt wagen. Der Farmer hat dann die +Auswahl, sich die billigsten auszusuchen und den Pflückerlohn zu +pressen, weil der arme Teufel nicht mehr fort kann; er muß pflücken und +wenn ihm nur drei Centavos für das Kilo geboten werden. Es war zwecklos, +sich mit dem Manne lange herumzustreiten. Die einzige Abrechnung wäre +gewesen, ihm ein paar in die Fresse zu hauen. Aber er hatte den Revolver +in der hinteren Tasche, und Fausthiebe, auch wenn sie noch so gut +gezielt sind, bleiben gegen Revolverkugeln zu sehr im Nachteil, als daß +es sich lohnte, es mit der nackten Faust gegen nickelplattierte +Bleikerne aufzunehmen. + +Zur Station mußte ich sowieso zurück. Da konnte ich ja gut bei jenem +Farmer einmal vorsprechen. Es war aber schon so, wie ich vermutet hatte. +Der Farmer brauchte keinen Zimmermann, er war selbst Zimmermann genug, +um mit drei Peons sein Haus wunderschön und dauerhaft aufzubauen. +Immerhin, die Nachfrage nach Arbeit brachte mir ein gutes Essen ein. Und +der Farmer bestätigte mir auch, daß Mr. Mason ein ganz niederträchtiger +Lump sei und jedes Jahr diesen Trick mit der Anwerbung von Pflückern +vollführe, um durch die arbeitsuchenden weißen Arbeiter noch mehr auf +die Pflückerlöhne der Indianer zu pressen. Denn diese armen Teufel, die +kaum eine andre Einnahme an Geld das ganze Jahr hindurch haben, werden +ganz klein und duldsam gegenüber den Lohnpressungen, wenn sie selbst +Weiße um diese Arbeit betteln gehen sehen. + + + 14 + +Als ich zur Stadt zurückkam, waren mir von meiner monatelangen Arbeit in +der Bäckerei gerade zwei Pesos übriggeblieben. + +Was tun? + +Ich ging zum Casa, wo ich hoffte, Osuna zu finden. Aber er war nicht da. +Vor zwölf ging er nicht zu Bett. Abends war ja das Leben am schönsten, +wenn es kühl war und die hübschen Mädchen auf den Plazas promenierten, +während die Musikbanden spielten. + +Auf keinem der Plazas sah ich Osuna. Also konnte er nur im Spielsaal +sein. Der Spielsaal war im oberen Stockwerke eines großen Hauses, das zu +ebener Erde eine Bar hatte. Im Spielsaal selbst wurden keine Getränke +verabreicht. Es gab nur Eiswasser, das man umsonst erhielt. +Gesellschaftskleidung war nicht vorgeschrieben. Ich ging hin, gerade wie +ich war, ohne Jacke und ohne Weste. Den Leitern der Spielbank kam es +nicht darauf an, was die Besucher auf dem Leibe hatten, sondern was sie +in den Taschen hatten, und der, der ohne Jacke und Weste erschien, +konnte drei oder sechs oder gar neun Monate Drillerlohn in der Tasche +haben. Je verölter und verspritzter seine Hosen, sein Hemd und sein Hut, +je verlehmter seine Stiefel waren, desto wahrscheinlicher war es, daß er +zwei- oder dreitausend Pesos lose in der Hosentasche trug und zur +Spielbank kam, um diese Summe zu verdoppeln. + +Auf dem Treppenabsatz war ein kleines Tischchen, wo zwei Männer saßen, +die jeden, der hinaufging, beobachteten. Sie kannten jeden Besucher, und +sie hatten eine feines Gedächtnis für die, denen der Besuch untersagt +war, weil sie sich nicht zu benehmen verstanden. Es kam vor, daß jemand +behauptete, der Bankhalter habe ihn übervorteilt. Ohne zu streiten, +zahlte der Bankhalter die fünf, zehn oder zwanzig Pesos, um die der +Streit ging, sofort aus, auch wenn die Bank durchaus im Recht war. Aber +der Mann durfte nie wieder den Saal betreten. Die Bank betrog nicht. Es +waren nur immer die Gäste, die zu betrügen versuchten. Die Bank wußte, +daß sie bessere Geschäfte machte, wenn sie grundehrlich spielte, Karten +und Würfel wechselte, sobald ein Spieler nur den leisesten Zweifel +äußerte, als wenn sie versucht hätte, durch geschickte Manipulationen +den Spielern das Geld aus der Tasche zu holen. + +Der Saal war gedrängt voll. Und wären nicht die vielen Ventilatoren +gewesen, würde eine unerträgliche Hitze den Aufenthalt unmöglich gemacht +haben. Es waren Tische da, an denen Roulette gespielt wurde, an andern +wurde gepokert, wieder an andern gab es „Meine Tante – deine Tante“, +oder man konnte sein Glück mit „Siebzehn und vier“ wagen. Eine Bank +wurde von einem Chinesen gehalten, der Vorstandsmitglied des Jockeiklubs +war. Die Spielbank arbeitete unter dem Namen Jockeiklub, und sie war nur +Mitgliedern des Jockeiklubs zugänglich. Mitglied des Jockeiklubs war +man, sobald man den Saal betrat. Die Regierung schrieb zwar vor, daß +jeder Besucher eine ausgeschriebene, auf seinen Namen lautende +Mitgliedskarte haben müsse. Aber nach dieser Karte wurde nie jemand +gefragt, jedenfalls nie ein Weißer. Nur von den Indianern verlangte man +Karten zu sehen, aber die hatten keine, und deshalb wurde ihnen der +Zutritt nicht erlaubt. Die farbige Rasse war durch die Chinesen +reichlich vertreten, und zwar so reichlich, daß an manchen Abenden die +Chinesen die Hälfte der Gäste ausmachten. + +Ich hatte schon richtig vermutet. Osuna war anwesend. Er stand an der +Würfelbank, wo ein Locker spielte, der von der Bank angestellt und +bezahlt wird, um an den Banktischen zu spielen, wo augenblicklich keine +Gäste sind. Durch sein Spielen, bei dem er nach jedem Wurf den Einsatz +erhöht und endlich Einsätze von fünfundzwanzig Pesos macht, lenkt er die +Aufmerksamkeit von Spielgästen, die sich an andern Tischen drängen, zu +dieser Bank. Der hohe Einsatz macht die Leute aufgeregt, sie kommen +näher, umdrängen den Tisch, um den waghalsigen Spieler zu beobachten. +Natürlich gewinnt der Spieler und verliert, genau nach den Gesetzen des +Spielerglücks. Aber es ist ja nicht sein Geld, es ist das Geld der Bank, +das er setzt. Und die Gäste wissen nicht, daß er zur Bank gehört und nur +Anreizspiele macht. Aber es dauert nur wenige Minuten und der Tisch ist +von einem Dutzend erregter Männer belagert, die das Fallen der Würfel +belauern und in ihrem Innern sofort die Kombinationen ausrechnen, in +welchen Intervallen die Zahlen wiederkehren. Sobald sie glauben, die +Kombination errechnet zu haben, fangen sie zu setzen an und spielen. Die +Würfelbank, die vor kaum zehn Minuten nicht einen Spieler hatte, sondern +müßig lag, nur mit dem Bankhalter hinter dem Tisch, ist jetzt der +Mittelpunkt des Spielsaales. Jedes Feld ist drei- und viermal besetzt. + +Dadurch wurde die Bank mit „Meine Tante – deine Tante“ müßig, und der +Bankhalter konnte abrechnen, die Chips auswechseln und die neuen +Kartenpacks aufschichten. Wenn er fertig war und der Bankhalter bei den +Würfeln vor den Strömen des Schweißes zu keuchen begann, setzten bei der +Tanten-Bank zwei Locker ein. Und allmählich ging der Würfelkorb immer +langsamer, weil immer langsamer und seltener hier gesetzt wurde, während +bei der Tante das Gedränge unheimlich wurde. + +In einer Ecke wurde jetzt eine Bank versteigert. Sie wurde angeboten mit +fünf Pesos, überboten mit zehn, und sie ging endlich fort mit sechzig +Pesos. Ich sah rüber zu dem, der sie gekauft hatte. + +„Hölle noch mal, Leary, Mann, wo kommen Sie denn her?“ rief ich hinüber. +Es war in der Tat Leary, mit dem ich in Campeche in einem Ölcamp +gearbeitet hatte. „Ich drücke den Daumen für Sie, Leary, bis auf +dreihundert gegen zwanzig. Einverstanden?“ rief ich ihm zu. + +„Einverstanden, Gale“, rief er zurück. + +Die Amerikaner, die anwesend waren und es gehört hatten, lachten und +kamen alle zu dem Tisch, wo Leary sich jetzt niedersetzte, um die Bank +zu übernehmen, die er ersteigert hatte. + +Es wurde losgespielt. Leary mußte bluten. Hundert, zweihundert, +dreihundert. Er packte das Gold nur immer so raus und schob es fort. +Seine Chips waren längst zu Ende. + +„Verflucht noch mal, Gale, drücken Sie denn auch, oder was ist?“ + +„Nur keine Angst, Leary, hauen Sie nur drauf, alles was Sie haben.“ + +„Gut, mache ich“, rief Leary herüber. „Aber ich schneide ihn ab, wenn +Sie mich abflattern lassen.“ + +„Gehen Sie drauf! Ich stehe Ihnen mit dreihundert gegen +Gentleman-Agrément, drauf!“ Ich hatte zwei Pesos in der Tasche. + +Und Leary ging los. Vierhundert, fünfhundert, sechshundert, +siebenhundert. Sein Gesicht wurde rot wie eine Tomate, und es sah aus, +als ob es jeden Augenblick platzen wolle. Er zog ein Tuch aus der Tasche +und wischte sich den Schweiß ab. Aufgeregt war er nicht. Es war nur die +Emsigkeit der Arbeit, die ihn so stark mitnahm. + +Siebenhundertfünfzig. + +Die Karten fielen. Die Bank gewann. + +Die Karten fielen abermals. Die Bank gewann. + +Ich quetschte den Daumen. Die Bank gewann. Leary stand auf: „Ich gebe +die Bank ab. Versteigere.“ + +„Wieviel haben Sie gemacht, Leary?“ fragte ich ihn, als er zu mir kam, +um mir die Hand zu geben. Denn wir hatten uns ja nur über den Tisch und +über das Gedränge hinweg begrüßt. + +„Gemacht? Wieviel? Ich weiß nicht ganz genau. Aber da, nehmen Sie. +Gehört Ihnen.“ Er gab mir zweihundert Pesos. + +Ich hatte sie ehrlich verdient. Aber er sagte mir nicht, wieviel er +gemacht hatte. Für zwanzig hatte er sich verbürgt, falls er gewänne; +wenn er mir nun zweihundert geben konnte, so hatte er einen hübschen +Haufen in der Hosentasche. + +Man nimmt das Geld und fragt nicht, woher es kommt. Man kann doch nicht +verhungern. Verhungern ist Selbstmord. Und Selbstmord ist eine Sünde. +Aber Sünden soll man nicht begehen, das wird einen schon in der Jugend +gelehrt. + +Leicht gewonnenes Geld ist rasch ausgegeben. Aber diese zweihundert +Pesos waren keineswegs leicht verdient, und ich hielt sie gut zusammen. +Ich borgte Osuna fünfzehn Pesos, und er mietete sich einen kleinen +Zigarettenstand. Er zahlte für das Tischchen, das mit einem Stück +gestreiftem Segeltuch überspannt war, um die Sonnenstrahlen abzuhalten, +neun Pesos Miete den Monat. + +Jeden Tag einmal kam der städtische Steuereinnehmer vorbei, der den +Standtribut einforderte, fünfzehn Centavos. Dafür bekam Osuna ein +Zettelchen, das er vorzeigte, wenn der Beamte nachmittags wieder +vorbeikam, um bei denen einzukassieren, die am Vormittage nicht bezahlt +hatten. Diese Bezahlung des täglichen Tributs war alles, was man mit den +Behörden zu tun hatte, wenn man ein Geschäft auf der Straße errichtete. + +Wenn das Geschäft mal an einem Tage sehr schlecht ging, dann sagte Osuna +zu dem Beamten: „Ich habe heute kaum ein Mittagessen verdient“, dann +schenkte ihm der Beamte für diesen Tag die Steuer. Es wird dem Händler +geglaubt, wenn er sagt, daß er kein Geschäft gemacht hat; dafür glaubt +er auch bei einer andern Gelegenheit wieder der Behörde, wenn die etwas +sagt. Vertrauen gegen Vertrauen. + +Viel verdiente Osuna nicht. Manchen Tag einen Peso, manchen zwei Pesos. +Über zwei Pesos kam er selten. Aber es war leichter als in der Bäckerei. +Die Arbeitszeit war freilich die gleiche. Von frühmorgens um fünf bis +nachts um zwölf oder eins stand er an seinem Tisch. + +Ich holte mir jeden Tag ein oder zwei Pakete Zigaretten bei ihm und +verringerte so seine Schuldsumme. Es ging sehr langsam; denn jedes +Paketchen kostete nur zehn Centavos, und in jedem Paketchen waren +vierzehn Zigaretten. In manchen Paketen war sogar noch ein Gutschein für +zehn, zwanzig oder fünfzig Centavos, die Osuna freilich von der Fabrik +ersetzt bekam, die er aber doch erst einmal auszulegen hatte. Die Fabrik +zahlte ihm für diese ausgeliehene Summe fünf Prozent. + +Eines Nachmittags, als ich bei ihm saß und auf der kleinen Kiste hockte, +die sein Stuhl war, fragte ich ihn: „Warum sind Sie denn damals nicht +mit zum Baumwollpflücken gekommen? Sie hatten doch das Reisegeld so gut +wie ich.“ + +„Eben darum, weil ich das Reisegeld hatte, bin ich nicht mitgekommen. +Ich hatte Sie gewarnt, aber Sie wollten mir ja nicht glauben. So leicht +werden Sie nun wohl nicht mehr darauf hineinfallen.“ + +„Man kann nie im voraus wissen, ob es stimmt, oder ob es nicht stimmt. +Im vorigen Jahre stimmte es“, erwiderte ich. + +„Natürlich kann es auch mal stimmen und wirklich Arbeit da sein und +richtiger Pflückerlohn“, bestätigte er mir. „Aber ich habe reichlich +Erfahrung. Vor drei Jahren war ich pflücken, bei einem Amerikaner. +Wissen Sie, wie es mir ergangen ist?“ + +„Nein, wie?“ + +„Als die erste Woche herum war, wollten wir unsern Lohn haben. Da sagte +der Farmer, er könne nur jedem einen Peso geben. Wenn wir Ware +brauchten, so könnten wir das aus seinem Laden beziehen. Da nahmen wir +auch Ware, weil wir sie brauchten. Von dem Tage an gab er uns überhaupt +kein Geld mehr, sondern immer nur Bons für seinen Laden. Und da setzte +er uns Preise an, doppelt so hoch als in der Stadt. Tabak, den wir in +der Stadt für achtzig Centavos kauften, berechnete er uns mit einem Peso +vierzig. Ein Hemd, das in der Stadt drei Pesos kostete, berechnete er +mit fünf Pesos. So ging das mit Mehl, mit Bohnen, mit Kaffee, na, kurz +mit allem. Als wir dann mit der Ernte fertig waren, wollten wir +abrechnen und unser Geld haben. Da sagte er ganz trocken, er hätte +selber kein Geld, wir könnten für das ganze Geld, das uns noch zustände, +Ware haben. Was sollten wir aber mit der Ware machen? Geld brauchten wir +vor allem, um wieder zur Stadt zurückkommen zu können.“ + +„Und bekamt ihr das Geld?“ + +„Nein, wir mußten laufen. Er blieb uns den ganzen Lohn schuldig. Er +sagte, wir sollten unsre Adresse einschicken, dann wolle er uns das Geld +im Oktober schicken. Er hat nie einen Centavo geschickt, ist den Lohn +heute noch schuldig. Wir haben gerade für das lausige Essen die acht +Wochen gepflückt. Und was für Essen? Sie wissen ja, was man sich da +kocht, und was man ißt. Sie haben ja gepflückt.“ + +„Da läßt sich auch gar nichts dagegen tun“, sagte ich. + +„Nein, die kriegen immer wieder Leute. Immer wieder andre. Immer wieder +andre Dumme, immer wieder andre, die in der Stadt vor dem Verhungern +stehen, und die ehrlich arbeiten wollen. Wir haben ja nun in einigen +Staaten sehr tüchtige Gouverneure, die von den Arbeitern gewählt wurden, +von den Sozialisten und von den Syndikaten. In San Luis Potosi und in +Tamaulipas. Die Gouverneure haben nun vor kurzem in den +Arbeiterversammlungen gesprochen und zugesagt, daß sie hier energisch +eingreifen wollen. Der Gouverneur von Tamaulipas arbeitet ein Dekret +aus, daß jeder Baumwollfarmer fünfundzwanzig Pesos hinterlegen muß für +jeden Pflücker, und daß er für jeden Pflücker das Bahngeld für die Hin- +und Rückreise bezahlen muß. Das ist wenigstens ein Anfang. Bis jetzt +konnten die mit den armen Teufeln machen, was sie gerade wollten. Wenn +sie dann keine Pflücker kriegen und überall herumschreien, daß ihnen die +Ernte verfault, dann sagen sie, das Landarbeitersyndikat sei schuld und +das müßte ausgerottet werden. Dann reden sie von den faulen Indianern +und den Peons, die lieber als Banditen leben, als daß sie anständig +arbeiten wollen. Mich fängt keiner mit dem Schwindel. Baumwollpflücken? +Ich? Ich denke nicht, daß Sie mich für einen solchen Dummkopf halten. +Lieber stehlen oder krepieren. Haben Sie schon einmal hier einen armen +Farmer gesehen? Ich nicht. In den ersten drei Jahren vielleicht, da geht +es ihm etwas hart. Aber wenn er das Land erst einmal durch hat, dann ist +es sicherer als eine Goldmine. Dann aber wollen sie auch gleich noch +Diamantminen daraus machen dadurch, daß sie die Arbeiter um den Lohn +betrügen. Cabrones!“ + +Ich denke, daß Osuna durchaus recht hatte. Und ich nahm mir vor, meine +Laufbahn als Baumwollpflücker für immer abzuschließen. Es kam nichts +dabei heraus. Und es war so zwecklos. Was kümmerte mich denn der +Baumwollbedarf Europas? Wenn sie Baumwolle da drüben haben wollen, so +mögen sie herüberkommen und sie sich selber abpflücken, damit sie einmal +erfahren, was es heißt: Baumwolle pflücken. Mit dieser neuerkämpften +Lebensweisheit belastet, verließ ich Osuna und ging rüber zu der +Kaffeebar, um Kaffee zu trinken und zwei Hörnchen zu essen. + +Neben mir saß ein Amerikaner, ein älterer Mann, sicher Farmer. + +„Suchen Sie nach was?“ fragte er, als ich über die Bar hin und her +guckte. + +„Ja, nach dem Zucker“, sagte ich. Er reichte mir die emaillierte +Zuckerbüchse. + +„Das meinte ich eigentlich nicht, als ich fragte“, sagte der Mann +lächelnd. „Ich meinte vielmehr, ob Sie etwas verdienen wollen?“ + +„Das will ich immer“, erwiderte ich. + +„Haben Sie schon mal Rinderherden blockiert?“ fragte er jetzt. + +„Ich bin auf einer Viehfarm groß geworden.“ + +„Dann habe ich Arbeit für Sie.“ + +„Ja?“ + +„Eine Herde von tausend Köpfen, achtzig Stiere darunter, +dreihundertfünfzig Meilen über Land bringen. Abgemacht?“ + +„Abgemacht!“ Ich schlug in seine Hand. „Wo sehe ich Sie?“ + +„Hotel Palacio. Um fünf. In der Halle.“ + + + 15 + +Einfach mit der Bahn können Viehherden nicht befördert werden. Das Land +ist groß, die Strecken sind so weit, daß die Frachten die Herden +auffressen. Das Füttern und Tränken hat gleichfalls seine +Schwierigkeiten. Es muß herangeschafft werden zu den Stationen, +Futterleute müssen angenommen werden. Durch den langen Transport geht +das Vieh auch herunter. Es kann am Ende so kommen, daß der Viehzüchter +noch draufzahlen darf, wenn die Reste der Herde am Bestimmungsmarkte +angelangt sind. + +So bleibt nichts andres übrig, als die Herden über Land zu treiben. In +den europäischen Ländern ist das eine ziemlich einfache Sache. Aber hier +gibt es keine Straßen. Es müssen Gebirge überstiegen werden, Sümpfe +umgangen, Flüsse gekreuzt werden. Man muß stets Wasser zu finden +verstehen, weil die Herden sonst zugrunde gehen, und man muß täglich +Weidegründe erreichen. + +„Was, dreihundertfünfzig Meilen?“ fragte ich Mr. Pratt, als wir uns zur +Verhandlung niedergesetzt hatten. „Luftlinie?“ + +„Ja, Luftlinie.“ + +„Verflucht. Das können dann sechshundert Meilen werden.“ + +„Das glaube ich nicht“, erwiderte Mr. Pratt. „Soweit ich Erkundigungen +einziehen konnte, läßt es sich nahe an der Luftlinie halten.“ + +„Was mit der Bezahlung?“ fragte ich. + +„Sechs Pesos den Tag. Ich stelle Pferd und Sattelzeug. Beköstigen müssen +sie sich selbst. Ich gebe Ihnen sechs von meinen Leuten mit, Indianer. +Der Vormann, ein Halbblut, geht auch mit. Er ist ein ganz tüchtiger +Mann. Verläßlich. Ich könnte ihm die Herde vielleicht anvertrauen. Aber +besser nicht. Wenn er alles unterwegs verkauft und wegrennt, kann ich +nichts machen. Seine Frau und seine Kinder wohnen bei mir auf dem +Rancho. Aber das ist keine Sicherheit. Suchen Sie mal hier jemand im +Lande. Und ich möchte ihm auch nicht soviel Geld mitgeben. Ohne Geld +kann ich ihn nicht abschicken; da sind so viele Ausgaben unterwegs. Es +ist nicht gut, die Leute zu verführen. Selber kann ich nicht so lange +fortbleiben vom Rancho. Wenn man es weißt, dauert es nicht lange, und +die Banditen sind herum. Nun hätte ich gern einen weißen Mann, der den +Zug übernimmt.“ + +„Ob ich so ehrlich bin, wie Sie denken, das weiß ich nicht. Noch nicht“, +sagte ich lachend. „Ich verstehe es auch, mit einer Herde +durchzubrennen. Sie haben mich doch gerade hier auf der Straße +aufgegriffen.“ + +„Ich sehe den Leuten ins Gesicht“, sagte Mr. Pratt. „Aber, um ganz +ehrlich zu sein: So auf gut Glück gehe ich ja nun auch nicht. Ich kenne +Sie.“ + +„Sie mich? Ich wüßte nicht woher.“ + +„Haben Sie denn nicht bei einem Farmer mit Namen Shine gearbeitet?“ + +„Allerdings“, bestätigte ich. + +„Da habe ich Sie gesehen. Sie gingen dann zu den Ölleuten zur Ablösung +eines Drillers. Na?“ + +„Stimmt. Ich erinnere mich aber nicht, daß ich Sie gesehen hätte.“ + +„Tut nichts. Aber Sie sehen, daß ich Sie kenne. Und Mr. Shines Wort, daß +ich mich auf Sie verlassen kann, trotzdem Sie sich immer um Streiksachen +kümmern –“ + +„Ich? Fällt mir gar nicht ein. Was kann ich denn dafür, daß immer +zufällig da, wo ich bin, die Hölle losgeht. Ich mische mich nie rein.“ + +„Lassen wir das beiseite. Bei mir haben Sie keine Gelegenheit. Sie haben +den Kontrakt und sind kein Arbeiter. Sie übernehmen es, die Herde zu +transportieren, und ich übernehme es, Ihnen das Geld vorzustrecken und +Ihnen Tagesdiäten zu zahlen.“ + +„Kontrakt? Ganz gut. Aber was mit der Kontraktprämie?“ fragte ich. + +Mr. Pratt schwieg eine Weile, dann nahm er sein Notizbuch, rechnete und +sagte: „Ich habe zwei Meilen vom Markt, wo ich sie zum Verkauf bringen +will, eine Weide gepachtet. Sie ist aufgezäunt. Wenn ich die Herde in +der Weide halten kann, brauche ich nicht die Preise zu nehmen, sondern +kann meinen Vorteil wahrnehmen, bis man mir kommt. Wahrscheinlich kriege +ich mehrere Schiffsladungen in Auftrag. Andernfalls verkaufe ich +dutzendweise. Macht bessern Preis, als wenn ich die ganze Herde auf +einmal losschlagen muß. Ich werde mal sehen. Ich habe einen guten +Kommissionär da, der schon jahrelang mit mir arbeitet und immer gute +Preise geholt hat.“ + +„Das ist alles ganz gut,“ flocht ich ein, „aber das alles hat nichts mit +meinem Kontrakt und meiner Prämie zu tun.“ + +„Well, für jeden Kopf, den Sie gesund durchkriegen, bezahle ich Ihnen +extra sechzig Centavos. Wenn Sie weniger als zwei Prozent Verlust haben, +noch einmal hundert Pesos.“ + +„Und das Risiko?“ + +„Was Sie mehr verlieren als zwei Prozent, dafür ziehe ich Ihnen pro Kopf +verlorenes Vieh fünfundzwanzig Pesos ab“, sagte Mr. Pratt. + +„Warten Sie einen Augenblick“, sagte ich. Ich rechnete rasch auf einem +Zeitungsrand und antwortete dann: „Abgemacht. Einverstanden. Geben Sie +mir den Kontraktzettel.“ + +Er riß ein Blatt aus seinem Büchlein aus, schrieb mit Bleistift die +soeben vereinbarten Bedingungen auf, unterschrieb den Zettel und gab ihn +mir. „Ihre Adresse?“ fragte er. + +„Meine Adresse?“ sagte ich. „Ja, meine Adresse, das ist so eine Sache. +Sagen wir hier, sagen wir: Hotel Palacio.“ + +„Gut.“ + +„Wie ist denn das? Ist der Transport schon ausblockiert?“ fragte ich. + +„Nein, es ist noch nicht ein Kopf ausblockiert. Wir nehmen einen kleinen +Prozentsatz Einjährige und in der Masse Zwei- und Dreijährige. +Vierjährige habe ich nicht viel. Ein paar können Sie mithaben. Beim +Ausblockieren helfe ich Ihnen.“ + +„Ist alles gebrannt mit Ihrem Zeichen?“ + +„Alles, damit haben wir nichts zu tun.“ + +„Was mit den Leitstieren?“ + +„Das ist die Sache. Da müssen Sie zusehen, wie Sie die kriegen.“ + +„Ist recht. Werden wir schon einangeln.“ + +Mr. Pratt stand auf: „Nun wollen wir erst einen gießen, und dann lade +ich Sie zum Abendessen ein. Nachher habe ich Privatgeschäfte.“ Diese +Privatgeschäfte kümmerten mich nicht. + +Als wir uns nach dem Abendessen trennten, fragte Mr. Pratt, wieviel ich +Vorschuß haben wolle. Ich sagte ihm, daß ich nichts brauche. + +„Was, Sie brauchen keinen Vorschuß?“ fragte er erstaunt. „Das kommt mir +aber doch recht merkwürdig vor. Wo haben Sie denn das Geld gemacht?“ + +„In der Spielbank.“ + +„Da werde ich heute abend später auch mal hingehen, vielleicht gewinne +ich Ihren Lohn und Ihre Prämie.“ + +„Von mir aber nicht,“ sagte ich, „denn ich komme nicht. Ich halte, was +ich habe.“ + +„Von Ihnen wollte ich es auch nicht holen. Den andern will ich es +abnehmen. Da sind immer so verrückte Kerle drin, die aus den Kamps +hereinkommen, die können es nicht schnell genug hergeben. Ich mache +Solotisch mit zweien oder dreien dieser Vögel. Wenn Sie lernen wollen, +wie das gemacht wird, dann kommen Sie hin und sehen Sie zu“, riet er +mir. + +„Ich habe kein Interesse“, sagte ich und ging meiner Wege. + + + 16 + +Am nächsten Morgen früh um fünf reisten wir ab. Wir hatten sechzehn +Stunden mit dem Schnellzug zu fahren. Die Züge haben nur erste und +zweite Klasse, weil man hier nicht so viele Kastenunterschiede macht wie +in vierklassigen Ländern. Die erste Klasse kostet wenig mehr als das +Doppelte der zweiten. Man reist aber in der zweiten ebenso rasch wie in +der ersten und keineswegs sehr unbequem. In der ersten Klasse sind die +Sitze an den Längsseiten, aber man sitzt quer zur Zugrichtung. In der +Mitte ist der Gang, der durch den ganzen Zug führt. In der zweiten +Klasse, wo die eingeborene ärmere Bevölkerung reist, sind an beiden +Längsseiten durchgehende Bänke, und man sitzt mit dem Rücken gegen die +Wand des Abteils. In der Mitte sind Quersitze, und an jeder Seite +zwischen den langen Bänken und den Quersitzen führt der Gang. Die +Lokomotiven, gigantische Maschinen, werden nur mit Öl geheizt. Hinter +dem Tender folgt der Expreßgutwagen und ferner der Gepäckwagen mit der +Post. Dann folgen zwei lange Wagen zweiter Klasse, dann ein langer Wagen +erster Klasse und endlich der Pullman-Wagen für die Schlafgäste. + +Im ersten Wagen zweiter Klasse sitzt in jedem Zuge eine Abteilung +Soldaten von etwa zwölf bis achtzehn Mann mit geladenen Gewehren, +geführt von einem Offizier. Wegen der Banditenüberfälle auf Züge sind +die Soldaten notwendig. Es kommt trotzdem vor, daß die Züge von Banditen +überfallen werden. Dann entwickelt sich zwischen den Soldaten und den +Banditen eine Schlacht, die einige Stunden dauert und eine gute Anzahl +Tote kostet. Bei diesen Überfällen werden die Reisenden ausgeraubt, +jedoch nie getötet, es sei denn, daß sie bewaffneten Widerstand leisten. +Abgesperrte Bahnübergänge, Bahnwärter und so etwas gibt es nicht. Die +Züge sausen mit rasender Geschwindigkeit durch das unübersehbare Land, +durch Dschungel und Busch, über Prärien und über Gebirge, die mit ewigem +Schnee bedeckt sind. Über weite Schluchten sind Brücken gezogen, +vierzig, fünfzig, sechzig Meter hoch, viele Kilometer lang. Und die +Brücken sind nur aus Holz, und der Zug rast in schwindelnder Höhe +darüber hinweg. + +Die Bahnstrecke ist nicht abgezäunt. Rinderherden, Pferde, Esel, +Maultiere und Wild treiben sich in der Nähe der Bahnstrecke umher und +weiden oder ruhen mitten auf dem Geleise. Dann heult der Zug +schauerlich, um die Tiere zu verscheuchen. Manchmal stehen sie auf und +rennen davon; manchmal rühren sie sich nicht, und der Zug muß halten, +und ein Zugbeamter steinigt die Tiere hinweg. Dann wieder laufen die +Tiere direkt in den rasenden Zug oder sie werden übersehen. An der +ganzen langen Zugstrecke sieht man zu beiden Seiten der Geleise die +Skelette der Tiere liegen. Verwundete, denen die Füße abgefahren sind +oder der Leib aufgerissen wurde, liegen verdurstend, den Tod erwartend +in der tropischen Sonnenglut. Niemand, der vorbeikommt, tötet sie und +erlöst sie von ihren Qualen, weil der Besitzer vielleicht irgendwo +lauert; denn wenn man das Tier tötet, muß man ihm das Tier bezahlen, als +ob es lebend wäre, und er darf einen außerdem noch zum Gericht +schleppen, wo man wegen unerlaubter Tötung eines Tieres mit fünfzig oder +hundert Pesos oder gar mehr bestraft wird. + +Wenn man annimmt, daß man nicht beobachtet wird, hält man dem armen Tier +den Revolver ans Ohr. Dann aber muß man laufen. Mitleid an Tieren üben +ist kostspielig. Ich habe einmal einem Esel, der neben dem Bahngleise im +Busch lag und dem der eine Huf abgefahren war, eine Schüssel mit Wasser +gebracht, als die Sonne im Mittag stand. Die dankbaren Augen des Tieres +sind mir unvergeßlich. Aber ob ich es ein zweites Mal tun werde, wenn +Hütten nicht weit entfernt sind, weiß ich nicht. Am Abend, als die Sonne +unterging, starb das Tier. Es hatte auch noch innere Verwundungen. Ich +stand in der Tienda und trank eine Limonade. Da kam ein Halbblut rein +und sagte zu mir: „Der Esel da drüben am Geleise gehört mir. Sie haben +ihm heute mittag vergiftetes Wasser gegeben. Der Esel ist jetzt tot. Sie +werden mir den Esel bezahlen. Sie haben ihn vergiftet. Sie haben ja hier +den ganzen Nachmittag zu den Leuten herumerzählt, es sei eine Schmach, +daß man dem Tier nicht einen Erlösungsschuß gebe.“ + +Das Wasser war natürlich nicht vergiftet, denn ich hatte es aus dem +Trinkwasser-Tank der Familie des Tienda-Besitzers genommen. Und der +Besitzer der Tienda bestätigte das auch dem Halbblut. Dieser Bursche +wußte natürlich recht gut, daß ich dem armen Tier kein Gift gegeben +hatte. Schließlich einigten wir uns, daß ich ihm fünf Pesos für seinen +Esel bezahlte und eine Flasche Bier und ein Päckchen Tabak. Wenn nicht +der Tienda-Mann und einige Indianer, die in der Kantine waren, mir +beigestanden hätten, wäre mein angewandtes Mitleid eine teure Sache +geworden. + +Entlang der Geleise hocken die Geier in Schwärmen und warten auf die +Beute. Sie begnügen sich auch mit Katzen, Hunden, Schweinen. Weite +Strecken dient das Bett der Eisenbahn ganzen Maultier- und +Eselskarawanen als Straße, weil die Straße, die nebenher führt, oft +nicht mehr zu finden ist, denn der Dschungel oder der Busch hat sie +verschlungen. + +Die Bahn hat nur ein Geleise. Etwa je fünfzig Kilometer voneinander +entfernt sind große Wassertanks errichtet, wo die Lokomotiven wieder +frisch aufgefüllt werden können. An vielen Stationen wird kaum gehalten, +besonders wenn keine Reisenden aussteigen oder einsteigen. Dann fliegt +nur der Postsack heraus, und der andre wird hineingepfeffert. Auch die +Eisblöcke, die in Säcke eingenäht sind und festumpackt mit Hobelspänen +und Sägespänen, um das Eis vor dem Zerschmelzen zu schützen, werden +einfach hinausgefeuert. Der Empfänger wird sich schon darum kümmern. + +Die Fahrkarten kann man auf den Stationen kaufen oder im Zuge. Kauft man +sie im Zuge, muß man fünfundzwanzig Prozent mehr zahlen. Diesen +Aufschlag braucht man nicht zu zahlen, wenn die Station keinen +Fahrkartenverkauf hat. Viele Stationen brauchen nach fünf Uhr abends +keine Karten zu verkaufen, damit sie nach Eintreten der Dunkelheit kein +Geld im Gebäude haben, was den Agenten das Leben kosten kann. Auch in +diesem Falle wird im Zuge nur der Normalpreis erhoben. Die Karte wird +einem nach einer Weile im Zuge wieder abgenommen, und der Schaffner +steckt einem ein kleines Kärtchen in das Hutband, auf das er die +Kilometerzahl geschrieben hat. So hat er seine Gäste alle unter schöner +Kontrolle. + +Die Soldaten sitzen meist mit ihren Lesefibeln da, in denen sie +buchstabieren. Sie sind ausschließlich Indianer und können nur in ganz +seltenen Fällen lesen und schreiben. Aber sie haben einen brennenden +Ehrgeiz, es zu lernen. Einer hilft dem andern, und wenn der eine nur +gerade gelernt hat, wie man „eso“ schreibt, so ist er ganz aufgeregt, es +seine Kameraden auch zu lehren. + +Um acht oder halb neun wird zum Frühstück gehalten auf einer Station, +die schon eine belebte Stadt genannt werden darf. Wir stiegen aus und +gingen in das Bahnhofslokal. Natürlich wieder ein Chinese. Wenn man doch +endlich mal ein Restaurant finden möchte, das keinem Chinesen gehört. + +„Da wundern sich die Leute noch,“ sagte Mr. Pratt, während uns +chinesische Kellner den Kaffee und die gebackenen Eier mit Schinken +hinstellten, „daß die Anti-China-Bewegung hier in dem Lande, wo man +sonst keinen Rassenhaß kennt, immer größeren Umfang annimmt. Aber jedes +Restaurant, das sie nur ergattern können, erwerben sie, und gierig +warten sie auf jeden Neuen, der Pleite machen muß, weil er sich gegen +sie nicht halten kann. Sie nisten sich ein wie Ungeziefer. Sollen sich +nicht wundern, wenn das mal eine blutige Nacht gibt.“ + +„An der Pazifikküste habe ich eine erlebt“, erzählte ich ihm. „Kostete +achtundzwanzig Chincs das Leben. Und niemand wußte, wer es getan hat. +Aber sie sind nicht gegangen. Sie übernehmen das Risiko.“ + +„Das ist es ja eben,“ erwiderte Mr. Pratt, „was ich mit Ungeziefer sagen +wollte. Sie sind wie die Läuse.“ + +Wir standen auf, zahlten und gingen ein wenig auf dem Bahnsteig +spazieren. Dutzende von Händlern liefen herum und boten alles mögliche +an, von dem man nicht glauben möchte, daß es auf Bahnsteigen angeboten +werden könnte. Papageien, junge Tiger, Tigerfelle, lebende +Rieseneidechsen, Blumen, Singvögel, Apfelsinen, Tomaten, Bananen, +Mangos, Ananas, Zuckerrohr, kandierte Früchte, zerbröckelnde Schokolade, +Tortillas, gebratene Hühnchen, geröstete Fische, gekochte Riesenkrebse, +die in ihrer runden, spinnenähnlichen Gestalt grauenerregend aussehen, +aber sehr gut schmecken, Flaschen mit Kaffee, mit Zitronenwasser, mit +Pulque. Zerlumpte und barfüßige Indianermädchen liefen am Zuge entlang +und boten sich als Dienstmädchen und Köchinnen an. Es ist für die +zwanzig oder dreißig Minuten, während der Zug hier steht, ein Leben auf +der Station wie auf dem tollsten Jahrmarkt. Der Gegenzug kommt meist am +Abend hier vorbei, aber da warten die Gäste schon auf die nahe Großstadt +und sind müde und abgespannt von der Fahrt. Während der übrigen Zeit des +Tages ist eine solche Station, die augenblicklich sinnverwirrend +erscheint, totenstill. Sie glüht müde in der Sonne. Nur die Güterzüge +bringen ein wenig Bewegung unter die Beamten; aber alles ist träge und +schläfrig. Das Leben ist konzentriert auf die zwanzig Minuten am Morgen. +Wer in diesen zwanzig Minuten sein Geschäft nicht gemacht hat, muß +diesen Tag aus seinem Leben als einen erfolglosen Tag streichen. + +Mittags kamen wir in eine größere Station, wo der Zug etwa vierzig +Minuten zum Mittagessen hielt. In der Bahnhofswirtschaft – richtig +wieder Chinesen – standen an mehreren großen Tischen schon dreißig +Gedecke bereit. Die halbe Anzahl Teller war schon mit Suppe gefüllt. Mit +einem raschen Blick hatte der Inhaber heraus, auf wieviel Gäste er +rechnen könne. Manche aßen kein Dinner, sondern sie ließen sich nach der +Karte bedienen. Sie kamen schlechter dabei weg. Die Portionen waren +weder größer noch besser, aber teurer, als wenn sie im Dinner gingen. + +Dann kam der lange, der ermüdend lange Nachmittag der Fahrt. Der Zug +sauste immer durch die gleiche Landschaft. Dschungel, Prärie, Busch. Der +Gegenzug, der hier an der Mittagsstation kreuzte, hatte die +Morgenzeitungen der entgegengesetzten Stadt mitgebracht. Sie wurden im +Zuge verkauft. Man konnte sonst noch alles mögliche im Zuge haben: Bier, +Wein, Limonade, Schokolade, Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten, Zigarren. +Alle Getränke waren geeist, und wer kein Geld hatte, bekam gutes reines +Eiswasser umsonst, das er sich selbst holte. + +Abends um neun stiegen wir auf einer kleinen Station aus. Es war die +Heimatstation des Mr. Pratt. Wir gingen in die Kantina, die gleichzeitig +das Hauptpostamt war. Mr. Pratt begrüßte den Kantina-Besitzer, einen +Senjor Gomez, und stellte mich ihm vor. + +Na, zu essen, was man woanders essen nennen würde, gibt es in solchen +Kantinas nicht. Aber man kann nicht verhungern. Man kann sich das +schönste Essen zusammenstellen. Wir nahmen eine Büchse Vancouver Salm, +einige Büchsen spanische Ölsardinen, einige Büchsen Wiener Würstchen +(gemacht in Chikago), eine Büchse Kraftkäse (die Marke heißt Kraft, aber +der Käse ist trotzdem gut und kräftig, wenn auch teuer wie ein Stück +Gold), und endlich nahmen wir noch ein Paket Crackers, weil es Brot oder +Brötchen nicht gibt. Was sollte man damit auch auf dem Lande anfangen? +Den Tag darauf ist es wie Stein oder völlig verschimmelt oder innen und +außen voll von kleinen roten Ameisen. Diese Crackers sind viereckige +Biskuits, so groß wie eine Handfläche, und ich habe den Fabrikanten sehr +stark im Verdacht, daß er mit diesen Crackers die Christen an den +Geschmack der Matze gewöhnen will. Als mir mal jemand Matze zu kosten +gab, sagte ich zu ihm: „Schwindeln Sie mich doch nicht an, das ist ja +ein Klotz-Cracker.“ Ja, also so schmeckt das Zeug. Entsetzlich nüchtern +und nichtssagend. Aber was andres gibt es nicht. Und wenn man nicht zu +den indianischen Tortillas hält, sind diese Crackers wohl das gesündeste +Brot in den Tropen; denn europäisches oder gar deutsches Brot würde +einem hier den Magen umdrehen und in einer Woche auf den Cementerio +bringen. Der Cementerio ist der Platz, wo man hier die Toten begräbt, +ein Platz, den man woanders Friedhof nennt. + +Aber an Friedhof dachten wir nicht, denn wir machten uns mit dem Senjor +Gomez über seinen Bier- und Tequila-Vorrat her. Wir waren zwar nach +einer angemessenen Frist dann auch tot, jedoch nicht reif zum Begraben. +Wir wickelten uns in unsre Decken und legten uns auf den Boden des +Billardraumes in der Kantina. Senjor Gomez hatte es besser. Er ging zu +seiner Frau und lag weicher als wir. + + + 17 + +Mit diesem Gedanken an eine Frau oder an die Frau im allgemeinen – so +genau weiß ich das nicht mehr – schlief ich ein, und mit dem Gedanken an +eine bestimmte Frau wurde ich am nächsten Morgen geweckt. Diese Frau war +Mrs. Pratt. Sie war vom Rancho mit dem Ford gekommen, um in der Kantina +einiges einzukaufen. Bei dieser Gelegenheit fand sie ihren Ehegatten, +den sie noch nicht erwartet hatte, und sie fand ihn in einer Verfassung, +die sie am allerwenigsten erwartet hätte. + +Wie das immer so geht, solange die Welt aufgebaut ist, es ist stets der +Unschuldige, der leiden muß. Ich war der Unschuldige, und ich mußte +infolgedessen leiden. Mr. Pratt war das Muster eines Ehemannes, und ich, +den er irgendwo im Schlamm aufgelesen hatte, war der nichtswürdige Bube, +der ihn verlockt, verführt und ihn in den Sumpf geworfen hatte. Denn er, +der brave Mr. Pratt, tat so etwas nie. + +Als wir gingen, gab Mr. Pratt Senjor Gomez einen Wink. Männer verstehen +den Wink sofort, besonders wenn die beiden, zwischen denen der Wink +ausgetauscht wird, Ehemänner sind, die mit ihren Frauen gern in Frieden +leben. + +„Sie hatten also so viele Ölsardinen und dann noch das und das und –“ + +Der Wink kam wieder. + +„– und Sie hatten zwei kleine Flaschen Bier, und hier der Mr. Gale hatte +vier. Ja, das ist alles. Ich habe die Flaschen genau angekreuzt.“ + +Mrs. Pratt war zufrieden mit ihrem Gatten. Er konnte ja später das +Schock Flaschen bezahlen, das da leer in der Ecke lag. Er war dem Senjor +Gomez ja gut. Aber ich kriegte einen Blick von Mrs. Pratt, der mich das +Schlimmste befürchten ließ, und ich überlegte ernsthaft, ob es nicht +besser sei, Mr. Pratt gleich hier zu sagen, daß ich auf den Kontrakt +doch lieber verzichten wolle. Denn ich hatte ja etwa zwei Wochen, wenn +nicht länger, im Hause der Mrs. Pratt zu leben. So lange konnte es +dauern, bis der Transport ausblockiert war. Und was konnte mir diese +Dame in jener langen Zeit alles antun! Man denke, ich hatte ihren +nüchternen, braven Ehegatten in eine Verfassung gebracht, daß er selbst +jetzt, nach einigen Stunden Schlaf, noch kaum auf den Füßen stehen +konnte und mit verglasten Augen in die Welt guckte. Man soll sich mit +verheirateten Männern nicht einlassen. Das tut nie gut. Das ist eine +ganz andre Rasse. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich Senjora Gomez +auch noch auf den Hals kriege. Dann aber laufe ich, das ist sicher; denn +gegen Senjoras läßt es sich schwerer ankommen als gegen Missis. Deren +Zungenbänder sind viel geläufiger als die anglosächsischen, und die +Senjoras arbeiten viel intensiver und viel unvorsichtiger mit den +Fingernägeln. + +Ich war deshalb recht froh, daß Mrs. Pratt ihren sonst so Nüchternen in +den Ford bugsierte, sich an das Steuerrad setzte, einschaltete und +abrasselte. Daß ich mit sollte und mit wollte, darum kümmerte sie sich +nicht. Ich konnte ja laufen, die vierzehn Meilen, die der Rancho von der +Station entfernt war. Aber der Gedanke daran gab mir eine ungeheuere +Schwungkraft, und mit dieser Schwungkraft setzte ich dem Ford nach, als +Mrs. Pratt die Kurve einbog, um auf den Weg zu kommen. Ich rasselte in +die offene Klappe, Kopf zuerst. Die Schwungkraft hatte nicht +ausgereicht, auch die Beine mit hineinzukriegen. Deshalb hingen die +Beine lang heraus. Ich bin überzeugt, daß die Indianer, denen wir +unterwegs begegneten, sicher glaubten, ich sei eine Anprobierpuppe, die +Mrs. Pratt von der Bahn geholt habe. Vielleicht glaubten sie noch ganz +andre Dinge, vielleicht, daß Mrs. Pratt mich überfahren habe und mich +nun rasch nach dem Rancho schleppe, um mich dort einzuscharren. + +Wir kamen auf dem Rancho an. Aber niemand kümmerte sich um mich. Mrs. +Pratt fuhr das Auto unter ein Strohdach und ließ es dort stehen. Ich +hing noch immer in dieser unglücklichen Stellung in der Klappe. Endlich +aber wurde mir diese Lage doch zu unbequem. Ich zerrte mich heraus und +setzte mich in die Polster. + +Als ich erwachte, stand die Sonne tief. Ob sie aufgehend oder +untergehend war, wußte ich nicht, weil ich ja hier fremd war und die +Himmelsgegenden nicht kannte. + +„Hallo, Sie da unten, haben Sie jetzt Ihren Suff ausgeschlafen?“ rief da +Mrs. Pratt von der Veranda des Rancho-Hauses herunter. „Sie scheinen mir +ja gerade das richtige Hühnchen zu sein, das mein alter Esel da auf der +Straße aufgelesen hat. Sie werden wohl mit der Herde am Panama-Kanal +landen, Sie Trunkenbold. Dem Himmel sei Dank, daß da der Kanal ist, +sonst könnten wir der Herde bis nach Brasilien nachlaufen. Wer weiß, wo +Sie mit ihr hingeraten. Kommen Sie rein zum Essen.“ + +Zum Essen. War das nun Frühstück oder Abendessen? Ich sah nach meiner +Uhr. Stehengeblieben. Natürlich. Wenn man so ein verfluchtes Ding mal +wirklich braucht, dann steht sie. Am liebsten möchte ich sie gleich +gegen die Wand pfeffern. Was tu ich mit einer Uhr, die stehnbleibt, wenn +man mal eine Flasche Bier trinkt und lustig ist und singt! Also rauf zum +Essen. Nur um die gute Frau nicht noch mehr zu ärgern, aß ich von allem +etwas. Mr. Pratt saß gleichfalls am Tisch und piekte in seinen Tellern +herum. Er sah nicht auf, und er tat, als ob er mich gar nicht kenne. +Wenn ich das Wort an ihn richtete, brummte er nur. Ich kannte den +Schwindel schon. Er hatte seiner Frau erzählt, daß ich ihn verführt +hätte, und daß er fertig mit mir sei, aber da er doch schon die Kosten +der Fahrt für mich bezahlt habe, wolle er mich mit der Herde losschicken +und dann nie wiedersehn. + +Als Mrs. Pratt einmal aufstand, um zur Küche zu gehen, sagte Mr. Pratt: +„Hallo, Boy, machen Sie das Konzert ein wenig mit. Morgen ist es +verraucht. Sie ist gar nicht so. Eine prächtige Seele. Nur mit dem +Trinken kann sie sich nicht befreunden.“ Nun änderte er den Ton: „Es war +unanständig von Ihnen, daß Sie mich immerfort aufforderten, auf die +Gesundheit des Präsidenten, auf die Fahne, auf das Vieh zu trinken. Ich +hatte Ihnen im voraus gesagt, daß ich trocken bin und nie trinke. Aber +wenn Sie mit Gesundheittrinken kommen, das ist ein unfaires Spiel.“ + +Nanu? Was war denn das mit einem Male? Ach so, Mrs. Pratt war wieder +hereingekommen, und er hatte das Konzert zu machen. Er verstand es. Er +hatte die letzten Sätze so hinausgedonnert, daß Mrs. Pratt sich ganz +aufrecht auf ihren Stuhl setzte, als ob sie damit sagen wollte: Da +können Sie sehen, was für einen anständigen Mann ich habe; er tut es nur +aus Patriotismus, während Sie es aus Verkommenheit tun. + +Nach dem Essen wurden wir in Gnaden entlassen. Mir wurde meine Stube +gezeigt, und ich legte mich schlafen. + +Am folgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, sattelten wir auf und +ritten erst einmal nach der Pferdeprärie hinaus, damit ich mir ein Pferd +aussuchen möge. Die Pferde werden draußen auf der Prärie gezeugt und +geboren. Sie kommen nie in einen Stall und wachsen völlig wild auf. +Ställe gibt es überhaupt nicht. Pferde und Vieh sind Sommer und Winter +im Freien. Die Pferde werden durchaus menschenscheu und fliehen, wenn +sie nur einen Menschen in der Nähe riechen. + +Zweimal oder dreimal im Jahr werden die Pferde, die man nicht gebraucht, +eingefangen und in einen Korral, eine kleine Umzäunung in der Nähe des +Hauses, gebracht. Hier werden sie gefüttert, damit sie sich des Menschen +nicht ganz entwöhnen, werden angebunden, werden geduldig aufgezäumt, +aufgesattelt, endlich wird aufgesessen, und dann werden sie wieder +entlassen. Hier wird das alles mit großer Geduld getan, um den Charakter +des Pferdes nicht zu brechen, seinen Stolz nicht zu verletzen, sein +natürliches Feuer nicht auszulöschen. + +In Amerika geschieht das Brechen der wild aufgewachsenen Pferde +mitleidloser. Sie werden in den Korral gebracht, sehr fest gezäumt, fest +gesattelt, und gleich springt ein Mann rauf, den das Pferd nicht mehr +abwerfen kann, weil der Mann in dem Stocksattel sehr fest sitzt. Dann +wird das Tier gepeitscht, und es rast nun herum, bis es schäumend und in +Schweiß gebadet, keuchend und völlig ermattet zusammenbricht. Dann +zittert es tagelang nachher noch, wenn es nur den Sattel spürt. Aber es +wehrt sich nicht mehr. Es ist zahm. Man kann es nun reiten. Aber es ist +nicht mehr „das Pferd“, es ist nur „ein Pferd“. Ein Pferd unter tausend +gleichen Pferden. + +Ich suchte mir ein Pferd aus, von dem ich glaubte, daß es die +anstrengende Reise aushalten könne. Wir umzingelten es, lassoten es ein +und brachten es zurück zum Rancho. Ich band es an einen Baum und ließ es +ganz in Ruhe. Dann etwas später warf ich ihm Mais vor, den es nicht +nahm. Dann Gras, das es auch nicht fraß. Hierauf ließ ich es den Rest +des Tages und die Nacht hungern und dursten. Am Morgen gab ich ihm Gras. +Es lief fort, soweit die Leine reichte. Dann stellte ich ihm Wasser hin, +das es umschüttete, weil es nicht gewöhnt war, aus einem Eimer zu +trinken. Es hatte immer nur am Teich getrunken. + +Mit der Zeit brachte ich es, oder richtiger: sein eigner Hunger brachte +es zum Essen und Trinken. Und da es sein Essen und Trinken nur bekam, +wenn ich dabeistand, verband es das Essen mit meiner Gegenwart, und nach +zwei Tagen bereits kannte es mich, und ich durfte ihm nahe kommen und es +ganz leicht auf den Nacken klopfen. Es zitterte zwar ein wenig, aber +bald verschwand auch das Zittern. + +Natürlich konnte ich mich nicht die ganze Zeit über mit dem Pferde +beschäftigen, sondern eben nur, wenn ich zum Essen zum Rancho kam, weil +wir den ganzen Tag mit dem Blockieren zu tun hatten. + +Als es sich an mich noch besser gewöhnt hatte, zäumte ich es auf ohne +Maulknebel, nur mit Riemenzaum, der außen um das Maul gelegt wird. Man +kann die Pferde, wenn sie nicht durch falsche Behandlung verdorben sind, +gut ohne eisernen Maulknebel reiten. Sie gehen wundervoll dabei; denn es +ist eine irrige Annahme, daß man ein Pferd nur meistern könne, wenn man +seine Mundwinkel aufreißt oder wundscheuert. Das ist lediglich die Folge +falscher Behandlung. Kühen steckt man ja auch keine Eisenknebel ins +Maul. + +Dann sattelte ich es, und jedesmal, wenn ich zum Essen hereinkam, zog +ich die Gurten fester. Jedesmal drückte ich fest auf den Sattel, als ob +ich mich aufschwingen wolle. Dann ließ ich die Steigbügel hängen und +ließ sie baumeln, so daß sie gegen die Weichen schlugen. Erst leise, +dann immer ein wenig mehr. Beim ersten Male schlug das Pferd aus. Aber +auch an dieses Baumeln und Schlagen der Steigbügel gewöhnte es sich nach +zwei Tagen völlig. Dann hüpfte ich halb auf den Sattel und ließ mich +sofort wieder heruntergleiten. + +Während der ganzen Zeit war das Pferd angebunden. Bald sehr lang, bald +sehr kurz. Endlich wagte ich das Aufsitzen. Ich verband ihm die Augen +und sprang auf. Es stand und zitterte am ganzen Leibe. Sofort war ich +wieder herunter. Ich klopfte es auf den Nacken, auf den Rücken und +sprach unausgesetzt mit ihm. Wieder sprang ich auf. Es drehte sich und +wendete sich, sprang aber nur wenig. Bald ließ es auch das Springen +sein, nachdem es sich gegen den Baum gestoßen hatte. Nun blieb ich im +Sattel sitzen und schlug mit den Füßen in den Bügeln gegen die Weichen. +Nur beim ersten Male wurde es unruhig, dann wußte es, daß es davon nicht +stürbe. Endlich band ich das Tuch los. Das Pferd gucke sich um. Ich, +oben sitzend, sprach beruhigend auf das Tier ein, klopfte es, und wieder +fühlte es, daß ihm nichts Böses geschehe. Dann kam der Prüfungstag, ob +es überhaupt zum Reiten zu gebrauchen sei. Ich hatte schon immer mit der +Gerte hinten ein wenig aufgeklopft, damit es sich auch an dieses Signal +gewöhne. Nun saß ich wieder auf und ließ losbinden. Es stand ganz ruhig, +denn es wußte ja nicht, was es tun solle. Ich gab ihm einen Klaps mit +der Gerte, aber es reagierte nicht. Nun bekam es einen unerwarteten +tüchtigen Hieb, und da setzte es los. Ich hatte es gut in der Hand, und +es war Platz genug zum Auslaufen. Ich ließ es nun erst einmal rennen, +hielt aber mehr und mehr zurück, bis es das Gefühl bekam, daß dies ein +Signal sei zum Halten oder zum Fallen in eine andre Gangart. Es wurde +ein gutes Pferd, sein kühner Stolz wurde nicht gebrochen. Ich nannte es +Gitano. + +Zuerst blockierten wir die Stiere aus, weil ich mir einen Leitstier +suchen mußte. Wir kreisten die ein, die wir haben wollten, und trieben +sie in einen Korral. Dort ließ ich die, die ich für die geeignetsten +hielt, hungern. Nebenher wurden unausgesetzt die zwei- und dreijährigen +Kühe ausblockiert, die Ochsen und die übrigen Stiere. Ich sah mir jedes +einzelne der Tiere an, ob es gesund sei, dann kamen alle in eine große +umzäunte Weide, damit die, die den Transport mitzumachen hatten, wußten, +daß sie zusammengehörten. Als wir etwa dreihundert blockiert hatten und +sie in der Sperrweide waren, hielt ich die Stiere für reif. + +Ich jagte sie in die Sperrweide, und hier ging der Entscheidungskampf, +wer der Leitstier sein würde, los. Die keinen Wert darauf legten, +Herrscher zu sein, drückten sich so weit wie möglich. Fünf kämpften sich +aus. Der Sieger raste, noch schwer blutend, gleich auf eine der +schönsten Kühe, die sich schon erwartungsvoll herangedrängt hatten. Die +übrigen Stiere mußten wir sofort doktern. Als der Sieger ausgetobt hatte +und wieder Vernunft annahm, bekam er auch seine Medizin. Denn wenn man +die Wunden nicht gleich behandelt, sind in ein paar Tagen dicke Würmer +drin, und die wieder herauszukriegen, dauert lange. Inzwischen kann das +Tier draufgehen. + +Fängt es an zu magern, setzt eine andre Gefahr ein. Dann wird es von den +Zecken bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Zecken gehen hauptsächlich +an magerndes Vieh, an gesundes gehen sie nur in kleiner Anzahl, die sich +leicht bekämpfen läßt. + + + 18 + +Als wir die tausend Köpfe ausblockiert hatten, gab mir Mr. Pratt fünf +drauf als Krankgut, weil zwischen tausend Stück Vieh immer einiges sein +mochte, das krank war, ohne daß man es gleich sah, und das den Transport +nicht aushielt. + +Dann bekam ich hundert Pesos Wegegeld und einige Schecks, die ich +unterwegs einlösen durfte, wenn mir Geld fehlte. Ferner erhielt ich den +Lieferschein und endlich eine Karte, eine Land- und Wegkarte. + +Von dieser Karte, obgleich sie eine amtliche Karte war, will ich besser +nicht sprechen; denn auf eine Karte aus Papier kann man alles mögliche +zeichnen: Wege, Flußläufe, Dörfer, Städte, Grasflächen, Teiche, +Gebirgspässe und was sonst nicht noch alles. Das Papier weigert sich +nicht, das alles aufzunehmen. + +Aber was darauf gezeichnet ist, braucht noch lange nicht in Wirklichkeit +auch da zu sein. Ich habe auf Reisen Karten gehabt, amtliche Karten, die +als die besten galten. Da war eine Stadt mit Namen drauf gezeichnet. Als +ich zu der Stelle kam, war noch nicht einmal eine Indianerhütte zu +finden. Die Stadt war vor zwanzig Jahren geplant worden und wurde +seitdem in jeder Karte geführt, obgleich nie jemand daran ging, sich +dort niederzulassen. Das wäre auch nicht gut gegangen, weil da +meilenweite Sümpfe und Moraste waren. + +Böser ist es schon mit solchen Sachen, die nicht auf die Karte gemalt +sind, die aber in Wirklichkeit vorhanden sind, und, was das +Allerschlimmste ist, ganz unerwartet vorhanden sind. + +Es ist unangenehm, wenn man denkt, man kommt in ein sandiges Gelände und +verschwindet mit seiner ganzen Herde in einem Sumpf. Und es ist ebenso +peinlich, wenn auf der Karte eine schön grün gemalte Prärie +eingezeichnet ist, und in Wahrheit ist es eine weite Sandwüste oder ein +unwegsames Felsengebirge, das man zu kreuzen hat. Reist man allein, so +ist das schon widerwärtig genug. Reist man aber in Begleitung einer +Rinderherde, für deren Wohl man verantwortlich ist, so fängt es an, +tragisch zu werden. Die Herde will essen und trinken, sie soll kein +Gewicht verlieren, sondern zunehmen. Und am zweiten Tage fängt das arme +Vieh in seinen Durstqualen an zu brüllen, daß man nur gleich so +mitbrüllen möchte aus Mitleid. + +Wären die Karten aber wieder gut, so gut wie sie in den alten +dichtbesiedelten Ländern sind, dann könnte man solche großen Herden +nicht züchten und nicht transportieren. Mr. Pratt hatte zwölftausend +Stück Rindvieh, und er war nur ein kleiner Züchter. Denn wie sollen gute +Karten gemacht werden, wenn weder das Geld dafür vorhanden ist noch die +Bevölkerung, die ein Bedürfnis für solche Karten hat? Die großen Minen- +und Ölkompanien machen sich ihre Karten selbst, aber nur gerade die +Distrikte, wo sie interessiert sind, und in diese Karten zeichnen sie +nur eben das ein, was für die Kompanie speziellen Wert hat. Im +Verhältnis zur Größe des Landes sind diese Distrikte nur Pünktchen auf +der Karte. + +Ein Kompaß war für meine Zwecke ohne Nutzen, weil er nicht das sagt, was +man wissen will, und das ist: Wo sind die Weiden? Wo ist Wasser für +tausend Köpfe Vieh? Wo sind die Pässe über die Gebirge? Wo sind die +Furten durch die Ströme? + +Drei Packmulas nahm ich mir mit und Medizin, um krank werdendes Vieh zu +doktern, Kreolin, Alkohol, Salbe und eine Eisensäge, falls Hörner +gekappt werden müssen. Denn die Hörner des Viehes unterliegen hier +denselben Krankheiten wie die Zähne der zivilisierten Menschen. Die +Fäule frißt im Innern des Hornes, und das Tier magert ab, weil es vor +Zahnschmerzen – richtiger Hornschmerzen – nicht mehr frißt. + +Mit Mrs. Pratt war ich in den Tagen, die wir für das Ausblockieren und +Vorbereiten des Transportes brauchten, sehr gut Freund geworden. Sie war +keineswegs ein solcher Hausdrachen, wie sie am ersten Tage erschienen +war. Ganz im Gegenteil, sie war ein lustiger Bursche, immer vergnügt und +guter Dinge. Sie hätte die Banditen bekämpft wie ein alter Rancher. +Jetzt in den letzten drei Jahren kam es nur ganz selten vor, daß sich +Banditen auf dem Rancho sehen ließen, aber vordem war beinahe jede Woche +was los, und das Ranchohaus zeigte Dutzende von Kugellöchern. + +Fluchen konnte Mrs. Pratt, daß es eine wahre Freude war, ihr zuzuhören. +Das ging bei jedem zweiten Wort „Son of a bitch“, „Bastard“, „F-ing +Injun“, „F-yeself“ und was der schönen Dinge mehr sind. Auf einem +solchen Rancho ist es ja nun verflucht einsam, und die Nächte sind lang. +Selbst im Hochsommer ist es um sieben Uhr stockfinster, weil es +Dämmerungen nicht gibt. Und man konnte es Mrs. Pratt nicht verdenken, +daß sie das Leben so intensiv lebte, wie es das Dasein auf einem +Viehrancho nur zuläßt. Wie soll so eine arme Frau die überschüssigen +Kräfte, die ihr verbleiben, weil sie nicht im Dorfe oder in der Stadt +den ganzen Tag mit den Nachbarn herumschwätzen und klatschen kann, +verwenden? Sie flucht wie ein alter Steuermann eines Klippers. Und alles +ist „Hurensohn“, ihr Mann, ich, die Indianer, die Fliege, die in die +Kaffeetasse fällt, das Indianermädchen in der Küche, der Finger, in den +sie sich geschnitten hat, die Henne, die auf den Tisch flattert und die +Suppenschüssel umwirft, ihr Pferd, das zu langsam läuft, na, kurz: jedes +lebende und leblose Ding zwischen Himmel und Erdmittelpunkt ist ein +Hurensohn. + +Sie hatten ein Grammophon, und wir tanzten beinahe jeden Abend. Ich +tanzte zwar lieber mit dem indianischen Küchenmädchen aus mancherlei +Gründen, aber Mrs. Pratt tanzte bei weitem besser. Wir kamen zu so guten +Verhältnissen miteinander, daß sie mir eines Abends in Gegenwart ihres +Mannes ganz offen sagte, daß sie mich zu heiraten wünsche, falls ihr +Mann stürbe oder sich scheiden ließe. Sie erklärte mir gleichfalls in +Gegenwart ihres Mannes, daß sie mich recht gern habe, und daß mein +einziger Fehler das Saufen sei. Aber das sei kein unausrottbarer Fehler, +und sie würde mir diesen Fehler schon bald austreiben und mir den +Tequila so lange mit Petroleum mischen, bis ich mich davor ekle. So habe +sie ihrem Manne das Saufen auch abgewöhnt, dem Hurensohn. + +Mir war nicht bange davor. Das Resultat, das sie bei Mr. Pratt erzielt +hatte, gab mir die Sicherheit, daß wenn ich Mrs. Pratt als nachgelassene +Witwe eines Tages heiraten sollte, ich keine Sorge zu haben brauche, daß +ich den Tequila oder sonst etwas abschwören müßte. Wenn Mr. Pratt die +Wege fand und er den Petroleum nicht herausschmeckte, was bei dem +Tequila überhaupt schwer ist, weil er an und für sich nach Petroleum +schmeckt, so würde ich wohl auch zu der einem Manne zukommenden Ration +gelangen. Schließlich mußte man ja auch Vieh verkaufen in der Stadt, und +da konnte sie einem ja nicht immer nachlaufen, auch wenn sie mitreisen +sollte. „Nur nicht von Weibern sich unterkriegen lassen, wenn man etwas +für notwendig und vernünftig hält. Es führt zu nichts Gutem, und man +gewöhnt sich nur Laster an, die man nicht wieder los wird. Entweder man +säuft, oder man läuft mit andern Weibsbildern herum“, sagte mir Mr. +Pratt. „Eine Erholung von der Ehe muß der Mensch doch haben, wenn er das +Leben ertragen will.“ + +Er hatte ganz recht. Am besten, man stellt der Frau vorher die Frage: + +„Soll ich zum Tequila halten oder lieber Mäuschen jagen?“ Jedenfalls, +wenn es dazu kommen sollte, daß es mit Mrs. Pratt und mir ernst wird, +werde ich ihr diese Frage stellen. Dann habe ich von vornherein die +Offensive ergriffen, und sie kann sich entscheiden. Ich glaube dann +nicht, daß sie mir den Tequila mit Petroleum mischen wird, sondern sie +wird eine gute Sorte im Hause halten. Wenigstens für die Nachtkappe. Sie +ist eine feine Frau, Mrs. Pratt. Ich lasse nichts auf sie kommen. Eine +Frau, die mit dem wildesten Pferd fertig wird, die fluchen kann, daß +sich ein Wachtmeister vor Scham in eine Erdhöhle verkriechen muß, die +ihrem Manne alle Wünsche und jede Laune erfüllt – wie er mir einmal +vertraulich erzählte, ohne dabei seine Frau zu beleidigen –, vor der die +indianischen Cowboys zittern und die Banditen nicht wagen, die Veranda +zu betreten, eine Frau, die mir in Gegenwart ihres Mannes, den sie +liebt, ganz sachlich erklärt, daß sie mich zu heiraten wünscht, wenn er +stirbt, oder wenn er ihr fortläuft – verflucht noch mal, eine solche +Frau kann einen wohl bis in den tiefsten Busch und in die fernsten +Gedanken verfolgen, auch wenn man sich sonst nicht gerade viel aus dem +kreuzgottverfluchten Weibsvolk macht. + +„He, cantinero, una botella de tequila, eine ganze Flasche. Auf dein +Wohl, Ethel Pratt. Ich besaufe mich jetzt auf deine Gesundheit. Der +Petroleumgeschmack soll mich erinnern an – na – na ja, an dich, ganz wie +du bist, an alles, was du hast. Salud, Ethel!“ + +Sie stand auf der Veranda und winkte mit der Hand: „Viel Glück, Boy. +Sind immer willkommen auf dem Rancho. Hey, Suarez, du Himmelhund, du +verdreckter Sohn einer alten gottverfluchten alten Hure, siehst du denn +nicht, daß der schwarze Jungstier ausbricht, er bockt, der Hurensohn von +einem Stier. Wo hast du denn deine stinkenden verfi– Augen? Well boy, +good-bye!“ + +Ich schwenkte den Hut, und Gitano fegte ab mit mir. + + + 19 + +Es ging los, das Geschrei und das Gejohle, das Zurufen, das Heulen und +Schrillen der Indianer, das Pfeifen der kurzstieligen Peitschen, das +Trampeln der Hufe, das Toben einer scheu werdenden Kolonne, die +plötzlich losraste und einblockiert werden mußte, damit sie den Anschluß +an den Haupttrupp nicht verliere. Den ersten Tag begleitet uns Mr. +Pratt. Der erste Tag gehört mit zu den härtesten. Die Herde ist noch zu +lose. Das Zusammengehörigkeitsgefühl stellt sich erst nach einigen Tagen +des Transportes ein. Dann kennt die Herde die Leitstiere und bekommt den +Geruch der Verwandtschaft zueinander. Dann bildet sich die Familie oder, +eigentlich besser, das Volk. Nach einigen Tagen weiß jedes Tier, daß es +hier zu diesem Trupp gehört, und sie bleiben zusammen. + +Freilich darf man nicht glauben, daß sie so schön zusammenbleiben wie +eine Schafherde in Europa, die von einem Hirten und einem Hunde +zusammengehalten wird. Solche Rinder, die ihr bisheriges Leben auf einer +unermeßlichen Prärie verbracht haben, sind an Räumlichkeiten gewöhnt. +Sie drängen nicht aufeinander, sie streuen fortgesetzt. Die paar Hunde, +die wir mit hatten, konnten nicht viel schaffen. Sie ermüdeten und waren +nur für Kleinarbeit zu gebrauchen. Immerfort mußte blockiert und +eingekreist werden. Ein unausgesetztes Galoppieren und Schreien und +Schrillen. + +Ich hatte eine Trillerpfeife als Signalpfeife für die Boys, und der +Vormann hatte eine einfache Pfeife, damit man beide Signale +unterscheiden konnte. Dem Vormann gab ich die Spitze, und ich nahm den +Schwanz. In der Rückgarde übersieht man besser das ganze Feld des +Transports. Es läßt sich besser dirigieren, während die Front natürlich +auch wieder ihre besonderen Kniffe verlangt. + +Oh, was für einen schöneren Anblick gibt es, als so eine Riesenherde +gesunder halbwilder Rinder! Dort vor einem trampt und stampft sie, die +breiten Nacken, die runden Leiber, die mächtigen stolzen Hörner. Das ist +ein wogendes Meer voll unsagbarer Schönheit. Gigantische Stärke +lebendiger Natur gebändigt unter einem Willen. Und jedes Hörnerpaar ist +ein Leben für sich, ein Leben mit eignem Willen, eignen Wünschen, eignen +Gedanken, eignen Gefühlen. + +Von der Höhe seines Pferdes aus überblickt man das Gewoge der Hörner und +Nacken. Man könnte so von einem Rücken zum andern Rücken über die ganze +Herde wandern bis zu den läutenden Stieren an der Front. + +Die Tiere brüllten ab und zu, oder zankten sich und stießen sich. Es +wurde geschrien und gerufen. Die Glocken läuteten. Die Sonne lachte und +glühte. Alles war grün. Das Land des ewigen Sommers. O du schönes, o du +wunderschönes, uraltes, sagen- und liederreiches Land Mexiko! +Deinesgleichen gibt es nicht wieder auf dieser Erde. + +Ich mußte singen. Und ich sang, was immer mir einfiel, Choräle und süße +Volkslieder, Liebeslieder und Gassenhauer, Opernarien, Sauflieder und +Dirnenlieder. Was kümmerte mich der Inhalt der Lieder? Was ging mich die +Melodie der Lieder an? Ich sang aus froher freier Herzensfreude. + +Und welch eine Zauberluft! Der heiße Odem des tropischen Busches, die +warme, schwüle Ausdünstung dieser Masse von wandernden Rindern, die +schweren Wellen eines fernen Sumpfes, die vom Winde getragen +herüberwogten. + +Dicke Schwärme summender Beißfliegen und andrer Insekten kreisten über +der trottenden Herde, und dicke Schwaden schillernder grüner Fliegen +folgten uns nach, um sofort über den Dünger herzufallen. In ganzen +Völkern begleiteten uns Schwarzvögel, die sich auf die Rücken der Tiere +niedersetzten, um die Zecken aus der Haut zu picken. Millionen von +Lebewesen fanden ihre Nahrung durch diese gewaltige Herde. Leben und +Leben, und überall nichts als Leben. + +Unser Marsch führte nun einige Tage über Landwege. Zu beiden Seiten +waren die Felder und Weiden eingezäunt mit Stacheldraht. + +Umzäunte Weiden dürfen ohne ausdrückliche Genehmigung des Besitzers +nicht eingebrochen werden. Unsre Herde mußte auf den Wegen weiden. Sie +hatte reichlich zu fressen, und wir trafen auch genügend Pfuhle an, die +noch von der Regenzeit her mit Wasser gefüllt waren. + +Aber wenn Autos oder Fuhrwerke oder Karawanen die Wege passierten, gab +es Arbeit. Wir mußten die Tiere zur Seite drängen. Dabei scheuten sie, +brachen aus oder kehrten um und rasten einzeln oder in Trupps +kilometerweit zurück, und wir hatten hinterherzujagen und sie wieder zum +Anschluß zu bringen. + +Viel schwerer war die Arbeit, wenn wir auf offne Weiden kamen, wo andres +Vieh in großen Herden bereits weidete, oft ohne Aufsicht. Nicht immer, +aber doch zuweilen mischen sich die Herden, und man muß sie lösen. Wir +hatten einmal dreiviertel Tag zu arbeiten, um die Mischung zu lösen. +Denn von dem fremden Vieh darf man nicht ein einziges Stück aus Versehen +mitführen. Das gibt heillosen Spektakel. Ich und an letzter Stelle Mr. +Pratt waren verantwortlich für Vieh, das durch unsern Transport einer +andern Herde verlorenging. + +Zuweilen wird man die fremden Tiere nicht los. Sie wollen durchaus +folgen. Vielleicht, daß sie den Stier mögen, oder daß sie den Geruch +unsrer Herde lieben. Ebenso kommt es vor, daß sich ein Stück unsrer +Herde mit einer weidenden Herde mischt und dort nicht mehr heraus will, +sondern bei jener fremden Herde bleiben möchte. Das soll man auch immer +gleich wissen, daß man ein fremdes Stück in der eignen Herde +transportiert, oder daß ein eignes Stück dort zurückgeblieben ist. Die +Brandzeichen sind oft sehr ähnlich, oft sehr verwischt und unleserlich. + +Es ist dann gut, wenn man die eigne Herde gut erzogen hat, so daß sie +sich nicht mit den andern mischt und die fremden Tiere ganz von selbst +ausscheidet. + +Jagt man die fremde Herde beiseite, was der Vormann zu tun hatte mit +Hilfe eines der Treiber, ehe unsre Herde nahe kam, so konnte es doch +auch oft geschehen, daß einige Dutzend Köpfe der eignen Herde glaubten, +sie seien gemeint, und mit der fremden Herde davonjagten. Dann wurde das +Durcheinander beinahe unentwirrbar, und es kostete Schweiß und Kehlen, +die von dem vielen Schreien rauh waren wie Sandpapier. + +Ein General braucht sich gar nichts auf seine Kunst einzubilden. Ein +Armeekorps Soldaten über Land zu bringen, ist die reine Spielerei +gegenüber der Arbeit, tausend Köpfe wild aufgewachsener Rinder durch +unwegsames und halbzivilisiertes Land zu transportieren. Den Soldaten +kann man sagen, was man von ihnen will. Rinderherden kann man nichts +sagen, da hat man alles selbst zu tun. Man ist Kommandant und +Kommandierter in derselben Person. + +Gegen fünf Uhr des Nachmittags machten wir in der Regel halt. Manchmal +früher, manchmal später. Das hing davon ab, ob wir Weide hatten und +Wasser. Einen Tag können es die Tiere ohne Wasser aushalten, wenn sie +frisches Gras haben, im Notfalle auch zwei Tage. Aber am dritten Tage +wird die Sache bedenklich. Hatte ich keinen Führer bekommen können, oder +war kein Wasser zu sehen, dann ließ ich die Tiere laufen. In den meisten +Fällen fanden sie selbst Wasser. Aber das Wasser lag dann oft so, daß +wir einen, zwei oder gar drei Tage, wenn nicht mehr, in unsrer Weglinie +verloren, weil wir ganz quer abwandern mußten. + +Wir bildeten zwei Lager des Nachts. Eines in Front, eines im Schwanz. Es +wurde Feuer gemacht, Kaffee gekocht, Bohnen oder Reis gekocht, Brot +gebacken und getrocknetes Fleisch dazu gegessen. Dann wickelten wir uns +in unsre Decken und schliefen auf der glatten Erde, mit dem Kopf auf dem +Sattel. + +Zwei Wachen mit Ablösung stellte ich aus, um Tiger zu verscheuchen, und +um zu verhindern, daß einzelne Tiere abstreuen. Unter dem Vieh gibt es +ebensogut Nachtbummler wie unter den Menschen. + +Die Tiere sind lange vor Sonnenaufgang auf und beginnen zu weiden. Wir +ließen ihnen Zeit, und dann ging es weiter. Mittag rasteten wir +abermals, damit die Tiere sich etwas suchen konnten, und damit sie +verdauen und käuen können. + +Bis jetzt hatte ich nur einen Stier verloren. Er hatte gekämpft und war +so schwer gespießt worden, daß wir ihn abstechen mußten. Wir schnitten +das beste Fleisch aus, schnitten es in schmale Streifen und trockneten +es. Für den Verlust aber hatte eine Kuh ein Kalb geworfen, eine Nacht +vorher. Das gibt eine neue Schwierigkeit. Das kleine Kälbchen kann den +Marsch nicht mitmachen. Aber töten möchte man es auch nicht. Man möchte +ihm gern sein junges freudiges Leben lassen, und man fühlt auch mit der +Mutter, die es so liebevoll beleckt und abschleckt. Was blieb übrig? Ich +nahm das Kälbchen zu mir aufs Pferd, und wir wechselten ab: alle halbe +Stunde nahm es ein andrer aufs Pferd. + +Das Kälbchen war unser Liebling. Es war eine Freude, rührend +mitanzusehen, wenn wir haltmachten und die Mutter herbeikam, um ihr +Kindchen in Empfang zu nehmen. Sobald wir es vom Pferde ließen, war die +Mutter da. Sie wußte, daß das Kälbchen im Transport ist, und sie hielt +sich immer in der Nähe des Reiters, der es vor sich im Sattel hatte. Das +war eine Schleckerei und Leckerei, eine Blökerei und eine Brummerei, +wenn wir das Kälbchen der Alten an den Euter setzten. Die Alte brachte +sich bald um vor Freude. + +Als das Kleine schwerer wurde, mußten wir es auf eines der Packmulas +verladen. Es dauert lange, ehe so ein Jungtier marschieren kann. Hätten +zu viele Kühe geworfen, dann wäre es uns nicht möglich gewesen, den +Müttern diesen kleinen Liebesdienst zu erweisen. Aber es kam doch noch +dreimal vor, und ich brachte es nicht fertig, die Kleinen zu töten. + + + 20 + +Undankbar zu sein, ist eine Charaktereigenschaft der Menschen, die den +Menschen so sehr Natur ist, daß man es am besten dabei bewenden läßt und +sich deswegen nicht kränkt. Die Natur aber ist dankbar für jede +Kleinigkeit, die man ihr erweist. Kein Tier und keine Pflanze vergißt +den Trunk Wasser, den man ihnen spendet, oder die Handvoll Futter oder +die Mütze voll Dünger, die man ihnen gab. So dankbar zeigten sich auch +die Kälbchen und die Mütter der Kälbchen für den Liebesdienst, den wir +ihnen erwiesen hatten. + +Wir kamen an einen Fluß, und weder wir noch der Führer konnten eine Furt +ausmachen. Weiter stromabwärts fanden wir eine Fähre. Aber der Fährmann +forderte für jeden Kopf so viel, daß das Übersetzen eine beträchtliche +Summe ausgemacht haben würde. Solange man die hohen Fähr- und +Brückengelder sparen kann, tut man es; weil noch genügend Brücken und +Fähren kommen können, die man unbedingt gebrauchen muß, wenn der Strom +zu breit oder zu reißend ist, oder wenn man an den Fluß nicht heran +kann. + +Während ich mit dem Fährmann verhandelte, rastete die Herde etwa sechs +Kilometer stromauf. Wir hielten hier für zwei Tage, weil vortreffliche +Weide war und wir die Tiere einmal gründlich vollsaufen und gründlich +baden lassen wollten. Sie müssen zuweilen baden, des Ungeziefers wegen, +das beim Baden abstirbt. Die Tiere bleiben zu diesem Zweck stundenlang +im Flusse stehen, an Stellen, wo ihnen das Wasser bis zur Hälfte des +Bauches reicht. + +Nun aber, nachdem die beiden Erholungstage vorüber waren, mußten wir den +Fluß kreuzen. Die Herde mußte durch. Wir begannen zu treiben, aber +sobald die Tiere den Boden verloren, kehrten sie zum Ufer zurück. Der +Fluß war nicht sehr breit, hatte aber in der Mitte tiefe Rinnen. + +Endlich kam ich auf einen Gedanken. Wir hackten mit den Machetes Stämme +ab, schälten Bast und bauten ein kleines leichtes Floß. Dann knüpften +wir die Lassos zu einer langen Leine zusammen, und ein Indianer schwamm +hinüber zum andern Ufer mit dem Ende der Leine. Wir knüpften die Leine +am Floß fest und machten eine zweite Leine an. Dann packte ich eins der +Kälbchen rauf, und drüben der Mann zog das Floß rüber und landete das +Tierchen. Wir zogen mit unsrer Leine das Floß zurück und das zweite +Kälbchen wanderte rüber. Nach wenigen Minuten hatten wir alle vier +Kälber auf der andern Seite. Und als sie dort so ärmlich und wackelnd +auf ihren mageren stöckigen hohen Beinen allein standen, fingen sie +erbärmlich an zu blöken. Es hörte sich kläglich an. Und wenn uns schon +das traurige Blöken dieser kleinen hilflosen Geschöpfe zu Herzen ging, +um wieviel mehr den Müttern. Kaum hatten die Kleinen ein paarmal +geblökt, da setzte eine der Mütter ins Wasser und schwamm rüber. Gleich +darauf folgten die andern drei Mütter. Das Wiedersehen war herzlich. +Aber wir hatten keine Zeit, uns lange darum zu bekümmern; denn hier +kriegten wir jetzt tüchtig Arbeit. Die Kühe drüben blökten nun auch, +weil sie von der Herde getrennt waren. Sie fürchteten sich allein, und +sie sehnten sich zurück nach ihrem Volke. Die Stiere hörten das Blöken +eine Weile, und dann machten sie den Übergang. Der Leitstier war nicht +dabei. Es waren jüngere Stiere, die offenbar glaubten, sie könnten dort +drüben auf diese Weise ein eignes neues Reich gründen, wo sie von den +stärkeren Stieren nicht gestört würden. Nun aber erwachte hier die +Eifersucht der größeren Stiere und auch des Leitstieres. Sie schnaubten +und dann sausten sie los, um den naseweisen Grünlingen da drüben die +Flötentöne beizubringen. + +Auf der Wasserfahrt aber kühlten sie ab, und als sie drüben waren, +hatten sie die Lust zum Kämpfen verloren, trotzdem sie hier so wütend +geschnauft hatten. Aber die Stiere waren drüben und brüllten, und die +Kühe hier auf dieser Seite hatten keine Lust, ihr ferneres Leben ohne +Stiere zu verbringen. Und da sie gewöhnt waren, den Stieren immer und +überall zu folgen, so folgten sie auch jetzt, und bald war das Wasser +angefüllt mit schnaubenden, plantschenden, prustenden Rindern, die sich +bemühten, hinüberzukommen. Es war ein wildes Durcheinander von gehörnten +Köpfen und schlagenden und peitschenden Ungetümen. Manche kehrten wieder +um, wenn es ihnen zu gefährlich schien. + +Und das war der Augenblick, wo wir eingreifen mußten. Es durfte nicht +zur Manie werden, dieses Umkehren, sonst konnte die halbe Herde +umkehren, weil sie ja keine Richtung im Wasser halten können, sondern +nur drauflos platschen und auf ein Ufer losgehen. + +Wir schrien und peitschten und setzten mit den Pferden rein und jagten +die Tiere zusammen und immer rüber und rüber zur andern Seite. + +Einzelne kamen ins Schwimmen und ins Treiben. Die hatten wir abzufangen +und sie zum Ufer zu dirigieren. Drei gingen mir verloren, die abtrieben +und die wir nicht holen konnten. Das war der ganze Verlust, den ich bei +diesem Übersetzen hatte. Er war billig. Oft wird es teurer. Die +Verlorenen waren an sich nicht viel wert. Sie hatten uns schon auf dem +Transport Schwierigkeiten gemacht. Sie gehörten zu den Schlappen. Und je +kleiner man den Trupp der Marschhinker halten kann, um so besser. Wir +ließen die Tiere drüben wieder rasten und machten gleich Lager für die +Nacht. In derselben Nacht wurde mir eine schöne Zweijährige von einem +Jaguar zerrissen. Es war so rasch und so lautlos zugegangen, daß niemand +etwas gehört hatte. Wir sahen es am nächsten Morgen nur an dem Kadaver +und an den Fährten, was sich in der Nacht abgespielt hatte. + +In jeder Hinsicht war ich billig davongekommen. Das Übersetzen mit der +kleinen Fähre würde nach meiner Schätzung eine volle Woche gedauert +haben. Auch dabei konnten Tiere verlorengehen, die abspringen, oder die +man bei einem so langen Aufenthalt an einem Fluß durch Tiger und +Alligatoren einbüßt. Man hat an tausend verschiedene Kleinigkeiten und +Nebenumstände zu denken. Dazu kam noch das Fährgeld. Und was ich an +Fährgeldern, Brückengeldern, Wegegeldern, Weide- und Wassergebühren +sparte, ging in meine Tasche und gehörte mit zu meinem Verdienst. + +Was ich hier bei diesem Übergang über den Fluß gespart hatte, verdankte +ich niemand sonst als meinen lieben kleinen Kälbern. Sie hatten die +Liebe, die wir ihnen und ihren Müttern entgegengebracht hatten, +reichlich vergolten. + + + 21 + +Es wäre ja kein echter Transport gewesen, wenn er ohne die Mithilfe von +Banditen zu Ende gegangen wäre. Man erwartet sie eigentlich immer, und +man wundert sich nur dann, wenn wieder einmal ein Tag vorüber ist, ohne +daß sich der eine oder der andre Trupp hat sehen lassen. Ein solcher +großer Viehtransport geht ja nicht schweigend vor sich. Dutzende von +Indianern sehen ihn, und es spricht sich herum. Und man weiß nie, wer +den Kundschafter macht für eine Horde. Die Mehrzahl der Banditenhorden +sind die Überbleibsel der Revolutionsarmeen, die gegen die +Arbeiterarmeen kämpften. Es sind die Reste jener Truppen, die von den +Diktaturanhängern, von den großen Landeigentümern, von einer Clique +amerikanischer Kapitalisten geworben wurden, und die bei Beendigung der +Revolution übrigblieben, weil sie das Freischärlertum vorzogen. + +Eines Morgens kamen sie. Genauer gesagt, eines Morgens trafen wir sie. +Sie kamen ganz unschuldig angeritten. Sie konnten Peons sein, die +irgendwohin zum Markte ritten oder auf der Arbeitsuche waren. Sie kamen +aus der Flanke. Wir zogen auf einem breiten Buschwege, und plötzlich +standen sie an der Seite des Weges, am Ausgange eines schmalen +Buschpfades. + +„Hallo!“ rief der Führer. „Keinen Tequila?“ + +„Nein“, sagte ich. „Haben keinen. Aber wir haben Tabak mit. Könnt +hundert Gramm abbekommen.“ + +„Gut. Nehmen wir. Habt Ihr Maisblätter?“ + +„Zwei Dutzend können wir wohl abgeben.“ + +„Nehmen wir auch.“ + +„He, wie ist es denn mit Geld? Der Transport hat doch Geld für die +Fähren und Brücken und so.“ Jetzt wurde es heiß. Das Geld. + +„Wir haben kein Geld mit“, sagte ich. „Wir haben nur Schecks.“ + +„Schecks ist Dreck. Kann ich nicht lesen.“ + +Die Leute sprachen etwas zueinander, und dann kam der Sprecher +herangeritten und sagte: „Wegen des Geldes wollen wir doch einmal +nachsehen.“ + +Er durchsuchte meine Taschen und das Sattelzeug, aber ich hatte kein +Geld. Er fand nur die Schecks, und er sah ein, daß ich recht hatte. + +„Kühe können wir auch gebrauchen“, rief er nun. + +„Die brauche ich selbst“, sagte ich. „Ich bin nicht der Besitzer, ich +habe nur den Transport.“ + +„Dann tut es Ihnen ja nicht weh, wenn ich mir ein paar aussuche.“ + +„Bitte,“ sagte ich, „helfen Sie sich nur. Ich habe eine hufkranke Kuh. +Die Kuh ist gut, sie milcht in drei Monaten. Den Huf können Sie +kurieren. Ist frisch.“ + +„Wo ist sie denn?“ + +Ich ließ sie heraustreiben, und sie gefiel ihm. Während der ganzen Zeit +wanderte der Transport natürlich weiter. Der läßt sich ja nicht so auf +Kommando halten, besonders wenn keine Weide da ist, sondern nur so +dünnes mageres Gras am Wege entlang steht. Die guten Leute ritten neben +mir her. + +Der Führer sagte: „Schön, eine haben Sie mir gegeben, jetzt bin ich an +der Reihe und darf mir eine aussuchen.“ + +Er suchte sich eine aus, aber er verstand nichts von Vieh. Sie war nicht +viel wert. Ich verschmerzte sie leicht. + +„Nun dürfen Sie mir wieder eine aussuchen.“ + +Er bekam sie. Dann suchte er wieder eine aus. Diesmal nahm er eine der +milchenden. + +„Jetzt sind Sie wieder an der Reihe, Senjor“, sagte er. + +Ich versuchte es mit einem Scherz. Ich rief einen meiner Leute heran, +der das Kalb jener Kuh trug, die sich der Wegelagerer ausgesucht hatte. +„Hier haben Sie das Jungtier dazu“, sagte ich und händigte ihm das +Kälbchen ein. Mit dem Angebot war er sehr zufrieden, und er ließ das +Kalb für ein Volltier gelten. Das tat er nicht aus Generosität. Nein, +viele der Indianer können die Kühe nicht melken. Sie können nur melken, +wenn das Kalb gleichzeitig saugt, sonst kriegen sie keinen Tropfen aus +den Zitzen. Die Milch muß so halb von allein fließen, die Kuh muß +glauben, daß sie die Milch dem Kalb gibt. Darum war ihm das zugehörige +Kalb so willkommen, denn nun konnte er die Kuh melken, und sie hatten +Milch daheim. + +Dann war er wieder an der Reihe. Als sie fortritten, zogen sie mit +sieben Kühen und einem Kalb von dannen. Kostete mich, wenn ich das Kalb +nicht rechnete, hundertfünfundziebzig Pesos. Denn auf welche Weise ich +die Tiere verlor, das war gleichgültig. Was mir fehlte, wurde mir +abgezogen. Mit den Banditen wurde gerechnet und mit den Zöllen, die man +ihnen zu zahlen hatte. Es kam eben darauf an, wie man mit ihnen +handelseinig wurde. Man mußte handeln mit ihnen wie mit Geschäftsleuten. +Diplomatie spielte eine Rolle. Sie hätten ja auch mit fünfzehn abziehen +können oder mit vierzig. + +Das alles sind Transportunkosten. Gehört zur Fracht. Kann überall +geschehen. Woanders entgleist ein Zug, oder es verbrennt oder scheitert +ein Schiff, und der Transport ist fertig. Zu all dem hat man die hohen +Versicherungsprämien zu zahlen. Hier versichert niemand. Keine +Versicherungsgesellschaft übernimmt das Risiko, oder sie übernimmt es +nur zu Sätzen, die zu zahlen sich nicht lohnt. Woanders sind es die +Verladekosten, die Fütterungskosten und wer weiß was sonst noch alles +für Kosten. Hier sind es die Flußläufe, die Bergübergänge, die Pässe, +die Schluchten, die Sandstrecken, die wasserlosen Strecken, die +Banditen, die Jaguare, die Klapperschlangen, die Kupferschlangen, und +wenn es ganz schief gehen soll, eine Seuche, die dem Vieh auf dem +Marsche irgendwo von anderm Vieh, dem es begegnet, mitgegeben wird. + +Wenn man am Schlusse die Rechnungen vergleicht, sind die Unterschiede in +den Transportunkosten nicht so groß, wie man vielleicht erwartet. Hier +trägt es die Masse, die Masse der Aufzucht und die Masse des +Transportes. Man kann sich natürlich mit den Banditen in einen Streit +einlassen oder in eine Schießerei oder in Drohungen mit dem Militär. +Warum nicht? Es gibt immer noch hin und wieder einen Narren, der es tut, +und man sieht es manchmal so schön im Kino, wie die Banditen rennen, +drei Dutzend vor einem smarten Kuhjungen. Ja, im Kino. In Wirklichkeit +ist das alles ganz, aber ganz, ganz anders. Die Banditen rennen nicht so +schnell. Und mit den Drohungen! Ach, du blauer Himmel! Das Militär ist +weit, und das Land ist groß. Die Dörfer der Banditen sind unzugänglich, +und die Offiziere der Regierungstruppen finden sie nicht auf den Karten. +Die Familie des Banditen hat sechs Brüder, drei dienen beim regulären +Militär, drei dienen bei den Banditen, die nur darauf warten, daß wieder +ein Diktator, der von den amerikanischen Ölkompanien und Minenkompanien +genügend unterstützt wird, irgendwo auftaucht. Und wie das so wechselt. +Die drei Brüder, die bei den regulären Truppen dienen, fressen morgen +vielleicht etwas aus und finden Unterschlupf bei den Banditen, während +die drei Brüder bei den Banditen sich freiwillig der Gnade des +Gouverneurs unterwerfen und sich in die reguläre Armee einreihen lassen, +wo sie vortreffliche Banditenjäger werden, weil sie alle Pfade und +Tricks kennen. + +Ausrottung der Banditen. Das läßt sich alles so schön in den Zeitungen +empfehlen, und es läßt sich noch viel schöner von der amerikanischen +Regierung, die das Land im Interesse der amerikanischen Großkapitalisten +als Kolonie betrachten möchte, kommandieren, mit der Drohung, die +diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Aber die Banditen lesen keine +Zeitungen, und sie hassen die Amerikaner, und sie finden ihre Körbe am +besten gefüllt, wenn es infolge der diplomatischen Auseinandersetzungen +im Lande unruhig wird. + +Abgesehen von allem, es ist das gute Recht eines Banditen, sich zu +nehmen, was er braucht. Dreihundert Jahre Sklaverei und Verluderung +durch die spanischen Herren und Peitscher und Folterknechte, dann +hundert Jahre Militärdiktatur und kapitalistische Cliquendiktatur von +gewissenlosen Räubern und Banditen mit polierten Fingernägeln und +Klubsesseln müssen das wundervollste und liebenswerteste Volk der Erde +in Grund und Boden verlottern. In zivilisierten Ländern haben fünf Jahre +Krieg die Völker so verludert, daß sie zwischen Recht und Unrecht nicht +mehr durchfinden können, daß die Hälfte der Bevölkerung in jenen Ländern +Verbrecher und die andere Hälfte Polizisten, Gefängniswärter und +Staatsanwälte sind. + +Meine Banditen waren zufrieden, daß sie alles so leicht, so vergnügt und +mit so angenehmer Unterhaltung bekommen hatten. Und ich war zufrieden, +daß sie nicht mehr genommen hatten, und daß ich so billig loskam. Was +hat sich da die Polizei hineinzumischen? Man wird ganz gut fertig, wenn +man sich nicht um die Polizei kümmert. Ehe man nicht erschlagen ist, +hilft einem die Polizei nicht. Und wenn sie endlich hilft, dann hilft +sie nur dem Mörder und nicht dem Erschlagenen. Was hat der Erschlagene +davon, wenn der Mörder oder der Bandit auf den Friedhof geführt und +erschossen wird? Er wird davon nicht lebendig. + +Wir hatten jetzt einen weiten Umweg zu machen. Eine größere Stadt lag +auf unserm Wege, und die mußten wir weitab liegen lassen, denn da gab es +keine Weiden. Einen langen Flußlauf hatten wir hinauf zu wandern, und +dann kam der Übergang über das Gebirge. + +Es wurde recht kühl. Reichlich Wasser war vorhanden, aber die Weiden +wurden knapp. Die Tiere aßen das Laub der Bäume. Das Laub war ebenso +sättigend wie Gras. Es schien dem Vieh eine angenehme Abwechslung zu +sein, Laub zu weiden. Wenn ich die Rinder so geschickt das Laub +abstreifen sah, so kam mir manchmal der Gedanke, daß die Rinder in einer +fern zurückliegenden Zeit vielleicht gar keine Steppen- und Prärietiere +gewesen sein mögen, sondern Waldtiere, in Wäldern, die Sträucher und +niedrige, buschähnliche Bäume hatten. Wälder, die heute verschwunden +sind, weil nur die hoch emporwachsenden Bäume überleben konnten. + +Der Paßübergang war mühevoll, und wir mußten alle unsre Aufmerksamkeit +anwenden, um die Tiere gut zu leiten; denn sie waren Gebirge ja nicht +gewohnt. Zwei rutschten ab. Darunter ein prächtiger Jungstier. Er +rutschte mit seiner Kuh, während er gerade so lustig am Springen war. +Liebestragödie. Wir konnten sie unten in der tiefen Schlucht liegen +sehen, zerschmettert. Ich hatte auf mehr Abstürze gerechnet. + +Zwei Schlangenbisse erlebten wir auch. Wir sahen es am Morgen an den +geschwollenen Füßen zweier Kühe. Wir untersuchten und fanden die +Einhiebe der Fänge. Aber die Kühe hatten Glück gehabt. Die Schlangen +hatten vorgebissen, auf Holz oder auf irgendein wildes Tier. So bekamen +die Kühe nicht die volle Ladung eingespritzt. Wir behandelten sie mit +Schneiden, Abknebeln und achtundneunzigem Alkohol. Da wir hier, nachdem +wir den Übergang durch hatten, zwei Tage haltmachten, kamen die Kühe +schön wieder hoch, und ich sparte sie. + +Am Abend fingen zwei Indianer an, sich gräßlich darüber zu streiten, was +es für Schlangen gewesen seien. Der eine behauptete, es seien +Klapperschlangen gewesen, während der andre darauf bestand, daß es +Kupferschlangen gewesen seien. + +Ich schlichtete den Streit, der sehr ernst zu werden drohte, mit einem +Vergleich. Ich sagte zu Castillo: „Wenn Sie geschossen oder gar +erschossen sind, so ist es Ihnen doch sicher ganz gleichgültig, ob Sie +mit einem Revolver oder mit einem Gewehr, ob mit einer Achter oder mit +einer Siebener erschossen sind.“ + +„Freilich, Senjor, ist das egal, wenn man schon geschossen ist, denn +geschossen ist geschossen.“ + +„Sehen Sie, Senjores, so ist es auch mit den Kühen. Sie sind von einer +Giftschlange gebissen, und es ist ihnen ganz und gar gleichgültig, ob +sie von einer Rattler oder einer Copper gebissen sind. Sie sind +gebissen, und es tut ihnen weh. Um das übrige kümmern sie sich nicht +einen Dreck.“ + +„Sie haben recht, Senjor, es war eine Giftschlange, und was es für eine +war, tut jetzt nichts mehr zur Sache.“ + +Meinen Richterspruch fanden sie so klug, daß sie nicht mehr von den +Schlangen sprachen, sondern nur von der Heilbarkeit der Schlangenbisse. +Sie brachten alle möglichen indianischen Hausmittel zur Sprache, und +dadurch endete der Streit der beiden. + + + 22 + +Eines Morgens bei Sonnenaufgang, als wir den Aufbruch riefen und ich auf +einen Hügel ritt, um von dort aus die Herde übersehen zu können und in +die vorteilhafteste Richtung zu lenken, sah ich in der Ferne die Türme +der Kathedrale liegen. Von leuchtendem Golde umflossen, stand das Ziel +vor meinen Augen. Die Mühen waren zu Ende, und die Freude wartete in der +Stadt, die im Glanze der Sonne badete. Ich ließ die Herde hier auf der +Prärie und ritt zur Stadt. Ich sandte ein Telegramm an Mr. Pratt mit der +Nachricht, daß ich hier sei. Dann ritt ich zurück zur Herde. Es war +Abend, als ich zurückkam. Unsre Feuer loderten, und die beiden Männer, +die Wache hatten, ritten gemächlich um die Herde und sangen die Tiere +zur Ruhe. + +Die Nächte in den Tropen haben für den Menschen, der, solange wir ihn +kennen, ein Taggeschöpf ist, etwas unsagbar Unheimliches an sich. Viel +unheimlicher noch sind die tropischen Nächte für die Tagtiere. Kleine +Herden kommen des Abends zum Ranchohaus, um in der Nähe der Menschen zu +sein. Sie wissen es ganz genau, daß der Mensch sie beschützt. In den +Wochen nach der Regenzeit, in denen die Moskitos und die Beißfliegen in +der Luft schwirren, dick wie aufgewirbelter Staub, kommen die Rinder +selbst am Tage von den Prärien heim und drängen sich um das Ranchohaus, +wo sie auf Hilfe hoffen. Man kann ihnen keine Hilfe gewähren, weil man +selbst Kopf, Gesicht und Hände mit Tüchern umwickelt hat, um sich gegen +die Geister der tropischen Hölle zu schützen. + +Aber selbst die Riesenherden fangen an, unruhig zu werden, sobald die +Sonne untergegangen ist. Sie umzirkeln die Hütten der Herdenaufseher und +lagern sich rundherum. Die Wachleute umreiten die Herden während der +ganzen Nacht. Abends, nach Sonnenuntergang, ziehen alle Männer herum und +singen die Herde in den Schlaf. Dann erst beginnen die Tiere sich zu +legen. Manche großen Viehzüchter überlassen es den Herdenmännern, den +Cowboys, ob sie singen wollen oder nicht; sie halten es für überflüssig, +für alten Kohl. Aber Vieh, das nicht eingesungen wird, ist nicht so gut +wie andres, das in den Schlaf gesungen wird. Das Vieh bleibt die ganze +Nacht hindurch unruhig, legt sich für zehn Minuten und springt wieder +auf, um umherzuwandern und andres Vieh zu streifen und die Kameradschaft +zu fühlen. Dieses Vieh ist am Morgen schläfrig, und weil es am andern +Tage den verlorenen Schlaf nachholen muß, frißt es nicht so gut wie das +gesungene. Es kommt infolgedessen viel langsamer in Form. Auf +Transporten muß man erst recht singen; denn hier ist das Vieh viel +unruhiger, weil es ja auf ungewohnten Prärien lagert. Würde man die +Herde hier nicht in den Schlaf singen, hätte man es an der Marschzeit +schwer zu büßen, weil die Herde dann am Tage mehr ruht, als es für den +Marsch gut ist. + +Ich jedenfalls ließ jeden Abend singen, und die Männer taten es mit +Vergnügen. Sie ritten langsam und gemütlich, steckten sich zuweilen eine +Zigarette an, und dann sangen sie wieder. Und bei dem Singen legten sich +die Rinder in dem Bewußtsein absoluter Geborgenheit hin und ruhten. +Schläfrig sahen sie dem reitenden Manne nach, brummten und begannen zu +schlafen. Wird auch des Nachts ab und zu gesungen, so ist das den Tieren +nur um so lieber. Sie wissen, daß ihnen dann nichts geschehen kann, denn +der Mensch ist in der Nähe und beschützt sie gegen die Schrecknisse der +Nacht. In der Tat verscheucht das Singen der Männer die Jaguare und +Berglöwen. Daß dieses Singen der Kuhmänner auch alle Menschen +verscheucht, die sich unter Singen eben Singen vorstellen, erwähne ich +nicht. Man braucht mich nur singen zu hören, dann weiß man die letzten +Geheimnisse der Welt. + +Ich hatte die Kopfwache, die der Vormann hielt, auch hierher genommen, +damit wir die letzten paar Abende noch alle zusammen sein konnten. Die +Vorwache war überflüssig geworden, weil drüben der Fluß lag, der sich +bis zur Stadt hinstreckte. Die Flanken konnten leicht gehalten werden +von den beiden Wachen. Während die Leute rauchten und schwatzten, +sattelte ich noch einmal auf und ritt die Herde ab, singend, pfeifend, +summend und den Tieren zurufend. + +Klar wie nur der Nachthimmel in den Tropen sein kann, lag die +schwarzblaue Wölbung über der singenden Prärie. Wie kleine goldne Sonnen +standen die strahlenden Sterne in der satten Nacht. Und Sterne flogen +umher, hunderte, tausende, als wären sie heruntergekommen von dem hohen +Dom der Welt, um Liebe zu suchen und Liebe zu spenden und dann wieder +zurückzukehren in die stille einsame Höhe, wo keine Brücke führt von dem +einen zum andern. Die Glühkäferchen waren das einzige sichtbare Leben +hier unten. Aber das unsichtbare sang mit Milliarden Stimmen und +Stimmchen, musizierte mit Geigen und Flöten und Harfen, mit Zimbeln und +Glöckchen. Und da lag meine Herde. Ein schwarzer, dunkler Brocken neben +dem andern. Brummend, atmend und einen warmen, vollen, schwer lastenden +Hauch erdischer Gesundheit verbreitend, der so reich war in sich, in +seinem Unbewußtsein, der so wohl tat und so unendlich zufrieden machte. + +Mein Heer! Mein stolzes Heer, das ich über Flüsse führte und über +Felsengebirge, das ich beschützte und behütete, dem ich Nahrung brachte +und erfrischendes Wasser, dessen Streitigkeiten ich schlichtete und +dessen Krankheiten ich heilte, und das ich Abend um Abend in den Schlaf +sang, um das ich mich sorgte und härmte, um das ich zitterte, und das +meinen Schlaf beunruhigte, um das ich weinte, wenn eines mir +verlorenging, und das ich liebte und liebte, ach, so sehr liebte, als +wäre es mein Fleisch und Blut! O du, der du ein Kriegerheer über die +Alpen führtest, um in friedliche Länder den Mord und den Brand zu +tragen, was weißt du von der vollkommenen Glückseligkeit, ein Heerführer +zu sein! + + + 23 + +Am nächsten Morgen kam der Salztransport heraus, und ich salzte die +Tiere. Ich hatte ihnen nur einmal Salz gegeben während des ganzen +Marsches. Man kann sich darauf nicht gut einlassen, wenn man nicht ganz +genau weiß, daß man viel Wasser noch am selben Tag erreichen wird. Jetzt +aber war das Salz von großem Wert. Sie konnten sich tüchtig danach +volltrinken und kamen in Glanz und Pracht, als hätten sie neue Uniformen +erhalten. Ihre Felle schimmerten, als wären sie mit Bronzelack +übergossen worden. Ich konnte mich mit meinem Transport sehen lassen. +Drei Tage später kam Mr. Pratt mit dem Kommissionär, der den Verkauf +übernommen hatte. + +„Donnerwetter! Donnerwetter nochmal!“ sagte er immer wieder. „Das ist +Vieh. Das geht wie warme Butter fort.“ + +Mr. Pratt schüttelte mir die Hand und sagte: „Mensch, Gale, wie haben +Sie denn das nur fertiggebracht? Ich habe Sie nicht vor Ende nächster +Woche erwartet. Vierhundert habe ich schon verkauft. Dadurch, daß Sie so +früh hier sind, rechne ich, daß wir innerhalb einer Woche das letzte +Paar Hörner los sind. Es ist noch ein zweiter Transport von einem andern +Züchter unterwegs. Und wenn Sie später gekommen wären, hätte das auf den +Preis gedrückt; zweitausend Kopf in derselben Woche kann der Markt nicht +tragen, ohne erheblich zu pressen. Kommen Sie nur mit zur Stadt +gefahren, der Vormann kann den Rest jetzt allein schaffen.“ + +Die beiden Herren waren mit dem Auto herausgekommen, und wir waren am +frühen Nachmittag schon in die Stadt zurück. Wir rechneten ab, und ich +bekam ein recht nettes Sümmchen. Zwei Kälbchen waren noch hinzugeboren +worden, und so hatte ich im ganzen fünf, die mir als volle Köpfe +angerechnet wurden, wodurch meine Verluste sich um diese fünf Köpfe +verringerten. + +„Mache ich einen guten Preis,“ sagte Mr. Pratt, „dann gebe ich Ihnen +noch einen Hunderter zur Belohnung. Sie haben ihn verdient. Mit den +Banditen sind Sie ja billig losgekommen.“ + +„Kein Wunder,“ sagte ich, „den einen kannte ich gut, ein gewisser +Antonio. Ich habe einmal Baumwolle mit ihm gepflückt, und wir waren gute +Freunde. Er sorgte dafür, daß es billig wurde.“ + +„Ja, das ist es,“ meinte Mr. Pratt, „Glück muß man haben. Überall. Ob +man Vieh züchtet, oder ob man sich eine Frau nimmt.“ + +Er lachte laut auf und sagte: „Sie, hören Sie einmal, Junge. Was haben +Sie denn mit meiner Frau gemacht?“ + +„Ich? Mit Ihrer Frau?“ Mir blieb der Bissen im Munde stecken, und ich +bin sicher, ich wurde etwas blaß. Frauen können so wundervoll +unkontrollierbar sich benehmen. Sie kriegen zuweilen Einfälle und +manchmal Anfälle. Fallen sogar ganz aus heiler Haut heraus in die +Beichtwut. Die Frau wird ihm doch nicht etwa was geläutet haben? Sie sah +mir gar nicht so aus, als ob sie alle ihre Geheimnisse an die Glocke +hänge. + +„Als Ihr Telegramm ankam, da war sie wie toll und rief: Da siehst du +wieder einmal, was du für ein Nichtstuer bist, und was du für ein +überflüssiges Werkzeug bist. Da bringt dieser Junge die Herde rüber, als +ob er sie in seiner Basttasche habe, und als ob sie ihm am Sattelknopf +hinge. Das schaffst du in deinem ganzen Leben nicht. Das ist ein andrer +Bursche, dieser F-ing son of a bitch.“ + +„Um des Himmels willen, Mr. Pratt, Sie werden sich doch nicht etwa +scheiden lassen.“ + +„Scheiden lassen? Ich? Warum denn? Wegen so einer Kleinigkeit?“ + +Er lächelte wieder so eigentümlich. Wenn ich doch nur wüßte, wie er das +meint: „Kleinigkeit“? Das kann heißen, daß er alles weiß, und das kann +auch ebensogut heißen, daß er überhaupt nichts weiß. + +„Nein“, fuhr er fort. „Warum soll ich mich denn scheiden lassen? Haben +Sie Angst, daß ich mich scheiden lasse?“ + +„Ja“, gestand ich. + +„Warum denn aber?“ + +„Weil mich Ihre Frau dann doch heiraten würde. Sie hat es doch ganz +offen erklärt.“ + +„Ach so, ja. Ich erinnere mich, das hat sie gesagt. Wenn meine Frau so +was sagt, dann tut sie es auch. Da kommen Sie nicht los davon, Junge.“ + +Mir wurde ungemütlich zumute. Mr. Pratt merkte es, und er fragte: + +„Warum haben Sie denn da eine solche Angst? Gefällt Ihnen denn meine +Frau nicht? Ich denke doch, daß –“ + +Ich ließ ihn nicht zu Ende reden, denn vielleicht kam jetzt das heraus, +was er wußte. Und ich hielt es für besser, diese Angelegenheit in der +Schwebe und unentschieden zu lassen. + +„Freilich. Ihre Frau gefällt mir sogar sehr gut“, gestand ich. + +„Kann ich mir denken“, sagte Mr. Pratt. + +Das war nun wieder so, daß es alles und nichts bedeuten konnte. + +„Sehen Sie, Mr. Pratt,“ sagte ich nun, „es ist so eine dumme Sache. Ihre +Frau gefällt mir sogar sehr. Aber, bitte, lassen Sie sich doch nicht +scheiden. Sie vertragen sich doch so gut. Ich müßte sie ja dann +heiraten. Es wäre ja vielleicht so übel nicht. Aber ich weiß doch gar +nicht, was ich mit meiner Frau, entschuldigen Sie, bitte, was ich mit +Ihrer Frau machen sollte.“ + +„Na, was man mit jeder Frau macht. Ihr die Freude machen, die sie gern +hat.“ + +„Das ist es nicht. Es ist etwas andres. Ich weiß nicht, wie ich mit der +Ehe fertig werde.“ Ich versuchte es ihm klarzulegen. „Ich weiß nicht, +wie ich mich da benehmen soll. Ich halte das einfach nicht aus. Ich kann +nicht stillhalten. Ich kann nicht stillsitzen auf dem Ursch, verstehen +Sie. Ich muß vagabondieren. Da kann ich doch meine Frau nicht +mitschleifen. Ich würde ausrücken, weil ich das nicht vertrage, den +ganzen Tag und jeden Tag vor einem ordentlichen Tisch zu sitzen und +jeden Tag ein richtiges Frühstück und Mittagessen zu bekommen. Das +verträgt auch schon mein Magen nicht. Wenn Sie mir einen Gefallen tun +wollen –“ + +„Jeden. Schon erfüllt“, sagte Mr. Pratt gutgelaunt. + +„Lassen Sie sich nicht scheiden von Ihrer Frau. Sie ist eine so gute +Frau, eine so schöne Frau, eine so kluge Frau, eine so tapfere Frau. So +eine kriegen Sie nie wieder, Mr. Pratt.“ + +„Das weiß ich. Deshalb lasse ich mich ja auch nicht scheiden. Ich habe +nie daran gedacht. Ich weiß überhaupt gar nicht, wie Sie auf solchen +Cabbage kommen. Hopp auf, wir gehen jetzt die Ablösung vom Kontrakt +einweichen.“ + +Wir zogen ab. + +Was ist denn da los? So viele Indianerweiber mit ihren Körben habe ich +ja nie gesehen. So viele Tortillas zu verkaufen? + +„Was ist denn eigentlich los hier?“ fragte ich Mr. Pratt. „Man sieht ja +nichts weiter als Tortillas und Tortillas und Tortillas.“ + +„Die Bäcker streiken. Die Leute haben kein Brot und müssen alle +Tortillas essen“, erklärte mir Mr. Pratt. + +„He, Mr. Pratt,“ rief ich da laut, mitten auf der Straße stehenbleibend, +„da sehen sie gleich an diesem Beispiel, wie bitter Unrecht Sie und Mr. +Shine mir getan haben.“ + +„Mr. Shine und ich? Inwiefern?“ + +„Sie haben doch beide behauptet, daß ich mich immer nur um Streiksachen +kümmere, und daß überall, wo ich arbeite, ein Streik losgeht. Hier an +dem Bäckerstreik bin ich doch ganz und gar unschuldig. Ich war doch +wochenlang gar nicht hier. Wie kann ich denn da etwas mit dem +Bäckerstreik zu tun haben?“ + +„Das sagen Sie, Gale. Aber nun gehen Sie einmal in die +La-Aurora-Bäckerei und hören Sie, was Senjor und Senjora Doux den Leuten +erzählen.“ + +„Was können denn die Leute von mir erzählen?“ fragte ich. + +„Die behaupten und erzählen es jedem Gast, daß Sie den Streik +angezettelt haben.“ + +„Das sind nichtswürdige Verleumder, diese Douxens. Ich habe mit dem +Streik gar nichts zu tun. Ich habe für Sie einen Transport gebracht und +weiß gar nichts von einem Bäckerstreik.“ + +„Die Douxens aber behaupten, seit Sie dort gearbeitet haben, sind die +Arbeiter in der Bäckerei mit nichts mehr zufrieden, nicht mehr mit dem +Essen, nicht mehr mit dem Schlafen, nicht mehr mit dem Lohn und nicht +mehr mit der langen Arbeitszeit. Und kaum waren Sie fort, ging es los. +Zuerst in der La Aurora und dann am folgenden Tage in sämtlichen +Bäckereien. Die wollen zwei Pesos Mindestlohn, luftige Schlafräume und +achtstündige Arbeitszeit.“ + +„Nun will ich Ihnen aber doch die Wahrheit sagen, Mr. Pratt“, sagte ich +darauf. „Mit dem Streik habe ich wirklich nichts zu tun. Ich habe Ihnen +ja schon damals gesagt, als wir uns zum ersten Male trafen und Sie mir +das mitteilten, was Mr. Shine über mich erzählt hat, daß rein zufällig +immer da, wo ich arbeite oder wo ich gearbeitet habe, gestreikt wird, +sobald ich mich da auch nur umgesehen habe. Dafür kann ich doch aber +nicht. Das ist doch nicht meine Schuld, wenn es den Leuten nicht mehr +gefällt und sie es besser haben wollen. Ich sage nie etwas. Ich bin +immer ganz ruhig und lasse immer die andern reden. Aber weiß der +Kuckuck, überall, wohin ich komme, behaupten die Leute, ich sei ein +Wobbly, und ich versichere Sie, Mr. Pratt, das ist –“ + +„– die reine und unverfälschte Wahrheit“, beendete Mr. Pratt meinen +Satz, den ich ganz anders zu beenden gedachte. + +Aber so geht das immer, wenn einem die Leute die Worte aus dem Munde +nehmen und dann gar noch herumdrehen. Da braucht man sich wahrhaftig +nicht zu verwundern, wenn sich die Menschen falsche Meinungen bilden. +Sie sollen einen andern auch einmal reden lassen. Aber stets und immer +müssen sie sich in die Ansichten, die andern Leuten gehören, +hineinmischen. Kein Wunder, daß dann lauter Unsinn herauskommt. + + + + + Anmerkungen zur Transkription + + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 17]: (mehrfache Fälle) + ... Da kam der Chink mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee + hervor. ... + ... Da kam der Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee + hervor. ... + + [S. 40]: + ... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Gale + ein. „Nun ist der ... + ... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Shine + ein. „Nun ist der ... + + [S. 119]: + ... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y + la algeria, ... + ... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y + la alegria, ... + + [S. 155]: + ... und der Schaffner steckt einem eine kleines Kärtchen in das + Hutband, ... + ... und der Schaffner steckt einem ein kleines Kärtchen in das + Hutband, ... + + [S. 171]: + ... Stämme ab, schälten Bast und bauten eine kleines leichtes + Floß. Dann ... + ... Stämme ab, schälten Bast und bauten ein kleines leichtes + Floß. Dann ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 *** diff --git a/76111-h/76111-h.htm b/76111-h/76111-h.htm new file mode 100644 index 0000000..0095abf --- /dev/null +++ b/76111-h/76111-h.htm @@ -0,0 +1,11449 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Der Wobbly | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Der Wobbly" --> + <!-- AUTHOR="B. Traven" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Buchmeister, Berlin, Leipzig" --> + <!-- DATE="1926" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +div.frontmatter { page-break-before:always; } +.pub { text-indent:0; text-align:center; padding-top:3em; margin-bottom:3em; } +h1.title { text-indent:0; text-align:center; padding-top:2em; margin:0; } +.aut { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.cop { text-indent:0; text-align:center; padding-top:4em; margin-bottom:1em; } +.cop2 { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } + +div.chapter{ page-break-before:always; } +h2 { text-indent:0; text-align:center; padding-top:4em; + margin-top:0; margin-bottom:2em; } +div.chapter h2 { padding-top:4em; } /* undo pgepub.css */ +h3 { text-indent:0; text-align:center; padding-top:2em; + margin-top:0; margin-bottom:1em; } +h3.chapter { text-align:right; } + +p { margin:0; text-align:justify; text-indent:1em; } +p.noindent { text-indent:0; } +p.dropart { text-indent:0; } +span.firstchar { float:left; margin-top:-1em; } +span.firstchar img { max-width:7em; max-height:8em; margin:0; padding:0; } +span.prefirstchar { display:none; } +p.ibr { /* guessed para-break */ } +.epi { font-style:italic; } +p.footnote { text-indent:0; margin:1em; margin-top:0; font-size:0.8em; } +hr.footnote{ margin-bottom:0.5em; width:10%; margin-left:0; margin-right:90%; } + +/* "emphasis"--used for spaced out text */ +em { font-style:italic; } + +.underline { text-decoration: underline; } +.hidden { display:none; } + + +/* poetry */ +div.poem-container { text-align:center; } +div.poem-container div.poem { display:inline-block; } +div.stanza { text-align:left; text-indent:0; margin-top:1em; margin-bottom:1em; } +.stanza .verse { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:2em; } +.stanza .verse2 { text-align:left; text-indent:-2em; margin-left:6em; } + +a:link { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:visited { text-decoration: none; color: rgb(10%,30%,60%); } +a:hover { text-decoration: underline; } +a:active { text-decoration: underline; } + +/* Transcriber's note */ +.trnote { font-size:0.8em; line-height:1.2em; background-color: #ccc; + color: #000; border: black 1px dotted; margin: 2em; padding: 1em; + page-break-before:always; margin-top:3em; } +span.trnote { font-size:inherit; line-height:inherit; background-color: #ccc; + color: #000; border:0; margin:0; padding:0; + page-break-before:avoid; margin-top:0em; } +.trnote p { text-indent:0; margin-bottom:1em; } +.trnote ul { margin-left: 0; padding-left: 0; } +.trnote li { text-align: left; margin-bottom: 0.5em; margin-left: 1em; } +.trnote ul li { list-style-type: square; } +.trnote .transnote { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; } + +/* page numbers */ +a[title].pagenum { position: absolute; right: 1%; } +a[title].pagenum:after { content: attr(title); color: gray; background-color: inherit; + letter-spacing: 0; text-indent: 0; text-align: right; font-style: normal; + font-variant: normal; font-weight: normal; font-size: x-small; + border: 1px solid silver; padding: 1px 4px 1px 4px; + display: inline; } + +body.x-ebookmaker { margin-left:0; margin-right:0; } +.x-ebookmaker div.poem-container div.poem { display:block; margin-left:2em; } +.x-ebookmaker em { letter-spacing:0; margin-right:0; font-style:italic; } +.x-ebookmaker span.firstchar { float:left; } +.x-ebookmaker a.pagenum { display:none; } +.x-ebookmaker a.pagenum:after { display:none; } +.x-ebookmaker .trnote { margin:0; } + +</style> +</head> + +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="pub"> +BUCHMEISTER-VERLAG<br> +GMBH, BERLIN, LEIPZIG<br> +1926 +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<h1 class="title"> +DER WOBBLY +</h1> + +<p class="aut"> +VON<br> +B. TRAVEN +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="cop"> +ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H., BERLIN +BUCHBINDERARBEITEN DER FIRMA KREMPLER & CO., LEIPZIG / NACHDRUCK +VERBOTEN / ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN +ANDRE SPRACHEN SOWIE DAS RECHT DER VERFILMUNG VORBEHALTEN +</p> + +<p class="cop2"> +COPYRIGHT, 1926, BY B. TRAVEN, TAMAULIPAS (MEXIKO) +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-1"> +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +ERSTES BUCH.<br> +DIE BAUMWOLLPFLÜCKER +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="epi" id="chapter-1-1"> +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +GESANG<br> +DER BAUMWOLLPFLÜCKER<br> +IN MEXIKO +</h3> + +</div> + +<div class="epi"> + <div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Es trägt der König meine Gabe,</p> + <p class="verse">Der Millionär, der Präsident;</p> + <p class="verse">Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe</p> + <p class="verse">In meiner Tasche keinen Cent.</p> + <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p> + <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p> + <p class="verse2">Häng um den Sack,</p> + <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p> + <p class="verse2">Hörst du die Wage kreischen?</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Nur schwarze Bohnen sind mein Essen,</p> + <p class="verse">Statt Fleisch ist roter Pfeffer drin;</p> + <p class="verse">Mein Hemde hat der Busch gefressen,</p> + <p class="verse">Seitdem ich Baumwollpflücker bin.</p> + <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p> + <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p> + <p class="verse2">Häng um den Sack,</p> + <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p> + <p class="verse2">Hörst du die Wage brüllen?</p> + </div> + <div class="stanza"> +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> + <p class="verse">Die Baumwoll’ stehet hoch im Preise,</p> + <p class="verse">Ich habe keinen ganzen Schuh;</p> + <p class="verse">Die Hose hängt mir fetzenweise</p> + <p class="verse">Am Ursch, und ist auch vorn nicht zu.</p> + <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p> + <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p> + <p class="verse2">Häng um den Sack,</p> + <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p> + <p class="verse2">Hörst du die Wage wimmern?</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Und einen Hut hab ich, ’nen alten,</p> + <p class="verse">Kein Hälmchen Stroh ist heil daran;</p> + <p class="verse">Doch diesen Hut muß ich behalten,</p> + <p class="verse">Weil ich ja sonst nicht pflücken kann.</p> + <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p> + <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p> + <p class="verse2">Häng um den Sack,</p> + <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p> + <p class="verse2">Siehst du die Wage zittern?</p> + </div> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Ich bin verlaust, ein Vagabund,</p> + <p class="verse">Und das ist gut, das muß so sein;</p> + <p class="verse">Denn wär ich nicht so ’n armer Hund,</p> + <p class="verse">Käm keine Baumwoll’ ’rein.</p> + <p class="verse2">Im Schritt, im Schritt!</p> + <p class="verse2">Es geht die Sonne auf.</p> + <p class="verse2">Füll in den Sack</p> + <p class="verse2">Die Ernte dein!</p> + <p class="verse2">Die Wage schlag in Scherben!</p> + </div> + </div> + </div> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-2"> +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +1 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> stand auf der Station und sah mich um, wen von den +wenigen Eingeborenen, die dort herumlungerten oder auf +dem nackten Erdboden hockten, ich hätte nach dem Wege +fragen können. +</p> + +<p> +Da kam ein Mann auf mich zu, den ich schon im Zuge gesehen +hatte. Braun verbrannt im Gesicht und am Körper. Vierzehn +Tage nicht rasiert. Einen alten, breitrandigen Strohhut auf +dem Kopfe. Einen roten Baumwollfetzen, der offenbar einmal +ein richtiges Hemd gewesen war, am Leibe. Eine, an fünfzig Stellen +durchlöcherte gelbe Leinenhose an den Beinen und an den Füßen die +landesüblichen Sandalen. +</p> + +<p> +Er stellte sich vor mich hin und sah mich an. Sicher wußte er nicht, in +welche Form und Reihenfolge er die Worte bringen sollte für den Satz, +den er mir sagen wollte. +</p> + +<p> +„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich endlich, als es mir zu lange +dauerte. +</p> + +<p> +„Buenos dias, Senjor!“ begann er. Dann gluckste er ein paarmal und +kam endlich heraus: „Könnten Sie mir vielleicht sagen, auf welchem +Wege ich nach Ixtilxochitchuatepec zu gehen habe?“ +</p> + +<p> +„Was wollen Sie denn da?“ platzte ich heraus. +</p> + +<p> +Die Unhöflichkeit, ihn nach seinen persönlichen Angelegenheiten zu +fragen in einem Lande, wo es taktlos, beinahe beleidigend ist, jemand +nach Namen, Beruf, Woher und Wohin auszuforschen, kam mir gleichzeitig +zum Bewußtsein. Deshalb fügte ich rasch hinzu: +</p> + +<p> +„Dort will ich nämlich auch hin.“ +</p> + +<p> +„Dann sind Sie wohl Mr. Shine?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich, „der bin ich nicht, aber ich will zu Mr. Shine, Baumwolle +pflücken.“ +</p> + +<p> +„Ich will auch Baumwolle pflücken bei Mr. Shine“, erklärte er nun und +heiterte auf; zweifellos weil er einen Weggenossen gefunden hatte. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick kam ein langer und stark gebauter Neger auf +uns zu und sagte: „Senjores, wissen Sie den Weg zu Mr. Shine?“ +</p> + +<p> +„Cotton picking?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Yes, feller. Ich habe seine Adresse bekommen von einem andern +schwarzen Burschen in Queretaro.“ +</p> + +<p> +So weit waren wir, als ein kleiner Chinese auf uns zugetrippelt kam. +Er lachte uns breit an und sagte: „Guten Molgen, Senjoles, Gentlemen! +Ich will dolt hin und möchte Sie flagen, wo ist der Weg?“ +</p> + +<p> +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +Umständlich brachte er ein Notizblättchen heraus, las und sagte dann: +„Mr. Shine in Ixtilxo...“ +</p> + +<p> +„Stopp!“ unterbrach ich ihn laut lachend. „Wir wissen ja schon, wohin +Sie wollen, verrenken Sie sich nur nicht die Zunge. Wir wollen auch +dort hin.“ +</p> + +<p> +„Auch cotton pickin’ dolt?“ fragte der Chinc. +</p> + +<p> +„Ja,“ antwortete ich, „auch. Sechs Centavos für das Kilo.“ +</p> + +<p> +Durch diese meine Äußerung war auch mit dem Chinc das kameradschaftliche +Band hergestellt. Die proletarische Klasse bildete sich, und +wir hätten gleich mit dem Aufklären und dem Organisieren anfangen +können. +</p> + +<p> +Auf jeden Fall fühlten wir uns alle vier so wohl wie Brüder, die nach +langer Trennung sich plötzlich unerwartet an irgendeinem fremden +fernen Punkt der Erde getroffen haben. +</p> + +<p> +Ich könnte nun noch erzählen, in welcher Form ein zweiter Neger, nur +halb so lang wie sein Rassenvetter, aber ebenso pechschwarz wie jener, +auf uns zuschlenderte, und mit welcher Sorglosigkeit und mit welchem +Reichtum an Zeit ein schokoladebrauner Indianer uns ansteuerte, beide +mit dem gleichen Ziel der Reise: Mr. Shine in Ixtilxochitchuatepec, +Baumwolle pflücken für sechs Centavos das Kilo. +</p> + +<p> +Keiner von uns wußte, wo Ixtil... lag. +</p> + +<p> +Die Station war inzwischen so leer geworden, lag so einsam und verträumt +in der tropischen Glut, wie eben nur eine Station in Zentralamerika +zehn Minuten nach Abfahrt des Zuges daliegen kann. +</p> + +<p> +Den Postsack, fünfmal mehr Quadratzoll Leinen als Quadratzoll Inhalt, +selbst wenn man alle Briefe und Umschläge auseinanderfaltete, +hatte irgendein jemand, den kein vernünftiger Mensch für einen Postbeamten +gehalten hätte, mitgenommen. +</p> + +<p> +Das Frachtgut: eine Kiste Büchsenmilch – in einem Erdstrich, wo das +ganze Jahr hindurch das Gras grünt und ein ganzer Erdteil mit Milch +versorgt werden könnte –, zwei Kannen Gasolin, fünf Rollen Stacheldraht, +ein Sack Zucker und zwei Kisten Bonbons lagen herrenlos auf +dem glühenden Bahnsteig. +</p> + +<p> +Die Bretterbude, wo die Fahrkarten verkauft und das Gepäck abgewogen +wurde, war mit einem Vorhängeschloß abgeschlossen. Der Mann, +der alle diese Amtshandlungen vorzunehmen hatte, zu denen auf einer +europäischen Bahnstation wenigstens zwölf gutgedrillte Leute notwendig +sind, hatte die Station schon verlassen, als der letzte Wagen des +Zuges noch auf dem Bahnsteig war. +</p> + +<p> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Selbst die alte kleine Indianerin, die zu jedem Zuge erschien mit zwei +Bierflaschen voll kaltem Kaffee und in Zeitungspapier eingewickelten +Maiskuchen, was sie alles in einem Schilfkorbe trug, schlich bereits +durch das mannshohe Gras in ziemlicher Entfernung heimwärts. Sie +hielt stets am längsten auf dem Bahnsteige aus. Obgleich sie nie etwas +verkaufte, kam sie doch jeden Tag zum Zuge. Wahrscheinlich war es +vier Wochen lang immer derselbe Kaffee, den sie zur Bahn brachte. Und +das wußten offenbar auch die Reisenden. Andernfalls hätten sie in der +Hitze wohl wenigstens hin und wieder einmal der Alten etwas zu verdienen +gegeben. Aber das Eiswasser, das in den Zügen kostenlos gegeben +wurde, war ein zu starker Konkurrent, gegen den ein so kleines +Kaffeegeschäft nicht aufkommen konnte. +</p> + +<p> +Meine fünf proletarischen Klassengenossen hatten sich gemütlich auf +den Erdboden neben der Bretterbude gesetzt. In den Schatten. +</p> + +<p> +Freilich, da jetzt die Sonne senkrecht über uns stand wie mit dem Lot +gerichtet, gehörte schon eine langausprobierte Übung dazu, herauszufinden, +wo eigentlich der Schatten war. +</p> + +<p> +Zeit war ihnen ein ganz und gar unbekannter Begriff; und weil sie +wußten, daß ich ja auch dort hin wollte, wo sie hin wollten, überließen +sie es mir, den Weg auszukundschaften. Sie würden gehen, wann ich +gehe, nicht früher; und sie würden mir folgen, und wenn ich sie bis +nach Peru führte, immer in der Gewißheit lebend, daß ich ja zum gleichen +Ort müsse wie sie. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-3"> +2 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">enn</span> ich nur wüßte, wo Ixtil... zu finden sei. In der +Nähe der Station war kein Haus zu sehen. Die Stadt, +zu der die Station gehörte, mußte irgendwo im Busch +versteckt liegen. Ich machte nun den Vorschlag, daß +wir erst einmal in diese Stadt gingen, wo sicher +jemand zu finden sein würde, der den Weg wisse. +</p> + +<p> +Nach einer Stunde kamen wir in die Stadt. Zwei +Häuser nur waren aus Brettern. In dem einen wohnte +der Stationsvorsteher. Ich ging hinein und fragte ihn, wo Ixtil... liegt. +Er wußte es nicht und erklärte mir höflich, daß er den Namen nie +gehört habe. +</p> + +<p> +Fünfhundert Meter von diesem Holzhause entfernt war das andere +„moderne“ Brettergebäude. Es war der Kaufladen. Er war gleichzeitig +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +Postamt, Billardsalon, Bierwirtschaft, Schnapsausschank und Agentur +für alle möglichen Dinge und alle möglichen Unternehmungen. Ich +fragte den Inhaber, aber er kannte den Ort auch nicht und sagte mir, +innerhalb fünfzig Kilometer im Umkreis sei er sicher nicht, denn da +kenne er jeden Platz und jeden Farmer. +</p> + +<p> +Da kam einer von den Billardspielern, die ebenso zerlumpt aussahen +wie wir, an den Ladentisch, setzte sich darauf, drehte sich eine Zigarette, +wobei er den Tabak in ein Maisblatt wickelte, und als er sie angezündet +hatte, sagte er: +</p> + +<p> +„Den Ort kenn ich nicht. Aber die einzigen Baumwollfelder, die hier +in dem ganzen Staate überhaupt sind, liegen in jener Richtung.“ +</p> + +<p> +Dabei streckte er den Arm ziemlich unbestimmt nach jener Gegend +hinaus, die er meinte. +</p> + +<p> +„Von dort her“, fügte er hinzu, „ist vor drei Jahren einmal ziemlich +viel Baumwolle hier verladen worden. Die Farmer kamen mit Autos, +also wird wohl noch etwas Weg übriggeblieben sein. Ob einer von den +Farmern Mr. Shine hieß, weiß ich freilich nicht, ich habe nicht nach den +Namen gefragt, ich habe nur beim Verladen mitgearbeitet.“ +</p> + +<p> +„Wie weit kann es denn sein?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Wenigstens achtzig Kilometer von hier, vielleicht neunzig. So genau +weiß ich es nicht. Die kamen mittags an und sind sicher frühmorgens +abgefahren.“ +</p> + +<p> +„Dann müssen wir also in jene Richtung gehen, wenn in einer andern +Richtung keine Baumwolle gebaut wird.“ +</p> + +<p> +„Ich glaube sicher,“ sagte er dann, „daß einer von den Farmern +Mr. Shine heißen kann, alle sind Gringos.“ +</p> + +<p> +„Gringo“ ist in Lateinamerika der Spottname für Amerikaner. Er hat +ungefähr dieselbe mißachtende Bedeutung wie „Boche“ in Frankreich +für Deutsche. Aber die Amerikaner, die viel zuviel unzerstörbaren +Humor besitzen, um sich so lächerlich leicht beleidigt zu fühlen und dadurch +das Leben schwer zu machen, haben diesem Spottnamen die +ganze Schärfe genommen dadurch, daß sie, wenn in Lateinamerika gefragt, +was für Landsleute sie seien, sie sich selbst „Gringo“ nennen. +Und sie sagen das mit einem so heiteren Lächeln, als ob es der schönste +Witz wäre. +</p> + +<p> +Die übrigen Gebäude der Stadt, etwa zehn oder zwölf, waren die +üblichen Indianerhütten. Sechs rohe Stämme senkrecht auf den Erdboden +gestellt und ein Dach aus trocknem Gras darüber. Die besseren +hatten Wände aus dünnen Stämmchen, aber nicht dicht aneinandergefügt. +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +Keine Türen, keine Fenster. Alles, was in der Hütte vor sich ging, +konnte man von außen sehen. Die einfacheren Hütten, wo ärmere oder +bequemere Mexikaner wohnten, hatten nicht einmal diese angedeuteten +Wände, sondern oben um das Dach herum hingen einige große +Palmblätter, um die Strahlen der Sonne, wenn sie in den frühen Vormittagsstunden +und am späten Nachmittag schräger einfielen, abzuschatten. +</p> + +<p> +Das Vieh und das Hühnervolk hatten keine Ställe. Die Schweine mußten +sich draußen im Busch irgendwo und irgendwie das Futter zusammensuchen. +Die Hühner saßen nachts in dem Baum, der der Hütte am +nächsten stand. Eine alte Kiste oder ein durchlöcherter Schilfkorb hing +an einem Ast, wo die Hühner brav ihre Eier hineinlegten. +</p> + +<p> +Rund um die Hütten standen Bananenstauden, die, ohne jemals gepflegt +zu werden, ihre Früchte in reichen Mengen spendeten. Die kleinen +Felder, wo nur gesäet und geerntet wird, sonst kaum etwas getan +wird, lieferten Mais und Bohnen mehr als die Bewohner aufbrauchen +konnten. +</p> + +<p> +In einer dieser Hütten nach dem Wege zu fragen, war zwecklos. Wenn +eine Auskunft überhaupt zu erhalten war, so war sie sicher falsch. +Nicht falsch gegeben mit der Absicht, uns irrezuführen, aber aus purer +Höflichkeit, irgendeine beliebige Auskunft zu geben, um nicht „nein“ +sagen zu müssen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-4"> +3 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> wanderten wir denn frischweg los in jener Richtung, +die uns im Postamt von dem Billardspieler genannt +worden war, und die ich für die einzige glaubwürdige +hielt. +</p> + +<p> +„Achtzig Kilometer“ war uns gesagt worden. Also +werden es wohl hundertzwanzig oder hundertfünfzig +Kilometer sein. +</p> + +<p> +Wir waren unser sechs. +</p> + +<p> +Da war der Mexikaner Antonio, spanischer Herkunft, der mich zuerst +angesprochen hatte. +</p> + +<p> +Dann kam der Mexikaner Gonzalo, indianischer Abstammung. Er war +nicht ganz so zerlumpt wie Antonio und hatte ein Bündelchen, eingewickelt +in eine alte Schilfmatte, und eine schöne, nach mexikanischer +Art farbenfreudig gemusterte Decke, die er über der Schulter trug. +</p> + +<p> +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +Der Chinese Sam Woe war der eleganteste Bursche unter allen. Der +einzige, der ein heiles und frisch gewaschenes Hemd trug, heile Hosen +hatte, gute Straßenstiefel, seidene Strümpfe und einen runden +städtischen Strohhut. Er hatte zwei Bündel, ziemlich reichlich gepackt. +Sie schienen gar nicht so leicht zu sein. +</p> + +<p> +Er hatte immer die praktischsten Ideen und Ratschläge, lächelte immer, +konnte das „R“ nicht aussprechen und war scheinbar immer guten +Mutes. Es wurde mit der Zeit unser größter Kummer, daß wir ihn mit +nichts, was immer wir auch taten, wütend machen konnten. Er hatte +in einem Ölfeld als Koch gearbeitet und gut verdient. Sein Geld hatte +er vorsichtig auf einer chinesischen Bank in Guanajuato hinterlegt, was +er uns gleich erzählte, nur damit wir nicht etwa denken sollten, er trüge +es bei sich und könnte dafür geopfert werden. +</p> + +<p> +Baumwollepflücken war ja nicht gerade seine große Leidenschaft – +meine noch viel weniger –, aber weil es nicht so sehr außerhalb seines +Weges lag, wollte er die sechs bis sieben Wochen Verdienst noch mitnehmen. +Er hoffte dann zum Herbst ein kleines Restaurant – „comida +corrida 50“ – zu eröffnen. Er war der einzige unter uns, der wohldurchdachte +Pläne für die Zukunft hatte. +</p> + +<p> +Sobald wir an den Busch gekommen waren, schnitt er sich ein dünnes +Stämmchen, hing über jedes der beiden Enden eines seiner Bündel und +legte sich das Stämmchen über die Schulter. Während er bisher mit +uns im gleichen Schritt gegangen war, begann er nun mit kurzen, +raschen Schrittchen zu trippeln. In diesem Trippelschritt hielt er den +ganzen Marsch durch, ohne je langsamer oder schneller zu gehen und +ohne jemals zu ermüden. Wenn wir uns zur Rast niedersetzten oder +niederlegten, tat er es auch, war aber jedesmal erstaunt, daß wir „schon +wieder“ ausruhen mußten. Wir schimpften ihn dann aus, daß wir richtige +Christenmenschen seien, während er als verdammter Chinc von +einem gelben, fratzenhaften Drachenungeheuer ausgebrütet worden +wäre, und daß darin die übermenschliche Ausdauer seiner stinkigen +und uns widerlichen Rasse zu suchen sei. Er erklärte darauf heiter +lächelnd, daß er nichts dafür könne, und daß wir alle von demselben +Gott geschaffen seien, aber daß dieser Gott gelb sei und nicht weiß. +Da wir keine Missionare waren und auf dem Gebiete der Bekehrung +auch keine Lorbeeren ernten wollten, ließen wir ihn in seinem finstern +Unglauben. +</p> + +<p> +Der hünenhafte Neger, Charley, paßte mit seinen Lumpen und seinem +in fettigem und zerrissenem Papier verschnürten Bündel, das unzählige +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +Male auf dem Marsche aufging, viel besser in unsre Gesellschaft +als der elegante Chinc. Charley behauptete, aus Florida zu sein. Aber +da er weder Englisch geläufig sprechen noch verstehen konnte, auch +den amerikanischen Niggerdialekt sprach, konnte er mich von seiner +Herkunft nicht überzeugen. Vielleicht war er von Honduras oder von +St. Domingo. Aber er sprach auch nur sehr unbeholfen ein notdürftiges +Spanisch. Ich habe nie erfahren können, wo er eigentlich hingehörte. +Nach meiner Meinung war er entweder aus Brasilien heraufgekommen +oder er hatte sich von Afrika herübergeschmuggelt. Er wollte sicher +nach den States, und für ihn als Nigger mit etwas Englisch war es leichter, +sich über die Grenze nach den States zu schmuggeln, als für einen +Weißen, der gut Englisch sprechen konnte. Er war der einzige, der offen +erklärte, daß er Baumwollepflücken als die schönste und einträglichste +Arbeit betrachte. +</p> + +<p> +Dann war noch der kleine Nigger da, Abraham aus New-Orleans. Er +hatte ein schwarzes Hemd an. Weil nun seine Hautfarbe ebenso schwarz +war wie das Hemd, konnte man nicht so recht erkennen, wo die letzten +Überreste des Hemdes waren, und wo die Haut war, die bedeckt werden +sollte. Er als einziger hatte eine Mütze. Und zwar eine Mütze, wie sie +von den Heizern und Maschinenschmierern auf den amerikanischen +Schiffen getragen wird. Dann trug er eine weiß und rot gestreifte +Leinenhose, Lackhalbschuhe und weiße Baumwollstrümpfe. +</p> + +<p> +Er hatte kein Bündel, sondern trug einen Kaffeekessel und seine Bratpfanne +an einem Bindfaden über der Schulter und in einem Säckchen +seinen Bedarf an Lebensmitteln. +</p> + +<p> +Abraham war der echte, dummschlaue, gerissene, freche und immer +lustige amerikanische Nigger der Südstaaten. Er hatte eine Mundharmonika, +mit der er uns das blöde „Yes, we have no bananes“ so lange +vorspielte, bis wir ihn am zweiten Tage weidlich verprügeln mußten, +um damit vorläufig nur zu erreichen, daß er es wenigstens nur sang +oder pfiff und dazu, während des Marsches, tanzte. Er stahl wie ein +Rabe – der Vergleich war von Gonzalo, ich weiß nicht, ob er richtig +ist – und log wie ein Dominikanermönch. +</p> + +<p> +Am dritten Abend des Marsches erwischten wir ihn, wie er einen dicken +Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte, stahl. Wir nahmen +ihm den Raub wieder ab, bevor er ihn in der Pfanne hatte, und +wir erklärten ihm ganz ernsthaft, daß, wenn wir ihn noch einmal beim +Stehlen ertappten, wir Buschrecht an ihm ausüben würden. Wir würden +eine Gerichtssitzung abhalten und ihn dann, nach gefälltem Urteil, +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +mit der Schnur, die sein Couleurbruder Charley um sein Bündel geschnürt +habe, am nächsten besten Mahagonibaum aufhängen, mit einem +Zettel auf der Brust, wofür er gehängt sei. +</p> + +<p> +Da sagte er ganz frech, wir sollten ja nicht versuchen, ihn auch nur anzutasten, +er sei amerikanischer Bürger, „native born“, und wenn wir +ihm nur das allergeringste Leid täten, so würde er das an die Regierung +nach Washington berichten, und die werde dann mit einem Kanonenboot +und dem Sternenbanner kommen und ihn blutig rächen; er sei ein +freier Bürger „of the States“, und das könne er durch „c’tificts“ beweisen, +und als solcher habe er das Recht, vor ein ordentliches Gericht +gestellt zu werden. Als wir ihm nun erklärten, daß wir ihm keine Zeit +lassen und keine Gelegenheit geben würden, nach Washington einen +Bericht zu schicken, und daß wir auch nicht glaubten, daß ein amerikanisches +Kanonenboot mit dem Sternenbanner in den Busch fahren +würde, sagte er: „Well, Gentlemen, Sirs, berühren Sie mich nur mit der +Fingerspitze, dann werden Sie sofort erleben, was geschieht.“ +</p> + +<p> +Wir erwischten ihn auch richtig einige Tage später, als er dem Chinc +eine Büchse Milch stahl und frech erklärte, es sei seine eigne, er habe sie +in Potosi im American Store gekauft. Er wurde daraufhin so windelweich +gedroschen, daß er keinen Finger krumm machen konnte, um nach +Washington zu schreiben. Bei uns hat er dann nicht mehr gestohlen, +und was er bei umliegenden Farmern zusammenstahl, ging uns +nichts an. +</p> + +<p> +Dann war ich noch, Gerard Gale, über den ich weniger zu berichten +weiß, da ich mich in der Kleidung von den übrigen nicht unterschied +und zum Baumwollepflücken, welche zeitraubende und schlechtbezahlte +Arbeit ich kannte, auch nur ging, weil eben keine andre Beschäftigung +zu haben war und ich bitter notwendig ein Hemd, ein Paar Schuhe und +eine Hose brauchte. Vom Althändler! Denn vom Neuhändler sie zu +kaufen, dazu hätte selbst die Arbeit von vierzehn Wochen auf einer +Baumwollfarm nicht gelangt. Ich war der einzige, der keine Strümpfe +trug, weil ich keine hatte. +</p> + +<p> +Eine Jacke besaßen nur der Chinc und Antonio. Warum Antonio den +Fetzen eigentlich „seine Jacke“ nannte, ist mir nie klar geworden. Sie +mag vielleicht einmal, in weit zurückliegenden Zeiten, lange vor der +Entdeckung Amerikas, die Ähnlichkeit mit einer Jacke gehabt haben. +Das will ich nicht bestreiten. Aber heute sie Jacke zu nennen, war nicht +Übertreibung, sondern sündiger Hochmut, für den Antonio dereinst +wird büßen müssen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-5"> +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +4 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> wanderten lustig darauf los. +</p> + +<p> +Über uns die glühende Tropensonne, zu beiden Seiten +neben uns der undurchdringliche und undurchsichtbare +Busch. Der ewig jungfräuliche tropische Busch +mit seiner unbeschreiblichen Mystik, mit seinen Geheimnissen +an Tieren der phantastischsten Art, mit +seinen traumhaften Formen und Farben der Pflanzen, +mit seinen unerforschten Schätzen an wertvollen +Steinen und kostbaren Metallen. +</p> + +<p> +Aber wir waren keine Forscher, und wir waren auch keine Gold- oder +Diamantengräber. Wir waren Arbeiter und hatten mehr Wert auf den +sichern Arbeitslohn zu legen als auf den unsichern Millionengewinn, +der vielleicht links oder rechts von uns im Busch verborgen lag und auf +den Entdecker wartete. +</p> + +<p> +Die Sonne stand schon sehr tief, und es mußte ungefähr fünf Uhr sein. +Wir sahen uns deshalb nach einem Lagerplatz um. +</p> + +<p> +Bald fanden wir eine Stelle, wo seitlich in den Busch hinein hohes Gras +stand. Wir rissen so viel von dem Gras aus, wie wir Platz zum Lagern +brauchten. Dann zündeten wir ein Feuer an und brannten den Rest des +Grases nieder, wodurch wir uns Ruhe vor Insekten und kriechendem +Getier für die Nacht verschafften. Eine frischgebrannte Grasfläche ist +der beste Schutz, den man haben kann, wenn man nicht mit den Ausrüstungsstücken +eines Tropenreisenden wandert. +</p> + +<p> +Ein Campfeuer hatten wir, aber es gab nichts zum Kochen, denn wir +hatten kein Wasser. +</p> + +<p> +Da kam der <a id="corr-0"></a>Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. +Wir wußten nichts davon, daß er einen so wertvollen Stoff mit sich +führte. Er machte den Kaffee heiß und bereitwillig bot er uns allen zu +trinken an. Aber was ist ein Liter Kaffee für sechs Mann, die, ohne einen +Schluck Wasser zu haben, einen halben Tag in der Tropensonne gewandert +sind, vor morgen früh um sieben oder acht Uhr ganz bestimmt auch +nichts Trinkbares haben werden und vielleicht die nächsten sechsunddreißig +Stunden genau so wenig Wasser finden werden, wie sie heute +nachmittag gefunden haben. Der Busch ist das ganze Jahr hindurch +grün, aber Wasser findet man dort nur in der Regenzeit an günstigen +Stellen, wo sich Tümpel bilden können. +</p> + +<p> +Nur wer selbst im tropischen Busch gewandert ist, weiß, was für ein +Opfer es war, das der Chinc uns bot. Aber keiner sagte „danke!“; jeder +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +betrachtete es als ganz selbstverständlich, daß der Kaffee in Teile ging. +Wahrscheinlich hätten wir es genau so selbstverständlich gefunden, wenn +der Chinc den Kaffee allein getrunken hätte. Nach einem halben Tag +Wanderung in wasserlosem Landstrich raubt man noch nicht für einen +Becher Kaffee; aber am dritten Tage beginnt man ernsthaft Mord zu +sinnen im Busch für eine kleine rostige Konservenbüchse voll stinkender +Flüssigkeit, die man Wasser nennt, obgleich sie keine andre Ähnlichkeit +mit Wasser hat, als daß sie eben Flüssigkeit ist. +</p> + +<p> +Antonio und ich hatten etwas hartes Brot zu knabbern. +</p> + +<p> +Gonzalo hatte vier Mangos und der große Nigger einige Bananen. Der +kleine Nigger aß irgendwas ganz verstohlen. Was es war, weiß ich nicht. +Der Chinc hatte ein Stück Zelttuch, daß er über seinen Schlafplatz +spannte. Dann wickelte er sich in ein großes Handtuch ein, auch den +Kopf, und begann zu schlafen. +</p> + +<p> +Gonzalo hatte seine schöne Decke, in die er sich einrollte, so daß er wie +ein Baumstamm aussah. +</p> + +<p> +Ich wickelte mir den Kopf in einen zerlumpten Lappen ein, den ich +stolz „mein Handtuch“ nannte und schlief los. +</p> + +<p> +Wie sich die übrigen einrichteten, weiß ich nicht, weil die noch lange um +das Feuer herumsaßen und rauchten und schwatzten. +</p> + +<p> +Vor Sonnenaufgang waren wir schon wieder auf dem Marsche. Abzukochen +gab es nichts, und waschen brauchte man sich auch nicht. Denn +womit hätte man es tun sollen? +</p> + +<p> +Der Weg durch den Busch war weite Strecken hindurch schon wieder +zugewachsen. Der Nachwuchs der jungen Bäume reichte uns oft bis über +die Schultern und der Grund war mit Kaktusstauden so dicht bewachsen, +daß diese stachligen Pflanzen zuweilen beinahe die ganze Breite des +Weges einnahmen. Meine nackten Unterschenkel waren bald so zerschnitten, +als wenn sie durch eine Hackmaschine gezogen worden wären. +Gegen mittag kamen wir an eine Stelle, wo sich rechts des Weges ein +Stacheldrahtzaun hinzog, der uns die Gewißheit gab, daß hier eine Farm +liegen müsse. +</p> + +<p> +Nachdem wir etwa zwei Stunden lang, immer den Stacheldrahtzaun +zur rechten Hand, gewandert waren, kamen wir an eine weite offene +Stelle im Busch, die mit hohem Gras bewachsen war. Als wir den Platz +absuchten, fanden wir auch eine Zisterne. Aber sie war leer. Einige +morsche Pfähle, alte Konservenbüchsen, verrostetes Wellblech und ähnliche +Überbleibsel einer menschlichen Behausung, offenbarten uns eine +verlassene Farm. +</p> + +<p> +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +Über eine solche Enttäuschung muß man rasch hinweg kommen. Farmen +werden hier gegründet; zehn, auch zwanzig Jahre lang bewirtschaftet +und dann aus irgendeinem Grunde plötzlich aufgegeben. Fünf Jahre +später, oft schon früher, ist kein Zeichen mehr davon vorhanden, daß +hier jemals Menschen gelebt und gearbeitet haben. Es erweckt den Anschein, +als seien es hundert Jahre her, seit jemand hier gelebt hat. Der +tropische Busch begräbt rascher als Menschen bauen können, er kennt +keine Erinnerung, er kennt nur Gegenwart und Leben. +</p> + +<p> +Aber um vier Uhr kamen wir doch an eine lebende Farm. Hier wohnte +eine amerikanische Familie. +</p> + +<p> +Ich wurde im Hause gut bewirtet und fand auch ein Lager innerhalb +des Hauses. Die übrigen als Nichtweiße wurden auf der Veranda beköstigt +und durften in einem Schuppen übernachten. Sie bekamen alle +reichlich zu essen, aber ich war der eigentliche Gast. Mir wurde aufgetischt, +wie eben nur in einem so menschenarmen Lande einem Weißen +von weißen Gastgebern aufgetischt werden kann. Drei verschiedene +Fleischgänge, fünf verschiedene Beigerichte, Kaffee, Pudding und abends +heißen Kuchen. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen bekamen wir alle ein reichliches Frühstück; ich +wieder am Tische des Farmers. +</p> + +<p> +Der Farmer hatte genügend leere Flaschen, und so bekam jeder einzelne +von uns eine Literflasche kalten Tee mit auf den Weg. +</p> + +<p> +Er kannte Mr. Shine und sagte uns, daß wir noch etwa sechzig Kilometer +zu marschieren hätten. Kein Wasser am ganzen Weg; die Straße +an verschiedenen Stellen kaum noch erkennbar, weil sie seit drei Jahren +nicht mehr benutzt worden sei. +</p> + +<p> +Um neun Uhr hatte der kleine Nigger Abraham seinen Tee schon ausgetrunken +und die Flasche fortgeworfen. Es war ihm zu lästig, sie zu +tragen. Wir erklärten ihm, daß er unter diesen Umständen von uns +nichts zu erwarten habe und falls er versuchen sollte, auch nur einen +Schluck zu stehlen, würden wir ihn braun und blau schlagen. +</p> + +<p> +An diesem Abend im Lager war es, wo er zwar keinen Tee stahl, aber +jenen Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte. Da sich +unsre Drohung nur auf Tee bezog, ließen wir ihn laufen mit der Warnung, +daß von nun an jeder Raub in unsre Drohung einbegriffen sei. +Den folgenden Tag gegen mittag kamen wir bei Mr. Shine an. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-6"> +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +5 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">r.</span> Shine empfing uns mit einer gewissen Freude, +weil er nicht genügend Leute zum Baumwollepflücken +hatte. +</p> + +<p> +Mich nahm er persönlich ins Gebet. Er rief mich +ins Haus und sagte zu mir: „Was! Sie wollen auch +Baumwolle pflücken?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte ich, „ich muß, ich bin vollständig +‚broke‘, das sehen Sie ja, ich habe nur Fetzen am +Leibe. Arbeit ist in den Städten keine zu haben. Alles ist überschwemmt +mit Arbeitslosen aus den States, wo die Verhältnisse augenblicklich +auch nicht rosig zu sein scheinen. Und wo man wirklich Arbeiter +braucht, nimmt man lieber Eingeborene, weil man denen Löhne zahlt, +die man einem Weißen nicht anzubieten wagt.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie denn schon mal gepickt?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Ja,“ antwortete ich, „in den States.“ +</p> + +<p> +„Ha!“ lachte er, „das ist ein ander Ding. Da können Sie etwas dabei +werden.“ +</p> + +<p> +„Ich habe auch ganz gut dabei verdient.“ +</p> + +<p> +„Das glaube ich Ihnen. Die zahlen viel besser. Die können’s auch. Die +kriegen ganz andre Preise als wir. Könnten wir unsre Baumwolle nach +den States verkaufen, dann würden wir noch bessere Löhne zahlen; +aber die States lassen ja keine Baumwolle hinein, um die Preise hochzuhalten. +Wir sind auf unsern eignen Markt angewiesen, und der ist +immer gleich gepackt voll. Aber nun Sie! Ich kann Sie weder beköstigen, +noch in meinem Hause unterbringen. Aber ich brauche jede Hand, +die kommt. Ich will Ihnen etwas sagen; ich zahle sechs Centavos für +das Kilo, Ihnen will ich acht zahlen, sonst kommen Sie auf keinen Fall +auf das, was die Nigger machen. Selbstverständlich brauchen Sie das den +andern nicht zu erzählen. Schlafen könnt ihr da drüben in dem alten +Hause. Das habe ich gebaut und mit meiner Familie zuerst darin gewohnt, +bis ich mir das neue hier leisten konnte. Well, das ist dann abgemacht.“ +</p> + +<p> +Das Haus, von dem der Farmer gesprochen hatte, lag etwa fünf Minuten +entfernt. Wir machten uns dort häuslich, so gut wir es konnten. Das +Haus, aus Brettern leicht gebaut, hatte nur einen Raum. Jede der vier +Wände hatte je eine Tür, die gleichzeitig als Fenster diente. Der Raum +war vollständig leer. Wir schliefen auf dem bloßen Fußboden. Ein paar +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +alte Kisten, die vor dem Hause herumlagen, im ganzen vier, benutzten +wir als Stühle. +</p> + +<p> +Dicht bei dem Hause war eine Zisterne, die Regenwasser enthielt, das +ungefähr sieben Monat alt war und von Kaulquappen wimmelte. Ich +berechnete, daß etwa hundertzwanzig Liter Wasser in der Zisterne +seien, mit denen wir sechs Mann sechs bis acht Wochen auskommen +mußten. Der Farmer hatte uns schon gesagt, daß wir von ihm kein +Wasser bekommen könnten, er wäre selbst sehr kurz mit Wasser dran +und habe noch sechs Pferde und vier Maultiere zu tränken. Waschen +konnten wir uns einmal in der Woche und hatten dann noch zu je drei +Mann dasselbe Waschwasser zu gebrauchen. Es sei aber immerhin möglich, +fügte er hinzu, daß es in dieser Jahreszeit alle vierzehn Tage +wenigstens einmal zwei bis vier Stunden regnen könne, und wenn wir +die Auffangrinnen reparierten, könnten wir tüchtig Wasser ansammeln. +Außerdem sei ein Fluß nur etwa drei Stunden entfernt, wo wir +baden gehen könnten, falls wir Lust dazu hätten. +</p> + +<p> +Vor dem Hause richteten wir ein Lagerfeuer ein, zu dem uns der nahe +Busch das Holz in reicher Menge hergab. +</p> + +<p> +Auf die recht nebelhafte Möglichkeit hin, daß es vielleicht innerhalb +der nächsten drei Wochen regnen könnte, wuschen wir uns zunächst +einmal, in einer alten Gasolinbüchse. Seit drei Tagen hatten wir uns +nicht gewaschen. +</p> + +<p> +Ich rasierte mich. Es mag mir noch so dreckig gehen, ein Rasiermesser, +einen Kamm und eine Zahnbürste habe ich immer bei mir. +</p> + +<p> +Auch der Chinc rasierte sich. +</p> + +<p> +Da kam Antonio auf mich zu und bat mich um mein Rasiermesser. Er +hatte sich seit beinahe drei Wochen nicht rasiert und sah aus wie ein +fürchterlicher Seeräuber. +</p> + +<p> +„Nein, lieber Antonio,“ sagte ich, „Rasierzeug, Kamm und Zahnbürste +verpumpe ich nicht.“ +</p> + +<p> +Und der Chinc, mutig gemacht durch meine Weigerung, sagte lächelnd, +daß sein schwaches Messer bei diesem starken Bart sofort stumpf +würde, und er hier keine Gelegenheit habe, es schleifen zu lassen. Er +selbst hatte nur dünne Stoppeln. +</p> + +<p> +Antonio gab sich mit diesen beiden Weigerungen zufrieden. +</p> + +<p> +Wir kochten unser Abendessen, ich Reis mit spanischem Pfeffer, der +andre schwarze Bohnen mit Pfeffer, der nächste Bohnen mit getrocknetem +Rindfleisch, ein vierter briet einige Kartoffeln mit etwas Speck. +Da wir am nächsten Morgen schon um vier Uhr zur Arbeit gingen, bereiteten +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +wir auch noch unser Brot für den nächsten Tag, das wir in +unsern Pfannen buken. +</p> + +<p> +Als wir gegessen hatten, hängten wir unsre armseligen Lebensmittel an +Bindfaden an den Querbalken im Hause auf, weil uns die Ameisen und +Mäuse über Nacht sonst alles fortgeholt hätten, wenn wir diese Vorsorge +nicht getroffen hätten. +</p> + +<p> +Etwas nach sechs Uhr ging die Sonne unter. Eine halbe Stunde später +war rabenschwarze Nacht. +</p> + +<p> +Glühwürmchen, mit Lichtern, so groß wie Haselnüsse, flogen um uns her. +Wir krochen in unser Haus, um zu schlafen. +</p> + +<p> +Der Chinc war der einzige, der ein Moskitonetz hatte. Wir andern wurden +von dem Viehzeug gräßlich geplagt und schimpften und wüteten, +als ob sich diese Gesandten einer Hölle etwas daraus machen würden. +Die beiden Nigger, die Seite an Seite schliefen, sich vor dem Einschlafen +entsetzlich zankten und sich handfeste Backpfeifen anboten, schienen +von den Biestern nicht gestört zu werden. +</p> + +<p> +Ich entschloß mich, diese Qual für die Nacht zu erdulden, aber morgen +für irgendeine Abhilfe zu sorgen. +</p> + +<p> +Noch vor Sonnenaufgang waren wir auf den Beinen. Jeder kochte sich +etwas Kaffee, aß ein Stückchen Brot dazu, und fort ging es im halben Trab. +Das Baumwollfeld war eine halbe Stunde entfernt. +</p> + +<p> +Der Farmer und seine zwei Söhne waren schon dort. Wir bekamen +jeder einen alten Sack, den wir uns umhängten, dann wurde der Gürtel +festgezogen, damit wir die Fetzen nicht verloren, und dann ging es an +die Arbeit. Jeder nahm eine Reihe. +</p> + +<p> +Wenn die Baumwolle schön reif ist und man den Griff erst weg hat, +bekommt man jede Frucht mit einem einzigen Griff. Da aber die Knollen, +die ähnlich aussehen wie die Hülsen der Kastanien, nicht alle die +gleiche Reife haben, muß man doch bei der Hälfte einige Male gut +zupfen, ehe man die zarte Frucht aus der Hülse gerissen hat und sie +in den Sack tun kann. Bei guter Reife, und wenn die Stauden gut +stehen, kann man, sobald man die Übung hat, gleichzeitig mit beiden +Händen an verschiedenen Stellen rupfen. Aber bei Mittelernte und bei +schlechten Stauden darf man dafür auch oft beide Hände brauchen, um +eine Frucht zu kriegen. Obendrein muß man sich auch noch unaufhörlich +bücken, weil die Früchte nicht alle in bequemer Höhe am Strauch +hängen, sondern oft bis dicht über dem Boden wachsen und, wenn unerwartet +starker Regen kam, sind die Früchte auch noch in den Boden +gehauen, wo man sie ’rausklauben muß. +</p> + +<p> +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +Je weiter es gegen mittag geht, desto höher steht die Sonne und desto +mühseliger wird die Arbeit. Man trägt nichts weiter am Leibe als Hut, +Hemd, Hose und Schuhe, aber der Schweiß rinnt in Strömen an einem +herab. Sehr kleine lästige Fliegen, die einem unausgesetzt in die Ohren +kriechen, und Moskitos machen einem das Leben recht schwer. Kommt +ein leichter Wind auf, der die Moskitos verscheucht, geht es noch; aber +bei völliger Windstille wird die Qual mit jeder Stunde größer. Gegen +elf Uhr, nach beinahe siebenstündiger ununterbrochener Arbeit, kann +man nicht mehr. +</p> + +<p> +Wir suchten den Schatten einiger Bäume auf, die mehr als zehn Minuten +entfernt waren. Wir aßen unser trockenes Pfannenbrot, das, bei mir +wenigstens, ganz verbrannt war, und legten uns dann hin, um zwei +Stunden zu schlafen, bis die Sonne anfängt, wieder abwärts zu wandern. +Wir bekamen furchtbaren Durst, und ich ging zum Farmer, um ihn um +Wasser zu ersuchen. +</p> + +<p> +„Es tut mir leid, ich habe keins. Ich sagte Ihnen doch schon gestern, daß +ich selber sehr kurz mit Wasser bin. Gut, heute will ich euch noch etwas +geben, von morgen ab müßt ihr euch euer Wasser selbst mitbringen.“ +</p> + +<p> +Er schickte einen seiner Söhne mit dem Pferde nach Hause, der dann +bald mit einer Kanne Regenwasser zurückkam. +</p> + +<p> +Baumwolle ist teuer. Das lernt jeder bald, wenn er sich einen Anzug, +ein Hemd, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe oder nur ein Taschentuch +kauft. Aber der Baumwollpflücker, der wohl die härteste und qualvollste +Arbeit für die Stoffe leistet, die ein König oder ein Milliardär +oder ein einfacher Landmann trägt, hat an dem hohen Preis des Anzuges +den allergeringsten Anteil. +</p> + +<p> +Für ein Kilogramm Baumwolle pflücken bekamen wir sechs Centavos, +ich ausnahmsweise acht. Und ein Kilogramm Baumwolle ist beinahe ein +kleiner Berg, den zu schaffen, man unter ständigem Bücken in der mitleidlosen +Tropensonne zweihundert bis fünfhundert Knollen auszupfen +muß. Dazu eine Nahrung, die als die allerbescheidenste angesehen +werden darf, von der Menschen irgendwo auf Erden leben. Den +einen Tag schwarze Bohnen mit Pfeffer, den nächsten Tag Reis mit +Pfeffer, den übernächsten wieder Bohnen, dann wieder Reis; dazu Brot, +selbstgebacken aus Weizen- oder Maismehl, entweder kleistrig oder zu +Kohle verbrannt, Monate altes, abgestandenes Regenwasser, Kaffee +gekocht aus selbstgebrannten Kaffeebohnen, auf einem Stein zerrieben, +und den Kaffee gesüßt mit einem billigen, übelriechenden, schwarzbraunen +Rohzucker in kleinen Kegeln. Das Salz, das man verwendet, +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +ist Seesalz, das man sich selbst vor dem Gebrauch erst reinigen muß. +Ein paar Kilogramm Zwiebeln in der Woche hinzugekauft ist bereits +Delikatesse und ab und zu ein Streifen getrocknetes Fleisch ist schon +ein Luxus, der, wenn man ihn sich zu oft leistet, vom Lohn nicht einmal +das Reisegeld bis zur nächsten größern Stadt, wo man neue Arbeit finden +könnte, übrigläßt. Bei sehr fleißiger Arbeit verdient man in einer +Woche gerade so viel, daß man sich, wenn man keinen Centavos für +Essen ausgibt, das billigste Paar Schuhe kaufen kann, das man im Laden +vorfindet. +</p> + +<p> +Der Baumwollfarmer verursacht auch nicht immer die hohen Preise der +Fertigware. Er ist oft tief verschuldet und kann in vielen Fällen die +Pflückerlöhne nur auszahlen, wenn er auf die Ernte einen Vorschuß +nimmt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-7"> +6 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">m</span> vier Uhr nachmittags machten wir Schluß, um +noch bei Tageslicht „nach Hause“ zu kommen und +unser Essen zu kochen. +</p> + +<p> +Ich quartierte aus. +</p> + +<p> +In der Nähe des Hauses, nur etwa zweihundert +Meter entfernt, hatte ich eine Art Unterstand entdeckt. +Welchen Zwecken er diente oder gedient haben +mochte, wußte ich nicht. Er hatte ein Dach aus Wellblech, +aber keine Wände, es wäre denn, daß man einige Baumstämme, +die an der einen Seite gegen das Dach gelehnt waren, als Wand bezeichnen +will. +</p> + +<p> +In diesem Unterstand war eine Art Tisch. Es waren vier Pfähle in die +Erde gerammt und auf den Pfählen lagen ein paar Platten Wellblech. +Diesen Unterstand wählte ich als Behausung und den Tisch als Bett. +Der große Nigger wollte den Unterstand mit mir teilen. Er kam hin, +sah sich die Sache an, und es gefiel ihm. +</p> + +<p> +Plötzlich rief er: „A snake! A snake!“ +</p> + +<p> +„Wo?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Da, dicht vor Ihren Füßen.“ +</p> + +<p> +Richtig, da wand sich eine Schlange auf dem Boden hin, eine feuerrote, +etwa einen Meter lang. +</p> + +<p> +„Macht nichts,“ sagte ich, „die wird mich nicht gleich auffressen, die +Moskitos sind schlimmer.“ +</p> + +<p> +Der Nigger zog wieder ab. +</p> + +<p> +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +Nach einer Weile kam Gonzalo. Die rote Schlange war inzwischen verschwunden. +</p> + +<p> +Es gefiel ihm sehr, und er fragte mich, ob ich etwas dagegen habe, wenn +er auch hier schliefe. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich, „schlafen Sie ruhig hier, mir ist das ganz egal.“ +</p> + +<p> +Da starrte er auf den Boden. +</p> + +<p> +Ich folgte seinem Blick. +</p> + +<p> +Es war wieder eine Schlange. Diesmal eine schöne grüne. +</p> + +<p> +„Ich will doch lieber im Hause schlafen,“ sagte nun Gonzalo, „ich mag +Schlangen nicht.“ +</p> + +<p> +Ich mache mir nichts aus Schlangen. So leicht werden sie ja wohl kaum +auf den Tisch kommen; und wenn sie sich wirklich hinaufringeln sollten, +was sie zuweilen tun, so werden sie ja nicht gleich beißen, und wenn +sie beißen sollten, so werden sie wohl nicht gleich giftig sein. Wären +sie alle giftig und würden sie alle einen schlafenden Menschen, der +ihnen nichts zuleide tut, beißen, wäre ich längst nicht mehr am Leben. +Da dieser Unterstand höher lag als das Haus, keine Wände hatte, +jedem kleinen Windzug freieren Durchgang ließ, in der Nähe auch +kein Strauchwerk war und er weit genug von der Zisterne und dem +ausgetrockneten Tränkepfuhl entfernt war, hatte ich hier in der Tat +beinahe gar nicht unter den Moskitos zu leiden. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen kamen noch etwa zwölf Eingeborene zur Mitarbeit. +Die wohnten ziemlich weit entfernt in einem Dorfe, das irgendwo +im Busch liegen mochte. Sie kamen auf Maultieren geritten; manche +hatten weder Sattel noch Steigbügel. Andre hatten wohl einen Holzsattel, +aber keinen Zaum; an Stelle des Zaumes war den Tieren ein +Strick um das Maul gebunden. +</p> + +<p> +Diese Leute waren an die Feldarbeit in den Tropen besser gewöhnt als +wir, die wir, mit Ausnahme des großen Niggers alle Städter waren. +Aber sie schafften viel weniger als wir und mußten eine viel längere +Mittagspause machen. Jedoch das ging uns nichts an, und darüber nachzudenken, +lohnte sich auch nicht recht. +</p> + +<p> +Am Samstag kriegten wir ausbezahlt. Wir ließen uns von den paar +Kröten, die wir in so mühseliger Arbeit verdient hatten, gerade so viel +geben, wie wir brauchten, um Lebensmittel für die nächste Woche einzukaufen. +Den Rest ließen wir beim Farmer stehen, denn auch nur +einen Nickel in der Tasche zu haben, ist nichts als Versuchung für andre. +Selbstverständlich arbeiteten wir Sonntags auch. Der brachte dann +knapp ein Kilo Speck ein, oder fünf Kilo Kartoffeln; weil wir an dem +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +Tage schon um drei Uhr Schluß machten, um uns wenigstens einmal +in der Woche waschen zu können, und um das verschwitzte Zeug, das +man Tag und Nacht auf dem Leibe hatte, durchs Wasser zu ziehen. +</p> + +<p> +Der Chinc und Antonio waren in den nächsten Laden gegangen, der +etwa dreiundeinehalbe Stunde entfernt lag, um für uns alle das einzukaufen, +was jeder ihnen auf ein Maisblatt aufgeschrieben hatte. Die +Hieroglyphen, die auf jenen Maisblättern standen, waren nur von den +Einkäufern zu entziffern, denen wir mündlich die Bedeutung der +phantastischen Zeichen ausführlich hatten erklären müssen. +</p> + +<p> +Den nächsten Sonntag hatten dann ich und Charley einkaufen zu +gehen. +</p> + +<p> +An diesem Sonntag war Charley schon um zwei Uhr von der Plantage +verschwunden. Er war mit seinem Sack Baumwolle zur Wage gegangen +und nicht zurückgekommen. +</p> + +<p> +Als wir zum Hause kamen, waren Sam und Antonio schon mit den +Gütern angelangt. +</p> + +<p> +„Eine elende, nichtswürdige Schlepperei“, sagte Antonio. +</p> + +<p> +„Ach das war nicht so schlimm!“ begütigte Sam. +</p> + +<p> +„Ruhig, du gelber Heidensohn, du natürlich, mit deiner Lastträgervergangenheit, +was verstehst du von Schleppen?“ rief Antonio, während +er sich auf eine Kiste hinsetzte, die auch noch unter ihm zusammenbrach +und seine Laune durchaus nicht besserte. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Antonio, warum haben Sie denn nicht Mr. Shine um ein +Mula oder einen Esel gebeten?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Aber das habe ich ja getan. Er hat es abgelehnt. Er sagte zu mir und +Sam: Wie kann ich euch denn ein Mula geben? Ich kenne euch ja gar +nicht. Ihr habt ein paar Tage bei mir gearbeitet, Sachen habt ihr keine, +Papiere habt ihr auch keine, und wenn ihr welche hättet, kann ich mir +für eure Papiere, die vielleicht noch nicht einmal euch gehören, kein +andres Mula kaufen, wenn ihr es im nächsten Ort verschachert und +euch dann hier nicht mehr sehen laßt.“ +</p> + +<p> +„Von seinem Standpunkt aus hat er recht“, erwiderte ich; „doch von +unserm Standpunkt aus gesehen, ist es eine große Niedertracht. Aber +was können wir machen?“ +</p> + +<p> +Und gerade jetzt, wo wir so schön im Zuge waren, das Lieblingsthema +aller Arbeiter der Erde anzuschlagen und uns den ungerechten Zustand +in der Welt, der die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in +Drohnen und Enterbte teilt, mit mehr Lungenkraft als Weisheit klarzumachen, +kam Abraham an mit sechs Hennen und einem Hahn, die +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +er an den Füßen zusammengebunden hatte und, ihre Köpfe nach unten +hängen lassend, an einem Bindfaden über der Schulter trug. +</p> + +<p> +Er warf das Bündel auf die Erde, wo die Vögel sich vergeblich mühten, +aufzustehen oder von den Fesseln los zu kommen. +</p> + +<p> +„So, fellers,“ grinste er, „jetzt könnt ihr Eier von mir haben. Ich lasse +euch das Stück für neun Centavos, billig, weil ihr ja meine Arbeitskollegen +seid. In der Stadt kosten die Eier zehn, sogar elf.“ +</p> + +<p> +Wir starrten bald das Bündel Hühner, bald den grinsenden Abraham +an. An ein solches Geschäft hatte keiner von uns gedacht, und es lag +doch so nahe, war so einfach, verlangte absolut keine besondere Intelligenz; +jeder von uns hätte das ebensogut machen können. Sam Woe +empfand keinen Neid, keine Eifersucht, nur Bewunderung für den +unternehmungslustigen Geflügelzüchter; jedoch er schämte sich, daß +er sich von einem Nigger beim Ausdenken einer ehrlichen Nebeneinnahme +hatte schlagen lassen. +</p> + +<p> +Vor unsern Augen, nicht einmal über Nacht, sondern über drei Nachmittagsstunden +war aus einem Enterbten und Ausgebeuteten ein Produzent, +ein Unternehmer geworden. Er hatte sich von seinem Lohn die +Hühner gekauft, wir Lebensmittel. Er hatte keine Lebensmittel mitbringen +lassen, und wir hatten uns schon vorbereitet, wie wir ihm das +Stehlen, auf das er unter diesen Umständen angewiesen war, unmöglich +machen wollten. Aber er hatte uns übertrumpft. Er lieferte Eier +und tauschte dafür an Reis und Bohnen ein, was er brauchte. Trat nun +der Fall ein, daß wir seine Produkte boykottierten, so konnte er ja den +Hahn schlachten, vielleicht noch ein Huhn, bis er wieder Lohn bekam. +Am nächsten Morgen hatte Abraham vier Eier. Das Geschäft konnte +beginnen. +</p> + +<p> +Eier betrachteten wir noch als einen größeren Luxus denn Speck oder +Fleisch. Aber jetzt, wo die Eier so verlockend nahe zur Hand waren, +viel schneller zubereitet werden konnten als irgendeine andre Speise +und uns dadurch eine Möglichkeit gegeben war, zum Frühstück etwas +andres und Kräftigeres in den Magen zu bekommen als den dünnen +Kaffee und ein schmales Stückchen verbranntes Brot, da wollten und +konnten wir auf Eier nicht mehr verzichten. Wir sahen plötzlich ein, +daß wir ohne Eier noch vor Beendigung der Ernte an Unterernährung +zugrunde gehen würden, und wenn wir je wirklich die Ernte überlebten, +so würden wir doch so entkräftet sein, daß uns niemand in Arbeit +nehmen würde. Die Sklaven wurden immer, so erzählte uns Abraham, +der es von seinem Großvater wußte, in gutem Ernährungszustande gehalten, +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +wie Pferde; um den Ernährungszustand der freien Arbeiter +kümmerte sich kein Mensch. Wenn sie zu schlecht ernährt waren, weil +der Lohn für eine bessere Ernährung nicht reichte, flogen sie ’raus. +</p> + +<p> +Solche merkwürdigen Ansichten, die natürlich keine wissenschaftliche +Grundlage hatten und auch ganz und gar unrichtig waren, brachte +Abraham vor, nur um seinen Eiern einen regen und dauernden Absatz +zu sichern. Uns leuchtete eine solche Betrachtung menschlicher Verhältnisse +um so mehr ein, als es gerade Abraham gewesen war, der uns +gestern mitten in jener regen Auseinandersetzung unterbrochen hatte, +die uns ohne Zweifel, wenn auch nicht auf dem Wege über Eier, zu +genau derselben Schlußbetrachtung der Welt geführt haben würde. +</p> + +<p> +Außerdem stundete uns Abraham gutmütig den Betrag für gelieferte +Eier bis zum nächsten Lohntage. Er tat es nur aus Gutmütigkeit, und +weil er nicht wollte, daß wir, seine lieben Arbeitskameraden, im +spätern Leben, also nach der Ernte, wegen Unterernährung Schiffbruch +erleiden sollten. +</p> + +<p> +Nach drei Tagen konnten wir nicht mehr verstehen, wie wir es überhaupt +jemals fertiggebracht hatten, ohne Eier auszukommen. Es gab +Eier zum Frühstück, es wurden Eier zum Mittagessen mitgenommen +und abends gab es erst recht Eier, wir backten Eier sogar ins Brot, nur +um die nötige Arbeitskraft für unser ferneres Leben zu erhalten. +</p> + +<p> +Abraham verstand die Geflügelzucht, das mußte man ihm lassen. +</p> + +<p> +Er fütterte seine Hühner reichlich mit Mais. Jeden zweiten Abend +mit Dunkelwerden machte er sich auf den Weg mit einem Sack, um +bei den Farmern Mais einzukaufen. Manchmal ging er schon um drei +Uhr vom Felde heim, um seine Hühner auch gut zu versorgen. Vom +Mais einkaufen kam er aber immer erst zurück, wenn wir schon längst +schliefen. +</p> + +<p> +Die sechs Hühner und der eine Hahn, als ob sie unsern Bedarf schon im +voraus kannten, taten das menschenmögliche, nein, hühnermögliche, um +uns vor der drohenden Unterernährung zu schützen. Und für den reichlich +gelieferten Mais lieferten sie als gerechte Gegenleistung mehr, als +sonst eine Henne zu liefern sich verpflichtet fühlt. +</p> + +<p> +Am ersten Morgen hätten die Hühner, wie schon berichtet, vier Eier +gelegt, am zweiten Morgen sieben, und als wir bezweifelten, daß dies +möglich sei, führte uns Abraham am darauffolgenden Morgen zu den +drei alten Schilfkörben, die er für den Zweck aufgehängt hatte, und +gestattete uns, selbst nachzuzählen. Wir zählten an diesem dritten Morgen +siebzehn Eier, die von den Hühnern über Nacht gelegt waren. +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +Da wir die Eier persönlich bei Sonnenaufgang gesehen und persönlich +gezählt hatten, zweifelten wir von dem Tage an nicht mehr an der Zahl +der von Abrahams Hühnern gelegten Eier, obgleich er uns eines Morgens +freudestrahlend, als hätte er in der Lotterie gewonnen, mitteilen +konnte, daß die Hühner achtundzwanzig Eier über Nacht gelegt hätten. +Uns war es ja gleichgültig, wie Abraham seine Hühner behandelte, um +solche Resultate zu erzielen. Als Sam Woe eines Tages erklärte, bei +ihm zu Hause wisse man auch aus einer Krume Erde oder aus einer +Henne herauszuholen, was nur überhaupt ein Gott sonst noch herausquetschen +könne, aber das hätten sie daheim doch noch nicht geschafft, +da fuhr ihm der Nigger gleich übers Maul: „Ihr seid eben Esel, ihr versteht +die rationelle Geflügelzucht ebensowenig wie hier herum die +ganzen Farmer, die noch größere Esel sind, als ihr seid. Aber wir in +Louisiana, wir verstehen Hühner zu behandeln. Ich habe es von meiner +Großmutter gelernt. Es hat viel Prügel gesetzt, ehe ich es begriffen +habe; aber jetzt kommt auch kein noch so tüchtiger Farmer gegen mich +mehr auf, wenn ich in der Nähe eine Geflügelzucht betreibe und einmal +zeige, wie man Hühner rentabel macht.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-8"> +7 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> aßen die Eier nur. Aber die Eier rächten sich: sie +fraßen. Sie fraßen an unserm Lohn so gierig, daß +niemand sein gestecktes Ziel erreichen konnte, sei es +ein neues Hemd, eine neue Hose oder eine Fahrkarte +nach einer Stadt mit besserer Arbeitsgelegenheit. +</p> + +<p> +Auch Sam Woe, dessen Landsleuten sehr zu Unrecht +nachgesagt wird, daß sie sich lieber den Finger abbeißen +als Geld für etwas Überflüssiges auszugeben, +hatte ein ganz nettes Schuldsümmchen für Eier bei Abraham stehen. +Ich glaube aber doch, daß er bei jedem Ei, das er aß, immer bedauerte, +daß er nicht der Lieferant sei. +</p> + +<p> +So vergingen zwei weitere Wochen. Verglichen mit der ersten Woche +lebten wir jetzt in Saus und Braus. Das taten die Eier, und das tat eine +Nacht mit fünfstündigem Wolkenbruch, der uns so gut mit Wasser versorgte, +daß wir hierin fürstlich schwelgen konnten. +</p> + +<p> +Freilich bedeutete dieser Regen einen halben Tag Verlust an Arbeitslohn. +Das Feld war am Morgen so lehmig und schlammig, daß wir die +Füße kaum herausziehen konnten. Erst gegen Mittag, als die Sonne die +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +übliche Kruste gebrannt hatte, konnten wir wieder an die Arbeit gehen. +Am dritten Lohntag sehen wir ein, daß wir mit dem Geld, das wir verdienten, +nicht auskommen konnten. Wenn die Ernte vorüber sein wird, +werden wir knapp zwei Wochen Lohn in der Hand haben. Ehe wir +bis zur nächsten Stadt kommen und dort irgendeine Arbeitsgelegenheit +finden würden, hätten wir genau soviel oder richtiger sowenig übrig, +als wenn wir nicht sechs Wochen, jede Woche zu sieben Tagen, in +tropischer Sonnenglut von Sonnenaufgang bis beinahe Sonnenuntergang +bei, trotz der Eier, allerbescheidenster Nahrung hart gearbeitet +hätten. Denn außer für Essen und etwas Tabak gaben wir nichts aus. +Es war auch keine Gelegenheit dazu. Der nächste Saloon, wo es Bier +und Schnaps gab, und wo man spielen konnte, war über drei Stunden +entfernt. +</p> + +<p> +„Daran sind die verfluchten Eier schuld, daß wir für nichts geschuftet +haben sollen!“ sagte Antonio am Abendfeuer, als wir unsre Lage überdachten. +</p> + +<p> +„Aber wir hätten sie doch nicht kaufen brauchen,“ warf ich ein, +„Abraham hat sie uns doch nicht aufgedrängt. Er hätte sie doch sammeln +und Sonntags zum Laden bringen können.“ +</p> + +<p> +„Da hätte er aber mehr Arbeit davon gehabt“, sagte Gonzalo. +</p> + +<p> +In dem Augenblick kam Abraham gerade von seinem abendlichen +Maiseinkauf zurück. Er warf den Sack auf die Erde und sagte: „Wovon +ist denn die Rede? Vielleicht etwa gar von den Eiern? Ich habe sie +doch ehrlich an euch abgeliefert, und frisch gelegt war jedes einzelne +auch, da kann ich doch auch wohl ehrlich mein Geld verlangen, nicht +wahr, fellers? That so?“ +</p> + +<p> +„Von Nichtbezahlen hat niemand gesprochen, wenn Sie nicht wissen, +wovon und worüber geredet worden ist, dann halten Sie lieber ihre +Gosche“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte Antonio, „die Rede ist davon, daß, wenn wir nicht den +Luxus mit den Eiern einstellen, wir hier die vielen Wochen umsonst +gearbeitet haben.“ +</p> + +<p> +„Luxus nennt ihr das?“ rief Abraham entrüstet aus. „Ja, wollt ihr denn +als Skelette ’rumlaufen, wenn die Ernte vorüber ist? Meinetwegen, ich +kann meine Eier auch anderswo verkaufen. Also, jetzt kassiere ich. +Antonio, Sie haben – –“ +</p> + +<p> +Das interessierte mich nun gar nicht, wieviel jeder hatte und was jeder +zu bezahlen haben mochte. Ich bezahlte meine Rechnung bei Abraham +und ging dann nach meiner Behausung schlafen. Als ich unterwegs war, +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +hörte ich, wie Charley und Abraham in Wortwechsel gerieten. Der +große Nigger behauptete, Abraham habe ihm drei Eier zuviel angerechnet. +Abraham bestritt es und drängte auf richtige Bezahlung. Nach +einer Weile Hin- und Herredens mußte Charley zugeben, daß er sich +geirrt habe, und daß Abraham im Recht sei. In diesen Dingen, die das +Geschäft unmittelbar betrafen, also Lieferung und Bezahlung, war +Abraham unbedingt ehrlich. +</p> + +<p> +Des Abends vor dem Einschlafen nahm ich mir vor, diese Woche einmal +ohne Eier auszukommen. +</p> + +<p> +Am Morgen, als ich zum Feuer ging, hörte ich Antonio schon rufen: +„Wo sind denn heute morgen die Eier, du rabenschwarzer Yank? Ich +will fünf haben.“ +</p> + +<p> +Abraham zählte seine Eier, die er in den Körben gesammelt hatte, mit +einem Ernst und mit einer Sorgfalt, als ob er sie wirklich zum ersten +Male in der Hand habe und nicht schon gestern abend genau gewußt +hätte, wieviel Eier die Hühner über Nacht legen würden. Er tat, als +habe er den Geschäftsauftrag Antonios nicht gehört. +</p> + +<p> +„Ja, Mensch, Nigger, hast du denn nicht gehört, fünf Eier will ich haben, +oder soll ich sie mir vielleicht selber nehmen?“ wütete jetzt Antonio. +</p> + +<p> +„Was denn!“ sagte Abraham ganz unschuldig. „Ich will euch doch nicht +meine Eier aufdrängen und euch den sauer verdienten Wochenlohn aus +der Tasche rauben. Spart das Geld lieber! Ihr könnt auch ganz gut ohne +Eier auskommen. Ihr seid ja die ersten Tage auch ohne Eier fertig geworden.“ +</p> + +<p> +Das war ein ganz neuer Ton, den wir von Abraham bisher nie vernommen +hatten. +</p> + +<p> +Wir empörten uns gegen eine solche Bevormundung unsrer Lebensweise +wie ein Mann. +</p> + +<p> +„Was fällt denn dir schwarzem Karnickel ein, mir vorzuschreiben, was +ich essen und was ich nicht essen soll, ob ich mein Geld spare, oder ob +ich es da in die Zisterne werfe, hä!“ mischte sich Gonzalo jetzt ein. +„Sofort gibst du mir sechs Eier, oder ich schlage dir deinen Wollschädel +in Scherben.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte Abraham resigniert, „da ihr es nicht anders haben wollt +und mir sogar mit Schlägen droht, will ich euch die Eier wie bisher +liefern.“ +</p> + +<p> +„Ja, was hast du dir denn gedacht?“ sagte Sam Woe ganz ruhig und +schulmeisterlich. „Erst verführst du uns, Eier zu essen, und wenn wir +dalan gewöhnt sind, willst du sie uns verweigern. Gib mir dlei Eier!“ +</p> + +<p> +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +Der Chinc hatte ein bestimmtes Gefühl bei mir ausgelöst: Jetzt auf einmal, +wo wir uns an die Eier, an die Bequemlichkeit ihrer Zubereitung, +an die Nachhaltigkeit ihres Nährstoffes und an ihre mühelose Beschaffung +so sehr gewöhnt hatten, sollten wir plötzlich einer Laune des +Niggers wegen darauf verzichten! Das war ja nicht anders, als wenn +wir aus dem Zeitalter der drahtlosen Abendunterhaltung in das der +Steinaxt zurückgeschleudert werden sollten. Gestern abend, den Magen +übervoll gefüllt mit einem dicken, prächtigen vollwertigen Eierpfannkuchen, +hatte ich allerdings den Entschluß gefaßt, diese Woche einmal +keine Eier zu beziehen. Aber am Morgen, als der Magen leer war wie ein +vertrockneter Autoreifen, hielt ich den Entschluß für kindisch. Warum +sollte ich mich denn kasteien und meinen mir lieben Körper qualvoll +peinigen beim Anblick der schönen frischen Eier, die bereits lustig in +den Pfannen der andern brutzelten? +</p> + +<p> +„Gib mir sechs!“ kommandierte ich Abraham. +</p> + +<p> +Freilich, als ich drei Spiegeleier gegessen und zwei zum Mitnehmen für +das Mittagessen gekocht hatte, fiel mich wieder die reuige Wehmut an. +Also es blieb bei den Eiern. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-9"> +8 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">uf</span> dem Nachhauseweg rief mich Mr. Shine an: +„Hören Sie, Mr. Gale, können Sie auf eine Viertelstunde +herein? Meine Frau hat einen guten Kuchen +gebacken, Sie können eine Tasse Kaffee mit uns +trinken.“ +</p> + +<p> +Dann, als wir bei Tische saßen, erzählte mir Mr. Shine, +wie er mit 260 Dollar, die er sich sauer erspart hatte, +hier angefangen habe, wie er mit eigner Hand die +Farm aus dem rohen Busch herausgearbeitet habe, wie die Straße, die +mehr als drei Stunden zur nächsten Ortschaft führt, bei seiner Ankunft +nur ein schmaler, verwachsener Weg war, gerade breit genug, um mit +dem Maultier durchzukommen, wie er auch diese Straße verbreitert +habe, so daß er sie jetzt mit eignem Ford befahren könne. +</p> + +<p> +„Vierundzwanzig Jahre harter, sehr harter Arbeit waren notwendig, +um etwas zu werden. Und wir Gringos hier, die wir dem Lande erst +Wert geben, sind trotzdem immer wie auf dem Sprunge, plötzlich +fliehen und alles verlassen zu müssen. Wir werden gehaßt wie der Tod, +weil man um die Freiheit und Unabhängigkeit, die den Leuten hier über +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +alles gilt, bangt.“ Er war nicht der erste Amerikaner, der mir diese Nöte +schilderte. +</p> + +<p> +„Manches Jahr ist sehr gut. Ich habe schon häufig vier Ernten im Jahr +an Mais gehabt. Das erreichen wir drüben in den States nicht. Aber dieses +Jahr ist schlecht. Die Baumwolle hat, was seit fünfzehn Jahren nicht +vorgekommen ist, Frost abbekommen; deshalb ist sie nur halb wie sie +sein soll. Und ich weiß auch gar nicht, was mit dem Hühnervolk los ist. +Wir haben nie so wenig Eier gehabt, wie in den letzten Wochen. Auch +Mr. Fringell und Mr. Shape klagen über ihre Hühner.“ +</p> + +<p> +Am Abend erzählte ich Abraham, was mir Mr. Shine über die Hühner +gesagt hatte. Aber mein Kamerad geriet nicht in die geringste Verlegenheit. +</p> + +<p> +„Na, da seht ihr es ja, fellers,“ sagte Abraham eifrig, „das sind die +richtigen amerikanischen Farmer wie drüben. Vor Geiz möchten sie am +liebsten ihre Fingernägel aufessen. Da gönnen sie den armen Hühnern +kaum eine Handvoll Mais. Wie können denn die Hühner richtig legen, +wenn sie nicht gut gefüttert werden? Da seht meine Hühner an! Ich +spare nicht mit dem Mais. Aber dafür geben die Tierchen auch etwas +her. Man muß sie nur gut und reichlich füttern und sachgemäß behandeln, +dann tun sie auch ihre Pflicht. Das hat mich meine gute Großmutter +Susanne gelehrt, und die war eine sehr kluge Frau, das könnt +ihr mir glauben, fellers. That’s a fact!“ +</p> + +<p> +Na, wir glaubten es ihm. Die Beweise lagen ja vor. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-10"> +9 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> selben Abend nach dem Essen setzte wieder die +Unterhaltung über die Frage ein, wieviel uns an Geld +übrigbliebe, wenn die Ernte vorüber sei. Diesmal +aber wurden weder die Eier noch Abraham, der +dabeisaß, in dem Gespräche erwähnt. +</p> + +<p> +An diesem Abend kamen wir alle einmütig zu dem +Ergebnis, daß wir ordentlich essen müßten, um uns +arbeitsfähig zu erhalten, daß wir eine bestimmte +Summe am Ende der Ernte übrighaben müßten, um nicht umsonst +gearbeitet zu haben oder wie Sklaven nur für das Essen, und daß also, +kurz und bündig, der Lohn zu niedrig sei. Wenn wir statt sechs acht +Centavos für das Kilogramm bekämen, könnten wir gerade zurechtkommen. +</p> + +<p> +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +Mit diesem Gedanken gingen wir schlafen. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen, sobald die andern Arbeiter auf das Feld gekommen +waren, gingen Antonio und Gonzalo gleich zu ihnen und erklärten ihnen, +daß wir die Absicht hätten, acht Centavos zu verlangen und zwei Centavos +Nachbezahlung für die bisher schon gepflückten Kilos. Diese +Leute, alle unabhängiger als wir, weil sie alle ihr Stückchen Land hatten, +waren ohne weiteres damit einverstanden. +</p> + +<p> +Nun gingen Antonio und Gonzalo sowie zwei von den andern Leuten +zur Wage und sagten Mr. Shine, was los sei. +</p> + +<p> +„Nein,“ antwortete Mr. Shine, „das bezahle ich nicht, ich bin doch nicht +verrückt! Das habe ich noch nie bezahlt! Das kommt ja gar nicht rein!“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte Antonio, „dann machen wir Schluß. Wir wandern dann +noch heute ab.“ +</p> + +<p> +Da mischte sich einer von den ansässigen Arbeitern ein: „Hören Sie, +Senjor, wir warten zwei Stunden. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie dann +noch Nein! sagen, satteln wir unsre Mulas. Wir wollen schon dafür +sorgen, daß Sie keine Leute kriegen.“ +</p> + +<p> +Damit war die ganze Konferenz erledigt. Die vier Abgesandten gingen +ins Feld zurück, berichteten die abschlägige Antwort, und alle Leute +verließen ihre Reihen, gingen zu den Bäumen und legten sich schlafen. +Als ich auch auf dem Wege zu den Bäumen war, rief Mr. Shine herüber: +„He, Mr. Gale! Kommen Sie auf einen Augenblick her!“ +</p> + +<p> +Ich ging hinüber. „Na,“ sagte ich gleich beim Näherkommen, „wenn Sie +etwa glauben, daß ich hier die Mittelsperson mache, dann sind Sie im +Irrtum, Mr. Shine. Wäre ich Farmer, stünde ich auf Ihrer Seite, und ich +ginge mit Ihnen durch dick und dünn. Da ich aber kein Farmer, sondern +Farm-Hand bin, stehe ich zu meinen Arbeitskollegen. Das verstehen +Sie doch?“ +</p> + +<p> +„Gar kein Zweifel, Mr. Gale,“ erwiderte er, „es ist auch gar nicht meine +Absicht, Sie herüberzuziehen; denn Sie allein könnten die Baumwolle +ja doch nicht hereinholen. Aber wir wollen das einmal in Ruhe überrechnen.“ +</p> + +<p> +Mr. Shine zündete sich eine Pfeife an und gab mir Tabak. Sein ältester +Sohn, der etwa sechsundzwanzig Jahre alt war, steckte sich eine Zigarre +an, und der zweite Sohn, der jüngste in der Familie, ungefähr zweiundzwanzig +Jahre alt, pellte ein Stück Kaugummi aus einem Stück verschweißtem +Papier heraus und schob es in den Mund. +</p> + +<p> +„Sie sind der einzige Weiße hier unter den Pflückern, und da ich Ihnen +ja schon acht bezahle, sind Sie eigentlich parteilos und können hier mitsprechen. +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +Sie haben doch nicht etwa den andern Burschen gesagt, daß +Sie acht bekommen?“ fügte Mr. Shine, die Pfeife aus dem Munde +nehmend, hinzu. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich, „dazu hatte ich nicht die geringste Ursache.“ +</p> + +<p> +Dick, der älteste Junge, kletterte in das Lastauto, lehnte sich gegen einen +Ballen Baumwolle und ließ die Beine über die Reling baumeln. +</p> + +<p> +Pet, der jüngere, setzte sich zum Steuerrad und druselte, unausgesetzt +seinen Gummi knatschend, vor sich hin. +</p> + +<p> +Der Alte lehnte sich gegen den Wagen und fummelte, unaufhörlich +fluchend, an seiner Pfeife herum, die bald ausging, bald verstopft war, +bald neuen Tabak brauchte, obgleich der Rest noch gar nicht ganz aufgebrannt +war. +</p> + +<p> +Die ganze Erregung, die den Farmer durchtobte, äußerte sich nur in der +Behandlung seiner Pfeife. +</p> + +<p> +Nachdem etwa fünf Minuten lang niemand etwas gesagt hatte, platzte +plötzlich Pet heraus: „Weißt du was, Daddy, ich an deiner Stelle würde +bezahlen, ohne viele Worte zu machen.“ +</p> + +<p> +„Ja, du,“ rief Mr. Shine wütend, „du würdest bezahlen. Es geht ja nicht +aus deiner Tasche, da ist das ‚Bezahlen würden‘ sehr leicht. Aber dann +ziehe ich dir’s von deinem Taschengelde ab.“ +</p> + +<p> +„Das wirst du nicht tun, Daddy, oder du mußt mir das Geld für die verkaufte +Baumwolle auch geben, sonst wäre es ungerecht.“ +</p> + +<p> +„Ha! Daß ich nicht platze vor Lachen. Das Geld für die verkaufte Baumwolle!? +Habe ich denn überhaupt schon für einen Dime verkauft? +Ich sage Ihnen, Mr. Gale, noch nicht einen blanken Tinker hat man mir +geboten. Und was für eine Baumwolle in diesem Jahr! Die weißeste +Schneeflocke von Alaska muß sich dagegen schämen. Und sehen Sie einmal +hier, Mr. Gale,“ dabei rupfte er eine Knolle, die dicht neben ihm +stand, ab und quetschte sie, sie mir dicht vor die Nase haltend, in seinen +Fingern, „die weichsten Daunen sind dagegen der purste Stacheldraht. +– Ja, Gosch, sagen Sie doch auch einmal ein Wort! Stehen Sie doch +nicht so da, als ob Sie die Sprache verloren hätten!“ +</p> + +<p> +„Aber ich bin doch unparteiisch“, sagte ich darauf. +</p> + +<p> +„Ja richtig, Sie sind unparteiisch. Aber Sie können doch wenigstens den +Mund mal aufmachen!“ +</p> + +<p> +Es kam ihm nur darauf an, jemand zu finden, dem er widersprechen +konnte. +</p> + +<p> +Da räkelte sich Dick ein wenig bequemer in seine Stellung ein und +sagte ganz langsam und bedächtig mit breit gezogenen Worten: +</p> + +<p> +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +„Da will ich dir mal was sagen, Dad –“ +</p> + +<p> +„Du? Ja du bist mir gerade der Rechte.“ +</p> + +<p> +„Dann eben nicht. Ich habe Zeit. Es ist ja nicht meine Baumwolle, es ist +ja deine.“ +</p> + +<p> +Und als Dick nun wieder in seine bulkige Schweigsamkeit zurückfiel, +sagte der Alte plötzlich ganz erbost: „Ja, verflucht noch mal, dann rede +doch schon! Oder soll ich hier vielleicht stehen, bis die ganze Baumwolle +verfault und verwurmt ist?“ +</p> + +<p> +„Siehst du, Dad, das meine ich gerade: verfault. Wenn die Leute gehen, +andre kriegen wir nicht. Und wenn wir die Leute herschippen lassen +von den Städten, müssen wir mehr Reisegeld bezahlen, als die Sache +wert ist.“ +</p> + +<p> +„Rede doch schon einen Strich schneller!“ +</p> + +<p> +„Aber ich muß mir doch erst ausdenken, was ich sagen will. Sieh mal, +Dad, einmal hat es schon geregnet. Und es sieht ganz so aus, als ob wir +eine sehr frühe Regenzeit kriegen oder eine volle Woche Stripregen. +Dann ist die ganze Baumwolle hinüber, dann ist sie in den Dreck gehauen, +und du kannst lange suchen, bis du einen findest, der dir anstatt +der Baumwolle den Sand abkauft. Je eher wir die Baumwolle ‚ginned‘ +und auf den Markt gebracht haben, desto besser ist der Preis. Wenn der +Markt erst mal voll ist, müssen wir froh sein, wenn wir sie mit zwanzig +oder fünfundzwanzig Centavos Verlust losschlagen, wenn wir sie dann +überhaupt unterbringen und sie uns nicht auf dem Halse liegen bleibt. Bis +jetzt sind wir sehr früh dran und sind mit die ersten auf dem Markt.“ +</p> + +<p> +„Verflucht noch mal, Junge, du hast verteufelt recht! Vor vier Jahren +habe ich sie mit dreißig Centavos das Kilo unter dem Anfangspreis verkaufen +müssen und habe noch dagestanden wie ein armseliger Bettler, +der um ein Stück Brot boomen muß. Aber ich bin doch nicht ganz und +gar wahnsinnig geworden, daß ich acht Centavos bezahle! Früher habe +ich sogar bloß drei, wenn sie schlecht stand, vier bezahlt. Nein, das ist +abgemacht, da lasse ich sie, by Gosh!, zehnmal lieber verfaulen und verschimmeln, +just wie sie dasteht, ehe ich nachgebe.“ +</p> + +<p> +Dabei schlug er mit der Hand nach einer Staude, als ob er mit dieser +einen Handbewegung das ganze Feld abrasieren wollte. +</p> + +<p> +Dann kam ihm in seinem Zorn ein andrer Gedanke: +</p> + +<p> +„Aber an der ganzen Geschichte sind bloß die Fremden schuld, die Auswärtigen. +Die hetzen uns hier die Leute auf. Die können nie den Rachen +vollkriegen. Unsre Leute hier herum sind immer zufrieden. Ja, Sie auch, +Mr. Gale, Sie sind auch einer von den Aufwieglern und von den Bolsches, +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +die alles auf den Kopf stellen und uns das Land wegnehmen und +das Bett unter dem Hintern fortziehen wollen. Bei mir kommt ihr aber +an die falsche Nummer. Das habe ich selber mitgemacht. Das kenne ich, +weiß, wie es gemacht wird. Aber wir haben keine I. W. W.<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> und alles +solchen Stoff gehabt.“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie mich meinen, Mr. Shine, tun Sie sich keinen Zwang an. +Nebenbei bemerkt, habe ich Ihnen gar keinen Grund gegeben, festzustellen, +ob ich ein Wobbly<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> bin oder nicht.“ +</p> + +<p> +„Mischen Sie sich doch nicht ’rein, von Ihnen ist ja gar nicht die Rede. +Ich habe Sie ja gar nicht gemeint. Aber bezahlen tu ich nicht, basta!“ +</p> + +<p> +„Na hör’ mal, Daddy“, sagte jetzt Pet, ohne sich seinem Vater zuzuwenden, +„in bezug auf die Fremden hat du unrecht, durchaus. Die sechs +Fremden schaffen mehr herein als die zwölf oder vierzehn Indianer. +Die tun doch überhaupt bloß etwas, weil sie sehen, wie die Fremden +arbeiten und was verdient werden kann. Wenn unsre Hiesigen einen +Peso machen, dann sind sie zufrieden und halten lieber fünf Stunden +Mittagschlaf, weil ihnen das wichtiger ist. Ohne die Fremden bekämen +wir die Baumwolle vor Weihnachten nicht herein, da wette ich mein +Leben darauf.“ +</p> + +<p> +„Aber ich bezahle keine acht, und damit Schluß!“ +</p> + +<p> +„Dann kann ich ja ankurbeln, und wir können heimfahren“, sagte Dick +trocken und kletterte gemächlich von dem Wagen herunter. +</p> + +<p> +Es waren noch lange keine zwei Stunden vergangen, aber die „Hiesigen“ +wurden jetzt beweglich. Sie fingen ihre Maultiere ein und begannen +aufzusatteln. +</p> + +<p> +Als einige der Peons schon soweit waren, aufzusitzen, sprangen Antonio +und Gonzalo plötzlich auf, warfen ihre großen Hüte hoch in die Luft +und begannen mit schrillen Stimmen zu singen: +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Es trägt der König meine Gabe,</p> + <p class="verse">Der Millionär, der Präsident –</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Die Leute hörten sofort auf, an ihren Tieren zu arbeiten, und standen +stille wie Soldaten nach einem Kommando. Sie hatten das Lied nie gehört, +fühlten jedoch sofort mit dem Instinkt des Mühseligen, daß es ihr +Lied sei, daß dieses Lied mit dem Streik, mit dem ersten Streik, den sie +erlebten, ebenso innig zusammenhing wie ein Kirchenchoral mit der +Religion. Sie wußten nicht, was I. W. W. war, was eine Organisation +bedeutet, was eine Klasse sei. Aber der Gesang hämmerte auf sie ein, +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +die Worte trafen den Atem ihres Daseins. Und das Lied schmiedete sie +zusammen zu einem ehernen Block. Das erste leise Bewußtsein der ungeheuren +Macht und Stärke der zu einem gemeinsamen Wollen vereinigten +Proleten erwachte in ihnen. +</p> + +<p> +Als der erste Refrain wiederholt wurde, sang bereits das ganze Feld. +Was vielleicht geschehen könnte, wenn der letzte Refrain begann, ohne +inzwischen die gewünschte Antwort erhalten zu haben, wußte ich. Ich +habe es erlebt. +</p> + +<p> +Der Gesang, so eintönig und so schlicht in seiner Melodie, aber so federnd +wie feinster Stahl in seinem klingenden Rhythmus, steckte mich an. Ich +konnte nicht anders, ich begann, das Lied mitzusummen. +</p> + +<p> +„Natürlich! Sie auch!“ sagte Mr. Shine, halb ironisch, halb selbstverständlich +zu mir. „Ich hab’s ja gewußt!“ +</p> + +<p> +Als der zweite Refrain erklang, wendeten sich die Leute, die bisher +zwanglos in einer losen Gruppe bei ihren Maultieren gestanden hatten, +alle wie ein Mann zu uns herüber, wodurch der Gesang herausfordernd +und persönlich wurde. +</p> + +<p> +Mr. Shine faßte nervös nach hinten und knöpfte die lederne Revolvertasche +auf, machte sie aber gleich wieder zu mit einer Geste der Verlegenheit, +die ebensogut auch eine der Scham oder gar der Wurschtigkeit +sein konnte. +</p> + +<p> +„Teufel noch mal,“ rief er dann, „that means business, die scheinen +Ernst zu machen.“ +</p> + +<p> +„Das machen sie,“ sagte Pet knatschend, „und wenn sie einmal fort sind, +haben wir unsre liebe Mühe und Not, sie wieder heranzuholen.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte Mr. Shine, „ich bezahle acht, aber erst von heute an. Was +bezahlt ist, bleibt bezahlt, da wird nichts nachgegeben. Mr. Gale, seien +Sie doch so gut, bitte, und rufen Sie die Leute heran!“ +</p> + +<p> +Ich lief ’rüber und brachte die ganze Horde zusammen. +</p> + +<p> +„Na, was ist?“ fragten die Leute, als sie nahe genug der Wage waren. +</p> + +<p> +„Also es ist abgemacht,“ sagte Mr. Shine halb erbost, halb von oben +herab, „ich zahle acht für das Kilo, aber –“ +</p> + +<p> +Antonio ließ ihn nicht ausreden: +</p> + +<p> +„Und für die schon gepflückten Kilos?“ +</p> + +<p> +„– zahle ich die zwei Centavos nach. Aber nun auch tüchtig ran an die +Arbeit, daß wir den ganzen Bettel noch trocken hereinkriegen.“ +</p> + +<p> +„Hurra für Mr. Shine!“ schrie Abraham. +</p> + +<p> +„Halt’s Maul, damned Nigger, du bist nicht gefragt!“ schrie der Farmer +wütend. +</p> + +<p> +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +„Aber was mache ich denn nun mit Ihnen, Mr. Gale?“ sagte er zu mir. +„Sie bekommen doch schon acht.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte ich, „da gehe ich halt leer aus, Mr. Shine.“ +</p> + +<p> +„Das sollen Sie nicht. Bei einem Mann kommt es mir auch nicht darauf +an. Und weil Sie Weißer sind, der einzige Weiße, Sie sollen zehn +haben.“ +</p> + +<p> +„Mit Nachzahlung?“ +</p> + +<p> +„Mit Nachzahlung! Ich bin ein fair businessman. Was stehen Sie denn +noch ’rum? Machen Sie, daß Sie an die Arbeit kommen! Wir haben, weiß +Gott, beinahe eine Stunde total verquatscht. Gerade um diese Stunde +kann uns der Regen zu früh kommen. Das ziehe ich euch beiden Rangen +ab, da könnt ihr Gift drauf nehmen“, so wandte er sich seinen Söhnen +zu, die gerade dabei waren, die Wage wieder aufzuhängen. +</p> + +<hr class="footnote"> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> I. W. W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale Arbeiter-Organisation. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Wobbly = Mitglied der I. W. W. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-11"> +10 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> lief der Trott nun weiter die nächsten zwei, drei +Wochen. Ohne besondere Ereignisse. Ein Tag wie der +andre. Rennen im Trab, Arbeit, Rennen, Essen kochen, +Schlafen, Rennen im Trab, Arbeit. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags, als ich vom Feld heimkam, ging +ich zu Mrs. Shine und fragte sie, ob sie mir ein Kilo +Speck verkaufen oder bis Sonntag leihen wolle, da +ich vergessen hätte, welchen mitbringen zu lassen. +</p> + +<p> +„Können Sie haben, Mr. Gale, gegen Bezahlung oder Rückgabe, ganz +wie Sie wollen.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte ich, „dann gegen Bezahlung. Mr. Shine kann es mir ja am +Samstag anrechnen.“ +</p> + +<p> +Während sie eben dabei war, den Speck abzuwiegen, kam Mr. Shine +von der Stadt zurück, wo er seine Post abgeholt und einige Bedarfsmittel +eingekauft hatte. +</p> + +<p> +„Da sind Sie ja gerade wie gerufen, Mr. Gale“, sagte er zu mir, als er +ins Zimmer trat. „Ich habe eine Neuigkeit für Sie.“ +</p> + +<p> +„Für mich? Woher soll die wohl kommen?“ +</p> + +<p> +„Direkt aus der Stadt. Im Store traf ich den Manager von Camp 97. +Er saß da und trank gerade eine Flasche Bier nach der andern. Er war +in großen Nöten. Da haben sie im Camp ein kleines Malheurchen gehabt. +Beim Auswechseln von Achter-Rohren gegen Zehner hat ein Rohr ausgeschlagen +und dem einen Driller den rechten Arm böse gequetscht, weil +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +einer von den Indianern wieder mal nicht aufgepaßt und rechtzeitig +zugepackt hat. Der Driller ist ein tüchtiger, erfahrener und verläßlicher +Bursche, den sie nicht gehen lassen wollen. Nun suchen sie einen guten +Ersatzmann für drei bis vier Wochen. So lange wird es wohl dauern, +bis der Mann wieder arbeiten kann. Aber sie sind jetzt gerade an einem +heiklen Punkt. Sie sind auf siebenhundert Fuß und sind auf Lehm, und +wenn sie jetzt keinen guten Driller bekommen, dann können sie vielleicht +eine Knickung in der Bohrung erleben. Na, und was das bedeutet, +was das für Scherereien, Zeitverlust und Kosten verursacht, das wissen +Sie ja selbst, Sie haben ja in den Fields gearbeitet. Das gibt allemal den +Sack für die Driller und Tooldresser, manchmal für das ganze Camp.“ +</p> + +<p> +„Weiß ich,“ erwiderte ich, „kann dem besten Mann passieren, wenn man +noch so sehr aufpaßt. Ein Stein, den der Satan gerade dort hingefeuert +hat, wo man ihn am allerwenigsten vermutet, kann zwanzigtausend +Dollar kosten.“ +</p> + +<p> +„Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <a id="corr-11"></a>Shine ein. „Nun ist der +Manager in Sorge, was er machen soll. Er hat schon eine Schicht selber +gearbeitet, aber auf die Dauer geht es nicht. Telegraphiert er nun zur +Kompagnie, dauert es immerhin drei bis vier Tage, bis er den Mann +hier hat. Und ob er einen Mann kriegt, wie er ihn braucht, weiß er auch +nicht. Denn ein tüchtiger Mann nimmt für drei Wochen nichts an, weil +er dadurch vielleicht eine andre Stellung, wo er sechs Monate in Sicherheit +hat, verpassen kann. Ich habe nun zu dem Manager gesagt: Well, +habe ich gesagt, Sie sind just der Mann, auf den ich gewartet habe, +Mr. Beales.“ +</p> + +<p> +„Aber ich weiß noch immer nicht, was ich eigentlich damit zu tun habe“, +sagte ich. +</p> + +<p> +„Ja warten Sie doch ab, Gale, was kommt. In drei, höchstens vier Tagen +haben wir die Baumwolle drin. Was wollen Sie denn dann machen?“ +</p> + +<p> +„Das weißt ich jetzt noch nicht. Ich lasse den Tag erst einmal herankommen. +Ich kann ebensogut nach Norden wie nach Süden, ebenso +leicht nach Ost wie nach West gehen. Eigentlich habe ich vor, nach Guatemala, +Costa Rica und Panama ’runter zu tippeln. Vielleicht nach +Kolumbien. Da soll allerhand Öl ausgemacht worden sein.“ +</p> + +<p> +„Top!“ sagte Mr. Shine. „Das habe ich auch gedacht, daß es Ihnen ganz +egal ist; und nach Guatemala und allen den übrigen Landschaften +kommen Sie immer noch rechtzeitig genug. Da habe ich nun zu dem +Manager gesagt: Well, habe ich gesagt, auf Sie habe ich gerade gewartet. +Ich habe da einen Fellow, einen Picker, einen weißen Mann, weiß im +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +Gesicht und weiß unter dem Brustlatz ebensogut, einen Burschen, der +Ihnen die verteufeltste Bohrung aus dem elendesten Dreck herausholt. +Man muß doch ein wenig trumpfen, Gale, wenn man was erreichen +will. Also, habe ich gesagt, Mr. Beales, ich schicke Ihnen den Mann +’runter. Na, was sagen Sie nun, Gale, Junge, hä? Das habe ich doch fein +gemacht. Da gehen Sie noch morgen früh ’runter zum Store. Der Storekeeper +kennt den Weg zum Camp und kann Ihnen Bescheid sagen. Um +fünf Uhr nachmittags sind Sie schon im Camp und können sich gleich +zum Essen hinsetzen.“ +</p> + +<p> +Das mit dem Essen war allerdings verführerisch. +</p> + +<p> +„Wenn Sie dann nicht mit der Arbeit zurechtkommen, ist der Verlust +auch nicht allzu groß. Einen Tag kriegen Sie auf alle Fälle ausbezahlt, +und außerdem haben Sie einen Tag wieder mal menschenwürdig gegessen“, +setzte Mr. Shine hinzu. +</p> + +<p> +Zu überlegen gab es da eigentlich nichts. Hier war noch für drei oder +vier Tage Arbeit, harte und schlechtbezahlte Arbeit. Im Ölfeld mußte +man zwar auch zwölf Stunden arbeiten, weil nur zwei Schichten waren, +aber man arbeitete wenigstens unter dem Derrick, wo die Sonne nicht +ganz so unmittelbar auf einen losbrennen konnte. Dazu hatte man +sterilisiertes Eiswasser, soviel man nur trinken wollte. Vor allen Dingen +aber hatte man, wie schon Mr. Shine richtig gesagt hatte, ein menschenwürdiges +Essen, mit Teller, Messer, Gabel, Eßlöffel, Teelöffel, Tasse +und Glas an einem Tisch, der zwar von einem Zimmermann ziemlich +roh gemacht war, aber es war doch ein Tisch und eine richtige Bank. +Man brauchte nicht aus der Pfanne von der Erde zu essen und sich beim +Essen von einer wackligen Kiste, auf der man saß, herunterzubücken. +Man brauchte nicht mit demselben Löffel, den man aus den fettigen +Bratkartoffeln zog, den Kaffee umzurühren. Das Brot, das man aß, war +weder zu Kohle verbrannt, noch war es klebrig wie Kleister. Die schwarzen +Bohnen, immer hart wie Kieselsteine, hörten auf, ein wichtiger Bestandteil +der Mahlzeiten zu sein. Man schlief nicht ohne jede Unterlage auf +einer Tafel Wellblech, sondern man schlief in gut ventilierten Baracken, +in sauberen Feldbetten, auf weicher Matratze und gut geborgen unter +einem schleierdünnen Moskitonetz. Man hatte jeden Tag ein Brausebad +und hatte ein W.-C. Daß es solche Dinge auf Erden gibt, hatte ich +ganz vergessen. Romantik ist schön, sehr schön! – von ferne gesehen. +Wenigstens in der Entfernung, gerechnet von einem bequemen Sitz im +Kino bis zur Silberwand. Auf dieser Silberwand sind die Helden des +Busches und des Urwaldes der Traum der Mädchen, und sie erregen +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +Ehescheidungsgedanken bei Frauen; in Wahrheit bohren sie sich beim +Essen in der Nase herum und schmieren dies und das an ihren Sitz oder +an die nächste erreichbare Tischplatte. Und das kann man gerade noch +erzählen. Würde man einiges mehr erzählen, noch nicht einmal alles und +noch nicht einmal das Schlimmste, so würde sich der bunte Schmetterling +in die widerwärtigste Raupe rückverwandeln. Aber trotz alledem, +Romantik ist auch im Ölfeld, das auf den ersten Blick so trostlos prosaisch +und so nüchtern aussieht wie eine Kohlenzeche in Herne. Man muß die +Romantik nur zu sehen und nur zu finden wissen. +</p> + +<p> +Bei meinem Abschied von den bisherigen Arbeitskollegen war mir nichts +so wichtig, als meine Eierrechnung bei Abraham auf den Cent genau +zu begleichen. Er wäre mir sonst in meinen Träumen erschienen und +nachgelaufen bis nach Paraguay, wenn ich ihm nur zehn Centavos +schuldig geblieben wäre. – +</p> + +<p> +Als ich zum Öl-Camp kam und mit dem Manager sprach, machte er +nicht im geringsten ein erstauntes Gesicht, seinen neuen Driller so in +Lumpen und Fetzen zu sehen, wie kein Mensch in Europa, selbst nicht +in Odessa herumlaufen könnte. Daran ist man hier gewöhnt. +</p> + +<p> +Die weißen Arbeiter, ebenfalls alle Gringos, waren froh, daß Dick, der +Driller, einen Ersatzmann hatte und das Camp also nicht zu verlassen +brauchte; denn er war ein beliebter und lustiger Bursche, der im Camp +war, seit der erste Pfeiler für das Derrick gestellt wurde. Sie fixten +mich auf, der eine brachte mir ein Hemd, der andre eine Hose, jener +Strümpfe, ein andrer Arbeitshandschuhe. Ja Handschuhe, denn ein +amerikanischer Arbeiter macht sich beim Arbeiten die Hände nicht +schmutziger, als unbedingt notwendig ist. Keiner von ihnen hatte irgendein +Handwerk gelernt, wie das in Europa üblich ist, aber jeder konnte +ein Auto fahren, Pannen beseitigen, Dampfmaschinen reparieren oder +Werkzeuge schmieden. Vielleicht nicht ganz so sauber und geschickt wie +ein englischer, deutscher oder französischer Arbeiter, aber was er +machte, war brauchbar, und darauf kam es ihm und denen, die ihn dafür +bezahlten, ja nur an. +</p> + +<p> +Als ich meine Schicht beendigt hatte, sagte Mr. Beales zu mir: „Sie +können bleiben, Junge, vollen Drillerlohn.“ – +</p> + +<p> +Dick war schneller hergestellt, als wir alle gedacht hatten, und so mußte +ich wieder gehen. Beim Abschied gab mir Dick zwanzig Dollar extra +aus seiner Tasche, für Reisegeld und daß ich mir einen guten Tag +machen sollte, wie er sagte. +</p> + +<p> +Als ich dann beim Manager meinen Lohn ausbezahlt bekam, sagte er: +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +„Hören Sie mal, Gale, können Sie nicht hier irgendwo eine Woche oder +so herumhängen?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ erwiderte ich, „das kann ich leicht. Ich gehe ’rauf zu Mr. Shine, +da kann ich gut für eine Weile hausen. Warum?“ +</p> + +<p> +„Auf einem unsrer Nachbarfelder da ist ein Bursche, der möchte auf +vierzehn Tage in Urlaub gehen, ’rauf in die States. Da können Sie für +die zwei Wochen als Ersatzmann eintreten. Anfang nächsten Monats.“ +</p> + +<p> +„Mache ich“, sagte ich. „Sie können ja im Store eine Mitteilung für mich +an Mr. Shine hinterlegen, wenn es soweit ist.“ +</p> + +<p> +„Gut, abgemacht!“ sagte Mr. Beales. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-12"> +11 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> wanderte also am nächsten Morgen wieder ’rauf zu +Mr. Shine und fragte ihn, ob ich in dem Unterstande, in dem +ich seinerzeit gehaust hätte, ein paar Tage wohnen dürfe. +</p> + +<p> +„Natürlich, Mr. Gale,“ sagte der Farmer, „solange Sie wollen.“ +Ich erklärte ihm, warum, und fragte ihn dann nach den +Leuten, mit denen ich da gewohnt hatte. +</p> + +<p> +„Ach,“ antwortete er, „der lange Nigger ist gleich den Tag +nach Ihnen gegangen, ich glaube ’rauf nach Florida. Das geht +mich nichts an. Der kleine Nigger, Abraham heißt er, scheint ein ganz +geriebener Schlingel zu sein.“ +</p> + +<p> +„Wieso?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Er hat mir da Hühner verkauft, gute Leghühner, wie er mir versicherte. +Er hatte sie bei Indianern für einen Peso das Stück gekauft, wie +ich inzwischen erfahren habe. Mir hat er anderthalb Pesos dafür abverlangt. +Ich habe sie ihm auch bezahlt dafür, denn die Hühner waren gut +genährt. Aber mit den guten Leghühnern hat er mich ’reingelegt, der +schwarze Teufel. Mit dem Legen ist nicht viel los bei ihnen. Aber na, +das Fleisch ist es ja wert.“ +</p> + +<p> +„Und was ist mit dem Chinc und den beiden Mexikanern?“ +</p> + +<p> +„Die sind am Montag sehr früh hier vorbeigekommen. Ich habe sie vom +Fenster aus gehen sehen. Soviel ich weiß, sind sie nach Pozos gegangen. +Diese Station ist nicht ganz so weit wie die, von der Ihr gekommen seid. +Der Weg ist auch besser, weil wir jetzt diese Station selbst benutzen, +während wir in frühern Jahren immer zu der andern gingen. Aber +Pozos liegt bequemer für uns, früher hatten wir nur keinen Weg. Seitdem +aber die Ölleute gekommen sind, haben die einen Weg geschaffen. +Ich empfehle Ihnen, wenn Sie wieder zurückgehen, auch diesen Weg, +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +da können Sie ab und zu schon einmal ein Auto antreffen, wo Sie +jumpen können. Nebenbei bemerkt, warum wollen Sie denn in dem +Unterstand hausen, Sie können doch in dem Hause wohnen.“ +</p> + +<p> +Ich lachte. „Nein, Mr. Shine, das Haus kenne ich zur Genüge. Ich betrete +es nicht mit einer Zehenspitze. Das ist die reine Moskito-Hölle.“ +</p> + +<p> +„Na, wie Sie wollen. Ich habe mit meiner Familie fünfzehn Jahre drin +gewohnt. Wir sind von den Moskitos nicht merklich geplagt worden. +Aber Sie können schon recht haben. Wenn so ein Haus lange nicht bewohnt +wird, nicht genügend Luft ’reinkommt, sammelt sich schon allerlei +von diesem Zeug an. Ich bin übrigens seit einem Vierteljahr nicht +oben gewesen, weiß gar nicht, wie es da herum augenblicklich aussieht. +Und wahrscheinlich komme ich im ganzen nächsten Vierteljahr auch +nicht ’rauf. Ich habe ja da oben nichts verloren. Ab und zu lasse ich mal +die Pferde und die Mulas ’rauftreiben, weil sie da herum genügend +Gras finden und ein Tränkepfuhl oben ist. Aber, wie gesagt, es ist mir +gleichgültig, wo Sie Ihre Wohnung aufmachen. Mich stören Sie nicht, +und Sonntags können Sie schon mal ’runterkommen und eine Tasse +Kaffee mit uns trinken und ein Stück Kuchen essen.“ +</p> + +<p> +Ich richtete mich oben in meinem Unterstande wieder ein. Mein Feuer +machte ich mir jetzt gleich vor dem Unterstand, weil dort in der Nähe +des Hauses, wo sonst unser gemeinschaftliches Feuer gewesen war, ja +doch keine Unterhaltung gepflogen werden konnte, denn es war ja +niemand da. +</p> + +<p> +Ich lebte nun in schönster Einsamkeit. Als einzige Gefährten hatte ich +nur Eidechsen, von denen zwei sich in drei Tagen so an mich gewöhnt +hatten, daß sie all ihre angeborene Scheuheit vergaßen und mir an und +auf meinen Füßen die Fliegen wegfingen, die dort nach Krümelchen von +meinen Mahlzeiten suchten. +</p> + +<p> +Tagsüber kroch ich in dem nahen Busch herum oder beobachtete die +Tiere bei ihren Handlungen oder las in den Zeitschriften, die ich vom +Camp mitgebracht hatte. +</p> + +<p> +In Wasser konnte ich schwelgen, so reichlich hatte ich es, weil es inzwischen +einige Male gut geregnet hatte und die Zisterne beim Hause +zu einem Drittel gefüllt war. Wir hatten ja derzeit die Auffänge in +Ordnung gebracht. +</p> + +<p> +Ich konnte mich waschen und mir sogar den Luxus leisten, mich zweimal +des Tages zu waschen. Kaffee kochte ich in Riesenmengen, teils um +mir die Zeit zu vertreiben, teils um so viel Vorrat in mich hineinzutrinken, +daß ich gut wieder einmal einen Tramp von einigen Tagen durch +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +wasserlosen Busch aushalten konnte. Da ich im Store tüchtig hatte einkaufen +können, denn Geld hatte ich jetzt reichlich, so lebte ich wirklich +einen guten Tag. Sorgenfrei, weder durstig noch hungrig, ein freier +Mann im freien tropischen Busch, Siesta haltend nach Belieben, und +herumstreifend, wo und wann und solange ich wollte. Es ging mir gut. +Und dieses Gefühl lebte ich auch voll bewußt. +</p> + +<p> +Die Zisterne, aus der ich mein Wasser holte, war dicht an dem alten +Hause. Und zu diesem Hause hatte ich jedesmal etwa zweihundertfünfzig +Schritte von meinem Unterstand aus zu gehen. +</p> + +<p> +Das Wasser holte und schöpfte ich mit einer von jenen Konservenbüchsen, +die zwanzig Liter Inhalt haben. Mit Konserven in kleinen +Büchsen gibt man sich hier nicht viel ab, höchstens wenn es sich um +schnell verderbliche Ware handelt. +</p> + +<p> +Das Haus, das man überall, nur nicht in Zentralamerika, eine ganz +elende Bretterbude nennen würde, kaum gut genug, um auf einem Bauplatz +als Lagerschuppen zu dienen, stand auf Pfählen. Die meisten +Häuser hier, besonders außerhalb der größeren Städte, werden auf +Pfählen errichtet. Stünden sie auf flacher Erde, wären sie vielleicht gar +noch unterkellert, so würden sie in der Regenzeit jeden Tag überflutet. +Das ist aber nicht der einzige Grund. Bei einem auf Pfählen ruhenden +Haus kann der Wind von allen Seiten unter dem Fußboden hin und her +fegen und so das Innere des Hauses kühl halten. Außerdem bekommt +ein Haus, das in dieser Art gebaut ist, nicht soviel unerwünschte Gäste, +wie Schlangen, Eidechsen, Skorpione, Spinnen, Grashopper, Grillen, +Milliarden von Ameisen und tausende andre unangenehme Überläufer +aus dem nahen Busch. Alle diese mehr oder weniger erfreulichen Bewohner +des tropischen Busches klettern natürlich auch an den Pfählen +hoch, können aber doch nicht in solchen Mengen und so leicht ins Haus +gelangen, wie wenn das Haus auf ebener Erde errichtet wäre. +</p> + +<p> +Alle die Gründe, die den Menschen hier veranlassen, sein Haus in dieser +Form zu erbauen, sind die gleichen geblieben, die unsre Urvorväter +zwangen, sich eine Behausung in den Wipfeln der Bäume zu bauen. +</p> + +<p> +Ein Holzhaus, so errichtet, erzittert und schwankt oft beim Sturm so, +daß man glauben könnte, es sei in der Tat auf einem Baume errichtet. +Die Indianer freilich haben ihre Hütten zu ebener Erde. So zu ebener +Erde war ja auch mein Unterstand, wo das Busch-Getier aus und ein +ging, als wäre es sein gutes Recht. +</p> + +<p> +An jeder Seite des Hauses war eine Tür, um Licht und Wind hineinzulassen. +Beim Verlassen des Hauses hatten meine damaligen Arbeitskollegen +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +die Türen geschlossen, wie üblich mit einem drehbaren Stückchen +Holz. Damals war immer Leben im Hause und vor dem Hause, +Streit um das Feuer, Zank wegen einer Prise Salz, die jemand genommen +hatte, ohne den Besitzer zu fragen, lange und fruchtlose Diskussionen +darüber, wer das Holz heute zu holen habe. An diese lebhaften +Bilder zurückdenkend, erschien jetzt das Haus geisterhaft einsam und +still. Jedesmal, wenn ich Wasser holte, quälte es mich, doch mal einen +Blick hineinzuwerfen, ob jemand etwas zurückgelassen habe. Aber +dann wieder gefiel mir diese gespensterhafte Stille, die über dem Hause +lagerte. Sie fügte sich zu der Einsamkeit der Umgebung nicht weniger +als zu der Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der ich augenblicklich +lebte. So unterdrückte ich jedesmal, wenn ich an das Haus kam, den +Wunsch, eine Tür aufzumachen und hineinzulugen. Ich wußte genau, +die Hütte war leer, vollkommen leer, niemand hatte etwas, sei es auch +nur der Fetzen eines alten Hemdes, zurückgelassen, denn bei uns hatte +alles seinen Wert. Die Ungewißheit, die mysteriöse Stimmung, die um +das Haus lagerte, wollte ich mir nicht zerstören. So, wie es wirkte, +mochte ich träumen, daß vielleicht der Geist eines der alten aztekischen +Priester, der wegen der Dutzende von Menschen, die er auf dem Altar +seines Gottes geschlachtet und ihnen das Herz aus dem lebendigen +Leibe gerissen hatte, um es seinem unersättlichen Gotte vor die goldenen +Füße zu werfen, nun keine Ruhe finden konnte und deshalb aus dem +Busch in das gefeite Haus eines Christen geflüchtet sei, um wenigstens +ein paar Wochen von seinem rastlosen Herumirren auszuruhen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-13"> +12 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">ines</span> Tages, als ich wieder Wasser holte, sah ich eine +schwarzblaue Spinne mit glänzend grünem Kopf, +die an der Wand des Hauses nach Beute jagte. Sie +lief blitzschnell ein paar Zoll weit, saß still, lauerte +eine Weile und lief dann wieder ein ganz kurzes +Streckchen, um wieder zu lauern. So überholte sie +einen Meter eines Brettes im Zickzackkurs, kein +Fleckchen auslassend, dabei oft, nicht immer, einen +ganz feinen Faden zurücklassend, um Insekten, die an dem Brette +hinaufklettern würden, nicht gerade festzuhalten und zu verstricken, +sondern deren Lauf nur zu verlangsamen, damit die Spinne, wenn sie +inzwischen das Nachbarbrett abgesucht hatte und hier wieder zurückkam, +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +ihre Beute mit einem mächtigen Satz anspringen konnte. Diese +Spinne nimmt ihre Beute nur im Sprunge, wobei sie das Insekt von +hinten anspringt und sofort im Nacken packt, so daß dieses Insekt von +seinen Waffen, seien es nun ein Stachel oder Zangen oder Scheren, gar +keinen Gebrauch machen kann. +</p> + +<p> +Diese Spinne nun, die zu beobachten ich Tage und Wochen in den +häufigen Perioden von Arbeitslosigkeit verwandt hatte, war es, die sofort +wieder meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich wollte ihr Gesichtsfeld +prüfen und lernen, wie sie sich verhält, wenn sie selbst angegriffen und +verfolgt wird. Ich stellte meine Konservenbüchse mit Wasser auf den +Boden und vergaß, daß ich mir doch meinen Reis kochen wollte. +</p> + +<p> +Ich bewegte meine Hand in ziemlicher Entfernung über der Spinne hin +und her, und sofort reagierte sie darauf. Sie wurde unruhig, ihre Zickzackläufe +wurden unregelmäßig, und sie suchte diesem großen Etwas, +das ein Vogel sein mochte, zu entwischen. Aber die glatte Wand bot +keinen Schlupfwinkel. Sie wartete eine Weile, duckte sich ganz langsam +und behutsam und machte plötzlich, ganz unerwartet, einen Sprung +in halber Armeslänge auf eines der benachbarten Bretter, natürlich an +senkrechter Wand. Und so sicher war der Sprung, als wäre er auf ebener +Erde vollführt. Dieses Brett nun hatte eine Leiste, die gespalten war +und sich auch ein wenig verzogen hatte, so daß sie einen Unterschlupf +bieten konnte. +</p> + +<p> +Jedoch ich ließ der Spinne keine Zeit, sich den besten Platz auszusuchen. +Ich nahm einen dünnen Zweig auf, der gerade zu meinen Füßen lag, und +berührte damit die Spinne leicht, sie so zwingend, einen andern Weg +zu wählen. Sie lief nun in rasender Schnelligkeit davon, aber wohin sie +auch fliehen mochte, immer fand sie den angreifenden Zweig, entweder +ihren Kopf berührend oder ihren Rücken. So lief sie kreuz und quer, +immer verfolgt von dem Zweig, der ihr keine Gelegenheit ließ, zu einem +Sprunge anzusetzen. Plötzlich aber, als ich sie gerade im Rücken berührte, +machte sie blitzschnell kehrt, und in rasender Wut und mit unvergleichlicher +Tapferkeit griff sie den sie belästigenden Zweig an, der +gegenüber ihren bescheidenen Ausmaßen, etwa vier Zentimeter, für sie +gigantische Formen und übernatürliche Kräfte haben mußte. Und +immer, wenn ich den Zweig zurückzog, so daß sie glauben mußte, sie +habe den Feind abgeschlagen oder wenigstens eingeschüchtert, lief sie +auf die schützende Leiste zu. Schließlich besiegte sie mich doch und fand +dort Unterschlupf, aber nicht genügend, um sich ganz zu verbergen, +denn sie konnte sich nur zur Hälfte darin verkriechen. +</p> + +<p> +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +Nun schlug ich mit der flachen Hand an die Wand. Die Spinne kam sofort +wieder hervor, lief eilends weiter nach oben, wo sie eine günstigere +Höhle fand, in der sie sofort verschwand, ohne daß man noch viel von +ihr sehen konnte. +</p> + +<p> +Um sie nun auch dort wieder hinauszujagen und zu sehen, was sie +zu guter Letzt tun würde, schlug ich mit voller Gewalt mit der flachen +Hand so fest gegen die Wand, daß das ganze Haus erzitterte. +</p> + +<p> +Die Spinne kam nicht hervor. Ich wartete einige Sekunden. Und als +ich gerade zum zweiten Male kräftig gegen die Wand schlagen will, +fällt innerhalb des Hauses etwas um. +</p> + +<p> +Was konnte das sein? Ich kannte das Innere des Hauses. Es war nichts, +absolut gar nichts darin, was mit so einem merkwürdigen Geräusch umfallen +konnte. Eine Stange, ein Stück Holz, das einzige, was es vielleicht +hätte sein können, war es nicht, nach dem Geräusch zu urteilen. Es war +schon eher wie ein mit Mais gefüllter Sack. Aber wenn ich mir das +Geräusch vergegenwärtigte, so war etwas sonderbar Hartes dabei. Es +konnte also kein Sack mit Mais sein. +</p> + +<p> +Es wäre nun doch so einfach gewesen, sofort die paar Sprossen der +Leiter hinaufzuklettern, die Tür aufzustoßen und hineinzusehen. Aber +irgendein unerklärbares Empfinden hielt mich davon ab. Es war wie +Furcht, als könnte ich drinnen etwas unsagbar Grauenhaftes sehen. +</p> + +<p> +Ich nahm das Wasser auf und ging zu meinem Unterstand. Ich redete +mir ein, daß es nicht Furcht vor dem Anblick von etwas ganz Gräßlichem +sei, was mich veranlaßte, das Haus nicht zu betreten, sondern +ich sagte mir: Du hast ja in dem Hause durchaus nichts zu suchen, du +hast überhaupt gar kein Recht, es zu betreten, und vor allen Dingen, es +geht dich ja gar nichts an, was da drin ist. So entschuldigte ich mein +Gebaren. +</p> + +<p> +Als ich dann aber beim Feuer saß und darüber immer wieder nachdachte, +was für ein Gegenstand das Geräusch verursacht haben könnte, +kam mir plötzlich ein seltsamer Gedanke: In dem Hause hat sich +jemand erhängt, und zwar schon vor einiger Zeit; die Schnur ist morsch +geworden oder der Hals durchgefault, und nun beim Schlagen an die +Wand ist der Körper erschüttert worden, die Schnur gerissen und der +Leichnam umgefallen. So ähnlich war auch das Geräusch, als ob ein +menschlicher Körper umfiele und der Kopf auf den Boden schlüge. +</p> + +<p> +Aber diese Idee war ja lächerlich. Sie schien zu zeigen, wohin die Phantasie +einen führt, wenn man sich nicht von der Tatsache überzeugt. So +verwandelt sich ein Baumstamm in der Dunkelheit in einen Räuber, +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +der auf der Lauer steht. In den Tropen erhängt sich so leicht niemand, +ich wenigstens habe nie davon gehört. Hier sind die Tage nicht trübe +genug dazu. Und wenn es wirklich einer täte, so würde er in den Busch +gehen, wo man drei Tage später bestenfalls nur noch an der Schnalle +seines Gürtels erkennen würde, daß es sich um einen Mann handelt. +</p> + +<p> +Sooft ich auch noch Wasser holte, ich ging nicht in das Haus und vermied +es sogar, irgendeine Spalte zu suchen und durchzulugen. Das Unbestimmte, +das Geheimnisvolle sagte mir mehr zu als eine vielleicht +sehr prosaische Gewißheit. +</p> + +<p> +Jedoch abends, wenn ich am Feuer saß oder wenn ich nachts wach lag, +beschäftigten sich meine Gedanken mit nichts anderm als mit der Frage, +was in dem Hause wohl sein könne. +</p> + +<p> +Am Freitag ging ich zu Mr. Shine und fragte ihn, ob er irgendwelchen +Bescheid vom Manager habe. Aber Mr. Shine war die ganze Woche +nicht im Store unten gewesen und würde auch die nächste Woche nicht +hinunter kommen. Weil nun Montag der letzte Termin war, der für +den Urlaubsantritt jenes Drillers, für den ich Ersatzmann sein sollte, +in Betracht kam, so beschloß ich, Samstag früh, reisefertig mit meinem +Bündel, selbst zum Store zu gehen und nachzufragen. War Bescheid da, +dann konnte ich Sonntag mittag, also rechtzeitig genug, im Camp sein. +War kein Bescheid da, so wußte ich, daß der Driller entweder nicht in +Urlaub ging oder daß er die Sache anders zu regeln gedachte. In diesem +Falle würde ich gleich zur Station gehen und meinen Plan, nach Guatemala +zu wandern, ohne weiteres durchführen. +</p> + +<p> +Samstag früh holte ich mir Wasser für den Kaffee. Als ich mit dem +Wasser an dem Hause schon ein Stück vorüber war, dachte ich, nun will +ich aber doch noch zu guter Letzt nachsehen, was da drin los ist, denn +wenn ich das nicht tu, so kann es sein, daß mich der Gedanke an das +Haus die nächsten fünf bis sechs Monate nicht los läßt. Es konnte ja die +bekannte Gelegenheit sein, die, einmal verpaßt, nie im Leben wiederkehrt. +</p> + +<p> +Ich kletterte die paar Sprossen der Leiter hinauf, stieß die Tür, die hier +nur eingeklemmt war, auf und ging in den Raum, den einzigen Raum, +den das Haus hatte. +</p> + +<p> +An der Wand zur Rechten sah ich etwas liegen, ein großes Bündel. Ich +konnte aber nicht sofort erkennen, was es sein mochte, denn die Sonne +war noch vor dem Aufgehen. +</p> + +<p> +Ich trat näher hinzu: Es war ein Mann. Tot! +</p> + +<p> +Es war Gonzalo. +</p> + +<p> +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +Gonzalo war getötet worden. +</p> + +<p> +Ermordet! +</p> + +<p> +Sein zerfetztes Hemd war schwarz von Blut. Ein Ball Baumwolle, den +er zerknüllt in der rechten Hand hielt, war gleichfalls vollgesogen von +Blut. +</p> + +<p> +Er hatte einen Stich in der Lunge und noch einige Stiche auf der Brust, +an der rechten Schulter und am linken Oberarm. +</p> + +<p> +Der Körper war nicht verwest, sondern vertrocknet. +</p> + +<p> +Er hatte auf dem Boden gesessen, gegen die Wand gelehnt, und als ich +gegen die Wand geschlagen hatte, war der Körper auf die Seite gefallen, +und der Kopf war auf den Erdboden geschlagen. +</p> + +<p> +Ich suchte seine Taschen durch. Er hatte fünf Pesos und 85 Centavos +darin. Er hätte haben müssen: wenigstens fünfundzwanzig bis dreißig +Pesos. +</p> + +<p> +Also des Geldes wegen. +</p> + +<p> +Dann hatte er noch ein kleines Leinensäckchen mit Tabak neben sich +liegen, auch einige geschnittene Maisblätter lagen verstreut herum. +</p> + +<p> +Während er sich eine Zigarette drehen wollte, war er überfallen worden, +an derselben Stelle, wo er sich jetzt befand. +</p> + +<p> +Der Chinc und Antonio waren die letzten, die das Haus verlassen +hatten. Der Chinc war nicht der Mörder. Wegen zwanzig Pesos jemand +auch nur zu berühren, dazu war er viel zu klug. Diese zwanzig Pesos +waren zu teuer für ihn. +</p> + +<p> +Also Antonio. +</p> + +<p> +Das hätte ich von ihm nie gedacht. +</p> + +<p> +Ich steckte Gonzalo das Geld wieder in die Tasche, ließ ihn jedoch +liegen wie er lag. +</p> + +<p> +Dann klemmte ich die Tür wieder ein, wie ich sie gefunden hatte, und +verließ das Haus. +</p> + +<p> +Kaffee kochte ich nun nicht mehr, sondern ich machte mich sofort auf +den Weg. +</p> + +<p> +Ich ging zu Mr. Shine und sagte ihm, daß ich nun selber zum Camp +gehen wolle und, falls nichts los sei, gleich weiter marschieren werde. +</p> + +<p> +„Haben Sie sich da oben in Ihrem luftigen Wohnhause nicht einsam +gefühlt, Mr. Gale?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte ich, „ich habe immer so viel zu sehen und so viel zu +beobachten, daß der Tag herum ist, ehe ich es merke.“ +</p> + +<p> +„Ich dachte, Sie würden vielleicht doch in das Haus übersiedeln, weil es +eben ein Haus ist.“ +</p> + +<p> +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +„Daran war nicht zu denken. Ich sagte Ihnen ja schon, als ich zurückkam, +daß es darin vor Moskitos nicht auszuhalten sei.“ +</p> + +<p> +„Um die Jahreswende wollen meine beiden Neffen auf Besuch kommen +und hier ein wenig herumstreifen und jagen. Die stecke ich dann da +hinein, da können sie hausen nach Belieben. Die werden die Moskitos +schon ausräuchern. Na, dann also ‚Viel Glück!‘ Mr. Gale, für Ihre +Zukunft.“ +</p> + +<p> +Wir schüttelten uns die Hände, und ich ging. +</p> + +<p> +Warum hätte ich denn etwas sagen sollen? Daß ich der Mörder sein +könnte, diesen Gedanken würde niemand haben; denn ich war ja vor +allen den übrigen Leuten fortgegangen und hatte die ganze Zeit im +Camp gearbeitet. +</p> + +<p> +Und hätte ich etwas von meinem Fund gesagt, so hätte das eine Unmenge +Fragen verursacht, Hin- und Herlaufen und wer weiß was noch. +Dabei wäre ich gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Camp gekommen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-14"> +13 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">achdem</span> der Driller von seinem Urlaub zurückgekehrt +war, wurde ich ausbezahlt und fuhr mit +einem Lastwagen, der Öl zu holen hatte, zur Station, +von der ich nach Dolores Hidalgo reiste. Von dort aus +fuhr ich ohne viel Aufenthalt glatt durch bis zur +nächsten größeren Stadt, so daß ich schon in wenigen +Tagen in Guatemala sein konnte, vorausgesetzt, daß +ich meinen Plan nicht wieder einmal änderte. +</p> + +<p> +In der Stadt wollte ich erst einmal herumhören, was im Süden los sei, +was hinter den Gerüchten von den neuen Ölfeldern und den Arbeitsmöglichkeiten +überhaupt zu suchen sei, und ob ich nicht besser vielleicht +einen windigen Segelkasten ergattern und auf Argentinien los gehen +sollte. Aber von dort kamen mir auch wieder zu viele herauf, die wahre +Schauergeschichten von der furchtbaren Epidemie Arbeitslosigkeit berichteten. +Achtzigtausend lagen in Buenos Aires auf der Straße und +suchten eine Gelegenheit, fortzukommen. Aber schlimmer als in Mexiko +konnte es ja dort auf keinen Fall sein. +</p> + +<p> +Ich setzte mich auf eine Bank im Park. Ich ließ mir die Stiefel putzen, +trank ein Glas Eiswasser, und als ich mich von diesen Beschäftigungen +gerade so recht ungestört, zufrieden mit mir und der Welt, ausruhen will, +sehe ich, daß auf der Bank, der meinen gegenüber, ein Bekannter sitzt. +</p> + +<p> +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +Es ist Antonio. +</p> + +<p> +Ich gehe ’rüber zu ihm und sage: „Hallo, Antonio, guten Tag, was +machen Sie denn hier?“ +</p> + +<p> +Wir gaben uns die Hand. Er war sehr erfreut, mich zu sehen. Ich setzte +mich neben ihn und sagte ihm, daß ich auf der Suche nach Arbeit sei. +</p> + +<p> +„Das ist gut“, sagte er. „Ich arbeite seit zwei Wochen in einer Bäckerei, +Brot- und Kuchenbäckerei. Da können Sie gleich heute anfangen als +Bäcker. Wir suchen gerade einen Gehilfen. Sie haben doch schon als +Bäcker gearbeitet, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Nein,“ erwiderte ich, „ich habe zwar schon in hundert verschiedenen +Berufen gearbeitet, sogar schon als Kameltreiber – und das ist eine +gottverfluchte Beschäftigung –, aber bis zu einem Bäcker habe ich es +noch nicht gebracht.“ +</p> + +<p> +„Das ist ausgezeichnet, dann können Sie anfangen,“ sagte Antonio +darauf. „Wenn Sie nämlich Bäcker wirklich wären oder etwas vom +Backen verstünden, dann wäre nichts zu machen. Der Inhaber ist ein +Franzose, er hat keine Ahnung vom Backen; wenn Sie ihm erzählen, in +ein Brot gehöre Pfeffer hinein, das glaubt er Ihnen. Der wird Sie natürlich +fragen, ob Sie Bäcker seien. Da müssen Sie ganz dreist sagen, das +sei Ihr Beruf, seitdem Sie nicht mehr in die Schule gingen. Der Meister +ist ein Däne, ein entlaufener Schiffskoch. Er versteht auch nichts vom +Backen. Seine größte Sorge ist nun, daß ein richtiger Bäcker dort anfangen +könnte, einer, der das Backen wirklich versteht. Dann wäre es +natürlich mit der Meisterherrlichkeit des Dänen gleich aus, denn ein +richtiger Bäcker würde doch nach zehn Minuten sehen, was los ist. Wenn +Sie nun der Meister fragt, müssen Sie gerade das Gegenteil sagen von +dem, was Sie zu dem Inhaber sagen. Zum Meister müssen Sie sagen, es +sei das erstemal in Ihrem Leben, daß Sie in einer Backstube stehen. +Dann nimmt er Sie sofort an, und Sie sind sein Freund.“ +</p> + +<p> +„Das kann ich ja gut machen. Als Bäcker wollte ich schon immer mal +arbeiten,“ sagte ich, „man kann dann, wenn man mal in der Verlegenheit +ist, die Bäcker alle so schön mitnehmen und stoßen. Dann hört die +Sorge um das tägliche Brot auf, und man hält es leichter aus. Also, wird +gemacht. Was ist denn der Lohn?“ +</p> + +<p> +„Ein Peso und fünfundzwanzig Centavos.“ +</p> + +<p> +„Nackt?“ +</p> + +<p> +„Ach wo, mit Essen und Schlafen. Seife haben wir auch frei. Sie +kommen weiter damit als beim Baumwollpflücken, das kann ich Ihnen +ganz gewiß sagen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +„Wie ist denn das Essen? Gut?“ +</p> + +<p> +„Ach, es ist nicht gerade schlecht, es ist –“ +</p> + +<p> +„Weiß schon Bescheid.“ +</p> + +<p> +„Aber man wird immer satt.“ +</p> + +<p> +„Kenne die Magenkneter zur Genüge.“ +</p> + +<p> +Antonio lachte und nickte. Er drehte sich eine Zigarette, bot mir Tabak +und Maisblatt an und sagte nach einer Weile: „Unter uns gesagt, das +mit dem Essen ist auszuhalten. Hier wird in den Bäckereien und +Konditoreien mit Eiern und Zucker gewirtschaftet, daß es eine wahre +Freude ist. Na und sehen Sie, da kommt es auf so ein Dutzend Eier auf +den Mann nicht an. Da sind rasch drei Eier in die Tasse geschlagen, mit +Zucker verrührt, und da hilft man der Kost nach. Das macht man in der +Nacht und am Vormittag so vier- oder fünfmal, dann können Sie schon +gut zurechtkommen.“ +</p> + +<p> +„Wie lange arbeitet ihr denn?“ +</p> + +<p> +„Das ist verschieden, manchmal fangen wir schon um zehn Uhr abends +an und arbeiten dann durch bis eins, zwei oder drei Uhr nachmittags. +Manchmal wird es auch fünf.“ +</p> + +<p> +„Das wären dann also fünfzehn bis neunzehn Stunden täglich?“ +</p> + +<p> +„So ungefähr. Aber nicht immer, manchmal, besonders Dienstags und +Donnerstags, fangen wir auch erst um zwölf an.“ +</p> + +<p> +„Verlockend ist es ja nun gerade nicht“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Aber man kann ja so lange dort arbeiten, bis man etwas Besseres +findet.“ +</p> + +<p> +„Natürlich! Wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, würde man +ja auch Zeit finden, sich nach andrer Arbeit umsehen zu können. Aber +so! Immerhin, ich werde anfangen.“ +</p> + +<p> +Der Gedanke, daß ich von nun an mit einem Raubmörder Tag und +Nacht zusammenarbeiten, mit ihm aus derselben Schüssel essen, mit +ihm vielleicht gar im selben Bett schlafen sollte, der Gedanke kam mir +gar nicht. Entweder war ich moralisch schon so tief gesunken, daß ich +für solche Feinheiten der Zivilisation das Empfinden verloren hatte, +oder aber ich war so weit über meine Zeit hinausgewachsen und über +die herrschende Sitte erhaben, daß ich jede menschliche Handlung verstand, +daß ich mir weder das Recht anmaßte, jemand zu verurteilen, +noch mir die billige Sentimentalität einflößte, jemand zu bemitleiden. +Denn Mitleid ist auch eine Verurteilung, wenn auch eine uneingestandene, +wenn auch eine unbewußte. Und vielleicht ein Gefühl des Schauderns +vor Antonio, Abscheu, seine Hand zu schütteln? Es laufen so viele +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +Raubmörder herum, wirkliche und moralische, mit Brillanten an den +Fingern und einer dicken Perle in der Halsbinde oder goldenen Sternen +auf den Achseln, denen jeder Ehrenmann die Hand drückt und sich +dabei noch geehrt fühlt. Jede Klasse hat ihre Raubmörder. Die der +meinen werden gehenkt; diejenigen, die nicht meiner Klasse angehören, +werden bei Mr. Präsident zum Ball eingeladen und dürfen auf die +Sittenlosigkeit und Roheit, die in meiner Klasse herrscht, schimpfen. +</p> + +<p> +Zu solchen Gedanken verwildert man und sinkt man hinab in den +Morast und zwischen den Abschaum der Menschheit, wenn man um +Brotrinden kämpfen muß. +</p> + +<p> +Aber aus diesem Strudel törichter und verrückter Gedanken, die mir +das Blut zu Kopfe jagten, riß mich plötzlich Antonio mit der Frage: +</p> + +<p> +„Wissen Sie, Gale, wer noch hier in der Stadt ist?“ +</p> + +<p> +„Nein! Wie kann ich das auch wissen, ich bin ja gestern abend erst +angekommen.“ +</p> + +<p> +„Sam Woe, der Chinese.“ +</p> + +<p> +„Was tut denn der hier? Hat der hier auch Arbeit gefunden?“ +</p> + +<p> +„Aber nein! Er hat uns doch damals schon immer erzählt von seiner +Speisewirtschaft, die er aufmachen wollte.“ +</p> + +<p> +„Und hat er eine aufgemacht?“ +</p> + +<p> +„Natürlich! Das können Sie sich doch denken. Was sich so ein Chinc +einmal vornimmt, das tut er auch. Er hat das Geschäft mit einem Landsmann +in Kompanie.“ +</p> + +<p> +„Ja, lieber Antonio, wir haben halt nicht die geschäftliche Ader, die zu +solchen Dingen notwendig ist. Ich glaube sicher, wenn ich ein solches +Geschäft gründete, würden sofort alle Leute ohne Magen geboren, nur +damit ich ja nicht etwa auf einen grünen Zweig komme.“ +</p> + +<p> +„Das kann schon möglich sein“, lachte Antonio. „Geht mir gerade +ebenso. Ich habe schon einen Zigarettenstand gehabt, schon einen +Zuckerwarentisch, habe schon Eiswasser herumgeschleppt und wer weiß +was nicht sonst noch alles versucht. Mir hat selten jemand etwas abgekauft. +Ich habe immer elendiglich Pleite gemacht.“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, die Ursache ist eben,“ erwiderte ich, „wir können die Leute +nicht genügend anschwindeln. Und schwindeln muß man können, wenn +man Geschäfte machen will. Aber gründlich.“ +</p> + +<p> +„Wir könnten eigentlich mal hingehen zu Sam. Der wird sich auch +freuen, Sie zu sehen. Ich esse ab und zu ganz gern mal draußen +irgendwo. Zur Abwechslung, sehen Sie. Jeden Tag denselben langweiligen +Fraß, das wird einem auch über.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-15"> +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +14 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> machten uns also auf den Weg in das Gelbe +Viertel, wo die Chinesen alle wohnten, wo sie ihre +Geschäfte und ihre Restaurants haben. Nur wenige +hatten ihre Läden in andern Stadtvierteln. Sie hocken +am liebsten immer zusammen. +</p> + +<p> +Sam war wirklich hoch erfreut, mich zu sehen. Er +drückte mir immer wieder die Hand, lachte und +schwatzte drauflos, lud uns zum Niedersetzen ein, +und wir bestellten unser Essen. +</p> + +<p> +Die chinesischen Speisewirtschaften sind alle über einen Kamm geschoren. +Einfache viereckige Holztische, manchmal nur drei, an jedem +Tisch drei oder vier Stühle. Wegen der Menge der Speisen, die man +erhält, können bestenfalls drei sehr verträgliche Gäste gleichzeitig an +einem Tisch sitzen. Was in der Küche vor sich geht, kann man in den +meisten Fällen von seinem Tische aus mit ansehen. +</p> + +<p> +Die Art und die Menge der Speisen ist in allen chinesischen Speisewirtschaften +der Stadt die gleiche. So schließen die Chinesen unter sich +jede unreelle Konkurrenz aus. +</p> + +<p> +Sam hatte fünf Tische. Auf jedem Tische stand eine braunrote, tönerne, +weitbauchige Wasserflasche, von der Art und Form, wie sie schon bei +den Azteken im Gebrauch war. Dann eine Flasche mit Öl und eine mit +Essig. Ferner eine Büchse mit Salz, eine mit Pfeffer, eine große Schale +mit Zucker und ein Glas mit Chile. Chile ist eine dicke aufgekochte +Suppe von roten und grünen Pfefferschoten. Ein halber Teelöffel in +die Suppe getan, genügt, um einen normalen Europäer zu veranlassen, +die Suppe als total verpfeffert und durchaus ungenießbar zu erklären, +weil sie ihm Zunge und Gaumen verbrennen würde. +</p> + +<p> +Sam bediente die Gäste, während sein Geschäftsteilhaber mit Hilfe +eines indianischen Mädchens die Küche besorgte. +</p> + +<p> +Zuerst bekamen wir einen großen Klumpen Eis in einem Glase, das +wir mit Wasser füllten. Kein Wirt hier berechnet den Wert seines +Geschäftes nach dem Bierverbrauch, man erhält Bier nur auf ausdrückliches +Verlangen; und kein Wirt verdirbt einem den Genuß beim Essen +durch sein ewiges Lamentieren, daß er am Essen nichts verdienen könne. +Dann bekamen wir ein großes Brötchen, es folgte die Suppe. Es ist +immer Nudelsuppe. Antonio schüttete sich einen Eßlöffel voll Chile in +die Suppe, ich zwei, zwei gehäufte. Ich habe ja bereits erwähnt, daß +ein halber Teelöffel die Suppe für einen normalen Europäer ungenießbar +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +macht. Aber man wird auch bereits bemerkt haben, daß ich weder +normal bin, noch daß ich mich zu den Europäern zähle. Die Europäer +haben mir das abgewöhnt, nicht die Indianer in der Sierra de Madre. +Während wir noch in der Suppe herumfischten, kamen ein Beefsteak, +geröstete Kartoffeln, ein Teller mit Reis, ein Teller mit butterweichen +Bohnen und eine Schüssel mit Gulasch. Das gibt es hier nicht, daß man +sich nach jedem Gang die Galle anärgern muß, weil der Kellner sich +eine halbe Stunde lang erst überlegt, ob er einem nun den folgenden +Gang eigentlich bringen soll oder nicht. Hier werden alle Gänge gleichzeitig +auf den Tisch gestellt. +</p> + +<p> +Nun ging das Tauschen vor sich. Antonio tauschte seine Bohnen ein +gegen Tomatensalat, den man sich selbst am Tische zubereitet, und ich +tauschte meinen Gulasch ein gegen ein Omelett. +</p> + +<p> +Antonio schüttete seinen Reis gleich in die Suppe; hätte er seine Bohnen +behalten, würde er sie auch noch dazugeschüttet haben. Aber Bohnen +schien es genug in der Bäckerei zu geben, dagegen wohl seltener +Tomatensalat. +</p> + +<p> +Ich schüttete mir eine Lage schwarzen Pfeffer auf das Beefsteak und +eine Lage auf die gerösteten Kartoffeln. Dann würzte ich den Reis mit +zwei Eßlöffel Chile und die Bohnen mit vier Eßlöffel Zucker. +</p> + +<p> +Darauf kam für jeden ein Stück Torte. Antonio bestellte Eistee mit +Zitrone, ich Café con leche, wofür man auch ebensogut sagen kann: +Kaffee mit Milch. Kaffee trinkt man mit einem Drittel des Tasseninhaltes +Zucker darin. Diese Sitte halte ich für sehr gut und für sehr +vernünftig. +</p> + +<p> +Beim Bezahlen an der Kasse bekommt man dann noch einige Zahnstocher. +Deshalb sieht man auch nie, daß ein Mexikaner mit der Gabel +in den Zähnen herumfuhrwerkt, wie ich das in Lyons Cornerhouse am +Trafalgar Square und an andern Plätzen, leider auch in Mitteleuropa, +häufig zu beobachten Gelegenheit hatte. Daß man mit dem Messer recht +gut essen kann, ohne sich gleich die Lippen oder die Mundwinkel aufzuschlitzen, +wie so oft von ungeschickten und furchtsamen Leuten behauptet +wird, weiß ich aus eigner Erfahrung. Etwas unbequem sind die +starken Seemannsmesser, wie ich eines habe, weil die am Ende spitz +sind und nicht breit, deshalb kriegt man die Tunke nicht so gut aus der +Pfanne, und man muß mit dem Finger nachhelfen. Ob man hier den +Fisch mit dem Messer ißt oder mit dem Eßlöffelstiel, weiß ich nicht. Sooft +ich Mexikaner habe Fisch essen sehen, an den offenen Garküchen, +auf den Märkten und an andern Orten, aßen sie ihn immer mit dem +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +Zeigefinger und dem Daumen. Das heißt, sie aßen ihn natürlich, wie +jeder erwachsene und vernünftige Mensch es tut, mit dem Munde, aber +ich meine, sie packen ihre Beute mit den Fingern. Die Verkäufer haben +auch meist gar kein Messer, das sie dem Gast geben könnten, sondern +eben auch nur die natürlichen Werkzeuge, die sie nicht erst zu kaufen +brauchen. +</p> + +<p> +In diesen Gedankengängen bewegte sich unser Tischgespräch, weil wir, +der besseren Verdauung wegen, während des Essens nichts Gedankenschweres +in unserm Hirn herumwälzen wollten, und weil man beim +Essen nur vom Essen sprechen soll. +</p> + +<p> +Ich führe dieses Gespräch hier auch nur an, um zu zeigen, daß wir keine +ungebildeten Leute oder, was viel schlimmer ist, etwa gar revolutionäre +Arbeiter waren. Denn das kann man so sehr leicht werden, wenn man +sich gehen läßt und nachgibt, besonders wenn man augenblicklich keine +andre Zukunftsmöglichkeit vor Augen sieht als eine fünfzehn- bis siebzehnstündige +Arbeitszeit für einen Peso fünfundzwanzig. +</p> + +<p> +Für diese Mahlzeit zahlten wir jeder fünfzig Centavos, alles einbegriffen. +Es war der übliche Preis in einer chinesischen Speisewirtschaft. +Antonio goß sich noch ein Glas Wasser ein, spülte sich gründlich Mund +und Zähne und spuckte das Wasser auf den Fußboden. Saubern Mund +und saubre Zähne zu haben, ist dem Mexikaner wichtiger als ein +trockner Fußboden. Die nimmermüde tropische Sonne trocknet ja den +Fußboden, ehe sich der nächste Gast an unsern Tisch setzt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-16"> +15 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> segelten wir zuerst einmal zu der Bäckerei. Ich +ging in den Laden und fragte den Verkäufer nach +dem Prinzipal. +</p> + +<p> +„Sind Sie Bäcker?“ fragte der Inhaber. +</p> + +<p> +„Jawohl, Brot- und Kuchenbäcker“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Wo haben Sie denn zuletzt gearbeitet?“ +</p> + +<p> +„In Monterrey.“ +</p> + +<p> +„Gut, dann können Sie heute abend anfangen. Freie +Kost, Wohnung, Wäsche und einen Peso fünfundzwanzig für den Tag.“ +</p> + +<p> +„Halt!“ sagte er plötzlich. „Sind Sie sicher auf Torten, auf Torten mit +Gußornamenten?“ +</p> + +<p> +„Ich habe in meiner letzten Stellung in Monterrey nur Torten mit Gußornamenten +gebacken.“ +</p> + +<p> +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +„Das ist fein! Da will ich aber doch erst mal mit meinem Meister +sprechen, was der dazu sagt. Ein sehr tüchtiger Meister, von dem können +Sie viel lernen.“ +</p> + +<p> +Er ging mit mir in die Kammer, wo der Meister sich gerade die Stiefel +anzog, um auszugehen. +</p> + +<p> +„Hier ist ein Bäcker aus Monterrey, der Arbeit sucht. Hören Sie mal, ob +Sie ihn brauchen können.“ +</p> + +<p> +Der Inhaber ging wieder in sein Zimmer und ließ uns beide allein. +</p> + +<p> +Der Meister, ein kleiner dicker Bursche mit Sommersprossen, zog sich +ruhig erst die Stiefel an, dann setzte er sich auf den Bettrand und +zündete sich eine Zigarre an. +</p> + +<p> +Nachdem er ein paar Züge getan hatte, betrachtete er mich mißtrauisch +von oben bis unten und sagte endlich: +</p> + +<p> +„Sie sind Bäcker?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich habe keine blasse Ahnung vom Backen.“ +</p> + +<p> +„So!?“ sagte er darauf, immer noch mißtrauisch. „Verstehen Sie was von +Torten?“ +</p> + +<p> +„Gegessen habe ich schon welche,“ sagte ich, „aber wie sie gemacht +werden, davon habe ich keinen Begriff. Ich wollte das gerade lernen.“ +</p> + +<p> +„Hier haben Sie eine Zigarre. Sie können anfangen, heute abend um +zehn Uhr. Aber pünktlich! Wollen Sie was essen?“ +</p> + +<p> +„Nein, danke! Nicht jetzt.“ +</p> + +<p> +„Gut, ich werde mit dem Alten sprechen. Ich will Ihnen nun Ihr Bett +zeigen.“ +</p> + +<p> +Sein Mißtrauen war geschwunden, und er war sehr freundlich. +</p> + +<p> +„Ich werde einen tüchtigen Bäcker und Konditor aus Ihnen machen, +wenn Sie gut aufpassen und willig sind.“ +</p> + +<p> +„Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein, Senjor. Bäcker und Konditor +wollte ich schon immer werden.“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie nun wollen, können Sie schlafen gehen oder sich die Stadt +ansehen. Ganz, wie Sie wollen.“ +</p> + +<p> +„Gut!“ sagte ich, „dann will ich in die Stadt gehen.“ +</p> + +<p> +„Also um zehn Uhr, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +Ich traf, wie verabredet, Antonio im Park auf der Bank. +</p> + +<p> +„Na?“ begrüßte er mich. +</p> + +<p> +„Ich fange heute abend an.“ +</p> + +<p> +„Das ist gut“, sagte er. „Vielleicht gehe ich später mit Ihnen ’runter nach +Kolumbien.“ +</p> + +<p> +Ich setzte mich zu ihm. +</p> + +<p> +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +Weil ich nicht recht wußte, was ich mit ihm reden sollte, und um ein +Gesprächsthema zu haben, dachte ich, jetzt ist der gegebene Zeitpunkt, +nach Gonzalo zu fragen. Es war mir eigentlich nicht so sehr darum zu +tun, nur zu schwätzen, als vielmehr zu beobachten, wie er sich benehmen +würde, wie sich ein Mensch beträgt, der einen Raubmord auf dem Gewissen +hat und den man damit überrascht, daß man ihm sagt, man +wisse es. +</p> + +<p> +Eine Gefahr war freilich damit verknüpft. War Antonio in Wahrheit +ein echter Mörder, dann würde er bei erster Gelegenheit mich auf die +Seite schaffen als Mitwisser. Aber darauf wollte ich es ankommen +lassen. Diese Gefahr kitzelte mich erst recht, auf den Busch zu klopfen. +Ich war ja vorbereitet und konnte mich meiner Haut wehren. Mit ihm +allein durch den Busch, vielleicht gar nach Kolumbien zu trampen, +würde ich dann schon wohlweislich vermeiden. +</p> + +<p> +„Wissen Sie, Antonio,“ sagte ich plötzlich aus heiler Haut heraus, „daß +Sie von der Polizei gesucht werden?“ +</p> + +<p> +„Ich?“ erwiderte er ganz erstaunt. – „Ja, Sie!“ +</p> + +<p> +„Weswegen denn? Ich weiß nicht, daß ich etwas verbrochen habe.“ +</p> + +<p> +Es klang sehr aufrichtig; mir schien, zu aufrichtig, um echt zu sein. +</p> + +<p> +„Wegen Mordes! Wegen Raubmordes!“ setzte ich hinzu. +</p> + +<p> +„Sie sind wohl verrückt, Gale. Ich wegen Raubmordes? Da sind Sie +aber böse im Irrtum. Vielleicht eine Namensähnlichkeit.“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie, daß Gonzalo tot ist?“ +</p> + +<p> +„Was?“ Er schrie es beinahe. +</p> + +<p> +„Ja“, sagte ich ruhig, ihn im Auge behaltend. „Gonzalo ist tot. Ermordet +und beraubt.“ +</p> + +<p> +„Der arme Kerl! Er war ein guter Bursche“, sagte Antonio bedauernd. +</p> + +<p> +„Ja,“ bestätigte ich, „er war ein braver Kerl! Und es ist schade um ihn. +Wo haben Sie ihn denn zuletzt gesehen, Antonio?“ +</p> + +<p> +„In dem Hause, wo wir alle wohnten.“ +</p> + +<p> +„Mr. Shine erzählte mir, daß ihr drei, Sie, Gonzalo und Sam, zusammen +am Montag morgen fortgegangen seid.“ +</p> + +<p> +„Wenn Mr. Shine das sagt, dann irrt er. Gonzalo ist zurückgeblieben. +Wir zwei nur, Sam und ich, sind zur Station gegangen.“ +</p> + +<p> +„Das verstehe ich nicht“, sagte ich nun. „Mr. Shine hat am Fenster oder +in der Tür gestanden, ich weiß nicht wo, und hat euch drei bestimmt +gesehen.“ +</p> + +<p> +Da lachte Antonio leicht auf und sagte: „Mr. Shine hat recht und ich +habe auch recht. Aber der dritte, der bei uns war, war nicht Gonzalo, +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +sondern einer dort aus der Gegend, einer von den Eingeborenen, der +die Hühner von Abraham kaufen wollte, weil er dachte, er könne sie +billig haben. Abraham war aber schon zwei Tage fort und hatte die +Hühner bereits verkauft, ich glaube an Mr. Shine.“ +</p> + +<p> +„In dem Hause, wo Sie Gonzalo zuletzt gesehen haben,“ sagte ich nun +langsam, „habe ich ihn auch gefunden, ermordet und beraubt. Das heißt, +es ist ihm nicht alles geraubt worden, fünf Pesos und etwas darüber hat +ihm der Mörder gelassen.“ +</p> + +<p> +„Ich möchte ernst bleiben bei der tragischen Geschichte,“ sagte Antonio, +leicht vor sich hingrinsend, „aber da muß ich doch lachen. Das übrige +Geld von Gonzalo habe ich.“ +</p> + +<p> +„Na also!“ rief ich. „Davon rede ich ja die ganze Zeit.“ +</p> + +<p> +„Davon reden Sie allerdings, Gale“, erwiderte Antonio. „Aber das Geld +habe ich ihm doch abgewonnen. Sam weiß das gut, der war doch dabei. +Sam hat selber fünf Pesos dabei verloren. Er hat sich ja mit in die +Wette hineingedrängt.“ +</p> + +<p> +Das wurde jetzt eine merkwürdige Geschichte. +</p> + +<p> +„Sam, ich und der Indianer, wir sind zusammen vom Hause fortgegangen. +Gonzalo wollte zurückbleiben und sich gut ausschlafen. Ich +bin mit Sam bis Celaya gefahren. Sam ist dann weitergefahren, und +ich bin teils gelaufen, teils habe ich ein paar Strecken mit den Zügen +blind gemacht.“ +</p> + +<p> +Was Antonio sagte, klang wahr. Außerdem hatte er Sam als Zeugen. +Und daß Antonio diese weite Strecke von Celaya zurückgereist sein +sollte, um Gonzalo zu ermorden, war ganz und gar unwahrscheinlich. +Sein Geld hatte er ihm ja abgewonnen, ehrlich, Sam war Zeuge. Irgendeinen +Wertgegenstand besaß Gonzalo nicht. Wir kannten jeder den +ganzen Tascheninhalt des andern; und auf dem Leibe konnte auch +niemand etwas verbergen, wir liefen ja immer dreiviertel nackt herum. +Da war nichts Verdächtiges übrig, Antonio war unschuldig. +</p> + +<p> +„Na, lieber Antonio,“ sagte ich, „da bitte ich Sie herzlich um Verzeihung, +weil ich geglaubt habe, Sie könnten am Morde oder Tode des Gonzalo +schuldig sein.“ +</p> + +<p> +„Macht nichts, Gale,“ antwortete er gemütlich, „nehme ich Ihnen nicht +übel; aber ich hätte doch gedacht, Sie würden nicht gleich das Böseste +von mir denken. Ich habe doch nie jemand irgendeine Ursache hierfür +gegeben.“ +</p> + +<p> +„Das ist wahr. Das haben Sie nicht“, sagte ich darauf. „Aber sehen Sie, +die Umstände waren so merkwürdig auf Sie gerichtet. Sie und Sam +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +waren die letzten mit Gonzalo im Hause. Gonzalo hat, wenn er, wie +Sie sagen, nicht mit Ihnen gegangen ist, das Haus nicht mehr verlassen. +Er ist darin ermordet worden. Mr. Shine sagte mir, daß, seit Sie fortgegangen +seien, niemand sonst dort herum war. Es gibt ja nichts zu +stehlen da, und ein Weg, der jemand zufällig dahin bringen könnte, +führt auch nicht vorbei. Ich bin noch mal oben gewesen, weil ich dort +auf Bescheid von einem Öl-Camp warten mußte. Rein aus Neugierde +geriet ich in das Haus und fand Gonzalo tot. Er hatte mehrere Wunden +von Messerstichen, die gefährlichste war ein Lungenstich in der linken +Brust, an dem Stich ist er offenbar verblutet.“ +</p> + +<p> +Als ich das von den Wunden so langsam erzählte, ging in Antonio eine +erschütternde Veränderung vor sich. Er wurde leichenblaß, starrte mich +mit entsetzten Augen an, bewegte die Lippen und schluckte und +schluckte, konnte aber kein Wort hervorbringen. Mit der linken Hand +arbeitete er an seinem Gesicht und an seinem Halse, als ob er sich das +Fleisch herunterreißen wollte, während er mit der rechten Hand wie +im Traum nach meiner Schulter und nach meiner Brust tastete, als ob +er sich vergewissern müsse, ob da jemand sitze oder ob das nur eine +Wahnvorstellung sei. +</p> + +<p> +Ich wußte nicht, was ich aus all dem machen sollte. Ich konnte mir jetzt +überhaupt nichts mehr erklären. In Antonio zeigte sich plötzlich das +ganze Schuldbewußtsein eines Menschen, dem seine Tat mit allen ihren +Folgen klar zu werden beginnt. Und eben noch hatte er gelacht, als ich +ihn des Mordes an Gonzalo verdächtigte. Wie sollte ich mir ein solches +Verhalten zurechtlegen, um darüber nicht selbst meine Gedanken zu +verschlingern und mir vielleicht gar noch einzuträumen, daß ich selbst +Gonzalo erschlagen habe! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-17"> +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +16 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Lampen im Park flammten auf. +</p> + +<p> +Die Nacht war blitzschnell über uns hereingebrochen +in der kurzen Zeitspanne, wo der +Kampf in Antonio begann. Denn es war im hellen +Tageslicht gewesen, daß ich sein Gesicht offen +und unbefangen zuletzt gesehen hatte. Und nun +deckte die Nacht das in seinem Gesicht zu, was +für mich der nackte, der natürliche, der wahre, +der unverschleierte Mensch Antonio war. Das, was für mich ein unvergeßliches +Ereignis hatte werden sollen, die Züge und Gesten eines +Menschen zu studieren, den die finstersten Mächte überfallen haben, +den sie schütteln und rütteln und dem sie jedes Härchen und jede Pore +an seinem Körper in Aufruhr versetzen, wurde mir nun zerstört durch +die grellen Lampen, die in das Gesicht Antonios Schatten und Linien +hineinlogen, die in Wahrheit nicht darinnen waren. +</p> + +<p> +Wahrheit allein war sein heißes Atmen, und Wahrheit allein waren +seine tastenden und krallenden Finger. Alles andre wurde Rampenlicht. +Auf der Nebenbank saß ein indianischer Arbeiter, zerlumpt wie zehntausende +unsrer Klasse, weil der Lohn kaum für das Essen reicht, häufig +nichts übrigbleibt für eine Dreißig-Centavos-Pritsche in einem der +vielen Schlafhäuser, wo sich morgens fünfzig oder achtzig oder hundert +Schlafgenossen aller Rassen und aller Völker der Erde, behaftet mit +vielleicht ebenso vielen oder mehr Krankheiten, die von den Ärzten +gekannt und nicht gekannt oder nicht einmal erahnt sind, alle in demselben +Wascheimer waschen, alle an demselben Handtuch abtrocknen, +alle mit demselben Kamm kämmen. +</p> + +<p> +Der indianische Prolet war auf der Bank eingeschlafen. Seine Glieder +entspannten sich, und der ganze ermüdete und abgearbeitete Körper +sank zu einem Häuflein Lumpen mehr und mehr zusammen. +</p> + +<p> +Da schlich sich ein indianischer Polizist heran. Er umkreiste die Bank +wie ein Raubvogel seine Beute, die er aus seiner Höhe auf dem Erdboden +kriechen sieht. Dann, als er wieder an der Rückseite der Bank +war, zog er seine Lederpeitsche durch die Hand und hieb, mit bestialischer +Brutalität und mit einem tückischen Grinsen auf dem Gesicht, dem +Arbeiter die Peitsche über den Rücken. Ein furchtbarer Hieb. Mit einem +unterdrückten ächzenden Schrei fiel der Oberkörper des Indianers kurz +nach vorn über, als hätte man ihm den Rücken mit einem Schwert durchschnitten. +Dann aber schnellte der Körper rasch nach hinten, und sich +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +mit einem Gestöhn windend, griff er langsam mit der Hand nach dem +gemarterten Rücken. Der Polizist trat jetzt nach vorn und grinste den +Arbeiter mit einer teuflischen Grimasse an. Dem Gepeinigten liefen +vor Schmerzen dicke Tränen über das Gesicht. Aber er sagte nichts. Er +stand nicht auf. Er blieb ruhig auf der Bank sitzen. Denn das war sein +Recht. Sitzen durfte er auf der Bank, er mochte noch so zerlumpt sein, +es mochten noch so viele elegante Caballeros und Senjoras herumirren, +um die Kühle des Abends auf einer der bequemen Bänke zu genießen +und dem Konzert zuzuhören, das bald beginnen würde. Der Indianer +wußte, er war der Bewohner und der Bürger eines freien Landes, wo +der Millionär nicht mehr Recht hat, auf dieser Bank zu sitzen, und wäre +es vierundzwanzig Stunden lang, als der arme Indianer. Aber schlafen +durfte er nicht auf der Bank. So weit ging die Freiheit nicht, obgleich +die Bank auf dem „Platze der Freiheit“ stand. Es war die Freiheit, wo +derjenige, der die Autorität besitzt, den peitschen darf, der die Autorität +nicht hat. Der uralte Gegensatz zweier Welten. Uralt wie die Geschichte +von der Herauspeitschung aus dem Paradiese. Der uralte Gegensatz +zwischen der Polizei und den Mühseligen und Beladenen und +Hungernden und Schlafbedürftigen. Der Indianer war im Unrecht, das +wußte er wohl, deshalb sagte er nichts, sondern stöhnte nur. Satan oder +Gabriel – dieser hier hielt sich für das zweite – war im Recht. +</p> + +<p> +Nein! Er war nicht im Recht! Nein! Nein! Mir stieg das Blut zu Kopfe. +In allen Ländern der hohen Zivilisation, in England, in Deutschland, +in Amerika und erst recht in den andern Ländern, ist es die Polizei, die +peitscht, und ist es der Arbeiter, der gepeitscht wird. Und da wundert +sich dann der, der zufrieden an der Futterkrippe sitzt, wenn plötzlich +an der Krippe gerüttelt wird, wenn die Krippe plötzlich umgeschleudert +wird und alles in Scherben geht. Aber ich wundere mich nicht. Eine +Schußwunde vernarbt. Ein Peitschenhieb vernarbt nie. Er frißt sich +immer tiefer in das Fleisch, trifft das Herz und endlich das Hirn und +löst den Schrei aus, der die Erde erbeben läßt. Den Schrei: „Rache!“ +Warum ist Rußland in den Händen der Bolsches? Weil dort vor dieser +Zeit am meisten gepeitscht wurde. Die Peitsche der Polizisten ebnet den +Weg für die Heranstürmenden, deren Schritte Welten erdröhnen und +Systeme explodieren macht. +</p> + +<p> +Wehe den Zufriedenen, wenn die Gepeitschten „Rache“ schreien! Wehe +den Satten, wenn die Peitschenstriemen das Herz der Hungernden zerfressen +und das Hirn der Geduldigen auseinanderreißen! Man zwang +mich, Rebell zu sein und Revolutionär. Revolutionär aus Liebe zur +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +Gerechtigkeit, aus Hilfsbereitschaft für die Beladenen und Zerlumpten. +Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit sehen zu müssen, macht ebenso +viele Revolutionäre wie Unzufriedenheit oder Hunger. +</p> + +<p> +Ich sprang auf und ging zu der Bank, wo immer noch der Polizist stand, +die Peitsche durch die Hand ziehend, sie ab und zu durch die Luft +pfeifen lassend und mit funkelnden Augen auf sein sich windendes +Opfer grinsend. Er nahm keine Notiz von mir, weil er glaubte, ich +wolle mich auf die Bank setzen. +</p> + +<p> +Ich ging aber dicht auf ihn zu und sagte: „Führen Sie mich sofort zur +Wache. Ich werde Sie zur Meldung bringen. Sie wissen, daß Ihre +Instruktion Ihnen nur das Recht gibt, sich der Peitsche zu bedienen, +falls Sie angegriffen werden oder bei Straßenaufläufen nach wiederholtem +Aufruf. Das wissen Sie doch?“ +</p> + +<p> +„Aber der Hund hat hier auf der Bank geschlafen“, verteidigte sich +der kleine braune Teufel, der kaum höher war als fünf Fuß. +</p> + +<p> +„Dann durften Sie ihn wecken und ihm sagen, daß er hier zu dieser Zeit +nicht schlafen dürfe, und wenn er wieder einschlafen sollte, durften Sie +ihn von der Bank verweisen, aber auf keinen Fall durften Sie ihn +schlagen. Also kommen Sie mit zur Wache. Von morgen ab werden Sie +keine Möglichkeit mehr haben, jemand zu peitschen.“ +</p> + +<p> +Der Bursche sah mich eine Weile an, sah, daß ich ein Weißer war, und +sah, daß ich es im Ernst sagte. Er hing die Peitsche an den Haken in +seinem Gürtel, und mit einem schnellen Satz war er verschwunden, als +habe ihn die Erde verschluckt. +</p> + +<p> +Der Indianer stand auf und ging langsam seiner Wege. +</p> + +<p> +Ich schlenderte zurück zu Antonio. +</p> + +<p> +Mörder hin, Mörder her! dachte ich. Es ist ja alles egal. Alles ist Busch. +Überall ist Busch. Friß! oder du wirst gefressen! Die Fliege von der +Spinne, die Spinne vom Vogel, der Vogel von der Schlange, die Schlange +vom Coyote, der Coyote von der Tarantel, die Tarantel vom Vogel, der +Vogel von –. Immer im Kreise herum. Bis eine Erdkatastrophe kommt +oder eine Revolution und der Kreis von neuem beginnt, nur anders +herum. +</p> + +<p> +Antonio, du hast ganz recht gehabt! Du bist im Recht! Der Lebende +hat immer recht! Du bist im Recht! Der Tote ist schuld. Hättest du nicht +Gonzalo ermordet, hätte er dich ermordet. Vielleicht. Nein sicher. Es +ist der Kreis im Busch. Man lernt es so schnell im Busch. Das Beispiel +ist zu häufig, und die ganze Zivilisation ist ja nichts andres als die +natürliche Folge seiner bewundernswerten Nachahmungsfähigkeit. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-18"> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +17 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">ein!“</span> sagte Antonio, ruhiger geworden, „es war +ganz bestimmt nicht meine Absicht, Gonzalo zu töten. +Es hätte mich genau so gut treffen können. Glauben +Sie mir doch, oh, amigo, mio! Ich bin nicht schuld an +seinem Tode.“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, Antonio. Es konnte auch Sie treffen. Es kann +Sie heute abend noch treffen. Es ist der Busch, der uns +alle am Kragen hat und mit uns macht, was er will.“ +</p> + +<p> +„Ja!“ sagte er, „Sie haben recht, Gale, es ist der Busch. Hier in der +Stadt wären wir auf so eine verrückte Idee gar nicht verfallen. Aber +da singt der Busch die ganze Nacht, da schreit ein Fasan seinen Todesschrei, +wenn er gepackt wird, da heult der Cougar auf seinem Mordwege. +Alles ist Blut, alles ist Kampf. Im Busch sind es die Zähne, bei uns +sind es die Messer. Aber es war doch nur Scherz, nur der reine Spaß. +Wirklich nur Spaß. Nichts weiter. +</p> + +<p> +Ob es nun die Würfel sind, oder die Karten, oder das Rädchen, oder +die Messer! Wir hatten nach siebenwöchiger Arbeit keiner soviel Geld +übrig, wie wir brauchten, um aus dieser verlassenen Gegend fortzukommen +und was andres aufzusuchen. +</p> + +<p> +Wir hatten ziemlich gleich viel Geld. Gonzalo hatte etwas über zwanzig +Pesos, ich hatte fünfundzwanzig. +</p> + +<p> +Es war am Sonntag abend. Montag früh wollten wir gehen. +</p> + +<p> +Abraham war schon ein paar Tage fort, auch Charley war gegangen, +Sie waren auch nicht mehr da. Wir waren nur noch drei, Gonzalo, Sam +und ich. +</p> + +<p> +Wir zählten unser Geld auf dem Erdboden. Wir hatten jeder Goldstücke, +das kleine in Silber. +</p> + +<p> +Und als das Geld nun da vor uns auf dem Erdboden lag, kaum zu sehen +bei dem Schein unsres Feuers, da fing Gonzalo an zu fluchen. +</p> + +<p> +Er sagte: „Was tu ich mit den paar lausigen Kröten? Da hat man nun +sieben Wochen geschuftet wie ein verrückter Negersklave, in der Glut, +von früh um vier bis Sonnenuntergang, dann heim. Und dann abgerackert, +daß man kaum noch einen Knochen rühren kann, noch den +elenden Fraß zu kochen und ’runterzuwürgen. Keinen Sonntag gehabt, +kein Vergnügen, keine Musik, keinen Tanz, kein Mädchen, keinen +Schnaps und den schlechtesten Tabak. Was soll ich mit dem Lausedreck +da anfangen?“ +</p> + +<p> +Dabei schob er mit dem Fuß das Geld fort. +</p> + +<p> +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +„Mein Hemd ist in Fetzen,“ schimpfte er weiter, „meine Hose ein +Lumpen, meine Stiefel, guck’ sie dir an, Antonio, keine Sohle, kein +Oberleder, kein Nischt, sogar die Riemen sind zwanzigmal geknotet. +Und nischt bleibt übrig, und geschuftet wie ein Pferd. Ja, wären es +wenigstens vierzig Pesos!“ +</p> + +<p> +Als er das sagte, heiterte sich sein Gesicht auf. +</p> + +<p> +„Mit vierzig Pesos“, sagte er, „käme ich zurecht. Könnte nach Mexico +Capitale fahren, mir neue Lumpen kaufen, damit man auch anständig +aussieht, wenn man zu einem Mädchen ‚Buenos tardes!‘ sagen will. Und +man hat noch ein paar Pesos übrig, um es ein paar Tage auszuhalten.“ +</p> + +<p> +„Du hast recht, Gonzalo,“ sagte ich nun, „vierzig Pesos sind es auch +gerade, die ich haben müßte, um wenigstens das Notdürftigste zu +kaufen.“ +</p> + +<p> +„Weißt du was?“ sagte darauf Gonzalo, „laß uns um das Geld spielen. +Keiner von uns kann mit den paar Dreckgroschen etwas Rechtes anfangen. +Wenn du mein Geld noch dazu bekommst oder ich das deine, +dann kann doch einer von uns wenigstens etwas werden, denn so, wie +es jetzt ist, ist jeder ein Bettler. Diese paar Groschen versäuft man +doch gleich auf den ersten Sitz aus lauter Wut, daß man umsonst +geschuftet hat.“ +</p> + +<p> +„Die Idee von Gonzalo war nicht schlecht“, erzählte Antonio weiter. +„Ich hätte mein Geld auch gleich versoffen. Wenn man mit dem gottverfluchten +Tequila erst einmal anfängt, hört man nicht eher auf, bis +der letzte Centavos verwichst ist. Das geht dann durch, besoffen, +nüchtern, besoffen, nüchtern, besoffen immerfort, bis alles hin ist. Und +was man nicht selber durch die Gurgel rasselt, das helfen dann die Mitsäufer +davon, und der Wirt beschwindelt einen ums Dreifache, und der +schäbige Rest wird einem aus der Tasche gestohlen. Das kennen Sie +doch, Gale?“ +</p> + +<p> +Und ob ich das kannte! Ob ich den Tequila kannte, der einem die Kehle +so zerreißt, daß man sich nach jedem Glase schütteln muß und schnell +ein paar eingemachte Bohnen, die einem der kluge Wirt mit einem +spitzen Hölzchen zum Aufspießen hinstellt, hinterher schlucken muß, +um den Petroleumgeschmack los zu werden. Aber man trinkt in einem +fort wie besessen, als ob man behext wäre oder als ob dieser Rachenzerreißer +ein Zaubertrank wäre, den man aus irgendeinem mysteriösen +Grunde durch die Kehle jagen muß, ohne ihn mit der Zunge zu +betasten. Und wenn man dann endlich glaubt, genug zu haben, hat +man weder Hirn noch Körper, noch Blut. Man hört auf, zu existieren. +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Das Daseinsbewußtsein erlischt vollständig. Alles ist fortgewischt. +Sorgen, Leid, Ärger, Zorn. Übrigbleibt nur das absolute Nichts. Welt +und ich sind verweht. Nicht einmal Nebel bleibt. +</p> + +<p> +Antonio brütete eine Weile vor sich hin wie in der Erinnerung suchend. +Dann fuhr er in seiner Erzählung fort: „Wir hatten keine Karten und +keine Würfel. Wir zogen Hölzchen. Aber der gesetzte Peso ging immer +hin und zurück. Es wurden nie mehr als fünf Pesos, die überwechselten. +Dann spielten wir Kopf und Wappen. Merkwürdig, es wurden nie +mehr als ein paar Pesos, die aus der einen Tasche zur andern gingen. +Sam spielte auch mit, und auch sein Geld wechselte nicht von Haus +zu Haus. +</p> + +<p> +Es war nun schon ziemlich spät in der Nacht geworden. Vielleicht zehn +oder elf Uhr. +</p> + +<p> +Da wurde Gonzalo wütend und fluchte wie ein Wilder, jetzt habe er +genug von diesem Kinderspiel, jetzt wolle er endlich wissen, woran er +morgen früh sei. +</p> + +<p> +„Ja, weißt du denn einen andern Vorschlag?“ sagte ich zu ihm. +</p> + +<p> +„Nein!“ erwiderte er, „das ist es ja gerade, was mich so wütend macht. +Wir albern hier herum wie die kleinen Kinder, ohne zu einem Ende +zu kommen. Immer hin und her. Es ist zum Verrücktwerden!“ +</p> + +<p> +Dann, als er eine Weile beim Feuer gehockt hatte, in die Glut starrend, +sich eine Zigarette nach der andern drehend, die er, kaum angeraucht, +ins Feuer warf, sagte er, plötzlich aufspringend: „Jetzt weiß ich, was +wir tun. Wir machen ein Azteken-Duell um die ganze Summe.“ +</p> + +<p> +„Ein Azteken-Duell?“ fragte ich. „Was ist denn das?“ +</p> + +<p> +Gonzalo war aztekischer Abstammung. Er war aus Huehuetoca, und +seine Vorfahren waren einst Caciques gewesen. Das ist so etwas wie +Heerführer und Statthalter. Die Erinnerung an solche Adelsfamilien +wird auf dem Lande durch Tradition festgehalten, so gut festgehalten, +daß sehr selten ein Irrtum unterläuft. +</p> + +<p> +„Ja, weißt du denn das nicht, was das ist, ein Azteken-Duell?“ sagte +Gonzalo erstaunt. +</p> + +<p> +„Nein,“ gab ich zur Antwort, „wie sollte ich denn? Wir sind doch +spanischer Abkunft, wenn wir auch schon mehr als hundert Jahre hier +sind, Vaters und Mutters Seite. Aber von einem Azteken-Duell habe +ich nie gehört.“ +</p> + +<p> +„Aber das ist ganz einfach“, sagte Gonzalo. „Wir nehmen zwei junge, +gerade gewachsene Bäumchen, binden oben unsre Messer fest daran +und werfen sie dann gegenseitig aufeinander los, bis der eine aus Ermattung +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +nachgeben muß. Einer von beiden muß ja zuerst ermüden. +Und wer stehenbleibt, hat gewonnen, der kriegt dann das ganze Geld. +Dann kommen wir doch wenigstens zu einem Ende.“ +</p> + +<p> +Ich überlegte mir das eine Weile, denn es schien mir eine ganz verrückte +Idee zu sein. +</p> + +<p> +„Du hast doch nicht Angst, Spanier?“ lachte Gonzalo. +</p> + +<p> +Und weil in seinen Worten so ein merkwürdiger Ton von Verhöhnung +lag, brauste ich auf: +</p> + +<p> +„Angst vor dir? Vor einem Indianer? Ein Spanier hat nie Angst! Das +will ich dir gleich beweisen. Los zum Azteken-Duell!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-19"> +18 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> nahmen ein flammendes Holzscheit vom Feuer +und krochen im Busch herum, bis wir zwei passende +Stämmchen gefunden hatten. +</p> + +<p> +Sam wurde beauftragt, genügend Holz heranzuschleppen, +damit wir ein tüchtiges Feuer bekämen, +um beim Kampfe auch Ziellicht zu haben. Wir befreiten +die Stämmchen von den Ästen und banden oben +unsre aufgeklappten spitzen Taschenmesser fest an. +</p> + +<p> +„Selbstverständlich lassen wir nicht die ganze Messerklinge überstehen“, +sagte Gonzalo. „Denn wir wollen uns ja nicht ermorden. Es +ist ja nur um das Spiel. Das Messer braucht nicht weiter überstehen, +als ein Fingerglied. So, das ist gut!“ fügte er hinzu, meinen Speer betrachtend. +„Jetzt binden wir unten noch ein Stück Holz an, um dem +Speer ein richtiges Schaftgewicht zu geben, damit er nicht flattert.“ +</p> + +<p> +Dann umwickelten wir unsern linken Arm mit Gras und einem Sack, +um ein Abwehrschild zu haben. „Denn,“ erklärte Gonzalo, „der Schild +ist wichtig. Das ist ja eben gerade das Vergnügen, aufzufangen und +abzuwehren.“ +</p> + +<p> +Als wir mit allem fertig waren, sagte Sam: „Ja, und ich? soll ich +vielleicht nur zugucken? Ich will auch mitspielen.“ +</p> + +<p> +Der Chinc hatte recht. Für seine Mühewaltung als Verwahrer der +Spielsumme und als Zeuge mußte er seinen Lohn haben. Sie wissen ja, +Gale, was für Spielratten die Chincs sind. Die würden die Frachtkosten +für ihren Leichnam verspielen, wenn ihnen das nicht gegen alle +Moral ginge. +</p> + +<p> +„Ho!“ sagte Gonzalo zu Sam, „du kannst ja auf einen von uns wetten.“ +</p> + +<p> +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +„Fein!“ erwiderte Sam, „dann wette ich auf dich, Gonzalo. Fünf Pesos. +Wenn du gewinnst, bekomme ich von dir fünf Pesos, und wenn du verlierst, +kliegst du von mir fünf Pesos. Du hast ja kein Intelesse zu verlielen, +weil du dann deine zwanzig Pesos los würdest.“ +</p> + +<p> +Wir deponierten jeder unsre zwanzig Pesos, die Sam vor sich auf einen +Stein legte, und dann tat er selbst seine fünf Pesos Wetteinsatz hinzu. +Sam schritt fünfundzwanzig Schritte ab, und wir legten jeder ein +langes Stück Holz an die Marken, die keiner der Kämpfer überschreiten +durfte, wenn er nicht sofort fünf Pesos an den andern verlieren wollte. +Dann warfen wir die Speere aufeinander los. Zum Rückwerfen benutzte +jeder den Speer des andern. +</p> + +<p> +Bei dem flackernden, ab und zu qualmenden Feuer konnte ich Gonzalo +nur in Umrissen sehen, und den Speer, wenn er auf einen zugeflogen +kam, konnte man beinahe gar nicht sehen, denn rundherum war ja +stockdunkle Nacht. +</p> + +<p> +Gleich beim zweiten Gang bekam ich einen Stich in die rechte Schulter. +Sie können hier die Wunde noch sehen, Gale.“ +</p> + +<p> +Dabei zog er sein Hemd von der Schulter, und ich sah den Stich, noch +unvernarbt. +</p> + +<p> +„Nach und nach kamen wir in Bewegung oder eigentlich in Aufregung. +Ich bekam nach einigen weiteren Gängen noch einen Stich, der mir +durch die Hose ins Bein ging. +</p> + +<p> +Aber ich konnte ganz gut aushalten. +</p> + +<p> +Wie lange wir warfen, weiß ich nicht. Aber weil keiner nachgeben +wollte, wurde das Tempo immer rascher. +</p> + +<p> +Es kam so mittlerweile ein gutes Stück Wildheit in die Sache, und +jemand, der uns jetzt beobachtet hätte, würde niemals geglaubt haben, +daß es nur ein Spiel sei. +</p> + +<p> +Vielleicht warfen wir eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe. Ich weiß +es nicht. Ich wußte auch nicht, ob ich Gonzalo überhaupt schon einmal +ernsthaft getroffen hatte oder nicht. Aber ich fing dann doch an, müde +zu werden. Der Speer wurde mir bald so schwer, als ob er zwanzig Kilo +wiege, und das Werfen wurde langsamer bei mir. Ich konnte mich bald +kaum noch bücken, um den Speer aufzuheben, und einmal wäre ich +beim Niederbücken beinahe zusammengesunken. Aber ich hatte doch +das Gefühl, ich darf nicht niedersinken, sonst kann ich bestimmt nicht +mehr aufstehen. +</p> + +<p> +Gonzalo konnte ich nicht mehr sehen. Ich konnte überhaupt nichts mehr +sehen. Ich warf den Speer immer nur in der Richtung, in der ich ihn bisher +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +geworfen hatte und wo Gonzalo stehen mußte. Es wurde mir ganz +gleichgültig, ob ich ihn traf oder nicht. Ich wollte nur nicht zuerst aufhören. +Und weil von drüben immer wieder der Speer kam, warf ich ihn +eben immer wieder zurück. +</p> + +<p> +Plötzlich, als das Feuer einmal hell aufflammte, sah ich, daß Gonzalo +sich umdrehte, um den Speer zu suchen, der offenbar weit an ihm vorbeigeflogen +war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand den Speer, hob +ihn auf und, als er sich mir zuwandte, um ihn zu werfen, sank er auf +einmal so heftig in die Knie, als habe ihn jemand mit großer Wucht +niedergeschlagen. +</p> + +<p> +Ich warf meinen Speer, den ich in der Hand hatte, nicht, weil ich froh +war, ihn zu stellen und mich darauf zu stützen, sonst wäre ich umgefallen. +</p> + +<p> +Wenn Gonzalo jetzt aufgestanden wäre und geworfen hätte, ich hätte +meinen Arm nicht mehr heben können, um zu erwidern. +</p> + +<p> +Aber Gonzalo blieb in die Knie gesunken. +</p> + +<p> +Sam lief hin zu ihm und rief dann: +</p> + +<p> +„Jetzt habe ich meine fünf Pesos verloren. Antonio, Sie haben gewonnen. +Gonzalo gibt auf.“ +</p> + +<p> +Ich schleppte mich zu einer Kiste am Feuer, hatte aber nicht mehr die +Kraft, mich drauf zu setzen. Ich sank neben der Kiste auf den Boden. +Sam führte Gonzalo schleifend zum Feuer und gab ihm Wasser, daß er +gierig hinuntergoß. +</p> + +<p> +Ich sah jetzt, daß seine nackte Brust blutig war. +</p> + +<p> +Aber ich hatte für nichts mehr Interesse. Mir fiel der Kopf schläfrig auf +die Brust, und als ich gleichgültig die Augen aufschlug, bemerkte ich, +daß mein Hemd und meine Brust ebenso voll Blut waren, wie die Gonzalos. +Aber ich legte keinen Wert darauf. Es war mir alles egal. +</p> + +<p> +Sam brachte mir die vierzig Pesos und schob sie mir in die Hosentasche. +Ich hatte das Empfinden, als ob das alles irgendwo in ganz weiter Ferne +geschähe. Wie durch einen Schleier sah ich, daß Sam dem Gonzalo die +fünf Pesos ebenfalls in die Tasche steckte. +</p> + +<p> +So hockten wir wohl eine halbe oder eine ganze Stunde. Das Feuer +wurde kleiner und kleiner. +</p> + +<p> +Da sagte Sam: „Jetzt lege ich mich schlafen.“ +</p> + +<p> +Ich wiederholte diese Worte, als wären sie meine eignen gewesen: „Ja, +jetzt lege ich mich schlafen.“ +</p> + +<p> +Ich sah, wie sich auch Gonzalo erhob und ebenso schwankend und sich +festkrallend wie ich die Leiter zum Hause raufkletterte. +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Und als ich mich dort hingeworfen hatte und eben eindämmerte, hörte +ich, wie Gonzalo sagte: „Wenn ihr morgen zeitig geht und ich bin noch +nicht auf, braucht ihr mich nicht wecken. Ich will lange durchschlafen, +ich bin furchtbar müde. Ich fahre ja doch nicht mit euch, ich habe ja kein +Fahrgeld.“ +</p> + +<p> +Lange vor Sonnenaufgang stieß mich Sam an. Es war Zeit. Um acht Uhr +abends mußten wir auf der Station sein, sonst verloren wir zwei Tage. +Es war noch stockfinster. Ich konnte nichts in der Hütte sehen. Sah auch +Gonzalo nicht, der noch fest in seiner Ecke schlief. +</p> + +<p> +Wir weckten ihn nicht, sondern ließen ihn ruhig weiterschlafen. +</p> + +<p> +Wir packten rasch unsre Bündel zusammen, und als gerade der Tag zu +grauen anfing, gingen wir. +</p> + +<p> +Ein paar Schritte weiter trafen wir den Indianer, der die Hühner +kaufen wollte. +</p> + +<p> +Ja, sehen Sie, Gale, das ist die Geschichte, die wahre Geschichte.“ +</p> + +<p> +„Ihr hättet Gonzalo an diesem Morgen auch gar nicht wach gekriegt“, +sagte ich. +</p> + +<p> +„Warum denn nicht?“ fragte Antonio, die Wahrheit schon halb ahnend. +</p> + +<p> +„Weil er bereits tot war!“ +</p> + +<p> +„Aber das ist die Wahrheit, Gale. Wir können noch gleich jetzt zu Sam +gehen, der weiß es auch.“ +</p> + +<p> +„Ist nicht nötig, Antonio. Lassen Sie nur sein. Ich glaube es. Es ist die +Wahrheit!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-1-20"> +19 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Musik im Park hatte angefangen zu spielen. +„Die Ehre der Bauern in Sizilien.“ Was ging mich +deren Ehre an! +</p> + +<p> +Ich schloß die Augen, um die starren elektrischen +Lampen nicht sehen zu müssen. +</p> + +<p> +Aber ich sah Gonzalo auf dem Boden liegen. Vertrocknet. +Ausgelöscht aus den Lebenden und +Hoffenden. Seine Hand mit einem Knäuel roher, +schwarz verfärbter Baumwolle auf die Brust gepreßt. +</p> + +<p> +Die Baumwolle. +</p> + +<p> +Antonio hatte mich offenbar eine Zeitlang schon angesehen, ohne daß +ich es bemerkte. +</p> + +<p> +„Warum weinen Sie denn, Gale?“ sagte er. +</p> + +<p> +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +„Halten Sie’s Maul!“ rief ich wütend. „Ich glaube, Sie sehen Gespenster. +Bilden Sie sich doch keine Dummheiten ein.“ +</p> + +<p> +Er schwieg. +</p> + +<p> +„Diese himmelgottverfluchte Begräbnismusik!“ sagte ich ärgerlich. +„Sollen lieber spielen ‚Lustige Witwe‘ oder ‚Kratz mir den Affen mal +am Hintern‘. Es ist ja alles so lustig, die Witwen tanzen, und die +Bananen, yes, die haben wir nicht. Das ganze Leben ist so lustig. Begräbnismusik +für die Verreckten und dudelige Operetten für die Lebenden. +Kommen Sie, Antonio. Es geht auf zehn. Was hat der Hundesohn +gesagt? Seien Sie pünktlich, hat er gesagt. Für einen Peso fünfundzwanzig.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-2"> +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +ZWEITES BUCH.<br> +DER WOBBLY +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-1"> +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +1 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">er</span> Inhaber der Bäckerei La Aurora, Senjor +Doux, sah aus, als ob er die Ewige Malaria hätte. +Er war auch immer kränklich und lief herum +wie ein Todkranker. Aber essen konnte er für +zwölf Lebende. Frühmorgens um vier Uhr stand +er auf, trank einen Liter Milch und aß sechs Eier +mit geröstetem Schinken. Dann trank er einen +Kognak, und hierauf ging er auf den Markt, um +für den Tagesverbrauch einzukaufen. Neben der Bäckerei und Konditorei +hatte er noch ein gutgehendes Café-Restaurant, wo man außer +den üblichen Eisgetränken, Sahne-Eis, Frucht-Eis, geeiste Früchte, Weine, +Bier, auch Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen konnte. +Das Café war zu ebener Erde. In dem Stockwerk darüber befand sich +ein Hotel, das Senjor Doux aber nicht selbst leitete, sondern verpachtet +hatte. Mit dem Pächter hatte er täglich eine erfrischende Unterhaltung. +Wenn man dieser Unterhaltung einmal beigewohnt hatte, dann konnte +man begreifen, warum Senjor Doux nie gesund werden konnte, und +warum er so elend, so gelbgrünweiß im Gesicht aussah. +</p> + +<p> +Der Streit ging meist um das Wasser. Wasser ist ja nun in den Tropen +nicht nur eines der kostbarsten Dinge, sondern auch eines der Objekte, +um die ewig gekämpft wird. Die Natur kämpft um das Wasser auf +Leben und Tod; die Tiere zerfleischen sich um das Wasser oder vertragen +sich um seinetwillen so sehr, daß der durstige Jaguar dem +kleinen Zicklein am Wasser kein Leid antut, sondern es in ehrfurchtsvoller +Entfernung vom Wasser auf dem Rückwege erwartet. +</p> + +<p> +Wehmütig zuweilen ist der Kampf der Pflanzen und Bäume um das +Wasser. Aber wenn sich die Menschen um das Wasser streiten, so sind +sie allen andern irdischen Geschöpfen in den Kampfesmitteln überlegen. +Die Menschen führen den Kampf am erbarmungslosesten gegen Tiere, +Pflanzen und Nachbarn. +</p> + +<p> +Das Gebäude hatte nur zwei Stockwerke, unten das Café, oben das +Hotel. Nach Art der meisten Gebäude in Latein-Amerika war das Haus +eigentlich ein Hausblock, herumgebaut um einen Hof, in dem tropische +Pflanzen standen, die bis über den obersten Stock hinauswuchsen. Die +Vorderfront nahm das Café ein; die rechte Seitenwand die Restaurationsküche, +Toiletten, Waschräume und Vorratskammern; die linke +Seite bildete Bäckerei und Konditorei und den Schlafraum der Bäckereiarbeiter. +In der Hinterfront waren die Wohnräume des Inhabers. +</p> + +<p> +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +Das Hotel erstreckte sich gleichfalls in einem Viereck um den Hof +herum, alle Türen und Fenster lagen nach dem Hofe hin, nur die Fenster +der Vorderfront gingen auf die Straße. Dort befand sich ein Balkon, +der die ganze Länge des Hotelstocks einnahm. +</p> + +<p> +Auf dem Dache standen zwei große Wassertanks. Der eine war für den +unteren Stock, der andre für den oberen. Jeder Tank hatte seine eigne +Pumpe, die das Wasser mit motorischer Kraft in die Tanks pumpte. +Wenn die trockene Jahreszeit kam, lief der Brunnen, der zur Bäckerei +und zum Café gehörte, leer, während der Brunnen für das Hotel reichlich +Wasser hatte. Das Café und die Bäckerei konnten ohne Wasser +nicht durchkommen, und nun begann der Kampf. Senjor Doux wollte +jetzt das Wasser aus dem Hotelbrunnen in seinen Tank pumpen unter +der wahren Behauptung, daß er ja der Besitzer beider Brunnen sei. Der +Hotelpächter aber gestattete das nicht; er hatte es in seinem Kontrakt, +daß ihm der Hotelbrunnen allein zustehe. Er befürchtete, wenn er dem +Café erlaubte, Wasser aus seinem Brunnen zu entnehmen, daß er dann +eines Tages selbst kein Wasser haben würde und den Gästen keine +Bäder geben könne. Ohne Bäder ist ein Hotel in den Tropen wertlos. +</p> + +<p> +Beide Brunnen waren abgeschlossen. Der Pächter hatte einen Schlüssel +für seinen und Senjor Doux hatte einen Schlüssel für den Cafébrunnen. +Es blieb also Senjor Doux nichts andres übrig, als in der Nacht den +Brunnen seines Pächters aufzubrechen, die Rohre zu koppeln und die +Pumpe laufen zu lassen. Wenn der Pächter die Pumpe hörte, wachte +er natürlich auf, und es gab einen Mordsspektakel mitten in der Nacht. +Die Hotelgäste mischten sich ein, die Cafégäste, manchmal in angeheiterter +oder in kampffreudiger Laune, nahmen Partei, es flogen +Flaschen, Stühle, Brote, Eisbrocken und entsetzliche Flüche und Verwünschungen +durch die Luft. Die Pumpe, parteilos und absolut gleichgültig +gegen das Getobe, arbeitete allein und pumpte den Tank inzwischen +voll. Dann koppelte Senjor Doux die Rohre ab, und der nächtliche +Frieden begann und wurde am nächsten Morgen aufs neue gestört. +Es begann damit, daß der Hotelpächter einen Handwerker kommen +ließ, der den Brunnen besonders schwer verrammeln mußte. Dann lief +Senjor Doux zur Polizei, weil nach dem Gesetze niemandem das Wasser +abgesperrt werden darf. Dann zeigte der Hotelpächter seinen Kontrakt, +den Senjor Doux eigenhändig unterschrieben hatte, und der auch die +vorgeschriebenen Steuermarken trug, und die Polizei zog wieder ab. +In der Nacht wurde der Brunnen wieder aufgebrochen, weil Senjor +Doux ja Wasser haben mußte. +</p> + +<p> +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +Es hatte also wohl seine guten Gründe, daß Senjor Doux wie ein Sterbender +aussah und trotzdem gut essen konnte. +</p> + +<p> +Wenn Senjor Doux vom Markt heimkam, gegen sechs Uhr etwa, frühstückte +er erst einmal. Fisch und Braten und eine halbe Flasche Wein, +hinterher Kaffee mit drei oder vier Stücken Kuchen. +</p> + +<p> +Inzwischen kamen schon Frühgäste. Dann mußte mit den Lieferanten +verhandelt und abgerechnet werden; es lief die Post ein; nun kamen +Bestellungen auf Brot, Brötchen, Kuchen, Torten, Backwaren und kandierte +Früchte. +</p> + +<p> +Um halb neun machte Senjor Doux zweites Frühstück, an dem seine +Frau teilnahm. Diesmal gab es neben einem Eiergericht noch zwei +Fleischgerichte und großen Nachtisch mit Bier. +</p> + +<p> +Senjora Doux war eine hübsche Frau, aber sehr behäbig. Im Widerspruch +mit der Auffassung, daß alle Wohlgenährten immer guter Laune +seien, war Senjora Doux ewig mißgelaunt. Nur wenn sehr viele Bestellungen +auf Backwaren einliefen, verzog sie das Gesicht zu einem +kurzen Lächeln, das jedoch nur ein paar Sekunden währte. Das Café +konnte zum Brechen voll sein, die Leute mochten sich um die Sitze +schlagen, Senjora Doux machte trotzdem ein saures Gesicht und guckte +jeden Gast an, als ob er ihr persönlich schweres Leid zugefügt und +die Absicht habe, sie für ihr ferneres Leben unglücklich zu machen. Sie +trug nie Schuhe oder Stiefel, sondern immer nur weiche Pantoffel. Ich +glaube nicht, daß sie jemals ausging; gesehen habe ich es nie. Sie +fürchtete, daß während ihrer Abwesenheit ein Kellner sie betrügen +könnte. Sie hatte ihre Augen überall; es geschah nichts im ganzen +Hause, was sie nicht wußte, oder worüber sie keine Kontrolle hatte. +Was sie am meisten bedauerte (eigentlich bedauerte sie alles), das war, +daß der Mensch, wenigstens sie, auch schlafen müsse. Denn während +sie schlief, konnte ja irgend etwas geschehen, was sie nicht sah. Aus +diesem Grunde betrachtete sie niemanden mit größerem Mißtrauen +als die Arbeiter in der Bäckerei und Konditorei. Die arbeiteten nachts, +zu der Zeit, wo Senjora Doux schlafen mußte, um den ganzen Tag über, +bis spät in die Nacht hinein, das Café zu überwachen. Obgleich sie schon +alles am Halse hängen hatte, übernahm sie auch noch die Kasse. Eine +Kassiererin würde es bei ihr auch nicht ausgehalten haben. Die Senjorita +hätte ehrlich sein können und unbestechlich wie der Erzengel mit +dem Schwert, Senjora Doux würde sie trotzdem täglich ein paarmal +angeschuldigt haben, daß sie wieder zehn Pesos unterschlagen habe. +Diese Geschichte mit der Kasse war eine schwere Arbeit. Senjora Doux +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +traute keinem Kellner. Sie saß an der Kasse oder wanderte im Lokal +umher und beobachtete die Gäste, was sie verzehrten. Wenn der Gast +ging und bezahlt hatte, so mußte der Kellner das Geld sofort zur Kasse +bringen und abliefern. Denn hätte man ihm das Geld, das er während +seiner Arbeitszeit eingenommen hatte, und das manchmal einige hundert +Pesos betrug, in der Tasche gelassen, damit er erst dann mit der +Kasse abrechne, wenn er abgelöst wurde, so hätte er ja eine Viertelstunde +vorher mit der ganzen Einnahme und unter Zurücklassung +seines Hutes und seiner Jacke verschwinden können auf Nimmerwiedersehen. +Es muß freilich zugestanden werden, daß solche Dinge +vorkamen, sogar wenn der Kellner manchmal nur sechzig oder siebzig +Pesos in der Tasche hatte. Aber in dem Café La Aurora des Senjor +Doux war das nicht durchführbar. +</p> + +<p> +Wenn wenig Bestellungen für die Bäckerei einkamen, hatten die Bäcker +und Konditoren nichts zu lachen. Dann fegte Senjora Doux mit ihnen +herum, daß meist einer oder der andre seinen Lohn verlangte und +ging. Denn an solchen Tagen betrachtete sie die Ausgabe für die Bäckerei +als verschwendetes Geld. Kamen am nächsten Tage die Bestellungen +doppelt oder dreifach ein, so mußten die Leute drei, vier oder fünf +Stunden mehr arbeiten, weil inzwischen natürlich kein neuer Bäcker +oder Hilfsarbeiter eingestellt worden war. +</p> + +<p> +Die Musiker im Café hatten es nicht besser, sondern noch viel schlechter. +Die Bäcker schafften ja noch etwas wenigstens, aber die Musik war die +unsinnigste Verschwendung, die Senjor und Senjora Doux sich nur +denken konnten. Die Musik produzierte nicht, sie fraß nur und wollte +immer Geld haben. Da aber andre Cafés Musik hatten, mußte Doux +schon mitmachen, um auf der Höhe zu bleiben. Er hatte jeden Tag +Krach mit der Musik. Waren wenig Gäste da, dann erklärte er den +Musikern, daß sie schuld seien, weil sie saumäßig spielten. Dann +packten die Musiker ihre Instrumente ein, ließen sich ihr Geld geben +und gingen. Senjora Doux war darüber recht zufrieden, denn nun hatte +sie einen Grund, das Geld für die Musik zu sparen und den Gästen zu +erklären, daß die Musiker fortgelaufen seien. +</p> + +<p> +Waren dann wieder die Gäste nach ein paar Tagen unzufrieden und +verlangten sie Musik, dann mußte Senjor Doux den Musikern nachlaufen. +Oft geschah es, daß er nur einen Bandonium- oder Gitarrespieler +bekam. Die Gäste verzogen sich, und endlich brachte Doux +wieder eine gute Kapelle ins Haus, bis nach einer Weile der Krach +wieder da war und sich die ganze Geschichte wiederholte. +</p> + +<p> +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +Eines Tages kam eine ganz vorzügliche Kapelle von acht Mann aus +Mexiko-City und bot sich in den Cafés an. Sie kamen zuerst zu Senjor +Doux. +</p> + +<p> +„Fünfzig Pesos den Tag für acht Mann? Zahle ich nicht. Auch noch das +Essen? Ich bin doch nicht verrückt. Und nur wochenweise und mit dreitägiger +Kündigung? Da können Sie in der ganzen Stadt herumlaufen, +gibt Ihnen niemand. Fünfundzwanzig will ich zahlen und tägliche Kündigung. +Ich kriege genug Leute.“ +</p> + +<p> +Die Kapelle ging in ein andres Café, bekam, was sie verlangte, und +das Café war jeden Abend gut besetzt, obgleich die Leute sich hier +wenig in Cafés oder Restaurants setzen; nur gerade so lange, bis sie ihr +Eis geschluckt oder ihre Coca-Cola gesaugt haben. Dann gehen sie +wieder, weil sie lieber auf den Plätzen spazierengehen oder auf den +Bänken sitzen. +</p> + +<p> +Aber die Kapelle hielt die Leute auch für zwei Eisgetränke oder eine +extra Flasche Bier, und das um so lieber, weil der Wirt anständig genug +war, keinen Preisaufschlag auf die Getränke zu nehmen. +</p> + +<p> +Dieses Café war nur fünf Häuser weit von der La Aurora, noch im +selben Block, und La Aurora war so leer, daß es wie ein beleuchteter +Leichnam aussah. Senjora Doux wollte das Licht auf die Hälfte abdrehen, +weil es überflüssig brenne; aber Senjor Doux widersetzte sich +diesem Gedanken. Jede Stunde einmal ging er, ohne Hut und ohne sich +Jacke oder Weste anzuziehen, zum Kino, um sich die ausgestellten +Plakate anzusehen. Er kannte sie auswendig. Aber in Wahrheit ging +er nur, um die Gäste in der La Moderna zu zählen; denn da mußte er +vorüber, wenn er zum Kino wollte. Er ging vorbei, ohne den Kopf zu +wenden. So sah es aus. In Wirklichkeit aber sah er doch jeden Gast in +der La Moderna, und zu seiner Trauer sah er viele, die sonst bei ihm +saßen. +</p> + +<p> +Ein paar Tage sah er sich das mit an. Dann stellte er sich vor die Tür +seines Cafés und paßte auf, wann der erste Geiger der La-Moderna-Kapelle +vorüberkam. +</p> + +<p> +„Einen Augenblick, Senjor!“ +</p> + +<p> +„Bitte?“ +</p> + +<p> +„Wollen Sie nicht zu mir kommen? Ich zahle Ihnen fünfzig.“ +</p> + +<p> +„Bedaure, wir bekommen fünfundsechzig.“ +</p> + +<p> +„Das bezahle ich nicht.“ +</p> + +<p> +„Muy bien, Senjor, Adios.“ +</p> + +<p> +Als wieder eine Woche vorbei war, fragte er den Geiger abermals. +</p> + +<p> +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +„Gut, für fünfzig, Senjor.“ +</p> + +<p> +„Abgemacht. Dann von Freitag an.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux stürmte rein zu seiner Frau: „Ich habe die Kapelle. Für +fünfzig. Fein.“ +</p> + +<p> +Die Kapelle konnte es dafür machen, denn sie war in der La Moderna +gekündigt und hatte kein anderes Engagement in der Stadt. +</p> + +<p> +Aber die Sahne war herunter. Die Leute hätten gern wieder einmal +eine andre Kapelle gesehen. Es kamen zwar genügend Gäste nun in die +La Aurora, aber doch bei weitem nicht so viel, wie in der La Moderna +jeden Abend gesessen hatten. Senjor Doux sagte der Kapelle, daß sie +saumäßig spiele. Die Musiker ließen es sich nicht gefallen, es kam zum +Krach, und sie verließen das Café. Senjor Doux brauchte ihnen nicht zu +kündigen und sparte das Geld. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-2"> +2 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">ittags</span> gegen halb zwölf hatte Senjor Doux +auch seine Bücher ausgefüllt, und dann setzte er +sich zum Mittagessen hin. Um zehn hatte er ein +kaltes Huhn verzehrt, weil es ihm bis zum Mittagessen +zu lange dauerte. Jetzt aß er zum ersten +Male am Tage richtig. Dann ging er schlafen, weil, +abgesehen von den Mittagsgästen, jetzt stille Zeit +kam. Um fünf stand er wieder auf, wusch und +rasierte sich und eilte ins Café, vom Hunger getrieben. +</p> + +<p> +Von jetzt an blieb er im Café bis Schluß. Die Polizei kümmert sich hier +nicht um die Sitten, um Sittlichkeit und um Gesittung der Menschen. +Das überläßt sie den Leuten selbst. Wer Zeit und Geld hat, sich die +ganze Nacht im Café herumzudrücken, mag es tun. Es ist sein Geld, +seine Zeit und seine Gesundheit. Wenn der Wirt keine Gäste mehr hat, +macht er schon von selbst zu und braucht dazu keine guten Ratschläge +und Strafmandate der Polizei, denn er ist ja ein erwachsener Mensch +und kein Säugling, der noch in die Windeln macht und die Milchflasche +nicht allein halten kann. Und weil keine Polizeistunde ist, niemand +einen Spaß darin sieht, die Polizei zu ärgern und an verbotenen Früchten +zu naschen, so hat das Café um zwölf selten noch genügend Gäste, daß +es sich lohnt, Licht zu verbrennen. Denn die Leute, die aus Gründen +ihres Berufes nachts auf sein müssen, gehen nun nicht ins Café, sondern +in die Bars, wo zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht vollständige +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +Mahlzeiten oder Spezialplatten verabreicht werden zu billigeren Preisen +als im Café. +</p> + +<p> +Zu dieser Zeit waren wir mitten drin in der dicksten Arbeit. +</p> + +<p> +„Putzen Sie mal die Bleche“, sagte der Meister zu mir. „Das werden Sie +ja wohl können. Wenn mal die Alte (das war Senjora Doux, die keineswegs +alt, sondern kaum dreißig war) reinkommen sollte – die muß ja +ihre Nase in jeden Dreck reinstecken –, dann putzen Sie nur immer +Bleche. Dann merkt sie nicht, daß Sie nichts von der Bäckerei verstehen. +Aber jetzt kommt sie nicht, jetzt ist gerade der Alte drüber; die +haben ja sonst keine Zeit. Mich wundert es nur, daß sie dafür überhaupt +noch Zeit und Gedanken finden. Aber Gedanken werden sie sich dabei +wohl kaum machen. Die denken dabei an uns, ob wir uns etwa keine +Eier verrühren. Das wollen wir jetzt erst mal machen.“ Nun wurden +tüchtig Eier eingeschlagen, Butter rein und dann in den Ofen geschoben. +Als die Fütterung vorüber war, lernte ich Bleche sauber machen. Das +kann man nicht so ohne weiteres, wie man vorher wohl denkt. Es muß +gelernt sein. Dann mußte ich Mehl abwiegen. Auch das hat seine +Kniffe. Und dann mußte ich fünfhundert Eier aufschlagen, das Gelbe +und das Weiße voneinander trennen. Würde man das so machen, wie +es Mutter in der Küche tut, so brauchte man dazu eine Woche. Hier muß +das in kaum zwanzig Minuten geschehen sein, und es darf kein Pünktchen +Gelb in der Weißmasse gefunden werden, weil das allerlei +Schwierigkeiten zur Folge hätte. +</p> + +<p> +Dann lernte ich die Teigteilmaschinen bedienen, das Feuer in Ordnung +halten, Brot- und Brötchenteig ansetzen, Kleingebäck glasieren, Torten +beschneiden und für die Ornamentierung vorarbeiten, Schüsseln und +Geschirre reinigen, die Tische abwaschen, die Backstube ausfegen, Eis +mahlen, Eismasse ansetzen und so manches andre mehr. Alles so nach +und nach, alles in der Weise, wie man jedes Ding lernen kann. Es gibt +überhaupt nichts, das man nicht lernen könnte. +</p> + +<p> +Dann kam der Samstag. Lohntag. Aber Lohn gab es nicht. „Manjana, +morgen“, sagte Senjor Doux. Morgen war Sonntag, und wir mußten +mehr arbeiten als die übrigen Tage. Hinsichtlich des Lohnzahlens aber +erklärte Senjor Doux, es sei Sonntag, und Sonntags zahle er keinen +Lohn: „Morgen.“ Montag zahlte er aber auch nicht, weil er noch nicht +zur Bank gewesen sei. Dienstag gab es kein Geld, weil er das Geld, +das er von der Bank geholt, bereits ausgegeben habe. Mittwoch +bekamen die Kellner erst mal ihr Geld, und Donnerstag hatte er überhaupt +kein Geld und konnte nicht zahlen. Freitag war er nicht zu +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +finden; immer, wenn man ihn suchte, war er gerade in seine Wohnung +gegangen und wollte nicht gestört werden. Samstag waren bereits zwei +Löhne fällig, aber da hatte er zu große Ausgaben, weil er für den +Sonntag mit einkaufen mußte und die Banken schon mittags schlossen. +„Morgen“, sagte er. Aber morgen war Sonntag, wo er keine Löhne +zahlte. „Morgen“, das war Montag, aber da war er noch nicht zur Bank +gewesen. +</p> + +<p> +Nach drei Wochen bekam ich das erstemal Geld von ihm, nicht für drei +volle Wochen Arbeitslohn, sondern nur für eine Woche. So ging das +immer durch, immer war er Wochen und Wochen mit dem Lohn im +Rückstand. Wir aber durften mit der Arbeit nicht eine Viertelstunde +im Rückstand sein, dann gab es Radau. Fünfzehn, sechzehn, ja einundzwanzig +Stunden Arbeit am Tage hatten wir zu leisten. Das hielt +er für ganz selbstverständlich, und für ebenso selbstverständlich hielt +er es, daß er den Lohn zahle, wann es ihm beliebe, und nicht, wenn er +fällig sei. +</p> + +<p> +Aber andre Arbeit war nicht zu finden, und wäre sie zu finden gewesen, +wir hatten ja keine Zeit, sie zu suchen. Wenn wir in der Backstube des +Nachmittags fertig waren, dann waren die andern Werkstätten oder +Bureaus, wo man nachfragen konnte, meist schon geschlossen. Man +mußte eben aushalten. Wenn man leben will, muß man essen, und +wenn man auf irgendeine andre Art kein Essen findet, muß man tun, +wie es dem, der das Essen hat, gefällt. +</p> + +<p> +Den Kellnern ging es nicht besser. Sie bekamen nur zwanzig Pesos den +Monat und sollten im übrigen vom Trinkgeld leben. Aber hier ist man +nicht freigebig mit dem Trinkgeld, und wenn die Gäste knapp waren, +dann hatten wieder die Kellner nichts zu lachen. Dann waren sie schuld +daran, daß die Gäste ausblieben, und Senjora Doux gönnte ihnen nicht +einmal die zwanzig Pesos Lohn. Wir wohnten im Hause, die Kellner +nicht. Die hatten Familie und wohnten mit ihren Familien. Dadurch +hatten sie besondere Ausgaben. Sie bekamen nicht einmal volles Essen, +sondern nur so nebenbei, als Gnade oder als besondere Vergünstigung. +Unser Meister hatte schon vier Monate Lohn stehen. Selbst wenn er +hätte gehen wollen, er konnte nicht, weil Senjor Doux ihn wochenlang +vielleicht mit der Restsumme hingehalten hätte. Wir sollten jeder +täglich zum Mittagessen eine Flasche Bier bekommen. Das war ausgemacht. +Aber wir bekamen Bier nur dann, wenn Senjora Doux bei +sehr guter Laune war, wenn viele Bestellungen vorlagen, und wenn +wir zwanzig Stunden zu arbeiten hatten. Das Essen selbst war sehr gut. +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +Es gab viel Fleisch, zwei oder drei Fleischgerichte zu Mittag. Aber +nach einer Woche konnte man nichts mehr essen; denn es gab jeden +Tag genau dasselbe zum Essen. Da war auch nicht ein Reiskörnchen +heute anders, als es gestern war, und nicht eine Fleischfaser schmeckte +heute anders, als sie morgen schmecken würde. +</p> + +<p> +Ein Kellner bekam Fieber und war in drei Tagen tot. Er war ein +Spanier gewesen, der erst vor zwei Jahren herübergekommen war. An +seiner Stelle trat ein Mexikaner ein, namens Morales. Er war ein +flinker, intelligenter Bursche. Wenn ich gelegentlich Backware in das +Café zu bringen hatte, so sah ich beinahe jedesmal, daß Morales mit +dem einen oder dem andern seiner Kollegen sprach. Sie sprachen ja +natürlich immer zusammen, wenn sie nicht bedienten. Aber hier fiel +mir das Sprechen doch zum ersten Male auf. Wenn sonst die Kellner +zusammen miteinander sprachen, so war das immer so oberflächlich. +Sie redeten über Lotterielose oder über Nebengeschäfte oder über +Mädchen oder über ihre Familien. Meist lachten sie dabei oder +witzelten. +</p> + +<p> +Dagegen wenn Morales mit einem sprach, wurde nicht gelacht, sondern +immer sehr andächtig zugehört. Morales war immer der Sprecher und +die übrigen immer die Zuhörenden. Ich sah es blühen. Das „Syndikat +der Restaurationsangestellten“ arbeitete. +</p> + +<p> +Die Gewerkschaften in Mexiko haben keinen schwerfälligen bureaukratischen +Apparat. Ihre Sekretäre fühlen sich nicht als „Beamte“, +sondern sie sind alle junge brausende Revolutionäre. Die Gewerkschaften +hier sind erst durch die Revolution der letzten zehn Jahre +entstanden. Und so sind sie gleich in die allermodernste Richtung +geraten. Sie haben die Erfahrung der amerikanischen Gewerkschaften, +die Erfahrung der russischen Revolution, die Explosivgewalt des +Jungen Stürmers und Drängers und die Elastizität einer Organisation, +die noch nach ihrer eignen Form sucht und noch täglich ihre Taktik +wechselt. +</p> + +<p> +Richtig, in der La Moderna war der Streik da. Kellnerstreik. Senjor +Doux lachte sich eins. Bei ihm brauchte er das nicht zu befürchten. Und +nun kamen die Gäste der La Moderna alle in sein Lokal, weil sie sich +in dem Café, wo der Streik war, fürchteten. Die Furcht ist berechtigt. +Denn die Polizei ist in Arbeiterkämpfen neutral. Wenn einem Gast, +der in ein Café geht, wo gestreikt wird, ein Stein an den Kopf fliegt, +so darf er zur Sanitätspolizei gehen und sich verbinden lassen. Im +übrigen aber kümmert sich die Polizei nicht darum. Die Streikposten, +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +die vor dem Café stehen, haben ihm ja gesagt, daß in dem Café gestreikt +wird. Außerdem steht es in der Zeitung, und Flugblätter werden ihm +auch genug in die Hand gedrückt. Er weiß, was ihm bevorsteht. Er +braucht ja nicht in dieses Café zu gehen, er kann ja in ein andres gehen +oder sich auf die Bank auf der Plaza setzen oder spazierengehen. Wer +da hingeht, wo Steine in der Luft umherfliegen, dem geschieht es ganz +recht, wenn er einen an den Kopf kriegt. +</p> + +<p> +La Moderna bewilligte nach vier Tagen alles. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-3"> +3 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">rei</span> Wochen später ging Morales zu Senjor +Doux und sagte: „Also achtstündige Arbeitszeit, +zwölf Pesos die Woche, eine Vollmahlzeit und +zweimal Kaffee mit Gebäck.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux, der die ganze Zeit voller Schadenfreude +gewesen war, weil seinem Konkurrenten +so übel mitgespielt wurde, kriegte zuerst einen +Schreck. Dann sagte er: „Morales, kommen Sie +zur Kasse. Da ist Ihr Lohn, und Sie können gehen, Sie sind entlassen.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Morales drehte sich um, zog seine weiße Jacke aus, und sofort zogen die +übrigen Kellner gleichfalls ihre Jacken aus und kamen zur Kasse. +</p> + +<p> +Ein wenig verstört zahlte Senjor Doux die Löhne, und dann ließ er die +Leute gehen. Er war ganz sicher, daß er andre Leute kriegen würde. +Die paar Gäste, die gerade drin waren, bediente Senjora Doux. Dann +verließen die Gäste auch das Café. Aber wenn andre kamen und sahen, +daß keine Kellner drin waren, setzten sie sich gar nicht erst, sondern +gingen gleich wieder raus. Nur einige Fremde kamen, setzten sich, +bestellten etwas und betrachteten diese Art von langsamer Bedienung +als die hier übliche. An diesem Abend standen keine Streikposten vor +dem Café. Aber am nächsten Tage waren sie da, und es wurden eifrigst +Flugblätter verteilt. Es waren wieder nur Fremde, die in das Café +gingen, die die spanisch geschriebenen Flugblätter nicht lesen konnten +und auch nicht verstanden, was die Streikposten zu ihnen sagten. +</p> + +<p> +Aber um diese Fremden kümmerten sich die Posten nicht viel. Außerdem +fühlten die Fremden, meist Amerikaner, Engländer oder Franzosen, +auch immer sehr bald, daß die Luft merkwürdig schwül war, +und sie verließen das Café ziemlich rasch, oft ohne ihr Eisgetränk auch +nur anzurühren. +</p> + +<p> +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +Den zweiten Tag darauf hatte Senjor Doux zwei Kellner, einen +Deutschen und einen Ungarn. Beide waren erbärmlich zerlumpt. Senjor +Doux hatte ihnen weiße Jacken gegeben, einen Kragen und einen +schwarzen Schlips. Aber er gab ihnen weder Hosen noch Schuhe. Und +gerade in diesen beiden Dingen sahen die Burschen entsetzlich aus. Sie +verstanden kein Wort Spanisch und waren nicht zu gebrauchen. Aber +Senjor Doux wollte mit ihnen ja nur protzen vor den Streikposten. +</p> + +<p> +Nach dem Mittagessen, das sie mit allerlei bösen Zwischenfällen serviert +hatten, war ein wenig Ruhe im Café. Senjor Doux war schlafen +gegangen, und Senjora Doux saß schläfrig in einer Nische. Ich brachte +ein Blech Backware hinein und hörte, daß die beiden Vögel deutsch +sprachen. +</p> + +<p> +„Sind Sie Deutscher?“ fragte ich den, der richtig deutsch sprach. +</p> + +<p> +„Ja, der hier ist ein Ungar“, antwortete er erfreut, daß jemand mit ihm +deutsch sprach. +</p> + +<p> +„Wissen Sie, daß die Kellner hier streiken, und daß Sie hier den Streikbrecher +machen?“ +</p> + +<p> +„Die streiken nicht“, sagte er. „Die wollen nur nicht arbeiten, die sind +nicht zufrieden.“ +</p> + +<p> +„Was zahlt Ihnen denn der Alte?“ +</p> + +<p> +„Fünf Pesos die Woche, das ist ganz schönes Geld. Und das Essen und +Schlafen“, gab er zur Antwort. +</p> + +<p> +„Na, nun mal deutlich, lieber Freund, schämen Sie sich denn nicht, hier +den Streikbrecher zu machen?“ +</p> + +<p> +„Streikbrecher? Das bin ich nicht. Die streiken nicht, die haben nur +aufgehört, weil sie mit dem Lohn nicht zufrieden sind. Ich bin mit fünf +Pesos zufrieden. Was soll ich auch machen. Ich bin ganz herunter, habe +nichts zu essen und keinen ganzen Fetzen.“ +</p> + +<p> +„Dann gehen Sie lieber betteln“, riet ich. +</p> + +<p> +„Betteln? Nein, das ist unanständig.“ +</p> + +<p> +„Streikbrechen ist anständiger?“ +</p> + +<p> +„Was will ich denn machen, wenn man Hunger hat?“ +</p> + +<p> +„Dann stehlen Sie, wenn Ihnen Betteln zu unanständig ist, aber Streikbrechen +ist ein dreckiges Geschäft.“ +</p> + +<p> +„Sie haben gut reden,“ platzte er nun los, „Sie arbeiten hier schön in +der Konditorei, haben zu essen, haben ein Dach und kriegen Ihr Geld.“ +</p> + +<p> +„Das ist richtig“, erwiderte ich. „Und ich will Ihnen nun etwas sagen. Ich +kann Ihnen hier keinen Vortrag darüber halten, in welchem Zusammenhang +der Streik jener Leute und Ihr Hungerleben steht. Ich kann Ihnen +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +hier so auf einen Ruck nicht klarmachen, wie durch jeden Streik, ob er +gewonnen oder verloren wird, das Hungerleben der arbeitslosen +Arbeiter um einen Grad seltener wird. Wenn die Leute hier die achtstündige +Arbeitszeit durchsetzen, muß der Alte zwei, vielleicht gar drei +arbeitslose Kellner mehr einstellen. Das ist nur gerade das Nächste und +Klarste. Darüber hinaus kommen noch andre Umstände zugunsten der +Arbeiter in Betracht, die viel weiter reichen als gerade bis zu dem +kleinen Vorteil, den man vor der Nase sieht.“ +</p> + +<p> +Durch unser Gespräch wachte Senjora Doux aus ihrem Nickerchen auf, +und sie rief herüber: „Sie, hören Sie mal, Sie wollen wohl die beiden +Deutschen da verhetzen? Scheren Sie sich in die Backstube, wo Sie +hingehören, Sie haben hier gar nichts verloren.“ +</p> + +<p> +„Verhetzen? Ich? Die beiden Deutschen? Nein, ich lehre sie nur ein paar +wichtige spanische Worte, damit sie besser im Leben zurechtkommen“, +sagte ich. +</p> + +<p> +„Das ist gut,“ sagte Senjora Doux, „das tun Sie nur, das ist sehr gut.“ +</p> + +<p> +„Nun will ich Ihnen mal noch was sagen“, fuhr ich fort, mich wieder an +den Deutschen wendend. „Bis jetzt haben sich die Streikposten um euch +noch nicht viel gekümmert. Sie wissen, daß ihr Fremde seid. Aber das +geht nur ein oder zwei Tage so weiter. Morgen abend oder übermorgen +seid ihr erstochen oder erschossen, damit Sie es wissen. Hier fackelt man +nicht lange mit solchem Kroppzeug wie ihr seid. Wir können hier nur +anständige Leute gebrauchen.“ +</p> + +<p> +„Die tun uns nichts“, sagte der Mann. „Wir gehen nicht raus.“ +</p> + +<p> +„Keine Angst, lieber Freund. Die kommen rein und machen das hier +drin ab, unter voller Kaffeehausbeleuchtung mit Musikbegleitung. Verlassen +Sie sich drauf. Nebenbei bemerkt, das einzig richtige Mittel, wie +man mit Streikbrechern umgehen muß. Einen Mexikaner oder einen +Spanier kriegen sie hier nicht als Streikbrecher, die wissen, was es +bedeutet.“ +</p> + +<p> +Er war ein wenig bleich geworden. Nun fragte er: „Gibt es denn hier +keine Polizei?“ +</p> + +<p> +„Natürlich, so gut wie bei euch zu Hause“, sagte ich. „Aber die Polizei +mischt sich hier nicht in Streitigkeiten zwischen Arbeiter und Unternehmer +so ein wie bei euch da drüben. Die ist hier neutral. Wenn sie +den Mörder erwischt, wird er mit einigen Jahren verknackst. Aber +einen Mann, der einem Streikbrecher die letzte Wahrheit gesagt hat, den +kriegen sie nicht. Der ist nicht unter den Streikenden. Sie suchen ihn +auch gar nicht. Den Raubmörder suchen sie. Aber dem hier laufen sie +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +nicht lange nach. Es hat euch ja niemand geheißen, in die Gefahrzone +zu gehen. Wenn ihr trotzdem geht, habt ihr auch die Verantwortung zu +tragen. Als vernünftiger Mensch stellen Sie sich doch nicht auch bei +einem Gewitter direkt unter einen einzelnen hohen Baum? Oder +vielleicht doch? Ihre Schuld, wenn der Blitz Sie erschlägt. Da kann die +Polizei gar nichts tun. Die Polizei ist hier nicht für die Kapitalisten da, +sondern für die Kapitalisten und für die Arbeiter, die Betonung liegt +auf dem Und. Sie steht weder dem Kapitalisten bei noch dem Arbeiter, +wenn die beiden einen Handel miteinander auszufechten haben. Der +Streikbrecher hat in diesem Handel gar nichts verloren.“ +</p> + +<p> +Der gute Mann wußte nicht, worum es ging, vielleicht wollte er es nicht +einmal wissen. Er sagte: „Ich denke, das ist ein freies Land? Wo ist +denn da die Freiheit, wenn man nicht arbeiten darf, wo man will?“ +</p> + +<p> +„So wenig wie Sie da stehen können, wo ein andrer steht, ebensowenig +können Sie an dem Platze arbeiten, wo ein andrer arbeitet. Denn die +Leute haben ihren Platz nicht verlassen, sie haben nur die Arbeit unterbrochen, +und sie kehren zurück, sobald der Alte Vernunft annimmt.“ +</p> + +<p> +„Ich finde so leicht nicht wieder Arbeit“, sagte er nun. „Ich bin froh, +daß ich die hier habe. Ich bleibe hier und lasse mich auf der Straße +nicht sehen.“ +</p> + +<p> +„Seien Sie nur ganz unbesorgt, die haben ein gutes Gedächtnis und +kennen Sie auch noch nach Monaten wieder. Aber wir beide haben uns +wohl von nun an nichts mehr zu erzählen. Und wagen Sie ja nicht, sich +in der Backstube sehen zu lassen. So gesund, wie Sie reingekommen sind, +kommen Sie nicht mehr raus, darauf können Sie sich verlassen. Sie sind +für mich kein Deutscher, sondern ein Lump. Wenn Sie auch sonst nichts +verstehen wollen, das werden Sie ja wohl noch verstehen.“ +</p> + +<p> +Jeder Mensch, der in das Café gehen wollte, mußte sich an den Streikposten +vorbeidrängen, und jedem wurde gesagt, daß gestreikt wurde. +Darauf kehrten die Leute regelmäßig um. Polizei war nicht zu sehen. +Es war ja ganz ruhig. Niemandem geschah etwas. +</p> + +<p> +Aber am Abend, es war vielleicht halb neun, da stand der Deutsche an +der einen Tür. Die Türen sind ja alle offen, und man sieht von draußen +alles, was drinnen vorgeht, so klar, als ob es mitten auf der Straße +geschähe. Die Gäste wollen raussehen und wollen gesehen werden, und +die Nichtgäste wollen reinsehen und sich daran erfreuen, wie sich andre +einen angenehmen Abend machen. +</p> + +<p> +Er stand da an der Tür und wippte mit der Serviette. Er schien recht +stolz zu sein, daß er es zum Kellner gebracht hatte. Unter normalen +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +Umständen hätte er vielleicht Geschirrwäscher werden können. Die +Streikposten kümmerten sich gar nicht um ihn. Sie schielten nur +gelegentlich zu ihm rüber. +</p> + +<p> +Da kam ein junger Bursche vorbei mit einem Stück Holz in der Hand. +Der Streikbrecher ging ein wenig zurück, aber der Bursche ging mit +einem ruhigen Schritt die eine Stufe hoch und hieb ihm zwei gesunde +Hiebe über den Schädel. Dann warf er das Holz weg und ging ruhig +seiner Wege. +</p> + +<p> +Der Notkellner stürzte hin und blutete nach Kräften. Kaum hatte +Senjor Doux das gesehen, da trat er vor die Tür und rief: „Polizei!“ +Es kam gleich einer an, seinen Knüttel in der Hand schwingend. +</p> + +<p> +„Den haben sie totgeschlagen“, rief Senjor Doux dem Polizisten entgegen. +– „Wer?“ fragte der Beamte. +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht“, antwortete Senjor Doux. „Wahrscheinlich die +streikenden Kellner.“ +</p> + +<p> +Sofort sprangen zwei Streikposten hinzu und schrien: „Wenn du Hurensohn +das noch mal sagst, schlagen wir dir die Knochen entzwei.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux verschwand sofort im Café und sagte nichts mehr. +</p> + +<p> +„Haben Sie gesehen, wer den Mann hier geschlagen hat?“ fragte ein +zweiter Polizist, der hinzugekommen war, die Posten. +</p> + +<p> +„Ja, so halb. Ein junger Bursche kam vorbei mit einem Stück Holz – +da liegt es noch – und schlug auf den Mann los“, sagte der eine Posten. +</p> + +<p> +„Kennen Sie den Burschen?“ +</p> + +<p> +„Nein. Zu unserm Syndikat gehört er nicht.“ +</p> + +<p> +„Dann hat er mit dem Streik gar nichts zu tun. Wahrscheinlich eine +andre Geschichte“, sagte der Polizist. +</p> + +<p> +„Zweifellos“, bestätigte der Posten. +</p> + +<p> +Die beiden Polizisten führten den Notkellner zur Wache, wo er verbunden +und für die Nacht dabehalten wurde. +</p> + +<p> +„He, du da drin, du Hurensohn“, riefen die Posten jetzt hinein zu dem +Ungarn. „Wie lange bleibst du noch da drin? Du kriegst eins mit der +Eisenstange, wir haben kein Holz mehr.“ +</p> + +<p> +Der Ungar verstand kein Wort. Jedoch er fühlte, was sie sagten. Er +wurde blaß und ging zurück. +</p> + +<p> +Senjor Doux aber hatte es verstanden. Er lief zur Tür und rief nach der +Polizei. Aber es kam keine. Nach einer Viertelstunde aber sah er einen +an der Ecke stehen. Er rief ihn heran. +</p> + +<p> +„Die Posten haben meinen Kellner mit dem Tode bedroht“, sagte er, als +der Polizist herangekommen war. +</p> + +<p> +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +„Welcher hat ihn mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist. +</p> + +<p> +„Der da“, antwortete Senjor Doux und zeigte dabei auf Morales. +Morales hatte gar nichts gesagt, aber ihn haßte Doux am besten. +</p> + +<p> +„Haben Sie den Kellner mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist. +</p> + +<p> +„Nein. Fällt mir auch gar nicht ein. Dieser Bastard ist mir viel zu +dreckig, als daß ich das Wort an ihn richten würde“, sagte Morales. +</p> + +<p> +„Kann ich mir denken“, erwiderte der Polizist. „Wer hat ihn denn mit +dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist nun. +</p> + +<p> +„Ich habe gesagt, er möge nicht so dicht zur Tür kommen, es könne ihm +sonst vielleicht eine Eisenstange auf den Kopf fallen, da oben vom +Balkon.“ Das sagte einer der Posten. +</p> + +<p> +Senjor Doux stand noch in der Tür. Der Polizist drehte sich jetzt zu ihm +herum und sagte: „Nun, hören Sie, Senjor, wie können Sie denn so etwas +sagen? Es ist doch gar nicht wahr.“ +</p> + +<p> +„Sie haben doch den andern auch schon halb erschlagen“, verteidigte sich +Doux. +</p> + +<p> +„Vertragen Sie sich lieber mit Ihren Leuten,“ riet jetzt der Polizist, +„dann kommt so etwas nicht vor.“ +</p> + +<p> +„Das ist ja eine nette Geschichte hier, daß man nicht mal seinen Schutz +bekommt“, rief Doux wütend. +</p> + +<p> +„Ruhig!“ sagte der Polizist laut, „sonst nehme ich Sie zur Wache. Keine +Beleidigung hier.“ +</p> + +<p> +„Ich zahle doch meine Steuern, und da kann ich doch verlangen ...“ +</p> + +<p> +„Was Steuern?“ unterbrach ihn der Polizist. „Die Kellner zahlen auch +Steuern, genau so gut wie Sie. Und nun lassen Sie uns in Ruhe. Machen +Sie Ihre Geschäfte mit Ihren Leuten ab, aber stören Sie uns nicht immerwährend.“ +</p> + +<p> +Der Ungar stand eine Weile im Café unschlüssig, während hier draußen +die Verhandlungen waren. Es hatten sich Leute angesammelt, die alle +auf seiten der Kellner waren. Und zum Teil waren es deren Ausbrüche +der Sympathie, die dem Polizisten, der ja auch Prolet war, das Rückgrat +steiften. Fr wußte ja nicht, ob nicht vielleicht Doux einen dicken +Freund unter den Inspektoren hatte, der ihm sagen könnte, daß er seine +Pflicht vernachlässigt habe. +</p> + +<p> +Als der Polizist gegangen war, zog der Ungar seine weiße Jacke aus +und ging zur Kasse, um sich seine zwei Tage Lohn geben zu lassen. Er +stand jetzt da in Hemdsärmeln. Diese Hemdsärmel waren nur Fetzen +und Dreck. Zwei Gäste waren im Café, und die sahen den Unglücklichen. +Ihnen verging der Geschmack am Kaffee und am Gebäck, als sie +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +bemerkten, welchen Schmutz und welche Lumpen die weiße Jacke verdeckt +hatte. Sie standen auf, zahlten an der Kasse und gingen. +</p> + +<p> +Senjor Doux fragte den Ungarn, was los sei, und warum er gehen +wolle. Der konnte nicht antworten und versuchte nun, mit Gebärden, +die er überreichlich verschwendete, klarzumachen, daß sein treuer Kollege +etwas über den Schädel gekriegt habe, und daß er wohl der nächste +sein würde, der dran glauben müsse. Draußen standen die Posten und +andre Leute, die diese Gebärdensprache aus fossiler Vorzeit mit Vergnügen +verfolgten. Doux versuchte dem Ungarn begreiflich zu machen, +daß er hier im Café durchaus sicher sei. Aber der Ungar traute dieser +Zusage nicht. Wäre er mit den Sitten und Gebräuchen besser bekannt +gewesen, so würde er gewußt haben, daß er nie und nirgends sicher ist, +daß er ja nicht ewig innerhalb der vier Wände bleiben könne, und daß +er, sobald er das Haus verließe, geliefert ist. Denn sein Gesicht kennen +jetzt schon alle Arbeiter der Stadt, die brauchen keine Photographie +und keinen Steckbrief. Die vier Wände schützen ihn auch nicht. Eines +Tages, morgen oder übermorgen schon, geht einer rein, tut als ob er +Eis an den Tisch gebracht haben will, und wenn der Ungar kommt, hat +er das Messer sitzen oder den Spucknapf so geschickt über den Schädel +gehauen, daß die Ambulanz ihn abholen muß. Ehe man drinnen weiß, +was geschehen ist, ist der Strafvollziehende einige Block weit. Niemand, +der beste Detektiv nicht, findet ihn je. Einer der Gründe, warum es hier +nie Streikbrecher gibt. Man kennt die wirksamsten Mittel und scheut +sich nicht eine Minute lang, sie rücksichtslos anzuwenden. Krieg ist +Krieg. Und die Arbeiter sind im Kriege, bis sie endlich nicht nur eine +Schlacht, sondern den ganzen Feldzug gewonnen haben. Wenn den +Staaten jedes Mittel im Kriege erlaubt ist, warum nicht den Arbeitern +in ihrem Kriege ebenfalls? Der Arbeiter begeht nur immer den Fehler, +daß er als ein anständiger Bürger angesehen werden will. Aber dafür +gibt ihm niemand etwas. +</p> + +<p> +Der Ungar kam heraus, und einer der Posten nahm ihn gleich in +Empfang. Sie brachten ihn zum Bureau des Syndikats, gaben ihm ein +Nachtquartier und versprachen ihm, man wolle versuchen, ihm eine +Stelle in einer Blechschmiede zu verschaffen. +</p> + +<p> +Senjor Doux hatte ihn auch noch um seinen Streikbrecherlohn betrogen, +ihm nur fünfzig Centavos gegeben und vierzig Centavos für ein zerbrochenes +Wasserglas berechnet. +</p> + +<p> +Der Deutsche machte andre Erfahrungen, wie mir später erzählt wurde. +Am folgenden Morgen wurde er dem Polizeioffizier vorgeführt. Anstatt +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +daß man ihn gelobt hätte für seine treue Streikbrecherarbeit, fragte ihn +der Offizier, wo er seinen Einwanderungsschein habe. +</p> + +<p> +„Ich habe keinen“, sagte er mit Hilfe eines Dolmetschers. +</p> + +<p> +„Wie sind Sie denn hier in das Land gekommen?“ +</p> + +<p> +„Mit einem Schiff.“ +</p> + +<p> +„So. Also von einem Schiff ausgerückt.“ +</p> + +<p> +„Nein, ich habe abgemustert.“ +</p> + +<p> +„Ja, diese Abmusterung kennen wir schon. Wir übergeben Sie jetzt +Ihrem Konsul mit der Bedingung, daß er Sie mit dem nächsten Schiff +wieder nach Deutschland zurückschickt. Wir können die Deutschen +sonst sehr gut leiden, aber Sie machen dem deutschen Namen keine +Ehre. Sie stiften hier nur Unfrieden, und für solche Leute haben wir +hier keinen Platz.“ +</p> + +<p> +Zwei Polizisten brachten ihn zum Konsul. +</p> + +<p> +Von nun an war der Konsul für ihn verantwortlich. Er mußte ihn verpflegen, +bis ein deutsches Schiff da war, das ihn mitnahm. +</p> + +<p> +„Was haben Sie denn hier ausgefressen? Gestohlen?“ fragte der +Konsul. +</p> + +<p> +„Nein. Ich habe in der La Aurora als Kellner gearbeitet und eins über +den Kopf gekriegt“, sagte der Mann. +</p> + +<p> +„In der La Aurora wird doch gestreikt. Wußten Sie das nicht?“ +</p> + +<p> +„Freilich. Sonst hätte ich doch nicht da als Kellner arbeiten können, ich +bin doch Tischler.“ +</p> + +<p> +„Ja, lieber Freund, Sie sind hier nicht in Deutschland. Streikbrecher +sind hier nicht beliebt. Wir haben hier eine Arbeiterregierung, und +zwar eine richtige Arbeiterregierung, die zu den Arbeitern hält. Wenn +hier im Wasserwerk oder im Elektrizitätswerk gestreikt wird, dann +gibt es keine Technische Nothilfe wie in Deutschland oder in Amerika, +sondern dann gibt es eben kein Wasser und keine Elektrizität, bis die +Streikenden sagen: So, nun gibt es wieder was. Hier ist die Regierung +neutral in solchen Streitigkeiten. Also, Ihre Tätigkeit hier ist erschöpft. +Laufen Sie mir nicht davon. Ich kriege Sie, und dann lasse ich Sie +daheim verknacken. Sie stehen jetzt unter meiner Autorität; ich habe +gebürgt für Sie, andernfalls müßten Sie hier im Gefängnis warten, bis +ein Schiff da ist. Und das Gefängnis hier ist kein Spaß, sondern ist eine +ernste Sache.“ +</p> + +<p> +Damit war nun die Frage der Streikbrecher in der La Aurora entschieden. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-4"> +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +4 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> waren immer ein paar Gäste im Café, die von +Senjor und Senjora Doux bedient wurden. Aber Geschäft +konnte man es nicht nennen. Wir in der Bäckerei +hatten auch nicht viel zu tun, nur gerade die Bestellungen, +die aus dem Hause gingen. +</p> + +<p> +Es war zwei Tage später und am Nachmittag. Es +mochten vielleicht sechs oder acht Gäste im Lokal +sein. Unter ihnen war ein Polizeiinspektor namens +Lamas. Er war ständiger Gast in der La Aurora, kam am Nachmittag +und kam am Abend. Er hatte bei Senjor Doux eine ganz nette Rechnung +stehen, die er immer „morgen“ bezahlen wollte. Obgleich er gut +verheiratet war und zwei Kinder besaß, hatte er doch außerdem drei +Geliebte, die er alle unterhalten mußte. Das kostete Geld, und das Geld +mußte herangeschafft werden. Darum hatte er auch überall Schulden. +Also die Gäste saßen da drin im Café und aßen ihr Eis oder tranken +geeiste Erfrischungen. An einem Tisch wurde Domino gespielt und an +einem andern Karten. +</p> + +<p> +In den Vereinigten Staaten sind ja die Streikposten gute und fromme +Bürger, die an Gesetz und Autorität glauben. Wenn sie Streikposten +stehen, so tun sie das gerade so, als ob sie einem aufgebahrten Leichnam +die Ehrenwache geben. Sie sagen kein Wort, und wenn die Polizisten +kommen und sagen: „Sie müssen weiter zurücktreten, Sie stören +den Verkehr“, so tun sie das sofort, als ob der Polizist sie bezahlte und +nicht der Polizist von ihrem Gelde lebte. Dort haben die Arbeiter noch +Disziplin, und sie sind gedrillt wie Soldaten. +</p> + +<p> +Hier dagegen haben die Arbeiter nur wenig Disziplin, und die Sekretäre +müssen tun, was die Mitglieder wollen. Und es ist merkwürdig, sie +gewinnen beinahe jeden Streik. +</p> + +<p> +„He, du Hurensohn da drin,“ rief einer der Posten einem Gaste zu, +„friß doch nicht das Eis. Das ist doch nur Wasser und Zucker. Nicht ein +Löffel voll Sahne drin. Der Sauhund da will doch aus deiner Portion +das herausschlagen, was er sonst verdient, wenn nicht gestreikt wird.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Der Gast hielt es offenbar mit dem Wirt; er rief hinaus: „Bezahlst du +das Eis oder ich, du Dreck.“ +</p> + +<p> +„Paß nur auf, du Eiterbeule, daß ich dir nicht mal reinkomme“, sagte +jetzt der Posten, und seine Rede wurde mit lautem Gelächter begleitet. +Einer der Gäste hatte eine Dame bei sich, die aus Strohhälmchen ihre +Squeeze saugte. +</p> + +<p> +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +„Ist sie noch eine Jungfrau?“ rief jetzt ein andrer Streikposten hinein. +„Mach nur schnell, Rodriguez, ehe dir ein andrer zuvorkommt.“ +</p> + +<p> +Die Dame tat, als hätte sie nichts gehört. Aber der Herr, der bei ihr +saß, rief zurück: „Dann lade ich dich ein, du Faulenzer. Für nützliche +Dinge bist du ja nicht zu gebrauchen.“ +</p> + +<p> +„Richtig, Faulenzer,“ sagte der Posten, „an wen verkaufst du sie denn +heute abend? Zwanzig Centavos bezahlt einer wohl noch und ein Glas +Eiswasser.“ +</p> + +<p> +Nun kam Senjor Doux zur Tür und sagte: „Stören Sie hier meine Gäste +nicht, wer nicht hergehört, fort!“ +</p> + +<p> +„Gäste? Sind ja alles Hurenbengel, aber keine Gäste“, schrien nun nicht +nur die Streikposten, sondern auch andre Burschen, die dabeistanden. +„Bezahlen Sie mal einen anständigen Lohn und geben Sie richtiges +Essen. Wir sollen Ihnen wohl erst einmal das Leder abziehen. Machen +Sie nur ja recht rasch. Lange warten wir nicht mehr und stehen hier +auch nicht mehr lange Posten. Dazu haben wir keine Zeit. Dann werden +wir mal einen andern Ton anstimmen.“ +</p> + +<p> +Nun kam der Inspektor Lamas zur Tür. Er mußte sich wohl für seine +Schulden einsetzen. Vorige Woche hatte er auch noch eine Torte für +fünfundzwanzig Pesos bekommen mit dem schönen Namen „Adelia“ +draufgegossen. Adelia war eine jener drei Geliebten, und die Torte +war für ihren Geburtstag bestimmt. Er war noch besonders in die Backstube +gekommen und hatte Rosenranken als Verzierungen gewünscht. +Diese Torte war er auch noch schuldig. +</p> + +<p> +Er stand eine Weile in der Tür und hörte sich die Reden mit an. Dann +zog er seinen Revolver und schlug dem Posten, der ihm am nächsten +stand, mit dem Knauf eins über den Kopf, so daß gleich das dicke Blut +herausquoll. Dann pfiff er. Es kamen zwei Polizisten, und er ließ alle +Posten und einige andre Leute, die in Sympathie mit den Streikenden +waren, zur Hauptwache führen. +</p> + +<p> +Kaum waren sie abgeführt, da kam Morales zurück, der drei Stunden +abgelöst worden war und jetzt wiederkam, um seinen Posten von +neuem anzutreten. Als er hörte, was geschehen war, rief er rein: „Du +Hundesohn da drin,“ er meinte Doux damit, „jetzt geht es dir schlecht, +das sollst du mal sehen. Bis jetzt haben wir nur Spaß gemacht. Aber +wenn du das nicht anders haben willst, wir können auch noch eine +andre Flöte blasen.“ +</p> + +<p> +Morales ging sofort zum Bureau des Syndikats. +</p> + +<p> +Zehn Minuten darauf war schon der Sekretär auf der Wache. +</p> + +<p> +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +„Was wollen Sie?“ +</p> + +<p> +„Sofort her mit dem Inspektor. Mit dem werde ich jetzt mal ein Wörtchen +reden. Der ist besoffen.“ +</p> + +<p> +Der Inspektor kam, und der Sekretär wollte seine verhafteten Leute +sehen. Auch diese Leute kamen, und der Sekretär fragte nun nach dem +Polizeidirektor. Auch der kam, wurde ganz aufgeregt, als er den Sekretär +des Syndikats sah, und machte sich gleich an das Geschäft. +</p> + +<p> +„Warum haben Sie den Mann geschlagen?“ fragte der Direktor. +</p> + +<p> +„Er hat die Leute im Café beschimpft.“ +</p> + +<p> +Der Direktor sah ihn jetzt voller Wut an: „Wo steht, daß Sie einen +Mann, der jemand beschimpft und sonst nichts tut, schlagen dürfen?“ +</p> + +<p class="ibr"> +Lamas wollte was sagen, aber der Direktor fiel ihm gleich ins Wort: +„Kennen Ihre Instruktion nicht!“ Er wandte sich zum Schreiber: +„Schreiben Sie, Lamas ist in Unkenntnis über seine Instruktionen.“ +</p> + +<p> +Dann sagte er zu Lamas: „Das ist hier kein guter Platz für Sie. Ich +werde sehen, daß ich ein Dorf für Sie kriege, wo Sie kein Unheil +anrichten können. Und wenn noch mal etwas Ähnliches vorkommt, +werden wir ohne Sie fertig werden müssen. Wird uns nicht schwerfallen. +Warum haben Sie die Leute hier verhaftet?“ +</p> + +<p> +„Die haben alle Gäste und Senjor Doux beschimpft“, sagte Lamas +schüchtern. +</p> + +<p> +„Beschimpft. Beschimpft. Was heißt das, beschimpft?“ +</p> + +<p> +„Sie haben Hurensohn gesagt“, verteidigte sich Lamas. +</p> + +<p> +„Wenn Sie jeden verhaften wollen, der Hurensohn sagt, dann werden +Sie wohl gleich um das ganze Land eine Gefängnismauer ziehen müssen. +Ich glaube, Sie sind nicht ganz richtig im Kopfe.“ +</p> + +<p> +„Sie haben die Leute aber auch noch bedroht.“ Es klang recht kläglich, +was Lamas sagte und wie er es sagte. +</p> + +<p> +„Bedroht. Was verstehen Sie denn darunter?“ +</p> + +<p> +„Sie haben gesagt, sie wollen Senjor Doux erschlagen.“ +</p> + +<p> +„Das haben wir nicht gesagt“, riefen die Verhafteten. +</p> + +<p> +Der Direktor sah Lamas ironisch an und sagte: „Hat zu Ihnen noch nie +jemand gesagt, daß er Sie erschlagen wolle? Haben Sie dann Ihre Frau +und Ihre Freunde und Bekannten auch gleich verhaftet und mit dem +Revolverkolben über den Kopf geschlagen?“ +</p> + +<p> +„Das schien aber hier sehr ernst zu sein“, sagte Lamas. +</p> + +<p> +„Um Ihre Haut oder um was? Hat einer von denen, die Sie verhaftet +haben, jemand geschlagen oder beraubt oder das Café des Senjor Doux +demoliert? Sicher nicht, denn dann würden Sie mir das gleich erzählt +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +haben. Wir und Sie sind dazu da, um das Eigentum und die Person des +Senjor Doux zu schützen, aber es steht nicht in der Verfassung, daß +wir dazu da seien, ihm zu helfen, Löhne zu zahlen, von denen kein +Mensch leben kann, und ihm zu helfen, seine Leute jeden Tag so lange +zu beschäftigen, daß sie nicht einmal mehr Zeit finden, mit ihrer +Familie spazierengehen zu können. Wenn die Leute sich das gefallen +lassen, das geht uns nichts an; aber wenn sie es sich nicht mehr länger +gefallen lassen wollen, dann ist es nicht unsre Aufgabe, die Leute deshalb +zu verhaften. Warum verträgt sich Senjor Doux nicht mit seinen +Leuten? Dann hätte er gleich Ruhe. Aber diese Unordnung kann nicht +weitergehen. Das kann ja zu Ruhestörungen führen. Ich werde sofort +anordnen, daß das Café La Aurora für zwei Monate geschlossen wird. +Dann ist da Ruhe.“ +</p> + +<p> +Er wandte sich zum Schreiber: „Füllen Sie gleich das Schließungsdokument +aus, für zwei Monate. Ich werde es unterzeichnen und beim +Gouverneur verantworten. Und Sie, Senjor Lamas, betrachten sich als +vorläufig Ihres Dienstes enthoben, bis ich vom Gouverneur unterrichtet +bin, wohin Sie versetzt werden. Die Verhafteten sind entlassen. Außerdem +irgendwelche Beschwerden?“ +</p> + +<p> +„Nein“, erklärten die Leute. +</p> + +<p> +Der Direktor stand auf, gab dem Sekretär des Syndikats, der sich verabschiedete, +die Hand und sagte zu ihm: „Wir haben ja nun in der Angelegenheit +nichts mehr zu tun. Das Weitere liegt jetzt bei Ihnen. Es +war gut, daß ich so schnell zu erreichen war. Es sind immer noch welche +da, die nicht mitkönnen.“ +</p> + +<p> +„Oder die nicht mitwollen, weil sie gebunden sind“, setzte der Sekretär +fort. +</p> + +<p> +„Er wird einen Platz bekommen, wo er Ersparnisse machen kann, weil +er keine Ausgaben hat. Ich habe schon einen Platz für ihn, eine Banditenregion. +Wenn er etwas wert ist, da kann er es zeigen. Und wenn er +nichts wert ist, werden wir ihn feuern. Er gehört immer noch zu dem +alten Stock, die glauben, daß die Diktatur die einzig richtige Form des +Regierens ist. Wir haben sie bald alle raus, und es ist ganz gut, wenn +die Letzten, die wir drin haben, in alte Fehler verfallen und sich uns +so zu erkennen geben.“ +</p> + +<p> +„Ha!“ rief der Sekretär aus, „in den Staaten drüben sind diese alten +Fehler urmoderne Einrichtungen.“ +</p> + +<p> +„Weiß ich,“ erwiderte der Direktor, „aber wenn wir schon vieles nachmachen, +so müssen wir doch nicht alles nachmachen, und besonders +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +müssen wir nicht das nachmachen, was in unsre Zeit nicht mehr hineinpaßt. +Diese Mittel waren einmal gut, vielleicht, heute sind sie die +dümmsten Mittel, die man anwenden kann. Und sie werden auch +drüben nur von Eseln angewandt; und Esel haben die da drüben ja +viel mehr als wir, wenn es sich um zweibeinige handelt.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-5"> +5 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> beiden Beamten mit ihren grünen Schnüren +am Rock kamen zu Senjor Doux und übergaben +ihm das Dokument. Doux bekam einen heillosen +Schreck und schrie zu seiner Frau: „Na ja, +da haben wir ja die Bolschewistenregierung. Die +haben mir einen netten Streich gespielt.“ +</p> + +<p> +„Was ist denn los?“ sagte seine Frau näherkommend. +</p> + +<p> +„Die haben uns geschlossen.“ +</p> + +<p> +„Ich habe es dir ja immer gesagt, laß uns nicht hierhergehen. Das ist +ein ganz verrücktes Land, wo es weder Recht noch Gesetz gibt. Du +kannst nur immer Steuer zahlen, und zwar tüchtig, aber zu sagen hast +du nichts.“ +</p> + +<p> +„Sie müssen gleich zumachen,“ sagte nun der Beamte, der das Protokoll +überreicht hatte, „sonst gibt es ein Strafmandat über hundert Pesos.“ +</p> + +<p> +„Die Gäste werden doch wohl noch ihre Getränke austrinken dürfen?“ +fragte Senjor Doux. +</p> + +<p> +Der Beamte sah nach der Uhr und sagte: „Eine halbe Stunde, dann ist +Schluß. Sie kriegen einen Wachtmann her, der aufpaßt, daß Sie keine +Gäste aufnehmen für das Lokal. Den Wachtmann müssen Sie bezahlen. +Das ist ein Beamter.“ +</p> + +<p> +„Ich auch noch den Wachtbeamten bezahlen?“ +</p> + +<p> +„Sie glauben doch nicht etwa, daß wir ihn bezahlen? Wir haben kein +Geld dafür, um umsonst aufzupassen, daß Sie das Protokoll auch einhalten.“ +</p> + +<p> +Die beiden Beamten gingen raus und stellten sich vor die Tür, um die +halbe Stunde Gnadenzeit abzuwarten. Als sie um war, riefen sie hinein, +und Senjor Doux schloß wütend die Türen. Nur der Gang für das Hotel +blieb offen, weil das Hotel ja die Ruhe und Sicherheit nicht gestört hatte. +Im Lokal aber zog keine Ruhe ein, sondern es wurde lebhafter, als es +je in den letzten Tagen gewesen war. Die Douxens gerieten sich in die +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +Haare. Sie wurde wie eine Furie, jeder Centavo, der dem Geschäft verlorenging, +fraß an ihrem Herzen. Sie watschelte in ihren Pantoffeln +hin und her zwischen den Tischen und machte dem Manne das Dasein +heiß. Sie trug nur Hänger, gerade so übergeworfen. Die dicken fleischigen +Waden waren frei und steckten in hellgelben seidenen Strümpfen. +Nacken und der Oberteil der Brust waren auch frei, fleischig und +quabbelig. Nur ihre Jugend hielt diese ausgewachsenen Massen in einer +Form, die nicht gerade häßlich wirkte, sondern mehr verlockend. Aber +fünf Jahre mehr würden das Verlockende sicher auslöschen, und das +Häßliche würde nicht nur bleiben, sondern verstärkt werden. Die Arme +guckten ihrer ganzen Länge nach nackt aus den Ärmellöchern des +Hängers. Sie hätte, nach dem Aussehen ihrer Arme zu urteilen, als +Ringkämpferin auftreten können. Aber es war nur quabbeliges Fleisch, +wie alles übrige ihres Körpers. Im Nacken hatte sie einen Fleischwulst, +der vorläufig nur schüchtern sich hervorwagte, aber in einigen Jahren +Landmarke sein würde. So wie sie jetzt herumlief, lief sie immer im +Lokal herum. Wäre es ein andres Lokal gewesen, man hätte sie gut für +eine Bordellmutter halten können, mit der nicht gut zu spaßen war. +Die Hänger wechselte sie zuweilen. Sie hatte einen grauen, einen rosafarbenen, +einen grünen, einen dunkelgelben und einen hellvioletten. +Ob sie irgendein andres Kleid besaß, weiß ich nicht. Ich habe nie ein +andres an ihr gesehen. +</p> + +<p> +Senjor Doux lief auch stets in Hemd und Hose umher. Nur wenn er +zum Markt ging, setzte er einen Hut auf. Er trug immer eine schwarze +Hose, die er mit einem schmalen Ledergürtel hielt, ein weißes Hemd +mit Kragen und schwarzem Schlips. Sein Bauch stand spitz vor, als ob +er am Aufblasen sei. Auch die Senjora schien einen ähnlichen spitzen +Bauch zu haben. Man konnte das nur nicht so beurteilen, weil der +Hänger das ausglich. Aber was sie vorn zuviel hatte, fehlte ihr hinten. +Das heißt, hinten war schon allerlei vorhanden; aber das proportionale +Verhältnis zum Bauch war doch nicht kräftig genug, um der ganzen +Figur die mollige Form zu geben. Und weil vorn viel mehr war als +hinten, so sah es in dem Hänger immer so aus, als ob sie hinten nur das +Allernotwendigste habe, und als ob selbst dieses Allernotwendigste +gerade am Überlegen sei, ob es nicht auch noch nach vorn rutschen solle. +Jedenfalls brauchte Senjor Doux nicht verlegen sein, er konnte gut +etwas in den Händen halten und brauchte nicht zu befürchten, sich an +Knochen wund zu stoßen. „Du bist ja rein verrückt gewesen,“ schrie sie +auf ihn ein, „hier in dieses wahnsinnige Land zu gehen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +„Ich?“ schrie er zurück. „Warst du es nicht, die jeden Tag mir die Ohren +volljaulte, daß hier das Geld auf der Straße läge, und daß man es nur +aufzuschaufeln brauche?“ +</p> + +<p> +„Du gemeiner Lügner, du,“ brüllte sie los, „du dreckiger Marseiller Zuhälter, +der du bist, hast du nicht mein ganzes Geld abgehoben und mir +gesagt, daß es hier tausend Prozent bringe in zwei Jahren?“ +</p> + +<p> +„Habe ich vielleicht nicht recht damit gehabt? Wir sind hierhergekommen +mit nichts. Oder wieviel haben wir denn gehabt? Achthundert Pesos. +Oder vielleicht mehr? Und jetzt haben sie mir schon achtundsechzig +tausend Pesos für das Haus und Café geboten. Und ich verkaufe es +nicht dafür, weil es viel mehr wert ist.“ +</p> + +<p> +„Mehr wert? Mehr wert?“ erboste sie sich. „Nicht einen Dreck ist es +wert. Wo denn? Es ist zu. Die werden dir kaum die Ziegelsteine bezahlen. +Aber das habe ich dir ja schon damals gesagt, als die neue Regierung +herankam. Wie heißt denn der Hund, der Obregon, der Spitzbube! +Da war es vorbei.“ +</p> + +<p> +„Wir haben doch erst seitdem angefangen, zu etwas zu kommen. Oder +vielleicht vorher? Vorher vielleicht? Wo wir einhundert Pesos nach den +andern schmieren mußten, um die Augen aufbehalten zu dürfen. Jeder +hielt die offne Hand hin.“ +</p> + +<p> +„Und jetzt,“ widersprach sie ihm, „ist es jetzt anders? Jetzt stehen die +Leute immer mit der offnen Hand da. Erst die Küche, nun die Kellner, +und du wirst sehen, die Bäckerei kommt auch noch hintennach. Dann +können wir heimfahren, bettelarm.“ +</p> + +<p> +„Laß mich jetzt in Ruhe, zum Donnerwetter nochmal“, schrie er in +voller Wut. „Du verdirbst alles mit deiner Habgier und mit deinem verfluchten +Geiz.“ +</p> + +<p> +„Ich geizig? Geizig ich? Wo ich doch das ganze Geld zusammenhalten +muß, weil du es sonst verhuren würdest mit den Weibsbildern. Und +das nennst du geizig? Du freilich kümmerst dich nicht um die Kinder +und was daraus wird. Du gehst huren, und ich habe die Kinder am +Halse.“ +</p> + +<p> +Da hörten wir ja feine Familiengeheimnisse. Ich glaube kaum, daß die +Senjora recht hatte; denn ich wüßte nicht, wann er sich Zeit genommen +hätte, Seitensprünge zu machen. Aber solche Auseinandersetzung war +wohl das, was man „ein eheliches Zwiegespräch“ nennt. Denn die beiden +lebten in durchaus glücklicher Ehe und Harmonie. Diese glückliche Ehe +wurde nur eben dadurch gestört, daß Arbeiter anfingen, aufzuwachen +und die Gewinne derer zu überrechnen, für die sie arbeiteten. Solches +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Überrechnen stört zuweilen Könige und ganze Staaten. Warum soll es +nicht auch die Harmonie von Ehen stören? +</p> + +<p> +Diese ehelichen Zwiegespräche wurden in den nächsten Tagen nicht +nur heftiger, sondern auch häufiger. Sie füllten das ganze Tagesleben +der beiden Doux aus und zogen sich die ganze Nacht hin, während die +beiden nebeneinander im Bett lagen. Dadurch lernten wir das ganze +Leben der beiden kennen, von dem Tage an, wo sie geboren wurden, +bis zu der Stunde, wo sie sich im Bett schlugen, Lampen und Waschschüsseln +und Nachttöpfe zerhämmerten. Das alles hatte ihr Freund, +der Polizeiinspektor verursacht. Sie aber behaupteten, die junge +Organisation, das „Syndikat der Hotel- und Restaurantangestellten“ +sei schuld. Nicht schuld an den ehelichen Liebesgesprächen, wohl aber +an der allmählichen Verschiebung der Machtverhältnisse im Lande. +</p> + +<p> +Als sie beide jenes Stadium erreicht hatten, in dem sie mit der Absicht +umging, ihm Rattengift in den Kaffee zu mischen, und er die ganze +Nacht hindurch an das Rasiermesser dachte, mit dem er ihr die Kehle +durchschneiden wolle, bewies er, daß der Mann der Frau überlegen +ist. +</p> + +<p> +Er ging zum Polizeidirektor und fragte, was zu tun sei, um die zweimonatige +Schließung des Lokals aufzuheben. Der Polizeidirektor sagte +ihm, daß er da gar nichts tun könne; die Schließung sei für zwei +Monate angeordnet, der Gouverneur habe es bestätigt, und ehe die zwei +Monate nicht vorüber seien, könne er nicht wieder öffnen. +</p> + +<p> +„Dann bin ich bankrott“, sagte Senjor Doux. „Und dann haben die +Kellner und Bäcker keine Arbeit mehr.“ +</p> + +<p> +„Machen Sie sich nur darum keine Sorge, Senjor,“ erwiderte der +Direktor, „solange Leute Brot essen wollen, so lange werden auch Leute, +die Brot backen, Arbeit finden, und solange jemand im Café sitzen und +Erdbeereis löffeln will, wird man auch Kellner verlangen, die es ihm +auf den Tisch stellen. Das sehen Sie ja an der ‚La Moderna‘, die ist +jetzt immer gut besucht. Alle Ihre Gäste sind da. Aber ich kann nichts +tun. Das Lokal ist geschlossen, und es bleibt zwei Monate geschlossen.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Am Nachmittag dieses Tages traf Senjor Doux den Morales. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Morales, ich will alles bewilligen,“ sagte ihm Doux in bescheidener +Ansprache, „können Sie nicht dafür sorgen, daß mein Lokal +wieder aufgemacht wird?“ +</p> + +<p> +Morales sah ihn von oben bis unten an und gab ihm zur Antwort: „Wer +sind Sie denn? Ach so, Sie sind ja der Doux vom Café La Aurora. Wir +haben mit Ihnen nichts zu tun. Unsre Beziehungen sind nun gelöst. +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Wenn Sie was wollen, gehen Sie zum Syndikat. Aber uns geht das +nichts an. Adios.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux schrieb einen Brief an das Syndikat, daß er den Herrn +Sekretär sprechen wolle, er bitte ihn höflichst, zu ihm zu kommen, um +die Angelegenheit in dem Kellnerstreik mit ihm zu besprechen. Am +andern Tage erhielt Senjor Doux die Antwort vom Syndikat. Es waren +keine Höflichkeitsfloskeln darin enthalten, sondern nur in einem kurzen +klaren Satze war gesagt: „Wenn Sie etwas vom Syndikat wünschen, +das Bureau ist: Calle Madero Nr. 18. Segundo Piso. Der Sekretär.“ +</p> + +<p> +Er hielt es nicht einmal für nötig, der Sekretär, seinen Namen zu +nennen. Was blieb Senjor Doux übrig, er mußte gehen; denn das +Rasiermesser verfolgte ihn Tag und Nacht, und selbst wenn er aß, hatte +er das Gefühl, daß sein Tischmesser ein Rasiermesser sei. „Setzen Sie +sich da in den Vorraum“, sagte ein Arbeiter, der im Bureau aushalf. +„Wir haben noch zu tun, eine Besprechung. Es wird nicht lange dauern.“ +Es dauerte aber doch über eine halbe Stunde, und Senjor Doux hatte +inzwischen Zeit, die Sinnsprüche, die an den Wänden hingen, auswendig +zu lernen. Jeder dieser Sprüche erregte zuerst seine Wut. Je +länger er sie aber studierte, desto mehr Angst bekam er vor den +Dingen, die ihm hinter der Tür bevorstanden, wo er eine Schreibmaschine +klappern hörte. +</p> + +<p> +Endlich kam der Arbeiter und sagte: „Senjor, der Sekretär will Sie +sprechen.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-6"> +6 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">enjor</span> Doux schluckte, als er den kleinen Raum des +Sekretärs betrat. Er hatte beabsichtigt, dem Sekretär +gleich fest in die Augen zu sehen; aber er kam nicht +dazu. Denn hinter dem Sekretär war über die ganze +Wand eine Fahne, zur Hälfte rot, zur andern Hälfte +schwarz, gespannt und darüber stand in dicken +Lettern: +</p> + +<p> +¡Proletarios del mundo, unios! (Proletarier aller +Länder, vereinigt euch!) +</p> + +<p> +Das machte Senjor Doux ganz verwirrt. Er hatte plötzlich den Eindruck, +als ob da vor ihm nicht der Sekretär sitze, sondern alle Kellner +der ganzen Welt ihn wütend anblickten. Seine Stimme, die so fest sein +sollte, wurde ganz zaghaft, als er nun sagte: „Guten Tag, ich bin Senjor +Doux vom Café La Aurora.“ +</p> + +<p> +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +„Gut. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie?“ fragte der Sekretär. +</p> + +<p> +„Ich möchte gern wissen, ob Sie veranlassen können, daß mein Café +wieder geöffnet wird.“ +</p> + +<p> +„Das können wir veranlassen“, erwiderte der Sekretär. „Sie brauchen +nur die Bedingungen zu erfüllen.“ +</p> + +<p> +„Oh, ich bin bereit, alles zu bewilligen, was die Kellner fordern.“ +</p> + +<p> +Der Sekretär nahm einen kleinen Zettel, warf einen Blick darauf und +sagte: „Die Forderungen sind nicht mehr die gleichen, die gestellt +wurden, als die Kellner Ihnen die Mitteilung machten.“ +</p> + +<p> +„Nicht mehr die gleichen?“ schluckte Doux erschreckt. +</p> + +<p> +„Nein. Es sind fünfzehn Pesos die Woche“, sagte der Sekretär geschäftsmäßig. +</p> + +<p> +„Die forderten aber nur zwölf.“ +</p> + +<p> +„Das ist leicht möglich. Aber dann wurde gestreikt. Und Sie verlangen +doch nicht etwa, daß die Leute umsonst streiken. Jetzt macht es fünfzehn. +Hätten Sie gleich bewilligt, wäre es bei zwölf geblieben.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ erwiderte Doux, sich aufrichtend, „ich bewillige die fünfzehn +Pesos.“ +</p> + +<p> +„Freitag ist Zahltag. Freitags für die ganze Woche. Diese unpünktlichen +Zahlungen können wir nicht mehr zulassen“, sagte der Sekretär. +</p> + +<p> +„Aber das kann ich nicht so ohne weiteres machen. Wir haben das +immer so gemacht, daß wir zahlten, wenn wir das Geld eben gerade +dazu frei hatten.“ +</p> + +<p> +Der Sekretär sah auf: „Was Sie immer getan haben, geht uns nichts an. +Wir bestimmen, was Sie von nun an zu tun haben. Mit dieser alten +Wirtschaft, wie sie Hunderte von Jahren bestanden hat, wollen wir +nun endlich ein Ende machen. Da ist die Arbeit, hier ist der Lohn, +Ebenso pünktlich wie Sie die Arbeit von den Leuten verlangen, haben +Sie den Lohn zu zahlen!“ +</p> + +<p> +„Das wird aber schwer gehen“, verteidigte Doux seine Position. „Dann +fehlt mir oft das Geld für Einkäufe.“ +</p> + +<p> +„Das kümmert uns nichts. Löhne gehen vor, sonst fehlen den Leuten +die Pesos, um <em>ihre</em> Einkäufe zu machen. Und wir denken, es ist besser, +daß Ihnen das Geld für Einkäufe fehlt als den Arbeitern.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux atmete schwer. „Aber am Samstag ist doch erst die Woche +um. Warum soll ich da Freitag schon den Lohn zahlen?“ +</p> + +<p> +„Warum? Warum? Ist Ihnen denn das nicht klar?“ Der Sekretär tat +ganz erstaunt. „Der Arbeiter borgt Ihnen ja sowieso schon fünf Tage +Lohn. Er gibt Ihnen seine Arbeitskraft fünf volle Tage, während Sie +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +mit dem Kapital Geschäfte machen. Wie kommt denn der Arbeiter +überhaupt dazu, Ihnen fünf Tage Arbeit zu borgen? Eigentlich sollten +Sie Montag früh im voraus für die ganze Woche bezahlen, das würde +sich gehören. Aber so weit wollen wir nicht gehen.“ +</p> + +<p> +„Gut, also damit bin ich auch einverstanden. Auch mit dem einen Vollessen +und dem Kaffee mit Zugebäck. Dann ist ja wohl das alles in +Ordnung?“ Senjor Doux stand auf. +</p> + +<p> +„Setzen Sie sich nur noch einen Augenblick“, lud ihn der Sekretär ein. +„Da sind noch einige Nebenfragen zu erledigen. Die Streiktage müssen +Sie bezahlen.“ +</p> + +<p> +„Ich? Die Streiktage bezahlen?“ schrie Senjor Doux. „Ich soll auch noch +die Faulenzerei bezahlen?“ +</p> + +<p> +„Streik ist keine Faulenzerei. Und wenn bei Ihnen gestreikt wird, +müssen Sie den vollen Lohn weiter zahlen. Streik ist auch Arbeit. Sonst +könnten Sie alle, die ganzen Hotelbesitzer und Kaffeehausbesitzer, uns +ja zu einem langen Streik treiben, um unsre Kassen zu zerstören, so +daß wir nie wieder streiken könnten. Nein, Senjor, darauf lassen wir +uns nicht ein. Der Streik wird von uns finanziert. Wir sind nur die +Lehnsbank für die Arbeiter. Aber zu zahlen haben Sie den Streik. Sie +haben ja Zeit, reichlich, sich zu überlegen, ob Sie es zum Streik kommen +lassen wollen oder nicht. Die Kriegskosten muß der bezahlen, der den +Frieden braucht, um wieder Geschäfte zu machen.“ +</p> + +<p> +„Das ist die größte Ungerechtigkeit, die mir je vorgekommen ist“, rief +Senjor Doux. +</p> + +<p> +„Ich will Ihnen nicht die Ungerechtigkeiten hier vorzählen, die Sie und +Ihresgleichen jahrelang verübt haben“, sagte der Sekretär. +</p> + +<p> +„Es bleibt mir wohl nichts andres übrig, ich muß auch das bezahlen“, +gestand Doux nun kleinlaut. +</p> + +<p> +„Am besten gleich heute,“ erklärte der Sekretär, „denn morgen kostet +es bereits einen Tag mehr.“ +</p> + +<p> +„Dann werde ich noch vor fünf Uhr herkommen und alles bezahlen“, +sagte Senjor Doux und erhob sich abermals. +</p> + +<p> +„Bringen Sie aber etwas mehr mit“, warf der Sekretär ein, während +er sich gleichfalls erhob. +</p> + +<p> +„Noch mehr?“ fragte Senjor Doux erschreckt. +</p> + +<p> +„Ja, ich denke, Sie wollen doch das Café jetzt schon geöffnet haben und +nicht erst nach zwei Monaten.“ +</p> + +<p> +„Ist denn das nicht damit verbunden, wenn ich alles bewillige?“ Senjor +Doux wurde ganz nervös. +</p> + +<p> +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +„Keineswegs“, erwiderte der Sekretär. „Das Schließen des Lokals hatte +andre Gründe als den Streik. Das wissen Sie wohl recht gut. Sie haben +den Inspektor aufgefordert, den Streikposten einen Denkzettel zu +geben.“ +</p> + +<p> +„Das habe ich nicht getan“, wehrte sich Doux. +</p> + +<p> +„Wir sind darüber andrer Meinung. Es ist jedenfalls in Ihrem Lokal +geschehen, und Sie sind für die Vorgänge in Ihrem Lokal verantwortlich. +Sie konnten es leicht verhindern, daß so etwas vorkommen konnte.“ +</p> + +<p> +„Dann sagen Sie doch schon, was ich noch zu tun habe“, drängte Senjor +Doux. +</p> + +<p> +„Sie haben zehntausend Pesos in die Kasse unsres Syndikats zu zahlen +als Sühnegeld. Sobald Sie die Summe eingezahlt haben, werden wir für +Sie die Garantie übernehmen, und dann kann das Café geöffnet +werden, und die Siegel werden abgelöst.“ +</p> + +<p> +„Zehntausend Pesos soll ich zahlen?“ Senjor Doux war wieder in den +Stuhl gefallen. Der Schweiß brach ihm aus. +</p> + +<p> +„Sie brauchen es nicht zu bezahlen. Wir zwingen Sie nicht. Dann bleibt +das Café zwei Monate geschlossen.“ Der Sekretär wurde ganz trocken +und kaufmännisch. „Natürlich haben Sie nach zwei Monaten die Löhne +für die Kellner für die vollen zwei Monate nachzuzahlen. Die können +doch nicht verhungern. Und wir können ihnen leider nicht erlauben, +andre Arbeit anzunehmen, weil sie sich bereit halten müssen, bei Ihnen +wieder anzufangen, sobald Sie öffnen. Wir können doch nicht zugeben, +daß Sie eines Tages, wenn Sie öffnen wollen, keine Kellner haben und +vielleicht geschäftlichen Schaden erleiden. Und damit Sie gleich im +klaren sind, ein für allemal: Es ist nicht unsre Absicht, das Geschäftsleben +zu vernichten oder auch nur zu stören. Durchaus nicht. Aber es +ist unsre Absicht, dafür zu sorgen, daß der Arbeiter von dem, was er +produziert, nicht nur einen angemessenen Anteil erhält, sondern den +Anteil, der ihm zukommt bis zu der höchsten Grenze, die das Geschäft +tragen kann. Und diese Grenze ist viel höher, als Sie glauben. Damit +beschäftigen wir uns augenblicklich besonders eingehend, die Tragfähigkeit +jedes Arbeitszweiges zu errechnen. Arbeitszweige, die dem +Arbeiter nicht so viel eintragen, daß er ein Leben führen kann, wie es +einem Menschen von heute zukommt, sollen zugrunde gehen. Dabei +wollen wir helfen. Und wenn solche Arbeitszweige wichtig sind für die +Allgemeinheit, dann werden wir dafür sorgen, daß die Allgemeinheit +dem Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet. Daß Ihr +Café für die Allgemeinheit so sehr wichtig wäre, bestreite ich. Aber es +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +ist nun einmal da. Und solange Sie es dazu benutzen, Ihr Vermögen zu +vergrößern, bringt es auch genügend ein, um anständige Löhne zu +zahlen. Wenn Sie nichts mehr verdienen können, werden Sie schon von +selber zumachen. – So, das habe ich Ihnen gesagt, damit Sie nicht +denken, wir sind Erpresser. Nein, wir wollen nur, daß die Leute, die +Ihnen ein Vermögen produzieren, den Anteil bekommen, auf den sie +ein Recht haben. Für Sie bleibt noch genug übrig.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux hatte das sicher nur zur Hälfte verstanden. Er saß ganz +verdöst da. In seinem Kopfe surrten nur immer jene zehntausend Pesos +herum, die er da auf den Tisch legen sollte. Er traute sich nicht ja zu +sagen aus Angst vor seiner Senjora. Aber ebensowenig traute er sich +ein glattes Nein hier hinzuwerfen, gleichfalls aus Angst vor der Senjora. +Er wußte ja nicht, was sie vorziehen würde. Jeder Tag Zögerung +kostete Geld. Schließlich kam es auf mehr heraus als auf diese zehntausend +Pesos, wenn er zwei Monate geschlossen halten mußte und dann +außerdem die Löhne nachzuzahlen hatte. So arbeitete er mit den Summen +in seinem Kopfe, bis er halb verrückt wurde. +</p> + +<p> +Er stand auf und sagte: „Ich werde es mir überlegen.“ +</p> + +<p> +Er verließ das Bureau, ging die Treppe hinunter und trat auf die +Straße. Er wischte sich den Schweiß und schnappte nach Luft. Dann +machte er sich auf den Heimweg. Dabei kühlte er ab und fing an, die +Sache ruhig zu überlegen. Er rechnete auf einem Papierstückchen hin +und her und kam endlich zu der Überzeugung, daß es billiger sei, sofort +alles zu bezahlen. +</p> + +<p> +Nun aber Senjora Doux. Ging er erst heim, so gab es die furchtbarsten +Kämpfe. Sagte er ein bündiges Nein, würde sie sagen: „Warum hast +du nicht ja gesagt?“ Umgekehrt hätte sie gesagt: „Warum hast du nicht +nein geantwortet.“ Er konnte in diesem Falle tun, was er wollte, er +würde es ihr nie recht machen, denn es kostete Geld, und zwar reichlich +Geld. Und in allen Dingen, die Geld kosteten und nicht das Doppelte +einbrachten, gab es Krakeel. Endlich aber packte ihn ein stolzer Mannesmut, +einmal seinen Willen ganz allein, und ohne seine Frau zu fragen, +durchzusetzen. Und er dachte das am besten in der Weise zu tun, wenn +er eine Entscheidung traf, die sie in die hellste Wut treiben müßte. Und +das war, sofort zur Bank zu gehen, das ganze Geld, das nötig war, abzuheben +und sofort wieder, ohne auch nur seine Frau zu sprechen, +zum Bureau zurückzugehen und alles glatt zu bezahlen. +</p> + +<p> +Eine halbe Stunde später war er im Bureau, zahlte jeden Peso, der aufgesetzt +war, und dann sagte ihm der Sekretär: „Abends um sieben +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +dürfen Sie Ihr Café wieder aufmachen. Ich werde dafür sorgen, daß +Ihnen bis dahin das Aufhebungsprotokoll zugestellt wird.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux faltete die Quittungen zusammen, nachdem die Marken +draufgeklebt waren, und sagte dann: „Ich habe nur eine kleine Einwendung +zu machen.“ +</p> + +<p> +„Ja?“ fragte der Sekretär. +</p> + +<p> +„Ich soll doch jetzt die Löhne Freitags zahlen für die ganze Woche?“ +</p> + +<p> +„Allerdings“, erwiderte der Sekretär. +</p> + +<p> +„Was dann aber, wenn der Mann am Samstag nicht wiederkommt? +Dann hat er ja einen Tag Lohn, mit dem er fortgelaufen ist.“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie mal an,“ sagte der Sekretär lächelnd, „wie gut Sie rechnen +können. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet. Sie sind ja bisher +den Leuten manchmal sechs Wochen lang mit dem Lohn davongelaufen, +nicht nur mit einem Tag, nein, mit sechs Wochen Lohn.“ +</p> + +<p> +„Aber die Leute haben doch dann immer ihren Lohn bekommen, und +ich bin ihnen doch sicher.“ Senjor Doux warf sich in die Brust. +</p> + +<p> +„Ob Sie so sicher sind, ist noch sehr die Frage. Sie können ja unter der +Hand verkaufen und laufen davon mit den stehenden Löhnen. Aber +das kommt vielleicht nicht vor. Was aber vorkommt, das ist, daß Sie +immer einige Wochen lang die Löhne festhalten und mit diesem Gelde, +das den Kellnern gehört, Geschäfte machen, ohne den Leuten Zinsen +dafür zu zahlen. Wie kommen die Leute dazu, Ihnen Geld kostenlos +vorzustrecken? Das wird nun aufhören. Sie können noch froh sein, +daß wir nicht anordnen, die Löhne werden Mittwoch abend für die +ganze Woche bezahlt, so daß also das Risiko auf halb und halb geht. +Lassen wir es bei Freitag. Wenn Sie anständig zu den Leuten sind, +läuft Ihnen schon keiner mit dem einen Tag Lohn davon. Und sollte es +wirklich einmal einer tun, so werden Sie daran nicht zugrunde gehen. +Also diese Frage ist nun geklärt. Besser, Sie beeilen sich, daß Sie +bis um sieben mit allem fertig sind und Ihre Gäste zufriedenstellen +können.“ +</p> + +<p> +Senjor Doux verließ das Bureau und ging heim. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-7"> +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +7 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">as</span> ist ganz vernünftig, daß du das gemacht +hast“, sagte seine Senjora wider Erwarten. +„Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten +wir das alles sparen können.“ +</p> + +<p> +„Nach dir?“ fragte Senjor Doux erstaunt. „Es ist +ja alles nach dir gegangen. Du hast mir ja geraten, +ich sollte die Kellner alle rausfeuern, es +wären genug auf der Straße, die froh seien, +wenn sie dafür arbeiten könnten.“ +</p> + +<p> +„Das ist doch auch richtig“, erwiderte Senjora Doux. „Sie laufen uns +ja das Haus ein, um Arbeit zu kriegen. Daß mit einem Male niemand +kommen würde außer diesen beiden Vagabunden, hatte ich nicht gedacht. +Das war mein ganzer Fehler in der Rechnung. Laß nur gut sein, +wir holen das Geld schon wieder herein; die Bäckerei und die Konditorei +muß es bringen. Die sind ja anständiger als die Kellner, die sind +ja keine Bolschewisten.“ +</p> + +<p> +So war es. Die Bäckerei und die Konditorei mußten den Schaden gutmachen. +Senjor Doux tat etwas für Reklame. Er ließ in den Kinos und +in den Zeitungen inserieren, was für gute Brötchen er backe, wie gut +seine Kuchen und Torten seien und wie vorzüglich das Kleingebäck. +</p> + +<p> +Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend nun um elf, Samstags um +zehn anfangen mußten, und daß es dann durchging bis zum andern +Tage nachmittags um vier oder fünf. Das wurde nun schon die Regel. +Wem es nicht gefiel, der hörte auf. Das war Senjor Doux recht angenehm. +Dann erklärte er, daß niemand wegen Arbeit nachfragen käme, +und wir mußten eine Weile für den einen oder gar zwei, die aufgehört +hatten, noch mitarbeiten. +</p> + +<p> +In Wahrheit aber war es so, daß Senjor Doux so lange wie nur irgend +möglich den fehlenden Mann nicht ersetzte, um den Lohn für ihn zu +sparen. Denn wir schickten ihm Leute zu, die er nicht annahm, und zu +denen er sagte, es sei nichts frei. Das ging dann so lange, bis wir einfach +Bestellungen liegen ließen. Wenn es sich um Bestellungen handelte, die +für einen Geburtstag oder einen Namenstag sein sollten, dann gab es +immer Unannehmlichkeiten für Senjora Doux. Er drückte sich, und sie +hatte sich mit der Kundschaft herumzuschlagen. Endlich wurde es ihr +zu bunt, und sie selbst nahm einen oder zwei neue Leute an, immer +die billigsten, die nichts von der Bäckerei verstanden und auch nicht +genügend Intelligenz besaßen, es rasch zu begreifen. +</p> + +<p> +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +Mit Senjor Doux hatte der Meister auch jeden Tag seine Auseinandersetzungen. +Den einen Tag fehlte der Zucker. Der Meister ging zum +Doux und sagte ihm, daß wir zweihundert Kilo Zucker benötigten. +</p> + +<p> +„Gut, gut,“ erwiderte Senjor Doux, „werde ich gleich bestellen.“ +</p> + +<p> +Aber er bestellte nicht, nur um ein paar Tage länger das Geld in der +Tasche behalten zu können. Dann kam eine Stunde, in der überhaupt +kein Zucker da war und wir uns mit den Kellnern herumschlugen, die +in die Backstube kamen, um auch noch den letzten Rest von Zucker +für das Café herauszuholen, wo die Gäste vor leeren Zuckerdosen +saßen. Dann sauste Senjor Doux los, um rasch den Zucker heranzuschaffen. +Wir konnten mit unsrer Bäckerei dann stehen und warten, +konnten nicht weiterarbeiten, bis der Zucker da war, konnten aber +auch nicht zu Bett gehen, weil die Ware noch fertig werden mußte und +wir auf den Zucker zu warten hatten. +</p> + +<p> +So ging es mit den Eiern. Da waren fünfhundert Kisten bestellt. Die +kamen auch. Dann, wenn wir an den letzten fünfzig Kisten arbeiteten, +sagte der Meister dem Senjor Doux: „Eier müssen bestellt werden.“ +</p> + +<p> +„Hat es nicht Zeit bis morgen?“ fragte Doux. +</p> + +<p> +„Ja, bis morgen hat es Zeit, aber dann müssen sie bestellt werden.“ +</p> + +<p> +„Gut denn“, sagte Doux, und er war recht zufrieden, daß er bis morgen +warten durfte. +</p> + +<p> +Am folgenden Vormittag hatte der Meister dann wieder reinzulaufen. +„Es wird aber höchste Zeit, übermorgen sind wir fertig mit den Eiern.“ +Diesmal fragte Doux nicht, ob es Zeit habe bis morgen, sondern er +wartete selbst auf eignes Risiko bis morgen. Und dann kam richtig die +Stunde, wo wir umherstanden und auf die Eier zu warten hatten. +</p> + +<p> +Und ebenso ging es mit dem Eis. Das Speiseeis sollte bis zwei Uhr fertig +sein. Die Masse hatten wir längst fertig. Aber das Roheis kam nicht, +weil Doux es zu spät bestellt hatte. Dann kam es statt um eins um drei +oder um vier, und wir hatten zu warten und umherzustehen, weil wir +nicht Schluß machen konnten, ehe das Eis fertig war für das Café. +</p> + +<p> +So wurde mit unsrer Zeit gewüstet. Es war nicht alles reine Arbeitszeit, +nein, es war verwüstete Zeit, die wir nutzlos vergeuden mußten, nur +weil Senjor Doux ein paar Stunden länger sein Geld behalten wollte, +und weil unsre Arbeitszeit, unsre Lebenszeit ja nicht für Stunden, sondern +für die ganze Woche von ihm gekauft wurde. Und jede Minute +unsres Lebens gehörte ihm, nicht uns. Er bezahlte dafür. +</p> + +<p> +Wenn es uns nicht gefiel, gut, wir konnten ja gehen. Wir konnten gehen +und verhungern. Arbeitsgelegenheit war rar. Und die Arbeit, die zu +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +haben war, wurde von den Eingeborenen weggeschnappt, die es für +einen Lohn taten, von dem man nicht leben kann, selbst wenn man +Eingeborene davon mit ihren Familien leben sieht. Was blieb einem +übrig? Verhungern oder tun, was dem Herrn beliebte. Mit den Kellnern +konnte er nicht mehr tun, was ihm beliebte. Wir hatten jetzt alles das +mit zu übernehmen, was er an ihnen nicht verüben konnte. Wir waren +Gesindel. Wenn wir gingen, zwanzig andre warteten, überselig, in eine +Bäckerei zu kommen, wo es nicht nur Brot reichlich zu essen gab und +Kuchen, nein, wo es sogar Mahlzeiten gab, so gut, wie sie diejenigen, +die als Arbeiter für die Bäckerei in Frage kamen, nie auf ihrem Tische +gesehen hatten. +</p> + +<p> +Die Kellner waren Mexikaner oder Spanier, intelligente Burschen, aufgeweckt +und rührig. Aber wir in der Bäckerei waren zusammengelesenes +Gesindel, ohne Familie, ohne Wohnort. Einige konnten nicht einmal +Spanisch sprechen. Die Arbeitsverhältnisse und Löhne boten auch +nicht die geringste Anziehungskraft für Arbeiter, die Klassenstolz +haben. Bürgerstolz hatten wir schon. Aber mit Bürgerstolz kann man +die Lebensverhältnisse des Arbeiters nicht verbessern. Denn Bürgerstolz +hat der Unternehmer selbst genug, und er weiß, wie er ihn zu +seinen Gunsten zu gebrauchen hat. Das ist sein Schlachtfeld, wo er +jeden Kniff kennt und jeden Angriff mit Erfolg zu parieren versteht. +Wir strebten nur danach, etwas zu sparen und dann einen kleinen +Handel anzufangen oder das Reisegeld zusammenzubekommen, um nach +Colombia zu gehen. Wir versuchten aus dem Acker, den wir bebauten, +soviel herauszuholen wie nur möglich. Ob die, die nach uns auf diesem +Acker sich ansiedeln mußten, darauf verreckten, das war uns gleichgültig. +Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich grase einmal ab und ziehe +auch noch die Wurzeln mit heraus, wenn das Gras nicht langt. Nach uns +die Sündflut. Was gehen mich meine Mitsklaven an? +</p> + +<p> +Senjor Doux und alle seine Geschäftskollegen in der Stadt verstanden +es schon, uns jede Möglichkeit zu nehmen, nachdenken zu lernen. Es +ist ja hier Neuland. Jeder hat nur einen Gedanken: Reich zu werden, +recht rasch reich zu werden; ohne Rücksicht darauf, was aus dem andern +wird. So machen es die Ölleute, so die Minenleute, so die Kaufleute, so +die Hotelbesitzer, so die Cafeterios, so jeder, der ein paar Kröten hat, +etwas auszubeuten. Wenn er kein Ölfeld, keine Silbermine, keine +Ladenkundschaft, keine Hotelgäste ausbeuten kann, so beutet er den +Hunger der zerlumpten Arbeiter aus. Alles muß Geld bringen, und +alles bringt Geld. In den Muskeln und Adern hungernder Arbeiter liegt +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +das Gold genau so gut aufgespeichert wie in den Goldminen. Goldminen +auszubeuten, erfordert oft große Kapitalien und ist häufig mit +einem großen Risiko verknüpft. Die Goldminen, die hungernde +Arbeiter in ihren Kadavern tragen, sind bequemer auszubeuten als +unsichere Ölfelder, wo man zehnmal auf zweitausendfünfhundert Fuß +bohren kann mit großen Kosten und nichts als tote Brunnen macht. Solange +der Arbeiter seine Knochen rühren kann, ist er kein toter Brunnen. +Da ist der Ungar Apfel. Er kam her mit einigen hundert Pesos und +fand keine Arbeit. Dann mietete er sich eine kleine Baracke und kaufte +sich bei einem Althändler Werkzeuge und bei einem andern Althändler +altes Blech. Davon machte er Eimer und Wassertanks. +</p> + +<p> +Eines Tages kam ein Amerikaner vorbei und sagte: „Können Sie mir +nicht einen Tank machen?“ +</p> + +<p> +„Den kann ich machen, wenn Sie mir hundert Pesos Vorschuß geben“, +erwiderte Apfel. +</p> + +<p> +Er konnte ihn aber nicht machen. +</p> + +<p> +Dann traf er in einer chinesischen Speisewirtschaft einen hungrigen +und zerlumpten Landsmann aus Budapest, der vor der Blutgier des +Herrn Horthy hatte fortrennen müssen. Der kam in die Wirtschaft und +kam auch an den Tisch Apfels und fragte bescheiden mit einem paar +Brocken Spanisch, ob er nicht das halbe Brötchen da haben könne, das +Apfel noch auf dem Teller liegen habe, und das abgeräumt werden sollte. +</p> + +<p class="ibr"> +„Nehmen Sie es“, sagte Apfel. „Was sind Sie denn für ein Landsmann?“ +</p> + +<p> +„Ungar“, antwortete der Mann. +</p> + +<p> +Und nun sprachen sie Ungarisch. +</p> + +<p> +„Suchen Sie Arbeit?“ fragte Apfel. +</p> + +<p> +„Ja, schon lange, aber es ist nichts zu kriegen.“ +</p> + +<p> +„Nein, es ist nichts zu kriegen“, bestätigte Apfel. „Aber ich kann Ihnen +Arbeit verschaffen.“ +</p> + +<p> +„Wirklich?“ sagte der Mann erfreut. „Ich wäre Ihnen ja so dankbar +dafür.“ +</p> + +<p> +„Aber es ist vierzehnstündige Arbeitszeit.“ +</p> + +<p> +„Das macht nichts,“ erwiderte der Mann, „wenn es nur Arbeit ist und +ich zu essen habe.“ +</p> + +<p> +„Der Lohn ist auch nicht hoch. Nur gerade zwei Pesos fünfzig.“ +</p> + +<p> +„Damit wäre ich schon zufrieden.“ +</p> + +<p> +„Dann kommen Sie nur morgen früh dort hin“, sagte Apfel und machte +dem Manne klar, wo er seine Werkstatt habe. „Da arbeite ich auch, ich +habe da einen kleinen Kontrakt übernommen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +„Da bin ich ja recht froh, daß ich mit einem Landsmann zusammenarbeiten +kann.“ +</p> + +<p> +„Das dürfen Sie auch,“ sagte Apfel, „denn irgend jemand anders stellt +Sie nicht ein. Es ist durchaus keine Arbeit zu haben.“ +</p> + +<p> +Der Mann kam und fing an zu arbeiten. Und er arbeitete tüchtig. Vierzehn +Stunden am Tage. In tropischem Lande. In einer Holzbaracke unter +einem Wellblechdach. Man kann eine solche Arbeit nicht beschreiben. +Man kann nur dabei zusammenbrechen oder ein Skelett werden. +</p> + +<p> +Zwei Pesos fünfzig den Tag. Fünfzig Centavos für die Nacht in einem +Bett, nein, kein Bett, ein Holzgestell, über das ein Stück Segeltuch gespannt +ist. In einer Lumpenherberge, wo Wanzen und Tausende von +Moskitos die Nacht zur Hölle machen. Fünfzig Centavos für Mittagessen +beim Chinesen und fünfzig Centavos für Abendessen beim Chinesen. +Zwanzig Centavos für ein Glas Kaffee und zehn Centavos für +zwei trockene Brötchen. Ein paar Zigaretten den Tag. Ein Glas Eiswasser +für fünf Centavos oder auch zwei oder drei im Laufe des Tages. +Dann geht auch das Hemd in die Brüche, die Schuhe waren schon hinüber, +ehe er anfing zu arbeiten, und ein Paar neue kosten einen vollen +Wochenlohn, ein Hemd zwei Tage Lohn, vorausgesetzt, man ißt nichts. +Das geht zwei Wochen, das geht drei Wochen, das geht vielleicht sogar +vier Wochen. Dann muß er ins Hospital gebracht werden. Als Landarmer. +Vielleicht kann man den Konsul zahlen machen, vielleicht nicht. +Malaria, Fieber, wer weiß was. Zwei Tage darauf kommt er in eine +Holzkiste und wird verscharrt. +</p> + +<p> +Apfel hat aber seinen Kontrakt erfüllt und drei neue Tanks in Auftrag +bekommen. Er findet immer wieder hungernde Landsleute. Wenn +es keine Ungarn sind, dann Österreicher, oder Deutsche, oder Polen +oder Böhmen. Sie schwirren ja nur so herum. Alle sind ihm ja so dankbar +dafür, daß er ihnen Arbeit gibt, jetzt nur noch zwölf Stunden den +Tag, weil er modern wird und kein Ausbeuter ist. Aber zwei Pesos +fünfzig und dem Antreiber drei Pesos fünfzig. Denn den Antreiber +braucht er, weil er – es sind nur gerade vier Jahre, seit er den ersten +Tank baute – im eignen Auto spazierenfährt und sich im amerikanischen +Viertel ein schönes Haus bauen ließ. +</p> + +<p> +Auch die Knochen der Landsleute, denen man Wohltaten erweist, und +die infolge der Wohltaten, infolge der Überarbeit, infolge der Schlafhöhlen, +in denen sie ihre Nächte verbringen, infolge der schlechten Ernährung +dutzendweise am Fieber verrecken und als Niemand verscharrt +werden, kann man zu Gold machen. +</p> + +<p> +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +In Budapest schreiben die Zeitungen: „Unser Bürger Apfel hat durch +Tatkraft und Unternehmungsgeist da drüben in wenigen Jahren ein +Riesenvermögen gemacht.“ Möchten doch die Zeitungen immer so genau +die Wahrheit drucken wie in diesem Falle. Reichtümer über Nacht +werden hier gemacht! Das ist richtig. Man hat nichts weiter nötig, als +die Goldminen auszubeuten. +</p> + +<p> +Und die Fremden können es am leichtesten. Wenn ihnen von den Nichtlandsleuten +ein Strich durch die Rechnung gemacht werden soll, dann +stehen sie unter dem Schutze ihrer Hohen Gesandtschaft, und das freie +Amerika droht mit dem militärischen Einmarsch. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-8"> +8 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> schliefen nicht in einer Lumpenherberge, aber +doch auch in einer Schlafhöhle. Haus konnte man es +nicht gut nennen. Es war eine große Holzkiste mit +einem Blechdach. Das Licht kam nur durch die Tür +herein und durch die Fensterluken, die weder Glas +noch Drahtgaze hatten. Es führte eine Holztreppe +hinauf in den Raum, sechs Stufen. Unter dem Hause +lagen alte Eierkisten und leere Schmalzdosen, alte +Stricke und morsche Lumpen. In der Regenzeit war das alles ein wüster +Schlamm und eine wundervoll ideale Brutstätte für Hunderttausende +von Moskitos. +</p> + +<p> +Der Raum war gerade groß genug, daß man zwischen den Klappgestellen, +die man Betten nennen muß, weil sie es vorstellen sollen, +vorbeigehen und sich dazwischen ankleiden konnte. Der Raum diente +nicht nur uns zum Aufenthalt, sondern auch großen Eidechsen und +fingerlangen Spinnen. Außerdem trieben sich da noch immer drei +Hunde herum. Einer von ihnen war immer krank und hatte die Räude +oder so etwas Ähnliches. Er sah grauenerregend aus. Wenn er sich +besserte, bekam der andre die Krankheit. Aber die Hunde liebten uns +sehr, und darum jagten wir sie nicht fort. Sie waren oft unser einziges +Vergnügen, wenn wir keine Zeit hatten, mal auf die Straße zu gucken, +sondern nur gerade so auf die Segelleinwand fielen und vor Übermüdung +nicht einschlafen konnten. +</p> + +<p> +Hin und wieder wurde der Raum von einem von uns ausgefegt. Gescheuert +wurde er nie. Da aber das Dach leckte, so bekamen wir reichlich +Wasser in die Bude, wenn ein tropischer Wolkenbruch losging, was +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +im letzten Monat der Regenzeit alle halbe Stunde geschah. Wir wurden +dann natürlich auch naß, und unser Schlafen bestand dann darin, daß +wir immerfort aufstehen mußten, um das Schlafgestell unter eine Stelle +des Daches zu schieben, wo wir glaubten, daß da kein Regen hindurch +käme. Aber der Regen folgte uns mit beharrlicher Bosheit, wohin wir +uns auch verkrochen. +</p> + +<p> +Wir hatten jeder ein Moskitonetz. Aber das klaffte an einem halben +Dutzend Stellen auseinander. Und die Moskitos fanden nicht nur die +klaffenden Stellen sehr leicht, sondern ebenso leicht und sicher jene +Stellen, wo wir glaubten, da könne kein Loch sein. Wir nähten an den +Netzen herum, so gut wir konnten. Aber am nächsten Tage war es +neben dem alten Loch wieder aufgerissen. Man darf ruhig sagen, jedes +Netz bestand nur aus großen Löchern, die durch morsche Stoffetzen +zusammengehalten werden, damit die Löcher auch wissen, wo sie hingehören. +</p> + +<p> +Außerdem besaßen wir jeder ein sehr schmutziges Kopfkissen. Und +jeder hatte eine zerlumpte Decke. An der Wand hing ein alter Spiegel +in einem Weißblechrahmen und einige Photographien von nackten, +ganz nackten Mädchen und andre Photographien von Vorgängen, die +in vielen Ländern von dem Staatsanwalt beschützt werden. Diese +Photographien hier hätte keine noch so moderne Kunstkommission verteidigen +können, weil sie mit Kunst absolut nichts, dagegen mit Naturvorgängen +alles zu tun hatten. Aber in einem Lande, wo man solche +schönen Sachen in jedem anständigen Laden kaufen kann, und wo sie +ein zehnjähriger Junge genau so leicht kaufen kann wie ein alter Seemann, +macht niemand damit Geschäfte, weil sie niemand interessieren, +und weil sie niemand kauft. Nur Verbotenes interessiert. Wir sahen +auch nichts Besonderes daran, wir hatten keine Zeit dazu. +</p> + +<p> +Zwischen neun und zwei Uhr konnte man sich in dem Schlafraum nicht +aufhalten, man wäre sofort Dörrfleisch geworden. Aber in dieser Zeit +hatten wir ja darin nichts verloren, sondern da arbeiteten wir vor den +Backöfen. Und gerade dann immer, wenn es so schön kühl zu werden +begann, daß man herrlich schlafen konnte, mußte man raus. +</p> + +<p> +Die Arbeit an sich war nicht schwer, das könnte ich nicht sagen. Aber +fünfzehn bis achtzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein, +unausgesetzt hin und her rennen, sich bücken und strecken, Dinge da +hinstellen und dort forttragen, macht viel mehr müde, als wenn man acht +Stunden sehr schwer arbeitet und an eine Stelle gebunden ist. Dann +ging es immerwährend: „Flink, flink, das Rundgebäck aus dem Ofen. +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +Rasch, Teufel noch mal, die Bleche gefettet. Kreuzdonner, den Schläger +in die Rührmaschine geschraubt, schnell, schnell, ich muß Schnee haben. +Die Masse ist versalzen, fix, fix, weg damit, neue angesetzt. Ich brauche +zwei Kilo Glasur, habe ich Ihnen doch vor einer Stunde schon gesagt. +Ja, Himmelelement, haben Sie denn die Zuckerlöse nicht gestern eingekocht? +Jetzt sind wir aufgeschmissen! Heiliger Nepomuk, nun rutscht +auch noch der José mit der Eismasse aus, und die Suppe schwimmt auf +dem Zement. Danke schön, José, das geht heute wieder bis sechs, wenn +solche Schweinereien gemacht werden.“ +</p> + +<p> +Das war ein immerwährendes Hetzen und Jagen und Kommandieren +und Rennen. Ich bin sicher, daß ich täglich meine vierzig Kilometer da +bin und her raste. Und dann der ewige Wechsel. Kaum war ein neuer +angelernt, schon ging ein andrer wieder fort. Das Anlernen hielt am +meisten auf. Senjor Doux sagte dann: „Nun habt ihr zwei neue Leute +bekommen, die ich bezahlen muß, und ihr schafft doch nicht mehr. +Was hat es da für Zweck, überhaupt neue einzustellen? Es kommt ja +nichts heraus dabei.“ +</p> + +<p> +Er hatte schon recht, aber es kam doch nie einer, der etwas vom Backen +verstand. Man mußte ihnen jeden einzelnen Griff zeigen, sogar wie sie +ein Blech oder den Mehllöffel anzufassen hatten. Und ehe man es ihnen +zeigte, hatte man es zehnmal selbst gemacht. Manche begriffen es ja +rasch. Manche aber standen ewig im Wege herum und hielten nur auf. +Wir bekamen einen Konditor, der mit dem einfachsten Blätterteig +nicht fertig wurde, und doch konnte er Zeugnisse vorzeigen, daß er in +ersten Konditoreien gearbeitet hatte. +</p> + +<p> +Es waren nur die Fremden, die ausländischen Arbeiter, an denen +Senjor Doux verdienen und die er ausbeuten konnte. Die mexikanischen +Arbeiter ließen sich nicht so ausbeuten. Sie machten das zwei, +drei, höchstens vier Wochen mit, dann sagten sie: „Das ist zu viel +Arbeit“ und hörten auf. Dann hatten sie aber auch genügend Geld, +daß sie einen kleinen Handel mit Zigaretten, Kaugummi, Ledergürteln, +Revolvertaschen, Backwaren, Zuckerwaren, kandierten Früchten, +frischem Obst oder ähnlichen Dingen anfangen konnten. Der Handel +brachte ihnen vielleicht nur einen Peso durchschnittlich im Tag, aber +sie richteten sich damit ein und waren freie Männer, die nicht andern +Leuten ihre Knochen verkauften. Manche dieser kleinen Händler kamen +immer höher rauf, bis sie sich in einer winkligen Nebengasse ein dunkles +kleines Lokal mieten konnten, das sie zu einem Laden einrichteten. +Wir dagegen blieben immer versklavt. Wir gaben uns mit dem Peso +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +Reingewinn, den wir als freie Männer hätten machen können, nicht zufrieden. +Wir verdienten ja auch viel mehr. Einen Peso und fünfzig +Centavos den Tag und Essen und Wohnung. Und wir stellten höhere +Ansprüche an das Leben. Jene Leute, die nur gerade so lange arbeiteten, +bis sie genügend verdient hatten, um sich selbständig zu machen, gaben +sich mit einer Zwirnhose für drei Pesos fünfzig Centavos zufrieden. +Eine solche Hose war uns natürlich nicht gut genug. Unsre mußte +sieben oder acht Pesos kosten. In einer andern glaubten wir uns nicht +sehen lassen zu können, ohne unsre Würde als Weißer zu verlieren. +Jene freien Leute kauften rohe Stiefel für sieben oder acht Pesos. In +solchen Stiefeln konnten wir nicht über die Straße gehen. Wie hätte +denn das ausgesehen? Schon der Mädchen wegen konnten wir das nicht +tun. Unsre Stiefel kosteten nie unter sechzehn oder achtzehn Pesos. Wir +waren ja auch Weiße. Und um das bleiben zu können in den Augen +der übrigen Weißen, der Amerikaner, der Engländer, der Spanier, +mußten wir Sklaven bleiben. Adel verpflichtet. Nirgends mehr als in +tropischen Ländern, die eine eingeborene Bevölkerung haben so groß, +daß die Weißen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen. +</p> + +<p> +Freilich, wenngleich wir uns auch die größte Mühe gaben, Kaste zu +behalten, wir lebten dennoch in einer merkwürdigen Schwebestellung. +Die Amerikaner, Engländer und Spanier zählten uns nicht zu ihresgleichen. +Für die waren wir doch nur das dreckige Proletariat, und das +blieben wir auch. Zu den Mischblütigen gehörten wir auch nicht. Für +die waren wir die fremden Bettler, der Schlamm, der den wohlhabenden +Weißen in der ganzen Welt nachfolgt und ihnen an den Fersen +haftet, wohin sie auch immer gehen. Diese Großen machen natürlich +den Schlamm, aber wenn sie ihn wegräumen sollen, dann gehen sie +heim. +</p> + +<p> +Zu den reinblütigen Eingeborenen gehörten wir auch nicht. Auch diese +wollten nichts mit uns zu tun haben. Alle diese und sieben Achtel +der Halbblütigen waren Proleten wie wir, aber es trennte uns doch eine +Welt voneinander, die nicht überbrückt werden konnte. Sprache, Volksvergangenheit, +Sitten, Gebräuche, Anschauungen, Ideen waren so trennend, +daß sich kein gemeinsames Band zeigen konnte. +</p> + +<p> +Laßt es gehen, wie es will. Laßt uns leben. Und das wollen wir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-9"> +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +9 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> hatten wieder mal Lohn ausbezahlt bekommen. +Osuna und ich gingen einkaufen. Er kaufte einen +neuen Hut, Hemd und neue Stiefel; ich legte mir +eine neue Hose und ein Paar schöne braune Schuhe +zu. Wir gingen gleich nach Hause und zogen das an. +Dann sagte Osuna: „Was tun wir denn mit dem +Geld, das wir jetzt noch übrig haben?“ +</p> + +<p> +„Das möchte ich wissen“, sagte ich. „Ich habe mir +auch schon Gedanken darüber gemacht. Überflüssige Sachen zulegen, +hat gar keinen Zweck.“ +</p> + +<p> +„Nein, das hat gar keinen Zweck“, bestätigte Osuna. +</p> + +<p> +„Das Geld hier in der Tasche behalten, wäre eine Dummheit“, fuhr ich +fort. +</p> + +<p> +„Das wäre gewiß eine sehr große Dummheit“, gab Osuna zu. „Es wird +einem ja doch gleich gestohlen.“ +</p> + +<p> +„Es auf die Bank zu tragen, halte ich auch nicht für gut“, erklärte ich. +</p> + +<p class="ibr"> +„Wir würden uns damit nur lächerlich machen, wenn wir mit unsern +paar Pesos da angerückt kommen und sagen, daß man uns damit ein +Konto eröffnen soll“, sagte Osuna, und er hatte recht. +</p> + +<p> +„Zweifellos würden wir uns damit unsterblich blamieren“, unterstrich +ich die kluge Bemerkung Osunas. „Außerdem ist die Bank jetzt schon +geschlossen. Während der Geschäftsstunden haben wir auch gar keine +Zeit hinzugehen.“ +</p> + +<p> +„Was sollen wir nur tun mit dem Geld? Auf Tequila habe ich gar +keinen Appetit.“ Das sagte Osuna. +</p> + +<p> +„Ich kann ihn nicht riechen.“ Das sagte ich. +</p> + +<p> +„Wissen Sie, was wir tun könnten?“ fragte Osuna. +</p> + +<p> +„Ja?“ +</p> + +<p> +„Wir könnten runtergehen zu den Senjoritas.“ +</p> + +<p> +„Das Beste, was wir tun können“, antwortete ich. „Dann wissen wir +wenigstens, wo unser Geld geblieben ist, und wir können es auch gar +nicht besser anlegen.“ +</p> + +<p> +„Richtig“, sagte Osuna. „Da sprechen Sie die Wahrheit. Wir sehen ja +jetzt ganz anständig aus und können uns da sehen lassen. Immer die +Backstube vor Augen oder die Kammer, da wird man noch ganz +verrückt.“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte ich, „und die Photographien tun es auch nicht für immer. +Ich glaube überhaupt, wir müssen uns mal nach einigen neuen Photographien +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +umsehen. Ich kann diese Frauenzimmer nun bald nicht mehr +angucken.“ +</p> + +<p> +„Ich auch nicht“, gab Osuna zu. „Es ist beinahe so, als ob man mit ihnen +verheiratet wäre. Sie mischen sich bereits in alles rein, und sie scheinen +sich in der Tat um alles zu bekümmern, was wir tun. Ich bin es nun +leid. Man kennt sie schon zu gut, und ich will mal andre Gesichter +sehen.“ +</p> + +<p> +Osuna stand auf von dem Rand des Bettgestells, ging zur Wand und +riß die ganzen schönen nackten Frauen herunter. Dann legten wir +jeder einen Peso beiseite, versteckten die beiden Pesos in einem alten +Schuh und machten aus, daß wir morgen nachmittag neue Frauen und +neue „Vorgänge“ kaufen würden, um unsre einsamen Kammerwände +damit zu zieren und unsre Phantasie nicht verhungern zu lassen. Um +auch die richtige Auswahl treffen zu können und zu wissen, was am +eindrucksvollsten auf unsre Phantasie wirken könne, machten wir uns +jetzt elegant und suchten nach den Wirklichkeiten des Lebens, wo es +nicht nüchtern, sondern schön ist, ohne der Betäubung durch den +Tequila zu bedürfen. +</p> + +<p> +Es war bereits Abend geworden. Wir hatten ziemlich weit zu gehen, +denn die Senjoritas wohnten am Rande der Stadt. Sie bewohnten ein +ganzes Viertel für sich allein. Das war ihnen ebenso lieb wie den +Männern, die nach der Schönheit des Lebens suchten, ohne Verpflichtungen +dafür übernehmen zu müssen, wenn sie die Schönheiten genießen +dürfen. +</p> + +<p> +Es tönte uns gleich Musik entgegen und frohes Lachen. Mit jedem +Schritt, den wir näher kamen, vergaßen wir mehr und mehr die +Trockenheit und die Stumpfheit des Lebens. Die entsetzliche Nüchternheit +des Lebens kann man auch im Tequila vergessen, aber doch nicht +so. Es bleibt immer ein wüster Strudel im Kopf zurück und ein dickes +dreckiges Gefühl im Munde. Nein, Schönheit ist, wo Musik ist und rotbemalte +Mädchenlippen lachen. +</p> + +<p> +An den Häusern entlang waren zementierte Fußwege, kaum zwei +Schritte breit. Die Straße lag einen Meter oder zuweilen noch viel mehr +tiefer als die Fußsteige. Es führten keine Stufen hinunter, sondern +wenn man auf die Straße wollte, mußte man einen gewagten Sprung +machen. Diese Straßen waren lehmige Moraste, Schlamm und große +Wasserlachen füllten das Straßenbett. Und dieser Morast und die +Wasserlachen waren dick und stinkig. Große Steine und irgendwo +abgebrochene Zementbrocken lagen wahllos umher. Tiefe Löcher +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +machten die Straßen so gut wie unpassierbar. Trotzdem arbeiteten +sich Autos und Droschken durch diese Straßen, um Gäste zu bringen, +zu erwarten oder abzuholen. Zuweilen blieben die Autos in den +morastigen Löchern stecken. Und mit furchtbarem Geknatter, Heulen, +Schießen, Knallen, Keuchen und Stampfen arbeiteten sie sich wieder +heraus und weiter. Aber die Autoführer und die Droschkenkutscher +schimpften nicht. Sie lachten nur und nahmen das alles als einen +Spaß, der mit dazu gehöre, und ohne den das Viertel hier nicht das +sein könnte, was es wirklich ist. +</p> + +<p> +An Straßenecken standen kleine Musikkapellen, die sehr gut spielten, +viel besser spielten als die Straßenkapellen in der Stadt, wo sie so dick +herumwimmelten, daß sie sich die Füße gegenseitig abtraten. Jede +dieser Kapellen hatte eine Geige, eine Baßgeige, eine Klarinette und +eine Flöte. Manche hatten keine Flöte, sondern dafür eine Trompete. +Andre wieder hatten nur Geige, Baßgeige und Gitarre. Die waren beinahe +immer die besten. Wenn sie gespielt hatten, gingen sie einsammeln. +Es gab selten jemand etwas. Meist gaben eigentlich nur die +Senjoritas den Musikern etwas Geld. +</p> + +<p> +Aber dann gingen die Kapellen auch wieder in die Restaurants und +spielten dort. Dort bekamen sie schon eher etwas, häufig aber auch +nichts. Das Dasein der Künstler. Dem die Musik am besten gefiel, dem +sie am meisten sagte und am meisten gab, hatte kein Geld, um sie zu +bezahlen. Und die andern, die zahlen konnten und es auch manchmal +taten, sagten, es seien Bettelmusikanten, und sie sollten doch lieber +„It ain’t goin’ rain’ no’ mo’ –“ spielen, statt diese blöden Opern. Es +waren aber keine Opern, sondern es waren altmexikanische Lieder +und Gesänge, die so süß klangen und doch so voller Kraft waren. +</p> + +<p> +Eigentlich war die Musik ja überflüssig. Aber hier konnte nicht genug +Musik sein. Schönheit und Liebe war doch überall herum. In jedem +Lokal wurde getanzt. Jedes Lokal hatte seine Senjoritas, die mit den +Herren lächeln und tanzen und trinken mußten, und deren Aufgabe +es war, den Herrn zu veranlassen, daß er Geld ausgebe. Dafür bekamen +die Senjoritas auch je einen Raum im Hinterhause des +Restaurants, wo sie sich mit ihrem Herrn ungestört vergnügen konnten, +und sie brauchten für den Raum keine Miete zu bezahlen, und die +Wäsche wurde ihnen auch noch gestellt. Denn Wäsche wird viel +gebraucht. +</p> + +<p> +Und überall wurde getanzt. Jeder durfte tanzen, wie er wollte. Und +jedes Paar durfte tanzen, wie es wollte. Es war kein Tanzordner da, +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +und die Leutchen durften sich im Tanz alles sagen, was sie auf dem +Herzen hatten, ohne sich der Sprache zu bedienen. Niemand hinderte +sie daran, so zu tanzen, daß eigentlich, wenn es gerecht zuginge, jeder +von ihnen zwanzig Jahre Zuchthaus bekommen müßte. Aber es ging +ja eben nicht gerecht zu, und darum tanzten alle so, daß ihnen die +Engel im Himmel hätten zuschauen dürfen, ohne zu erröten. +</p> + +<p> +Zuweilen tanzte aber doch ein Paar in der Weise, daß des Satans Großmutter +ihr Gesicht in der Schürze verbergen mußte, wenn sie es sah. +Aber sie sah es ja nicht, und andre Leute kümmerten sich nicht darum, +und die vorbeipatrouillierenden Polizisten steckten sich eine Zigarette +an und sahen lächelnd zu oder gingen weiter, weil es sie langweilte. +Das Paar langweilte es nach einer Runde selbst, und es tanzte wieder +den Engeln zur Freude, weil es schöner war und das andre niemandem +zum Ärgernis wurde. +</p> + +<p> +Eine Negerin aus Virginia trat auf in der Casa Roja, wo wir gerade +vorbeikamen. Sie tanzte mitten im Lokal. Bauchtanz. Aber der wahre +Bauchtanz, der echte und unverfälschte. Der Bauchtanz war es, den +Eva erfand, als sie das Paradies los war und sich frei bewegen konnte. +Nicht nur alle Herren, sondern auch alle Senjoritas, die im Lokal waren, +standen auf, um dieses Kunstwerk zu sehen und Gesten zu lernen, die +ihnen von Nutzen sein konnten, wenn sie nicht allein schliefen. Und +in alle Türen drängten die Herren und die Senjoritas, die auf der +Straße waren; denn die Türen waren offen. Kunst ist das, was unsre +Seele jubeln macht. Und der Bauchtanz der Negerin aus Virginia war +reife und vollendete Kunst. Auch sie war eine Senjorita und hatte ihr +Haus hier, um darin mit Herren zu plaudern. Aber keiner der Herren, +der sie eben tanzen gesehen hatte, wagte sie anzusprechen. Sie war +himmelhoch über alle die Senjoritas hier emporgeflogen. Sie war gottbegnadete +Künstlerin, und keiner der Herren glaubte so viele Pesos +in seiner Tasche zu haben, daß er es wagen dürfe, mit ihr zu gehen. +Ein tosender Beifall brach aus, als sie geendet hatte und niedergesunken +war auf den Fußboden. Dort kniete sie, die Arme zurückgeworfen, +den Leib mit den quellenden Brüsten drehend und schiebend +wie in einem letzten aushauchenden Seufzer, der dem letzten müden +Tropfen einer sterbenden Bergquelle folgt. Dann mit einem kurzen, +schmerzhaften Ruck zog sie den Unterleib zurück und ließ den Kopf +matt und müde sinken, bis die Stirn den Boden berührte. Nun sprang +sie auf mit einem jubelnden Schrei gesunder und vollbefriedigter +Freude, stand schlank und gerade im Saal, die linke Hand in die Hüfte +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +gepreßt, den rechten Arm in runder weicher Geste hochgeworfen. +Ihre Augen blitzten, und ihre weißen Zähne leuchteten zwischen den +vollen Lippen hervor. Und sie lachte ein sieghaftes Lachen, streckte +ihren Leib hervor mit einer Geste, als ob sie einen Kontinent einladen +wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <a id="corr-19"></a>alegria, +senjores mios!“ +</p> + +<p> +Es folgte ein kurzes Schweigen, dann donnerte der Beifall aufs neue +los, und die Musik setzte mit einem Schmettern ein, das einige Takte +dauerte, während die Negerin, ihr dünnes Kleid zupfend und sich das +Haar zurückstreichend, zu ihrem Platze ging, wo sie eine Flasche Bier +und ein Glas stehen hatte. Alle Herren betrachteten sie mit einer +scheuen Bewunderung, ohne sich ihr zu nähern und sie zu dem einsetzenden +Foxtrott aufzufordern. Sie gingen zu den andern Senjoritas, +die sich bescheidener benahmen und nicht Orkane erwarten ließen, +die den gewandtesten Mann mit einer Fingerbewegung aus dem Sattel +zu heben drohten. Die Senjoritas betrachteten die Negerin nicht als +eine Nebenbuhlerin, die sich eines unlauteren Wettbewerbes bediente. +Durchaus nicht. Sie gab dem Geschäft einen ganz ungeheuerlichen +Schwung, der zehn Minuten vorher nicht zu spüren war. Die Herren +hatten Feuer in den Augen, während sie bisher ziemlich gleichgültig +und interesselos dreingeschaut hatten. Und die Senjoritas versuchten +jetzt beim Tanzen einige der Bewegungen, die sie soeben gesehen +hatten, nachzuahmen. Aber es sah häßlich aus und widerlich. Sie +preßten sich hart an die Männer und spielten mit ihren hinteren Partien. +Aber die Herren reagierten nur sehr schwach darauf und hielten sich +auffallend steif zurück, bis die Senjoritas anfingen, die Gesten, die bei +ihnen so aussahen, als ob ein kleiner Gemüsekrämer plötzlich die +Reklame eines großen Warenhauses nachmachen möchte, aufzugeben +und immer mehr zu lassen und in normaler Weise zu tanzen. Ja, nun +benahmen sie sich wie die sogenannten anständigen Damen. Das gefiel +den Herren viel besser und erinnerte sie sicher an ihre Bräute oder +Frauen oder an begehrte Mädchen und brachte sie in die Stimmung, +die allein für das Geschäft nutzbringend war. +</p> + +<p> +Sie luden ihre Tänzerinnen ein, sich mit ihnen zu einer Flasche Bier +oder einem Whisky an einen Tisch zu setzen. Sekt trinkt man nur, wo +den Kleinen alles verboten und den Großen mehr erlaubt ist, als sie in +normaler Weise leisten und genießen können. Wo Sekt getrunken +werden muß, um lachen zu dürfen und sich der Schönheiten des +Lebens zu erfreuen, artet die Unterhaltung häufig zur Schweinerei aus. +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +Und an diesen Ausartungen mißt der Zensor seine Normalmeterstäbe +ab, mit denen er den Kleinen die Länge des Vergnügens zumißt, die er +ihnen zubilligt. Immer nur da, wo die Röcke nicht hochgehoben werden +dürfen, begeht man Verbrechen und tut den törichten Unsinn, nachzusehen, +was unter den Röcken ist. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-10"> +10 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Straßen waren voll von Händlern. Da waren +Tische, wo es heiße Enchiladas gab. An andern +gab es Kaffee. Wieder an andern kaltes Huhn +oder gebratenen Fisch oder Roastbeef mit Brötchen +oder mit Tortillas. Man konnte Salat +kaufen, oder Bananen, Papayas, Äpfel, Weintrauben, +Apfelsinen. Kleine Buden verkauften +Zigaretten, Zigarren und Tabak. Andre Zeitungen +und Zeitschriften. An vielen Tischen gab es Eiswasser in fünf +oder sechs verschiedenen Sorten, Lemones, Hochata, Jamaica, Tamarindo, +Pinja, Naranja, Papaya und was nicht noch. Dazwischen liefen +Jungen und Frauen herum mit Körben oder Zigarrenkistchen. Sie verkauften +Kaugummi, Süßigkeiten, getrocknete Kalavasaskerne, Peanuts, +Obst und Blumen. Andre liefen herum mit Eimern mit Eiswasser, das +sie glasweise abgaben. Hundert Menschen, wenn nicht mehr, fanden +hier ihren Lebensunterhalt. Frauen trugen ihre Säuglinge auf den +Armen oder führten kleine Kinder an der Hand, während sie ihrem +Handel nachgingen. Weder die Sittlichkeit der halbwüchsigen Jungen, +die ihre Zeitungen oder Zigaretten ausriefen, noch die der ehrbaren +Handelsfrauen oder deren Kinder wurde vernichtet in dieser Umgebung. +Wer Sittlichkeit hat, der verliert sie nicht, wenn er etwas +sieht, das als Unsittlichkeit anzusehen ihn niemand gelehrt hat. +</p> + +<p> +Hunderte von ehrbaren Frauen und Mädchen und Kindern und ganzen +Familien hatten den ganzen Tag hindurch das Quartier der Senjoritas +zu passieren, um zu ihren Wohnungen zu gelangen. Sie fühlten sich +nicht gefährdet. Sie konnten einen andern Weg wählen, wenn sie +wollten; aber der Weg durch das Quartier war kürzer. Und wenn man +mit einer Frau, die etwas vom Leben verstand, darüber sprach, so sagte +sie: „Einen Mann zu gewinnen und zu behalten, ist nicht so schwer; +aber jeden Tag ein halbes Dutzend Männer zu gewinnen, ist eine +Kunst. Warum soll ich mit Entrüstung auf die Senjoritas sehen? Ich +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +glaube, die Entrüstung und das Ärgernis bei vielen ehrbaren Frauen +kommt nur daher, weil es ihnen nicht gelänge, sich auf diese Art ihren +Lebensunterhalt zu verdienen. Die Herren wollen für ihr Geld etwas +haben, und die Mehrzahl der ehrbaren Frauen ist zu langweilig, zu +dumm, zu häßlich, um den Herren das geben zu können, wofür die +Herren zahlen. Um ihre Nachteile zu verschleiern, nennen sie sich anständig, +und sie haben große Mühe, ihrem eignen Manne zu gefallen.“ +Und die Dame, die das sagte, war die ehrbar angetraute Frau eines +wohlsituierten Kaufmannes in der Stadt, der einem vornehmen Klub +als Mitglied angehörte. Und sie war eine schöne Frau, die sich gut +und geschmackvoll zu kleiden verstand und sicher nie einem andern +Manne als dem ihrigen auch nur die kleinste Gunstbezeigung erwiesen +hatte. Aber sie war ja auch keine Puritanerin, sondern eine Tochter +aus alter spanisch-mexikanischer Familie. In puritanischer Umgebung +können solche Anschauungen nicht wachsen, und wenn sie auftauchen, +sind sie widerwärtig. +</p> + +<p> +Es kam ein junger Amerikaner eines Tages hierher. Er hatte eine sehr +hübsche junge Frau und drei niedliche Kinderchen. Ich wurde bei +ihm zum Dinner eingeladen. Vor Tisch und nach Tisch betete er, und +Sonntags vergaß er nicht, mit seiner Frau die amerikanische Kirche zu +besuchen. Als er mich bat, ihm die Stadt zu zeigen, sagte er: „Ich habe +gehört, hier in diesen Ländern gibt es das und das. Wo ist denn das?“ +Ich zeigte es ihm, und er besuchte mehr als eine der Senjoritas. Als er +dann wieder zurückreiste, sagte er mir: „Das ist doch ein schrecklich +unsittliches Land. Dem Himmel sei Dank, daß so etwas bei uns nicht +gestattet ist.“ +</p> + +<p> +Da log er zum zweitenmal. Es war gestattet. Wie alles gestattet ist, +was gegen die natürlichen Triebe des Menschen gerichtet ist. Es wurde +gestattet durch Vergewaltigung von Frauen und Kindern, durch Verheiratung +elfjähriger Mädchen an fünfzigjährige reiche Männer, die +sich nach acht Wochen wieder scheiden ließen. Es wurde gestattet durch +das Herumschleichen von Frauen und Mädchen in den Seitengassen zur +Abend- und Nachtzeit. Es wurde gestattet dadurch, daß von hundert +Männern wenigstens fünfzehn und von hundert Frauen und Mädchen +achtzehn an üblen Krankheiten litten, die in den dunklen Seitengassen +wucherten und wuchsen. Dann werden Millionen und aber Millionen +von Dollar ausgegeben, um diesen Krankheiten, von denen zu sprechen +schamlos ist, Einhalt zu gebieten, während hunderttausend Dollar +genügten, sie auf das kleinste Maß zu beschränken, dadurch, daß man +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +den Leutchen Gelegenheit gibt, sich innerhalb beleuchteter vier Wände +guten Abend zu sagen, Wasser und Seife zur Hand zu haben und die +ganze Sache ebenso als Geschäft zu betrachten wie die bezahlte +Krankenpflege, das Dampfbad oder das Massieren. Aber wenn das +von diesem natürlichen und gesunden Standpunkt aus betrachtet +würde, hätten ja die alten Betschwestern, die kastrierten Traktätchenschreiber +und die sabbernden Verkünder Goldner Regeln nichts mehr +zu tun. Wohin mit ihnen so schnell? Man kann sie doch nicht eingraben. +Sie würden ja nicht einmal Dung machen, weil sie zu trocken, +zu ledern und zu saftlos sind. +</p> + +<p> +Die Senjoritas sprachen alle mehrere Sprachen. Die nur Spanisch +sprechen konnten, hatten wenig Erfolg. Sie mußten sich mit den Peons +begnügen, und diese armen Teufel konnten nur gerade den denkbar +kleinsten Betrag in diesen Spekulationen anlegen. Diese ungebildeten +Senjoritas wohnten in den abgelegensten Teilen des Quartiers, wo die +Zimmer am billigsten waren, am einfachsten möbliert, und wo die +Musikkapellen nur so gelegentlich hinkamen, wenn in den andern +Sektionen die Konkurrenz zu groß war. Hier in dieser Sektion trugen +die Senjoritas Kleider so einfach, daß sie mit ihnen sofort zur Stadt +hätten gehen können, ohne aufzufallen. Die Einnahmen reichten kaum +zur Schminke und zum Puder; aber Wasser, Seife, antiseptische +Lösung, für jeden Besucher reine Tücher mußten sie haben. Denn der +Gast, der da vorbeikam, konnte ganz gut der Inspektor der Gesundheitskommission +sein, der plötzlich das Zimmer betrat, nach dem Gesundheitspaß +fragte und sich die Materialien für die Sauberkeit +ansehen wollte, Puder, Schminke und Parfüm brauchten nicht in +Ordnung sein, aber die andern Materialien mußten in vorschriftsmäßiger +Verfassung sein, sonst gab es Quarantäne, und die war kostspielig +und war mehr gefürchtet als Geldstrafe oder Gefängnis. +</p> + +<p> +Es gab keine Sklaverei. Jede Senjorita war frei. Sie durfte morgen +oder sofort das Haus verlassen. Keine alte Hökerin, kein Faulenzer +hielt sie unter irgendeiner Form von Pfand für Mietschulden, Kostgeld +oder Wäscherechnungen. Die Miete mußte eine Woche im voraus +bezahlt werden. Wer nicht bezahlen konnte, mußte das Quartier verlassen. +Wer auf der Straße zu Geschäftszwecken angetroffen wurde, +kam in Quarantäne. Für Privatzwecke durfte sie aber auf den öffentlichen +Straßen spazierengehen, soviel sie wollte, und wann sie wollte. +In der Goldnen Sektion, die am Eingang des Quartiers war, wo alles +im strahlenden Lichte der Tanzsalons lag, wohnten die Französinnen. +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +Sie sprachen ein rasend schnelles Französisch, und sie alle schworen, +daß sie aus Paris seien. Aber mehr als die Hälfte hatten Paris nie +gesehen, sondern kamen aus London, aus Berlin, aus Warschau, aus +Budapest, aus Petersburg oder aus Städten noch viel ferner von Paris. +Keine von ihnen konnte die Erlaubnis erhalten, hier in dieses Land +zu kommen, weil Damen, die sich diesem ehrenwerten Geschäft widmen +oder widmen wollen, die Einreise nicht erlaubt ist. Aber sie waren alle +hier und waren alle eingereist. Jede mit Hilfe eines andern Tricks. +</p> + +<p> +Die Pariserinnen waren die Elegantesten; das mußten sie schon sein, +um in dieser Sektion bestehen zu können. Sobald die Einnahmen für +die notwendige Aufmachung nicht mehr ausreichten, was sehr rasch +geschehen konnte und sehr häufig vorkam, mußte die Senjorita der +drückenden Konkurrenz wegen in die nächst billigere Sektion verziehen. +Und so kam es vor, daß manch eine, die das Geschäft nicht verstand +und die Kunst nicht lernte, um es mit den Meisterinnen aufzunehmen, +immer weiter von der Goldnen Sektion abrücken mußte, +bis sie in dem dunkelsten Teil endlich landete, wo nur die Peons hingingen, +die um fünfzig Centavos handelten. +</p> + +<p> +Hier aber in der Goldnen Sektion erschienen die, die das Geld nicht +ansehen, wenn sie herkommen. Die Ölleute, die sechs oder acht Monate +im Busch oder im Dschungel gelebt hatten, wo sie nichts ausgeben +konnten, und jetzt zweitausend Dollar in der Tasche hatten, von denen +sie nur zwanzig auszugeben gedachten, von denen sie aber am Ende +der Nacht nur noch so wenig hatten, daß sie sich einen Peso von einem +Landsmann betteln mußten, um das Auto zu bezahlen, mit dem sie +zum Hotel fahren wollten. Da kamen die Schiffskapitäne, die ein +gutes Nebengeschäft am Tage gemacht hatten; die Spekulanten, die +einigen Grünlingen Aktien für Ölfelder verkauft hatten, in denen +man nur Öl sah, wenn man eine Kanne voll hinbrachte. Da waren die +Riggers, die ihren Kontrakt gestern fertiggebracht und heute das Geld +kassiert hatten. Diese Geldstrotzenden gingen von Haus zu Haus, von +Senjorita zu Senjorita, augenscheinlich ausgestattet mit unverwüstlicher +und unerschöpflicher Lebenskraft. Aber sie gingen ja zu Meisterinnen +ihrer Kunst, die es wohl verstehen, aus dem trockensten Baumstamm +eine muntere Quelle rieseln zu lassen, sicherer noch als der heiligste +indische Fakir. +</p> + +<p> +Die Häuser waren meist aus Holz gebaut. Jedes Haus hatte nur einen +Raum. Ein Haus sah genau so aus wie das andre, und jedes Haus war +dicht an das Nachbarhaus geklebt. Der Raum hatte nur eine Tür, die +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +unmittelbar von der Straße in das Zimmer führte. Und jeder Raum +hatte nur ein Fenster, das keine Glasscheiben hatte, manchmal jedoch +statt der Scheiben Moskitodrahtgaze. +</p> + +<p> +Auf der Fahrstraße konnte man nicht gehen, man mußte auf dem +schmalen zementierten Wege gehen, der an der Häuserreihe entlang +führte. Die Senjoritas saßen alle vor der offenen Tür auf einem Stuhl, +oder sie standen herum, allein oder in kleinen Gruppen, schwatzend +und lachend. An keiner Tür konnte man vorbeigehen, ohne daß man +von der Senjorita, der diese Tür gehörte, festgehalten und mit den +süßesten Worten eingeladen worden wäre, hineinzukommen und sich +mit ihr zu unterhalten. Dabei machten sie so gewagte Versprechungen, +daß die Versprechungen allein genügten, die eisernste Widerstandskraft +und die teuersten Gelübde spielend über den Haufen zu werfen. +Erreichte man das nächste Haus, ließ einen die Senjorita sofort los, +denn das nächste Haus war das Bereich der Nachbarin, wo nur die das +Recht besaß, Versprechungen zu machen, die noch um einige Grade +weitergingen als die der eben verlassenen Dame. +</p> + +<p> +Man konnte sich nur durch eine einzige Ausrede vor diesen fortgesetzten +Angriffen retten: „Ich habe kein Geld.“ Dann war man sofort frei, vorausgesetzt, +daß die Senjorita es glaubte. Meist glaubte sie es nicht und +fühlte einem dann die Taschen ab. Aber keine hätte den Versuch +gemacht, einem auch nur fünfzig Centavos wegzunehmen. +</p> + +<p> +Ihre Menschenkenntnis bewiesen sie dadurch, daß sie ehrbare Bürger, +die das Quartier zu passieren hatten, um zu ihren eignen Wohnungen +zu gelangen, nie belästigten oder nur in ganz bescheidener, unaufdringlicher +Weise. Viele suchten sich ihre Gesellschaft recht sorgfältig aus +und berührten keineswegs jeden, der vorbeikam. Andre weigerten sich +entschieden und liefen sich selbst durch überbotene Beträge nicht gewinnen, +wenn ihnen der Herr aus irgendeinem Grunde nicht gefiel. +Manche sahen keinen Chinesen an, andre keinen Neger, viele keinen +Indianer. Und doch, wenn schlechte Geschäftstage kamen, wenn es zum +Ende des Monats ging, zwang sich manche, jemand zuzulächeln, den sie +zu Anfang des Monats oder noch drei Tage vorher entrüstet angesehen +hätte, wenn er sie nur angetippt haben würde. +</p> + +<p> +Die Großen des Reiches sprachen nicht nur fließend Französisch, sondern +auch sehr geläufig Englisch, Spanisch, Deutsch. Manche Unterhaltungen +bereiten nur dann Vergnügen, wenn die Begleitmusik die +Muttersprache ist. Und gewisse Empfindungen kommen nur dann voll +zur Entfaltung, wenn sie mit Worten erweckt werden, die bestimmte +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +Gefühlsnerven treffen, die eine angelernte Sprache niemals treffen +kann. Denn solche Worte bringen die Erinnerung an das erste Schamgefühl, +die Erinnerung an das erste Mädchen, das man begehrte, die +Erinnerung an die mysteriösen Stunden des ersten Reifegefühls zurück. +Die Meisterinnen der Kunst wissen das recht wohl. Darum kommen die +Stümperinnen, die nur eine Sprache kennen, nicht voran; sie bleiben +immer die Centavoskrämer in den dunklen Sektionen. +</p> + +<p> +Aber die Bajadere Goethes sucht man vergebens. Zeit ist Geld. Und zum +süßen Tändeln, zum zarten Spielen, zum stundenlangen Heransehnen +an die Erfüllung fehlt diesen Meisterinnen das, was man die Liebe einer +angebeteten Frau nennt. Hier ist hohe und höchste Kunst, nichts mehr. +Aber die bekommt man voll, und man wird für sein Geld nicht betrogen. +Der Rest ist: Die süße heilige Sehnsucht nach der Geliebten. +Hier wird der unbezahlbare Wert der geliebten Frau bestätigt. Das +wissen die Künstlerinnen auch, und sie machen kein Hehl daraus. Darum +verkaufen sie eben nur das, was die Herren wünschen. Mehr wird nicht +verlangt für das Geld. Diese Künstlerinnen sind gute Kaufleute, die +es verstehen, Kundschaft heranzuziehen und zu halten. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-11"> +11 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">enn</span> Sie es gern hören, kann ich auch Deutsch +sprechen“, sagte Jeannette. „Ich bin ja aus Charlottenburg.“ +</p> + +<p> +„Ich habe geglaubt, aus Paris.“ +</p> + +<p> +Darüber fühlte sie sich sehr geschmeichelt; denn die +echten Französinnen riefen ihr „Boche“ entgegen, +wenn sie sich zankten. Und die Senjoritas zankten +sich gern und häufig. Wenn der Zank vorüber war – +er war nicht immer wegen der Kundschaft, sondern häufiger wegen +Preisdrückerei –, dann war Jeannette wieder „Meine Teure aus Straßburg“, +für die sie ein Mitleid empfanden, das auf patriotischer Grundlage +ruhte, ein Mitleid, das daheim in Frankreich bereits anfängt, +andern Gefühlen Platz zu machen. Aber davon wußte man hier nichts; +denn die Französinnen hatten Frankreich schon eine Reihe von Jahren +nicht mehr gesehen. +</p> + +<p> +Jeannette, die in Charlottenburg vielleicht Olga hieß, in ihrem Gesundheitspaß +aber Jeannette genannt wurde – und dieser Name war durch +Photographie beglaubigt –, hatte sich während des Krieges in Buenos +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +Aires aufgehalten. Auch dort war sie sehr tätig in ihrem Beruf gewesen +und war zu einem Vermögen gekommen. +</p> + +<p> +„Ich bekam plötzlich Lust, einmal nach Hause zu fahren und zu sehen, +wie es dort aussieht“, sagte sie. +</p> + +<p> +Sie fand Vater und Mutter in den elendesten Verhältnissen. Der Vater +war in Friedenszeiten ein geachteter Bürger gewesen, Fabrikportier +bei einer großen Berliner Firma. Nach dem Kriege war er entlassen +worden, weil ein Kriegsinvalide, den das Vaterland nicht unterhalten +wollte, untergebracht werden mußte. +</p> + +<p> +Die Leute hatten ihr ganzes Leben lang sich nichts gegönnt, immer nur +gespart und gespart, um auf ihre alten Tage etwas zu haben. Sie hatten +ihr Geld auf einer mündelsicheren Sparkasse. Als aber dann der Staat +durch die Entwertung des Geldes die Mündel, die Dienstmädchen und +die alten ehrbaren Leutchen um ihre kleinen Spargüter so gewissenlos +betrog, wie es kein Privatmensch je hätte wagen dürfen, ohne daß die +Menschen ihn in Stücke gerissen hätten, verwandelte sich das Goldgeld +der Familie Bartels – Jeannette sagte mir, das sei ihr deutscher +Name, aber ich glaube es nicht – in Papierschnitzel, die so wertlos +waren, daß man sie nicht einmal auf verschwiegenem Ort mit Erfolg +verwenden konnte. +</p> + +<p> +Die Bartels beschlossen, sich mit Gas zu vergiften; aber von irgendeiner +Wohltätigkeits-Vereinigung bekamen sie für zwei Wochen Graupen, +Reis, Trockengemüse und eine Büchse Corned Beef. Damit hielten +sie sich vier weitere Wochen am Leben, und da fuhr eines schönen Nachmittags +Jeannette vor, die soeben von Hamburg und von Buenos Aires +gekommen war, ohne sich vorher anzukündigen. Sie brachte so viel Geld +mit, daß sie eine ganze Straße in Charlottenburg hätte kaufen können; +denn sie hatte Dollars. +</p> + +<p> +„Mädel, Mädel, wie kommst du nur zu so viel Geld?“ hatte die Mutter +nur immer wieder gefragt. +</p> + +<p> +„Ich habe einen Viehherdenbesitzer in Argentinien geheiratet, der zwei +Millionen Stück Rindvieh hatte. Der ist nun gestorben und hat mir sein +ganzes Vermögen hinterlassen.“ +</p> + +<p> +„Wer hätte das gedacht, Mädel, daß du einmal solches Glück im Leben +haben würdest!“ sagte die Mutter, und Jeannette wurde in der Straße +bald bekannt als die „Argentinische Millionenwitwe“. Das klang besser +als zu sagen, die Olga Bartels, die in Argentinien einen Millionär geheiratet +hat. Mit „Argentinischer Millionenwitwe“ konnte die Verwandtschaft, +die Bekanntschaft und die Nachbarschaft besser prunken +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +und mehr Geschwätz machen als mit Olga Bartels. Eine Olga Bartels +in der Familie oder in der Nachbarschaft zu haben, das konnte jeder, +eine argentinische Millionenwitwe zu kennen, das umgab einen mit +einem Glorienschein. +</p> + +<p> +Mit einer Handvoll Dollar kaufte Jeannette ihren Eltern ein Etagenhaus, +das im Frieden wenigstens dreihunderttausend Mark wert gewesen +war. Sie ließ es auf ihren Namen schreiben – so geschäftstüchtig +war sie, das lernt man draußen –, aber alle Einkünfte aus dem Hause +ließ sie den Eltern. Dann kaufte sie ihnen noch eine gute Anzahl solider +Aktien, die den Kurs immer mitmachen mußten, und hinterlegte sie bei +einer guten Bank mit der Anordnung, daß die Dividenden gleichfalls +ihren Eltern an den Fälligkeitstagen ausgezahlt werden sollten. +</p> + +<p> +Und dann machte sich Jeannette einige gute Wochen. Die hatte sie auch +nach den anstrengenden Jahren ehrlich verdient. +</p> + +<p> +Zum richtigen Genuß dieser guten Wochen gehörte natürlich auch die +Mitwirkung des andern Geschlechts. Das gehört immer dazu, sonst kann +man schwerlich von einem guten Leben oder von Vergnügen sprechen. +Aber Jeannette machte kein Geschäft daraus, und sie suchte sich die +Herren aus, mit denen sie sich erfreuen wollte. +</p> + +<p> +Die Familie war in das große Haus gezogen und hatte, mit hoher obrigkeitlicher +Genehmigung des Wohnungsamtes, die Mansardenwohnung +einnehmen dürfen, die Jeannette auf ihre Kosten zuvor einbauen ließ. +Eines Morgens, als der Vater zu ihr in das Schlafzimmer kam, das sie +sich eingerichtet hatte, fand er einen Herrn in ihrem Bett. Die beiden +Bettgäste hatten lange in einem Restaurant gesessen, reichlich Sekt getrunken, +und so war es geschehen, daß der Herr nicht rechtzeitig +erwacht war, um sich zu anständiger Stunde angemessen und schweigend +zu empfehlen. +</p> + +<p> +Der Vater wollte den Herrn verprügeln oder erschießen oder sonst +irgend etwas Grauenhaftes mit ihm angeben. Der Herr hatte Takt, war +gut erzogen, und mit äußerster Geschicklichkeit gelang es ihm, sich trotz +der Angriffe des Vaters anzukleiden und dann mit Hilfe Jeannettes die +Tür und die Treppe zu erreichen. +</p> + +<p> +Damit war er in Sicherheit. Nicht so Jeannette, die nun allein den Angriffen +ihres Vaters, der seine Kräfte nicht mehr nach zwei Fronten zu +verausgaben brauchte, ausgesetzt war. Die Mutter sprang ihr bei. +</p> + +<p> +Die guten, wohlsituierten Familien, die dort im Hause wohnten, würden +von den Ereignissen gar nichts gehört haben, wenn nicht der Vater in +seiner gekränkten und schwer beleidigten Bürgerehre sich so blöde +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +betragen hätte, daß die Leute es erfahren mußten, auch wenn sie vielleicht +gar kein Interesse daran gehabt hätten, ob Jeannette lieber allein +oder in Gesellschaft schlafe. +</p> + +<p> +„Bist du dazu hergekommen, du Hure, daß du uns solche Schande hier +vor den Leuten antust?“ brüllte der alte Bartels auf Jeannette ein. „Da +wollte ich doch lieber, daß ich mich hier anständig vergiftet hätte, als +solche Schmach an meiner eignen Tochter zu erleben. Eine Hure bist du, +nichts weiter. Ich verfluche dich, ich sage mich los von dir, ich verstoße +dich aus meinem Hause.“ +</p> + +<p> +Die Mutter wollte schlichten, aber der Alte wurde dadurch nur noch +verrückter. Die Ehre des Fabrikportiers war für ewig in den Kot getreten. +Mit Ehren war er grau geworden, wie er hundertmal versicherte, +und nun, während er schon mit einem Fuße im Grabe stand, mußte er +noch so etwas an seiner Tochter erleben, die er wie einen Engel im +Paradiese angesehen hatte. +</p> + +<p> +Jeannette hörte sich das alles an, ohne zu antworten. Es kam ihr so fern +vor, so fremd, so lächerlich und so unsagbar dumm zugleich. Es war ihr, +als ob das irgendwo auf einer Theaterbühne geschehe, wo sie Zuschauerin +sei, und sie fand das Stück herzlich abgeschmackt und unmodern. +</p> + +<p> +Erst als der Vater zum dritten Male wiederholte: „Ich verstoße dich aus +meinem Hause. Du bist nicht mehr meine Tochter!“ da begriff sie, daß +sie selbst gemeint sei. Und nun legte sie los, und sie sprach viel weniger +aufgeregt als der Vater. Sie regte sich überhaupt nicht auf dabei, sondern +sagte es in Form einer erregten Unterhaltung: „Deine Tochter? +Das Leben hast du mir allerdings gegeben. Aber ich habe dich nicht +darum ersucht, und ob ich gerade dich gewählt haben würde, wenn ich +gefragt worden wäre, das glaube ich kaum. Denn mit deiner mickrigen +Ehrlichkeit und Wohlanständigkeit ist es nicht weit her, wenn sie dir +nicht einmal einen Lebensabend verbürgt, wo du wenigstens satt zu +essen hast. Dann schon lieber Schneppe, das sage ich dir ganz frei ins +Gesicht, oder Bandit oder Einbrecher. – Mit welchem Recht willst du +mich denn überhaupt verstoßen? Vielleicht mit dem Rechte meines zufälligen +Vaters? Ein schöner Vater bist du mir. Noch niemals in meinem +Leben hat jemand Hure zu mir gesagt. Ich hätte ihm das Gesicht zerfleischt. +Aber es hat auch nie jemand gewagt, das zu mir zu sagen. Das +konntest du nur fertigbringen. Und damit wir nun gleich ganz klar +miteinander sind: Du hast recht, ich bin was du sagst. Aber wovon +lebst du denn? Womit habe ich dir das Leben gerettet? Mit Hurengeld.“ +</p> + +<p> +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +Der Vater sagte nichts darauf. Er starrte sie nur an. Die Mutter hatte +sich auf einen Stuhl gesetzt und weinte leise vor sich hin. Sie als Frau +mit dem feineren Empfinden, das Männern meist versagt ist, hatte +wohl schon ein wenig von der Wahrheit geahnt. Aber eine schlichte +Lebensklugheit, gewonnen in einem mühseligen arbeitsreichen Leben, +hatte sie geleitet, die Dinge nicht unnötig anzutasten, die umfallen +können. Die bestimmte Wahrheit nicht zu kennen und nicht zu erforschen, +hielt sie für weise und für zweckmäßig. Das Leben ließ sich +dann leichter ertragen. +</p> + +<p> +Jeannette war im Zuge, ganze Arbeit zu machen und volle Klarheit +zu verbreiten. Dieser Nimbus als Millionärswitwe hatte ihr von Anfang +an nicht recht gefallen. Sie hatte es eigentlich auch nicht selbst erfunden, +sondern es war so beim Ausfragen nach der Herkunft ihres Reichtums +in sie hineingeredet worden. Und sie hatte es gehen lassen damit. Sie +dachte sich, wozu große Trommeln rühren für die kurze Zeit, die sie +hier auf Besuch war. +</p> + +<p> +„Jawohl, mit Hurengeld“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Jede zwei, +drei, vier oder fünf Dollar bedeuten einen Mann, der bei mir war. Jetzt +kannst du dir ja ausrechnen, wie viele ich hatte, und wie viele ich haben +mußte, um dich vor der Gasvergiftung zu retten und deinen ehrlichen +Namen zu schützen, damit du und Mutter nicht im Skandalanzeiger +und in der Morgenpost als Selbstmörder erschienen. Das hätte dein +langes, in Ehren verbrachtes Leben mit einem Schlage verdreckt, denn +als Selbstmörder verrecken, ist keine große Ehre. Aber von allen den +Männern, die mich besucht haben, hat keiner jemals Hure zu mir gesagt, +weder Betrunkene, noch halb verrückte und halb tierische Seeleute, die +von langer Fahrt kamen und wie die jungen Stiere sich benahmen. Alle +sagten sie einen freundlichen und höflichen guten Abend zu mir, wenn +sie mich verließen, und die meisten sagten sogar ein höfliches und ernstgemeintes +‚Herzlichen Dank, Senjorita!‘ Und warum? Weil ich nie +jemand betrog. Das, was du vielleicht Ehre nennst, ist nicht meine Ehre. +Meine Ehre und mein Stolz sind, daß jeder, der bei mir war, für sein +gutes und oft sehr schwer verdientes Geld gute und echte Ware bekam. +Ich war das Geld immer wert und bin es heute mit meiner reichen Erfahrung +erst recht wert. Und das ist mein Stolz, und das ist meine Ehre, +nie jemand zu betrügen. +</p> + +<p> +Na gut, ich bin eine Hure. Aber ich habe Geld, und du mit deinen +Ehren hast keins. Heute aber gibt dir niemand etwas für deine Ehre, +noch nicht einmal eine gutbezahlte Vertrauensstellung; selbst da mußt +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +du noch Kaution stellen, und wenn ich die nicht vorstrecke, kannst du +hier den ganzen Tag in der Bude hocken und Muttern das Leben zur +Hölle machen mit deinem ewigen Herumlamentieren. Wenn es dir +Vergnügen macht, kannst du ruhig auf die Straße gehen und allen +Leuten erzählen, daß die argentinische Millionenwitwe eine Schneppe +ist. Ich mache mir nicht so viel daraus, nicht so viel. Ich habe bereits +mein Visum. Ich wollte erst in drei Wochen reisen, aber nun fahre ich +in einer Stunde schon. Mache mir noch ein paar schöne Wochen in +Scheveningen und Ostende – ich kann es mir ja erlauben –, und dann +geht es wieder los. Um mein Ziel zu erreichen, brauche ich nämlich noch +fünfzehntausend Dollar. Und nun bitte, laß mich allein, ich ziehe mich +an und packe meine Koffer.“ +</p> + +<p> +Der Vater verließ das Zimmer wie ein Automat; die Mutter blieb noch +eine Weile. Aber als die Tochter ihr sagte: „Sieh nach dem Vater, laß +ihn nicht allein. Er macht vielleicht Dummheiten. Er begreift ja so langsam, +daß es in der Welt verschiedene Wege gibt, um sein Leben zu +fristen“, da ging die Mutter auch, und Jeannette packte so rasch, daß sie +in kaum einer halben Stunde angezogen und mit ihren beiden gepackten +und verschlossenen Koffern in dem kleinen Korridor stand. +</p> + +<p> +Dann sprang sie rasch zur vierten Etage hinunter, wo sie bat, das +Telephon benutzen zu dürfen, um ein Auto zu bestellen. +</p> + +<p> +Ehe die Alten überhaupt recht zur Besinnung kamen, was eigentlich +los war, tutete unten das Auto, Jeannette rief den Chauffeur herauf, +die Koffer zu holen, und als die Koffer heraus waren, öffnete sie ihre +Handtasche, legte zweihundert Dollar auf den Tisch, umarmte und +küßte ihre Mutter, dann nahm sie, ohne zu fragen, ihren Vater beim +Schlafittchen, küßte ihn ab und sagte: „Na, lieber Vater, lebe wohl. +Nimm es mir nicht so übel und sei nicht so tragisch. Ich wäre sonst am +Typhus gestorben. Und um das Hospital bezahlen zu können und die +Injektionen, brauchte ich Geld, und so fing es an. Und als ich raus kam, +war ich zu schwach, um arbeiten zu können, und weil ich so abgezehrt +aussah, gab mir auch niemand Arbeit, und so ging es dann weiter. Es +hat mir das Leben gerettet und dir und Muttern. So, nun weißt du alles +und kannst dir den Rest zusammenreimen. Na, lebe wohl. Wer weiß, +ob ich dich noch einmal lebend wiedersehe.“ +</p> + +<p> +Da fing der Alte an zu weinen, nahm sie in seine Arme, küßte sie und +sagte: „Leb’ wohl, Kind. Ich bin halt alt. Das ist alles. Es ist schon gut. +Du mußt das besser wissen. Schreibe manchmal. Mutter und ich, wir +werden uns immer freuen, wenn wir etwas von dir hören.“ +</p> + +<p> +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +Dann töffte sie ab. Die Alten haben sich mit der Zeit mit dem Hurengelde +völlig abgefunden. Jeannette sendet vierteljährlich eine schöne +Summer rüber, und die Annahme wird nie verweigert. Ehre entwickelt +sich nur und erhält sich nur, wenn man nicht zu hungern braucht; denn +das Ehrgefühl richtet sich nach den Mahlzeiten, die man hat, nach denen, +die man sich wünscht, und nach denen, die man nicht hat. Darum gibt +es drei Hauptklassen und drei verschiedene Ehrbegriffe. +</p> + +<p> +„Und dann“, erzählte mir Jeannette weiter, „bin ich nach Santiago gekommen, +darauf nach Lima und endlich hierher. Man muß schon etwas +können und muß schon gute Männerkenntnis haben, wenn man hier +Geschäfte machen will. Die Konkurrenz ist groß.“ +</p> + +<p> +„Das können Sie doch nicht für immer betreiben, dieses Geschäft“, +sagte ich. +</p> + +<p> +„Natürlich nicht“, erwiderte Jeannette. „Das Traurigste unter diesem +Himmel ist eine alte Dame, die hier vor der Tür sitzen oder auf und +ab wandern muß und sich zu Dingen hergeben muß, die wir mit +energischer Handbewegung ablehnen. Ich mache mit, bis ich sechsunddreißig +bin, und dann wird Schluß gemacht. Ich habe gespart und habe +nie gelumpt. Wollen Sie wissen, wie hoch mein Bankguthaben hier auf +der amerikanischen Bank ist? Sie würden es ja doch nicht glauben, und +es tut ja auch nichts zur Sache. Dann kaufe ich mir ein Gut in Deutschland +oder eine Farm in Kanada, und dann wird geheiratet.“ +</p> + +<p> +„Geheiratet?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Was dachten Sie denn? Natürlich. Mit sechsunddreißig. Dann fängt +doch die Freude am Leben erst an. Und ich werde schon etwas aus +meinem Leben und aus meiner Ehe machen. Ich habe ja die Erfahrung +und die Männerkenntnis, ich verstehe schon, meinem Manne ein Leben +und ein Bett zu bereiten, daß er den Wert seines Schatzes erkennt.“ +</p> + +<p> +„Aber das ist doch etwas viel gewagt. Die Welt ist klein, sehr klein. Und +es kann doch gelegentlich eine Begegnung mit einer, nun sagen wir es +ruhig, mit einer Zwei- oder Fünf-Dollar-Bekanntschaft stattfinden, die +das paradiesische Eheleben zerschmettert.“ +</p> + +<p> +Jeannette lachte und sagte: „Nicht mit mir. Da kennen Sie mich nicht. +Ein solches Höllenleben führe ich nicht. Das überlasse ich den dummen +Frauenzimmern. Ich habe damals meinem Vater gesagt: Meine Ehre ist, +daß ich niemals jemand betrogen habe, und daß ich niemals jemand +betrügen werde. Also vor allen Dingen nicht meinen Mann. Bevor wir +zu ernsten Abmachungen kommen, werde ich ihm ohne irgendeine Einschränkung +sagen, wo ich mein Geld herhabe. Steht er über dieser +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +Angelegenheit, dann werde ich ihm sagen: Gut, wir heiraten unter +folgender Bedingung: Du wirfst mir niemals vor, wie ich zu meinem +Vermögen kam, und ich werfe dir niemals vor, daß du von diesem Gelde +ein angenehmes Leben führen darfst. Denn das Geld behalte ich in der +Hand, und er kriegt genug, daß er mich nicht anzubetteln braucht. Ich +werde ihn mir vorher schon gut genug ansehen, daß ich nicht in den +falschen Hut greife, wenn ich mein Los ziehe.“ +</p> + +<p> +Der Mann, der sie bekam, durfte dem Schicksal vielleicht dankbar sein. +Denn wenn er kein Spaßverderber war, würde er nach einer Woche +erfahren, daß Jeannette das Fünffache ihres Vermögens wert sei, weil +sie die Ehe sicher nicht langweilig werden läßt. Sie gewißlich ließ keine +Wünsche unerfüllt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-12"> +12 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">a</span> sind Sie ja, Osuna“, rief ich ihm entgegen. „Ich +habe Sie schon lange gesucht, glaubte, Sie seien +bereits heimgegangen.“ +</p> + +<p> +„Nein,“ sagte er, „an Heimgehen dachte ich +gerade nicht. Aber wir könnten jetzt einmal ein +wenig zusammenbleiben und in den Pacifico +Saloon gehen.“ +</p> + +<p> +„Gut, gehen wir, vamonos!“ +</p> + +<p> +Es war ein sehr großer weiter Raum, weiß, mit Gold verziert. An der +einen Seite waren Nischen. In jeder Nische ein kleiner Tisch und drei +gepolsterte Bänke herum. An der andern Seite, den Eingangstüren +gegenüber, waren gepolsterte Bänke die ganze Front entlang. An der +Seite, die der Wand mit den Nischen gegenüberlag, war das Büfett +mit hohen Sitzen für die Gäste. In der Ecke war eine Jazzkapelle, die +auf einem Podium saß. Die Wände waren mit Gemälden geschmückt. +Diese Gemälde waren recht gut gemalt. Es waren die Darstellungen +nackter Frauen in Lebensgröße. Diese schönen Frauen gebrauchten +keine Feigenblätter, um jemand daran zu erinnern, daß es etwas zu +verbergen gäbe, dessen Vorhandensein jedem Menschen bekannt ist, +und das nur darum auf Gemälden und Statuen heuchlerischerweise +abgelogen und abgeleugnet wird, damit man nicht vergessen soll, daß es +unanständig ist. Und immer nur dann, wenn es unter einem Feigenblatt +verborgen wird, bückt man sich, um nachzusehen, was darunter ist, weil +man bei seiner Schwester oder bei seinem Bruder, wenn man mit ihnen +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +in der Badewanne saß, nie bemerkt hatte, daß da ein Blatt aus dem +Bauche wächst. Hier freilich wäre es lächerlich gewesen, den Leuten, ob +sie nun Männer oder Frauen waren, einzureden, daß die Menschen am +untern Ende des Bauches eingewachsene oder festgewachsene Blätter +hätten. Sie würden es nicht geglaubt haben. Woanders glaubt man es +offenbar oder hält wenigstens die Menschen für dumm genug, daß sie es +glauben. Denn wären die Blätter nicht, würden die Menschen nie wissen, +daß sich dieser Teil des menschlichen Körpers von den übrigen Teilen +in irgendeiner Weise unterscheidet. Das aber muß den Menschen gelehrt +werden, damit sie wissen, was Sünde ist, und damit sie die bezahlen und +in Ehren halten, die behaupten, daß sie das Recht hätten, die Sünden +vergeben zu dürfen. Was würden wir armen Menschen tun, wenn wir +nicht wüßten, was Sünde ist! Das so schön aufgebaute Gebäude würde +zusammenbrechen. Denn es ist ja nur auf Suggestion aufgebaut. +</p> + +<p> +Auf der langen gepolsterten Bank saßen die Senjoritas und warteten +auf ihre Tänzer. Die Herren saßen entweder an der Bar oder in den +Nischen. Zwei oder drei der Herren hatten eine oder zwei der Senjoritas +bei sich, mit denen sie sich sehr anständig unterhielten, ebenso geistvoll +wie in einem Ballsaal der oberen Zweitausend von Neuyork. Es war nur +interessanter, weil man, wenn man wollte, auch das sagen durfte, was +man auf dem Herzen hatte, während man das bei jenen Zweitausend +nur sagen darf, wenn angenommen wird, daß man die Landessprache +nicht genügend versteht, um den wahren Sinn der Worte zu begreifen. +Ein Onestep rasselte vom Podium herunter. Aber die Herren waren +recht tranig. Nur da, wo alles verboten ist, weiß man immer, was man +tun will, um sich zu amüsieren. Hier, wo alles erlaubt ist, was man sich +nur denken kann, sind die Herren immer verlegen und schüchtern, und +wenn die Senjoritas nicht gar so freundlich und aufmunternd herüberlächeln +würden, kämen die Herren nicht zum Tanzen. Und trotz des +schönen Lächelns: die Senjoritas müssen meist mit ihresgleichen tanzen, +weil die Herren ihre Verlegenheit und Schüchternheit dadurch zu verbergen +suchen, daß sie an der Bar sitzen und trinken und trinken, mehr +trinken, als sie wollen. Durch das Trinken wollen sie den Senjoritas +beweisen, daß sie Männer seien; es ihnen auf andere Weise zu zeigen, +dazu fehlt ihnen in dieser ungezwungenen Umgebung der Mut. Und sie +trinken, um hierbleiben zu können, in der Nähe der Senjoritas, deren +Lächeln sie lieben, und deren schöne Gesichter sie gern sehen. +</p> + +<p> +Dann aber raffen sich doch einige auf und bitten die Senjoritas um +einen Tanz. Es ist zum Lachen. Sie tanzen überformell, die Herren. Und +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +die Senjoritas, um es den Herren zu erleichtern, schmiegen sich ihrer +ganzen Länge nach an ihre schüchternen Tänzer. Es ist fruchtlos. Und +die Senjoritas tanzen nun ebenso formell wie die braven Herren. Aber +das gefällt nun den Herren nicht, und jetzt beginnen sie, etwas schmiegsamer +zu werden. Die Senjoritas lächeln ihr schönstes Lächeln. Aber die +Herren drucksen und wissen nicht, was sie zu den Damen sagen sollen. +Es ist wie in einer Tanzschule. +</p> + +<p> +Die Senjoritas, die mit ihresgleichen tanzen, tanzen zuweilen in der +überdeutlichsten Weise, um die Herren auf sich zu lenken. Aber merkwürdig, +es zieht nicht. Sie erreichen ihre Absichten viel leichter, wenn +sie elegant tanzen, ohne Wackelagen und Schmiegelagen. Die Künstlerinnen +unter ihnen, die Weisen, wissen, daß sie die meisten Erfolge +haben, wenn sie die Herren an deren Bräute oder deren Freundinnen +aus der Gesellschaft erinnern können. Aus diesem Grunde sitzen auch +viele der Senjoritas vor ihren Türen und häkeln feine Spitzen oder +sticken feine Tücher. Es ist ein Trick, der seine Wirkung nicht verfehlt. +Er erinnert die Herren, die hier in fremdem Lande sind, wochen- oder +monatelang auf See, im Dschungel, im Busch waren, an traute Häuslichkeiten +der heimatlichen Erde. +</p> + +<p> +Manchmal führen die Herren ihre Senjoritas wieder zurück zu ihren +Plätzen, während sie selbst wieder an die Bar gehen oder sich einen +Platz in den Nischen nehmen. Dann aber ladet auch ein Herr eine oder +zwei oder – besonders wenn er sich nicht recht traut, mit einer allein +zu sitzen – drei oder vier Senjoritas an seinen Tisch. +</p> + +<p> +„Was trinken Sie, Senjorita?“ +</p> + +<p> +„Ich, einen Whisky und Soda. Ich, einen Jugo de Naranja, einen Apfelsinensaft. +Ich, eine Flasche Bier. Ich möchte ein Paketchen Zigaretten.“ +Keine bestellt Sekt oder einen teuren Wein. Sie neppen nicht. Wenn +freilich der Herr protzen will, oder er will durchaus seine vier Monate +Arbeitslohn in einer Nacht verhauen, dann bestellt er Sekt und wer +weiß was sonst noch und ladet mit einemmal sämtliche Senjoritas, die +anwesend sind, zwanzig oder fünfundzwanzig, ein, an dem großen +Gelage, das nun beginnt, teilzunehmen. Dann wird es lustig. Es ist +nichts verboten, und Polizeistunde gibt es nicht. Der Saloonbesitzer hat +seinen Stempelbogen mit den Steuermarken im Lokal hängen und hat +das Recht, sein Geschäft so zu betreiben, daß es keinen Schaden leidet. +Wo geneppt wird, geht morgen niemand mehr hin, die ganze Stadt +weiß es in zwölf Stunden. Der Besitzer muß zumachen. Um das Neppen +zu verhüten, hat er große Plakate im Saloon hängen: „Jedes Getränk +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +ein Peso“ oder: „Jedes Getränk fünfzig Centavos“. Sie brauchen keine +Polizeivorschriften. Gäste und Restaurateure regeln das selbst durch die +Freiheit von Angebot und Nachfrage, durch die Freiheit der Konkurrenz +und durch das Fehlen von Konzessionsverpflichtungen. Wenn zu viele +einen Saloon aufmachen, braucht keine Behörde einzugreifen, die +überflüssigen gehen von selbst pleite. Nur die Nichtnepper, nur die, +die für gutes Geld gute Ware liefern, überleben. Vier Polizisten und +ein Inspektor halten in diesem großen Viertel die Wache, und sie +haben so selten etwas zu tun, daß es auffällt, wenn sie einmal eingreifen +müssen. Sie brauchen nur ganz selten einen Betrunkenen in +Sicherheit zu bringen, weil selten ein Betrunkener zu sehen ist. Und +wenn man doch einen sieht, so ist es ein indianischer Arbeiter oder ein +heruntergekommenes Halbblut. Im Streitfalle mit den Senjoritas und +den Herren sind sie auf seiten der Schwächeren, der Senjoritas. Und +nur, wenn der Herr zweifelsfrei im Recht ist, dann wird ihm beigestanden. +</p> + +<p> +Zwei oder drei Detektive mischen sich unter die Leute. Sie suchen nach +den Opium- und Kokainverkäufern, die hier in diesem Viertel ihre +Kundschaft finden. +</p> + +<p> +Osuna und ich, wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Bier. Dann +tanzten wir mit zwei Senjoritas und luden sie ein, sich zu uns zu setzen. +Sie tranken ein Gläschen Whisky. Wir wußten nicht, was wir zu ihnen +reden sollten. Und es tat mir leid um die Senjoritas, die sich die größte +Mühe gaben, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich war immer +froh, wenn wieder ein Tanz einsetzte, weil man mit den Füßen leichter +fortkonnte als mit der Zunge. +</p> + +<p> +Um überhaupt zu reden, fragten wir die Senjoritas nach allen möglichen +dummen Sachen. Ob sie jede Woche den Arzt sehen müßten oder nur +alle zwei Wochen. Ob diejenigen, die nicht in den Saloons tanzten, für +ihre Häuser hundertfünfzig oder zweihundert Pesos den Monat zu +zahlen hätten. Wieviel sie durchschnittlich verdienten. +</p> + +<p> +Sie hielten uns sicher für außerordentlich stupid, daß wir so blöde +geschäftliche Fragen an sie richteten, statt von den mehr interessanten +Dingen des Lebens zu sprechen. Aber sie verloren ihre gute Laune nicht. +Das konnten sie auch nicht gut, weil sie keine Launen hatten. Die +durften sie nicht haben, weil es dem Geschäft hinderlich werden könnte. +Und weil sie keine Launen hatten, fühlten sich viele Herren, die Familie +hatten, hier wohler als in ihrem Hause; denn es gibt nur wenige +Männer, die launische und zänkische Frauen lieben. Die Erholung hier +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +war für solche Herren die Geldausgabe wert. Hier waren die Herren +immer vergnügt. Und ich glaube sicher, wenn sie zu Hause stets ebenso +vergnügt wären wie hier, würden manche keine zänkischen und +launischen Frauen daheim vorfinden. +</p> + +<p> +Endlich sagte Osuna: „Es ist elf, ich glaube wir gehen.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte ich, „gehen wir.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-13"> +13 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> kamen heim um halb zwölf. Um zu der Kammer +zu gelangen, wo wir unsre Arbeitshose anziehen +wollten, mußten wir an der Backstube vorüber. Sie +waren feste am Arbeiten da drin. Wir guckten durch +die Tür, und der Meister sah uns. +</p> + +<p> +Er zog seine Uhr und sagte: „Es ist gleich zwölf.“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich,“ erwiderte ich, „wir haben es eben an +der Kathedrale gesehen. Und überhaupt, ich höre auf.“ +</p> + +<p> +„Wann?“ fragte der Meister. +</p> + +<p> +„Jetzt“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Dann sagen Sie es dem Alten. Er ist vorn im Café.“ +</p> + +<p> +„Das habe ich gesehen. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich bin ja +durch das Café gekommen.“ +</p> + +<p> +„Ich höre auch auf“, sagte nun Osuna. +</p> + +<p> +„Warum wollt ihr denn beide aufhören?“ fragte der Meister. +</p> + +<p> +„Wir sind doch keine Blödhammel, daß wir hier jeden Tag fünfzehn +und achtzehn Stunden arbeiten“, sagte Osuna. +</p> + +<p> +„Ihr habt wohl getrunken?“ fragte der Meister. +</p> + +<p> +Osuna ging gleich auf ihn zu: „Was sagen Sie?“ +</p> + +<p> +„Ich werde doch wohl noch sagen dürfen, daß es gleich zwölf ist,“ rechtfertigte +sich der Meister, „wenn wir hier schon seit zehn arbeiten und +so viel zu tun ist.“ +</p> + +<p> +„Sie können sagen, was Sie wollen,“ meinte ich, „aber nicht mehr zu uns. +Sie sind nicht mehr unser Meister.“ +</p> + +<p> +„Gut,“ sagte der Meister darauf, „dann geht aber auch gleich. Dann +braucht ihr hier auch nicht mehr zu schlafen, und morgen früh noch das +Frühstück mitnehmen, gibt es auch nicht.“ +</p> + +<p> +„Darum haben wir Sie gar nicht gefragt,“ erwiderte Osuna, „und wenn +wir das wollten, würden wir gerade Sie nicht darum anbetteln.“ +</p> + +<p> +Wir gingen in die Kammer, packten unsre Arbeitslumpen jeder in +einen leeren Zuckersack und gingen. +</p> + +<p> +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +Mit einmal sagte Osuna: „Wir haben ja unsre zwei Pesos in den alten +Schuhen gelassen, nur gleich geholt. Wenn die Bilder haben wollen, +dann mögen sie sich selber welche kaufen.“ +</p> + +<p> +Wir nahmen unsre zwei Pesos und kamen wieder vorbei an der +Backstube. +</p> + +<p> +„Wer hat denn die Bilder da zerrissen?“ fragte der Tscheche. +</p> + +<p> +„Wir“, antwortete Osuna. „Vielleicht was dagegen? Nur sagen. Wir +sind gerade in der Stimmung. Ich denke doch, daß wir mit unsern +Bildern machen können, was wir wollen.“ +</p> + +<p> +„Das habe ich nicht gewußt, daß das eure Bilder waren. Die hättet ihr +doch nicht zu zerreißen brauchen“, sagte ein andrer. +</p> + +<p> +„Solche unanständigen Bilder mag ich nicht leiden“, antwortete Osuna. +„Wenn ihr so etwas vor Augen haben wollt, kauft sie euch. Wir +brauchen keine Bilder, was Gale?“ +</p> + +<p> +„Nein, wir haben solche Bilder nicht nötig, glücklicherweise nicht“, +unterstützte ich Osuna. Und ich tat es mit voller Überzeugung. +</p> + +<p> +Dann gingen wir zu Senjor Doux und verlangten unser Geld, das wir +noch zu kriegen hatten. Er gab es uns nicht und sagte, wir sollten +morgen wiederkommen. +</p> + +<p> +„Ihr Morgen kennen wir reichlich“, gab ich ihm zur Antwort. +</p> + +<p> +Osuna stellte seinen Sack auf den Boden, lehnte sich ein wenig über +das Büfett, hinter dem Senjor Doux stand, und sagte ziemlich laut: +</p> + +<p class="ibr"> +„Wollen Sie uns jetzt sofort unser Geld geben oder nicht? Oder soll ich +erst die Polizei hereinholen, daß Sie uns unsern verdienten Lohn auszahlen?“ +</p> + +<p> +„Schreien Sie doch nicht so, daß die Gäste aufmerksam werden“, sagte +Senjor Doux leise und griff in die Hosentasche, um das Geld herauszunehmen. +„Ich zahle Ihnen ja, ich bin Ihnen doch nie einen Centavos +Lohn schuldig geblieben. Wollen Sie noch eine Flasche Bier trinken?“ +</p> + +<p> +„Können wir machen“, erwiderte Osuna. „Wir sind nicht zu stolz dazu.“ +Wir setzten uns an einen Tisch, und ein Kellner brachte uns zwei +Flaschen Bier. +</p> + +<p> +„Das Bier wollen wir ihm nicht schenken, diesem Geizkragen“, sagte +ich. „Er hat sicher geglaubt, wir würden nein sagen, sonst hätte er es +uns nicht angeboten.“ +</p> + +<p> +„Sicher nicht,“ meinte Osuna, „deshalb habe ich ja auch ja gesagt. Ich +habe gar keinen Appetit darauf.“ +</p> + +<p> +Warum wir gingen, danach fragte Senjor Doux nicht. Solche plötzlichen +Abschiede kamen bei ihm zu häufig vor, als daß er sich darüber aufgeregt +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +hätte. Ebensowenig fragte er uns, ob wir nicht bleiben möchten. +Er wußte wohl, daß es bei uns ebenso erfolglos gewesen wäre wie bei +früheren Abschieden. +</p> + +<p> +Er ging zur Kasse, wo seine Frau stand, und holte das Geld für uns. +Dann brachte er es an unsern Tisch, legte es hin und verschwand wieder +hinter dem Büfett, ohne noch etwas zu sagen, und ohne nochmals zu uns +rüberzusehen. +</p> + +<p> +Dann gingen wir zu einem indianischen Kaffeestand, wo wir ein Glas +Kaffee tranken und die Frau fragten, ob wir nicht unsre Säcke hier +bis zum Morgen unterstellen könnten. Dann würden wir wiederkommen, +bei ihr frühstücken und die Säcke abholen. +</p> + +<p> +Danach gingen wir wieder zu den Senjoritas, wo es angenehmer war als +in der Backstube. +</p> + +<p> +Am nächsten Tage, nachdem wir den Vormittag über uns auf den +Bänken der Plaza herumgedrückt hatten, gingen wir zu einer Casa de +Huespedes, wo wir jeder ein Bett belegten für fünfzig Centavos und +unsre Säcke in dem Kofferraum abgaben. +</p> + +<p> +Bett ist ja nun auf keinen Fall richtig. Einzelne jener Betten waren +von dem Muster unsrer Bäckerbetten, also Hängematten aus Segelleinen, +die in einem Scherengestell aufgespannt waren. Wir aber bekamen +bessere Betten. Das waren Drahtmatratzen, die durchgelegen +waren, so daß man immer in einer Höhle lag, wo man so zusammengepreßt +war, daß man kaum atmen konnte. Die Unterlage war so dünn +und zerschlissen, daß man den Draht fühlte, und da man ja nicht viel +Fleisch am Körper hatte, kerbte sich der Draht in die Knochen. Und +das war ein recht angenehmes Gefühl. Diese Betten könnten in einer +Folterkammer gute Dienste leisten. +</p> + +<p> +Da war ein weißüberzogenes Kopfkissen und ein weißes Leinenlaken +in jedem Bett. Aber da diese weiße Leinenwäsche nur jede Woche oder +alle drei Wochen gewechselt wurde, während der Bettgast jeden Tag +wechselte, so waren die Sachen eigentlich nicht weiß, sondern fettig, +fleckig und streifig. Außerdem gehörte zu jedem Bett eine Decke, die +sicher nie gewaschen und nie geklopft wurde. Es wurde nicht gelaust, +und niemand wurde untersucht, ob er krank sei. Wer sein Bett bezahlte, +durfte darin schlafen, ob er von den Läusen bald aufgefressen wurde, +ob er Syphilis, Tuberkulose, Malaria, Leprose, Krätze, schwarze Pocken +oder sonst etwas hatte. +</p> + +<p> +Die Schlafräume lagen zu ebener Erde. Türen hatten sie nicht, oder es +waren nur noch die Reste ehemaliger Türen vorhanden. Man trat vom +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +Hofe unmittelbar in den Schlafraum. Jeder Schlafraum hatte sechs bis +acht Betten. Die Betten standen kreuz und quer im Raum, gerade wie +sie am besten Platz fanden. Ein Raum lag neben dem andern, so daß +die Räume eine lange Reihe bildeten. Am Ende der Reihe schloß sich +im rechten Winkel wieder eine Reihe an und an diese wieder eine +Reihe, so daß also der ganze viereckige Hof mit Schlafräumen eingezäunt +war. Die Vorderfront bildete ein großes zweistöckiges gemauertes +Haus mit der stolzen Inschrift „Continental-Hotel. – Bäder +zu jeder Tages- und Nachtzeit“. Hier in diesem Vordergebäude waren +die Zimmer für einen Peso; in jedem Raume standen zwei Betten. Diese +Betten hatten Moskitonetze, während die billigen keine hatten. +</p> + +<p> +Viel wert waren die Netze nicht, weil sie große Löcher hatten. Außerdem +war in dem Gewebe der Atem von Tausenden von verschiedenen +Menschen aufbewahrt. +</p> + +<p> +Bäder konnte man in der Tat zu jeder Nachtzeit bekommen. Es waren +Brausebäder, und jedes Bad kostete fünfundzwanzig Centavos. Dafür +bekam man Seife und Handtuch und einen Bastwisch zum Abreiben +dazu geliefert. In diesen Baderäumen wimmelte es von riesengroßen +Schaben. An der Wasserrohrleitung war kein Hahn, den man einstellen +konnte, so daß das Wasser laufen konnte. Man hatte eine Kette +zu ergreifen und an der zu ziehen. Beim Baden konnte man also nur +immer eine Hand zum Waschen gebrauchen, während man mit der +andern an der Kette ziehen mußte. Wusch und seifte man sich mit +beiden, so mußte man die Kette loslassen und das Wasser hörte auf zu +laufen. Das wurde getan, um Wasser zu sparen; denn Wasser ist hier +ein kostbarer Artikel. +</p> + +<p> +In den billigen Schlafräumen gab es alles erdenkliche Ungeziefer und +alle möglichen Insekten der Tropen, alles natürlich in tropischen Ausmaßen, +nur die Moskitos waren klein. Die großen widerlichen Schaben +liefen in den Betten umher und an den Wänden auf und ab, als ob +ihnen die Räume gehörten. +</p> + +<p> +Die Reihen der billigen Schlafräume waren alle aus dünnen Brettern +erbaut, die halb zerfault waren. Die Dächer waren aus Wellblech und +bei manchen Räumen aus Pappe. Ob sie aber aus Blech oder aus Pappe +waren, alle leckten, wenn es regnete, so fürchterlich, daß an ein Schlafen +nicht zu denken war. +</p> + +<p> +Die Gäste alle rauchten. Und da es ja nicht ihr Haus war, so flogen die +ganze Nacht hindurch die glühenden Zigarettenstummel und brennenden +Zündhölzer in den Räumen herum. Die Zündhölzer hier sind aus +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +Wachs und brennen schön weiter, wenn man sie weggeworfen hat. Aber +trotzdem sind Feuer sehr selten. Wenn sie ausbrechen, brennt alles +nieder, weil die Feuerwehr zwar die modernsten Löschmaschinen besitzt +und sehr gut gedrillt ist, aber kein Wasser hat. Nur gerade so viel +Wasser, wie in den fahrbaren Maschinen mitgeführt wird. +</p> + +<p> +Die Fußböden waren alle zertreten und morsch und faul. Ratten und +Mäuse hatten ideale Heime und trugen die Beulenpest umher. +</p> + +<p> +Die billigen Schlafräume waren immer voll besetzt, die teuren für einen +Peso standen zur Hälfte immer leer. +</p> + +<p> +Wir kamen, gaben einen Namen an, der eingeschrieben wurde, und +erhielten unsre Raum- und unsre Bettnummer. Dann legten wir uns +schlafen, nachdem wir ein Brausebad genommen hatten. +</p> + +<p> +Gegen acht Uhr abends standen wir auf und gingen wieder in die Stadt. +Das Bett gehörte uns noch für die kommende Nacht, und wir brauchten +nicht noch einmal dafür zu bezahlen. +</p> + +<p> +Bedürfnisanstalten gibt es hier nicht, dafür müssen alle Wirtschaften, +die darauf eingerichtet sind, jedem, auch wenn er nichts verzehrt, die +Benutzung gestatten. Aber manche Wirtschaften haben selbst keine Einrichtung +dafür, weil sie keinen überflüssigen Raum haben. Dann muß +sogar der Besitzer in ein Nachbarrestaurant gehen. +</p> + +<p> +Das war der Grund, daß ich in eine Bar kam. Ein Riese von einem +Mann stand an dem Büfett und trank Tequila. Er hatte hohe Reitstiefel +an mit Sporen. Sein Gesicht war sehr roh, und er trug einen mächtigen +Hindenburgbart. +</p> + +<p> +„Hallo!“ rief er, als ich wieder hinausgehen wollte. „Suchen Sie Arbeit?“ +</p> + +<p> +„Ja. Was für welche? Wo?“ +</p> + +<p> +„Baumwolle pflücken. In Concordia. Mr. G. Mason. Zahlt den üblichen +Pflückerlohn. Bahnstation. Kostet drei Pesos sechzig.“ +</p> + +<p> +„Sind Sie beauftragt, Leute anzunehmen?“ +</p> + +<p> +„Natürlich, sonst würde ich es Ihnen doch nicht sagen.“ +</p> + +<p> +„Gut, geben Sie mir einen Zettel.“ +</p> + +<p> +Er ließ sich ein Stück Papier von dem Wirt geben, nahm ein Bleistiftstümmelchen +aus seiner Hemdtasche und schrieb den Zettel aus. +</p> + +<p> +Ich las den Zettel: Mr. G. Mason, Concordia. Dieser Mann kommt zum +Pflücken. L. Wood. +</p> + +<p> +Als ich später Osuna traf und ihn fragte, sagte er mir, daß er nicht +mitkäme. Am nächsten Morgen fuhr ich ab. +</p> + +<p> +Ich kam an und fand Mr. Mason. Auf dem Felde waren viele Pflücker +tätig, und die Arbeit hatte schon tüchtig angefangen. +</p> + +<p> +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +Als Mr. Mason meinen Zettel sah, sagte er: „Mr. L. Wood? Kenne ich +nicht. Hat keinen Auftrag von mir, Pflücker anzunehmen. Kann gar +keine brauchen. Habe genug.“ +</p> + +<p> +„Sie sind doch Mr. G. Mason?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Nein, ich bin W. Mason.“ +</p> + +<p> +„Wohnt hier in der Nähe ein Mr. G. Mason?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Nein“, antwortete der Farmer. +</p> + +<p> +„Dann sind Sie doch damit gemeint“, sagte ich. „Das mit dem G. ist dann +nur ein kleiner Irrtum. Sie pflücken doch. Wie kann denn Mr. Wood +oder ganz gleich wie er heißt wissen, daß hier ein Mr. Mason wohnt, der +Baumwolle baut und jetzt gerade mit dem Pflücken beginnt?“ +</p> + +<p> +Der Farmer machte ein unbestimmtes Gesicht und sagte dann: „Das +weiß ich auch nicht. Jedenfalls kenne ich keinen Mann namens Wood, +und mein Vorname ist nicht G., sondern W.“ +</p> + +<p> +„Schöne Sache,“ sagte ich, „einem so das Geld aus der Tasche zu lotsen +für die Eisenbahnfahrt, wenn man schon so gut wie nichts hat. Ich will +Ihnen etwas sagen, Mr. Mason, etwas stimmt hier nicht, und es ist an +dieser Stelle hier schwer herauszukriegen, wer der verfluchte Gauner +ist, der einen um seine Zeit und sein Geld betrügt.“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie wollen, können Sie ja hier anfangen zu pflücken,“ lenkte +Mr. Mason nun ein, „aber Sie kommen nicht aufs Geld. Ich habe nur +Eingeborene zum Pflücken, und die tun es billig. Sie können auch hier +nirgends wohnen.“ +</p> + +<p> +„Verstehe auch ohne Hörrohr, was los ist“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Haben Sie schon einmal als Zimmermann gearbeitet?“ fragte nun +Mr. Mason. +</p> + +<p> +„Ja, das habe ich, ich bin ein geübter Zimmermann.“ +</p> + +<p> +Wenn man hier nicht verhungern will, muß man alles sein können, +auch wenn man nie eine Axt oder ein Zieheisen in der Hand gehabt hat. +Ich jedenfalls hatte keine blasse Ahnung von der Zimmerei. Aber ich +dachte, wenn ich erst einmal vor der Arbeit stehe und mir eine Axt +gegeben wird, dann geht das übrige schon von selbst. Es kann jemand +in England oder in Frankreich oder in Deutschland vier oder fünf Jahre +Buchbinder oder Gelbgießer oder sonst was gelernt haben und ein +Meister in seinem Fache sein. Das ist hier gar nichts wert, weil selten +oder nie ein Buchbinder oder Gelbgießer verlangt wird. Wer bei seinem +Handwerk bleiben will wie der Schuster beim Leisten, der bekommt +hier nicht einmal verschimmeltes Brot in den Magen. Heute ein Auto +reparieren, morgen einen guten Maurer machen, übermorgen Stiefel +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +besohlen, die folgende Woche ein Bohnenfeld pflügen, dann Tomaten in +Blechbüchsen konservieren und verlöten, hierauf Werkzeuge schmieden +und Drillmaschinen in Ordnung bringen in den Ölfeldern, dann ein +Kanu, mit Papayas gefüllt bis zum Sinken, über Stromschnellen und +Sandbänke, zwischen Alligatorenherden und durch undurchdringliches +Dornengestrüpp tagereisenweit die Flüsse hinunterpaddeln, wenn man +das nicht alles nebenbei kann, ist das so mühevoll gelernte Handwerk +und das lange Studium des Ingenieurs oder des Arztes nicht so viel wert, +daß man sich fünfzig Centavos für ein chinesisches Mittagessen verdienen +kann. +</p> + +<p> +„Wenn Sie Zimmermann sind, kann ich Ihnen Arbeit besorgen“, erläuterte +Mr. Mason. „Da baut ein Farmer ein neues Haus, und er wird +nicht gut damit fertig, weil er nichts von Holzarbeit versteht. Ich gebe +Ihnen einen Zettel mit. Es ist nur eine Stunde von der Bahnstation +entfernt.“ +</p> + +<p> +Ich bin alt genug und lange genug aus den Windeln, um zu wissen, daß +niemand einen Zimmermann brauchte, und daß Mr. Mason nur nach einer +Gelegenheit suchte, mich recht rasch loszuwerden, damit ich nicht etwa +das Reisegeld von ihm verlange. Denn es war kein Zweifel, daß er den +Mr. Wood beauftragt hatte, sich nach Pflückern umzusehen. Inzwischen +aber hatte er indianische Pflücker angeworben, die es billiger machten, +weil sie von Frijoles und Tortillas leben konnten. Das ist der Trick, den +sie mit den Arbeitslosen spielen. Überall wird angeworben, weil sie nicht +wissen, wer kommt und wer nicht kommt. Überallhin, wo sie einen +Bekannten haben, schreiben sie Briefe, daß sie Pflücker brauchen, und +von überallher finden sich immer wieder Gutgläubige und Verhungernde, +die den letzten Peso für die Bahnfahrt wagen. Der Farmer hat +dann die Auswahl, sich die billigsten auszusuchen und den Pflückerlohn +zu pressen, weil der arme Teufel nicht mehr fort kann; er muß +pflücken und wenn ihm nur drei Centavos für das Kilo geboten werden. +Es war zwecklos, sich mit dem Manne lange herumzustreiten. Die einzige +Abrechnung wäre gewesen, ihm ein paar in die Fresse zu hauen. Aber +er hatte den Revolver in der hinteren Tasche, und Fausthiebe, auch +wenn sie noch so gut gezielt sind, bleiben gegen Revolverkugeln zu sehr +im Nachteil, als daß es sich lohnte, es mit der nackten Faust gegen +nickelplattierte Bleikerne aufzunehmen. +</p> + +<p> +Zur Station mußte ich sowieso zurück. Da konnte ich ja gut bei jenem +Farmer einmal vorsprechen. Es war aber schon so, wie ich vermutet +hatte. Der Farmer brauchte keinen Zimmermann, er war selbst Zimmermann +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +genug, um mit drei Peons sein Haus wunderschön und dauerhaft +aufzubauen. Immerhin, die Nachfrage nach Arbeit brachte mir ein +gutes Essen ein. Und der Farmer bestätigte mir auch, daß Mr. Mason +ein ganz niederträchtiger Lump sei und jedes Jahr diesen Trick mit der +Anwerbung von Pflückern vollführe, um durch die arbeitsuchenden +weißen Arbeiter noch mehr auf die Pflückerlöhne der Indianer zu +pressen. Denn diese armen Teufel, die kaum eine andre Einnahme an +Geld das ganze Jahr hindurch haben, werden ganz klein und duldsam +gegenüber den Lohnpressungen, wenn sie selbst Weiße um diese Arbeit +betteln gehen sehen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-14"> +14 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> ich zur Stadt zurückkam, waren mir von meiner +monatelangen Arbeit in der Bäckerei gerade zwei +Pesos übriggeblieben. +</p> + +<p> +Was tun? +</p> + +<p> +Ich ging zum Casa, wo ich hoffte, Osuna zu finden. +Aber er war nicht da. Vor zwölf ging er nicht zu +Bett. Abends war ja das Leben am schönsten, wenn es +kühl war und die hübschen Mädchen auf den Plazas +promenierten, während die Musikbanden spielten. +</p> + +<p> +Auf keinem der Plazas sah ich Osuna. Also konnte er nur im Spielsaal +sein. Der Spielsaal war im oberen Stockwerke eines großen Hauses, +das zu ebener Erde eine Bar hatte. Im Spielsaal selbst wurden keine +Getränke verabreicht. Es gab nur Eiswasser, das man umsonst erhielt. +Gesellschaftskleidung war nicht vorgeschrieben. Ich ging hin, gerade +wie ich war, ohne Jacke und ohne Weste. Den Leitern der Spielbank +kam es nicht darauf an, was die Besucher auf dem Leibe hatten, +sondern was sie in den Taschen hatten, und der, der ohne Jacke und +Weste erschien, konnte drei oder sechs oder gar neun Monate Drillerlohn +in der Tasche haben. Je verölter und verspritzter seine Hosen, sein +Hemd und sein Hut, je verlehmter seine Stiefel waren, desto wahrscheinlicher +war es, daß er zwei- oder dreitausend Pesos lose in der +Hosentasche trug und zur Spielbank kam, um diese Summe zu verdoppeln. +</p> + +<p> +Auf dem Treppenabsatz war ein kleines Tischchen, wo zwei Männer +saßen, die jeden, der hinaufging, beobachteten. Sie kannten jeden Besucher, +und sie hatten eine feines Gedächtnis für die, denen der Besuch +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +untersagt war, weil sie sich nicht zu benehmen verstanden. Es kam vor, +daß jemand behauptete, der Bankhalter habe ihn übervorteilt. Ohne zu +streiten, zahlte der Bankhalter die fünf, zehn oder zwanzig Pesos, um +die der Streit ging, sofort aus, auch wenn die Bank durchaus im Recht +war. Aber der Mann durfte nie wieder den Saal betreten. Die Bank +betrog nicht. Es waren nur immer die Gäste, die zu betrügen versuchten. +Die Bank wußte, daß sie bessere Geschäfte machte, wenn sie grundehrlich +spielte, Karten und Würfel wechselte, sobald ein Spieler nur den +leisesten Zweifel äußerte, als wenn sie versucht hätte, durch geschickte +Manipulationen den Spielern das Geld aus der Tasche zu holen. +</p> + +<p> +Der Saal war gedrängt voll. Und wären nicht die vielen Ventilatoren +gewesen, würde eine unerträgliche Hitze den Aufenthalt unmöglich gemacht +haben. Es waren Tische da, an denen Roulette gespielt wurde, an +andern wurde gepokert, wieder an andern gab es „Meine Tante – deine +Tante“, oder man konnte sein Glück mit „Siebzehn und vier“ wagen. +Eine Bank wurde von einem Chinesen gehalten, der Vorstandsmitglied +des Jockeiklubs war. Die Spielbank arbeitete unter dem Namen Jockeiklub, +und sie war nur Mitgliedern des Jockeiklubs zugänglich. Mitglied +des Jockeiklubs war man, sobald man den Saal betrat. Die Regierung +schrieb zwar vor, daß jeder Besucher eine ausgeschriebene, auf seinen +Namen lautende Mitgliedskarte haben müsse. Aber nach dieser Karte +wurde nie jemand gefragt, jedenfalls nie ein Weißer. Nur von den Indianern +verlangte man Karten zu sehen, aber die hatten keine, und deshalb +wurde ihnen der Zutritt nicht erlaubt. Die farbige Rasse war durch +die Chinesen reichlich vertreten, und zwar so reichlich, daß an manchen +Abenden die Chinesen die Hälfte der Gäste ausmachten. +</p> + +<p> +Ich hatte schon richtig vermutet. Osuna war anwesend. Er stand an der +Würfelbank, wo ein Locker spielte, der von der Bank angestellt und +bezahlt wird, um an den Banktischen zu spielen, wo augenblicklich +keine Gäste sind. Durch sein Spielen, bei dem er nach jedem Wurf den +Einsatz erhöht und endlich Einsätze von fünfundzwanzig Pesos macht, +lenkt er die Aufmerksamkeit von Spielgästen, die sich an andern Tischen +drängen, zu dieser Bank. Der hohe Einsatz macht die Leute aufgeregt, +sie kommen näher, umdrängen den Tisch, um den waghalsigen Spieler +zu beobachten. Natürlich gewinnt der Spieler und verliert, genau nach +den Gesetzen des Spielerglücks. Aber es ist ja nicht sein Geld, es ist das +Geld der Bank, das er setzt. Und die Gäste wissen nicht, daß er zur Bank +gehört und nur Anreizspiele macht. Aber es dauert nur wenige Minuten +und der Tisch ist von einem Dutzend erregter Männer belagert, die das +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Fallen der Würfel belauern und in ihrem Innern sofort die Kombinationen +ausrechnen, in welchen Intervallen die Zahlen wiederkehren. +Sobald sie glauben, die Kombination errechnet zu haben, fangen sie zu +setzen an und spielen. Die Würfelbank, die vor kaum zehn Minuten +nicht einen Spieler hatte, sondern müßig lag, nur mit dem Bankhalter +hinter dem Tisch, ist jetzt der Mittelpunkt des Spielsaales. Jedes Feld +ist drei- und viermal besetzt. +</p> + +<p> +Dadurch wurde die Bank mit „Meine Tante – deine Tante“ müßig, und +der Bankhalter konnte abrechnen, die Chips auswechseln und die neuen +Kartenpacks aufschichten. Wenn er fertig war und der Bankhalter bei +den Würfeln vor den Strömen des Schweißes zu keuchen begann, setzten +bei der Tanten-Bank zwei Locker ein. Und allmählich ging der Würfelkorb +immer langsamer, weil immer langsamer und seltener hier gesetzt +wurde, während bei der Tante das Gedränge unheimlich wurde. +</p> + +<p> +In einer Ecke wurde jetzt eine Bank versteigert. Sie wurde angeboten +mit fünf Pesos, überboten mit zehn, und sie ging endlich fort mit sechzig +Pesos. Ich sah rüber zu dem, der sie gekauft hatte. +</p> + +<p> +„Hölle noch mal, Leary, Mann, wo kommen Sie denn her?“ rief ich hinüber. +Es war in der Tat Leary, mit dem ich in Campeche in einem Ölcamp +gearbeitet hatte. „Ich drücke den Daumen für Sie, Leary, bis auf +dreihundert gegen zwanzig. Einverstanden?“ rief ich ihm zu. +</p> + +<p> +„Einverstanden, Gale“, rief er zurück. +</p> + +<p> +Die Amerikaner, die anwesend waren und es gehört hatten, lachten und +kamen alle zu dem Tisch, wo Leary sich jetzt niedersetzte, um die Bank +zu übernehmen, die er ersteigert hatte. +</p> + +<p> +Es wurde losgespielt. Leary mußte bluten. Hundert, zweihundert, dreihundert. +Er packte das Gold nur immer so raus und schob es fort. Seine +Chips waren längst zu Ende. +</p> + +<p> +„Verflucht noch mal, Gale, drücken Sie denn auch, oder was ist?“ +</p> + +<p> +„Nur keine Angst, Leary, hauen Sie nur drauf, alles was Sie haben.“ +</p> + +<p> +„Gut, mache ich“, rief Leary herüber. „Aber ich schneide ihn ab, wenn +Sie mich abflattern lassen.“ +</p> + +<p> +„Gehen Sie drauf! Ich stehe Ihnen mit dreihundert gegen Gentleman-Agrément, +drauf!“ Ich hatte zwei Pesos in der Tasche. +</p> + +<p> +Und Leary ging los. Vierhundert, fünfhundert, sechshundert, siebenhundert. +Sein Gesicht wurde rot wie eine Tomate, und es sah aus, als ob +es jeden Augenblick platzen wolle. Er zog ein Tuch aus der Tasche und +wischte sich den Schweiß ab. Aufgeregt war er nicht. Es war nur die +Emsigkeit der Arbeit, die ihn so stark mitnahm. +</p> + +<p> +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +Siebenhundertfünfzig. +</p> + +<p> +Die Karten fielen. Die Bank gewann. +</p> + +<p> +Die Karten fielen abermals. Die Bank gewann. +</p> + +<p> +Ich quetschte den Daumen. Die Bank gewann. Leary stand auf: „Ich +gebe die Bank ab. Versteigere.“ +</p> + +<p> +„Wieviel haben Sie gemacht, Leary?“ fragte ich ihn, als er zu mir kam, +um mir die Hand zu geben. Denn wir hatten uns ja nur über den Tisch +und über das Gedränge hinweg begrüßt. +</p> + +<p> +„Gemacht? Wieviel? Ich weiß nicht ganz genau. Aber da, nehmen Sie. +Gehört Ihnen.“ Er gab mir zweihundert Pesos. +</p> + +<p> +Ich hatte sie ehrlich verdient. Aber er sagte mir nicht, wieviel er gemacht +hatte. Für zwanzig hatte er sich verbürgt, falls er gewänne; wenn er mir +nun zweihundert geben konnte, so hatte er einen hübschen Haufen in +der Hosentasche. +</p> + +<p> +Man nimmt das Geld und fragt nicht, woher es kommt. Man kann doch +nicht verhungern. Verhungern ist Selbstmord. Und Selbstmord ist eine +Sünde. Aber Sünden soll man nicht begehen, das wird einen schon in der +Jugend gelehrt. +</p> + +<p> +Leicht gewonnenes Geld ist rasch ausgegeben. Aber diese zweihundert +Pesos waren keineswegs leicht verdient, und ich hielt sie gut zusammen. +Ich borgte Osuna fünfzehn Pesos, und er mietete sich einen kleinen +Zigarettenstand. Er zahlte für das Tischchen, das mit einem Stück gestreiftem +Segeltuch überspannt war, um die Sonnenstrahlen abzuhalten, +neun Pesos Miete den Monat. +</p> + +<p> +Jeden Tag einmal kam der städtische Steuereinnehmer vorbei, der den +Standtribut einforderte, fünfzehn Centavos. Dafür bekam Osuna ein +Zettelchen, das er vorzeigte, wenn der Beamte nachmittags wieder vorbeikam, +um bei denen einzukassieren, die am Vormittage nicht bezahlt +hatten. Diese Bezahlung des täglichen Tributs war alles, was man mit +den Behörden zu tun hatte, wenn man ein Geschäft auf der Straße +errichtete. +</p> + +<p> +Wenn das Geschäft mal an einem Tage sehr schlecht ging, dann sagte +Osuna zu dem Beamten: „Ich habe heute kaum ein Mittagessen verdient“, +dann schenkte ihm der Beamte für diesen Tag die Steuer. Es +wird dem Händler geglaubt, wenn er sagt, daß er kein Geschäft gemacht +hat; dafür glaubt er auch bei einer andern Gelegenheit wieder +der Behörde, wenn die etwas sagt. Vertrauen gegen Vertrauen. +</p> + +<p> +Viel verdiente Osuna nicht. Manchen Tag einen Peso, manchen zwei +Pesos. Über zwei Pesos kam er selten. Aber es war leichter als in der +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +Bäckerei. Die Arbeitszeit war freilich die gleiche. Von frühmorgens um +fünf bis nachts um zwölf oder eins stand er an seinem Tisch. +</p> + +<p> +Ich holte mir jeden Tag ein oder zwei Pakete Zigaretten bei ihm und +verringerte so seine Schuldsumme. Es ging sehr langsam; denn jedes +Paketchen kostete nur zehn Centavos, und in jedem Paketchen waren +vierzehn Zigaretten. In manchen Paketen war sogar noch ein Gutschein +für zehn, zwanzig oder fünfzig Centavos, die Osuna freilich von der +Fabrik ersetzt bekam, die er aber doch erst einmal auszulegen hatte. +Die Fabrik zahlte ihm für diese ausgeliehene Summe fünf Prozent. +</p> + +<p> +Eines Nachmittags, als ich bei ihm saß und auf der kleinen Kiste hockte, +die sein Stuhl war, fragte ich ihn: „Warum sind Sie denn damals nicht +mit zum Baumwollpflücken gekommen? Sie hatten doch das Reisegeld +so gut wie ich.“ +</p> + +<p> +„Eben darum, weil ich das Reisegeld hatte, bin ich nicht mitgekommen. +Ich hatte Sie gewarnt, aber Sie wollten mir ja nicht glauben. So +leicht werden Sie nun wohl nicht mehr darauf hineinfallen.“ +</p> + +<p> +„Man kann nie im voraus wissen, ob es stimmt, oder ob es nicht stimmt. +Im vorigen Jahre stimmte es“, erwiderte ich. +</p> + +<p> +„Natürlich kann es auch mal stimmen und wirklich Arbeit da sein und +richtiger Pflückerlohn“, bestätigte er mir. „Aber ich habe reichlich Erfahrung. +Vor drei Jahren war ich pflücken, bei einem Amerikaner. +Wissen Sie, wie es mir ergangen ist?“ +</p> + +<p> +„Nein, wie?“ +</p> + +<p> +„Als die erste Woche herum war, wollten wir unsern Lohn haben. Da +sagte der Farmer, er könne nur jedem einen Peso geben. Wenn wir +Ware brauchten, so könnten wir das aus seinem Laden beziehen. Da +nahmen wir auch Ware, weil wir sie brauchten. Von dem Tage an gab +er uns überhaupt kein Geld mehr, sondern immer nur Bons für seinen +Laden. Und da setzte er uns Preise an, doppelt so hoch als in der Stadt. +Tabak, den wir in der Stadt für achtzig Centavos kauften, berechnete +er uns mit einem Peso vierzig. Ein Hemd, das in der Stadt drei Pesos +kostete, berechnete er mit fünf Pesos. So ging das mit Mehl, mit Bohnen, +mit Kaffee, na, kurz mit allem. Als wir dann mit der Ernte fertig waren, +wollten wir abrechnen und unser Geld haben. Da sagte er ganz trocken, +er hätte selber kein Geld, wir könnten für das ganze Geld, das uns noch +zustände, Ware haben. Was sollten wir aber mit der Ware machen? +Geld brauchten wir vor allem, um wieder zur Stadt zurückkommen zu +können.“ +</p> + +<p> +„Und bekamt ihr das Geld?“ +</p> + +<p> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +„Nein, wir mußten laufen. Er blieb uns den ganzen Lohn schuldig. Er +sagte, wir sollten unsre Adresse einschicken, dann wolle er uns das Geld +im Oktober schicken. Er hat nie einen Centavo geschickt, ist den Lohn +heute noch schuldig. Wir haben gerade für das lausige Essen die acht +Wochen gepflückt. Und was für Essen? Sie wissen ja, was man sich da +kocht, und was man ißt. Sie haben ja gepflückt.“ +</p> + +<p> +„Da läßt sich auch gar nichts dagegen tun“, sagte ich. +</p> + +<p> +„Nein, die kriegen immer wieder Leute. Immer wieder andre. Immer +wieder andre Dumme, immer wieder andre, die in der Stadt vor dem +Verhungern stehen, und die ehrlich arbeiten wollen. Wir haben ja nun +in einigen Staaten sehr tüchtige Gouverneure, die von den Arbeitern +gewählt wurden, von den Sozialisten und von den Syndikaten. In San +Luis Potosi und in Tamaulipas. Die Gouverneure haben nun vor kurzem +in den Arbeiterversammlungen gesprochen und zugesagt, daß sie hier +energisch eingreifen wollen. Der Gouverneur von Tamaulipas arbeitet +ein Dekret aus, daß jeder Baumwollfarmer fünfundzwanzig Pesos +hinterlegen muß für jeden Pflücker, und daß er für jeden Pflücker das +Bahngeld für die Hin- und Rückreise bezahlen muß. Das ist wenigstens +ein Anfang. Bis jetzt konnten die mit den armen Teufeln machen, was +sie gerade wollten. Wenn sie dann keine Pflücker kriegen und überall +herumschreien, daß ihnen die Ernte verfault, dann sagen sie, das Landarbeitersyndikat +sei schuld und das müßte ausgerottet werden. Dann +reden sie von den faulen Indianern und den Peons, die lieber als Banditen +leben, als daß sie anständig arbeiten wollen. Mich fängt keiner +mit dem Schwindel. Baumwollpflücken? Ich? Ich denke nicht, daß Sie +mich für einen solchen Dummkopf halten. Lieber stehlen oder krepieren. +Haben Sie schon einmal hier einen armen Farmer gesehen? Ich +nicht. In den ersten drei Jahren vielleicht, da geht es ihm etwas hart. +Aber wenn er das Land erst einmal durch hat, dann ist es sicherer als +eine Goldmine. Dann aber wollen sie auch gleich noch Diamantminen +daraus machen dadurch, daß sie die Arbeiter um den Lohn betrügen. +Cabrones!“ +</p> + +<p> +Ich denke, daß Osuna durchaus recht hatte. Und ich nahm mir vor, +meine Laufbahn als Baumwollpflücker für immer abzuschließen. Es +kam nichts dabei heraus. Und es war so zwecklos. Was kümmerte mich +denn der Baumwollbedarf Europas? Wenn sie Baumwolle da drüben +haben wollen, so mögen sie herüberkommen und sie sich selber abpflücken, +damit sie einmal erfahren, was es heißt: Baumwolle pflücken. +Mit dieser neuerkämpften Lebensweisheit belastet, verließ ich Osuna +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +und ging rüber zu der Kaffeebar, um Kaffee zu trinken und zwei Hörnchen +zu essen. +</p> + +<p> +Neben mir saß ein Amerikaner, ein älterer Mann, sicher Farmer. +</p> + +<p> +„Suchen Sie nach was?“ fragte er, als ich über die Bar hin und her +guckte. +</p> + +<p> +„Ja, nach dem Zucker“, sagte ich. Er reichte mir die emaillierte Zuckerbüchse. +</p> + +<p> +„Das meinte ich eigentlich nicht, als ich fragte“, sagte der Mann +lächelnd. „Ich meinte vielmehr, ob Sie etwas verdienen wollen?“ +</p> + +<p> +„Das will ich immer“, erwiderte ich. +</p> + +<p> +„Haben Sie schon mal Rinderherden blockiert?“ fragte er jetzt. +</p> + +<p> +„Ich bin auf einer Viehfarm groß geworden.“ +</p> + +<p> +„Dann habe ich Arbeit für Sie.“ +</p> + +<p> +„Ja?“ +</p> + +<p> +„Eine Herde von tausend Köpfen, achtzig Stiere darunter, dreihundertfünfzig +Meilen über Land bringen. Abgemacht?“ +</p> + +<p> +„Abgemacht!“ Ich schlug in seine Hand. „Wo sehe ich Sie?“ +</p> + +<p> +„Hotel Palacio. Um fünf. In der Halle.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-15"> +15 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">infach</span> mit der Bahn können Viehherden nicht befördert +werden. Das Land ist groß, die Strecken sind +so weit, daß die Frachten die Herden auffressen. Das +Füttern und Tränken hat gleichfalls seine Schwierigkeiten. +Es muß herangeschafft werden zu den Stationen, +Futterleute müssen angenommen werden. +Durch den langen Transport geht das Vieh auch herunter. +Es kann am Ende so kommen, daß der Viehzüchter +noch draufzahlen darf, wenn die Reste der Herde am Bestimmungsmarkte +angelangt sind. +</p> + +<p> +So bleibt nichts andres übrig, als die Herden über Land zu treiben. In +den europäischen Ländern ist das eine ziemlich einfache Sache. Aber +hier gibt es keine Straßen. Es müssen Gebirge überstiegen werden, +Sümpfe umgangen, Flüsse gekreuzt werden. Man muß stets Wasser zu +finden verstehen, weil die Herden sonst zugrunde gehen, und man muß +täglich Weidegründe erreichen. +</p> + +<p> +„Was, dreihundertfünfzig Meilen?“ fragte ich Mr. Pratt, als wir uns +zur Verhandlung niedergesetzt hatten. „Luftlinie?“ +</p> + +<p> +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +„Ja, Luftlinie.“ +</p> + +<p> +„Verflucht. Das können dann sechshundert Meilen werden.“ +</p> + +<p> +„Das glaube ich nicht“, erwiderte Mr. Pratt. „Soweit ich Erkundigungen +einziehen konnte, läßt es sich nahe an der Luftlinie halten.“ +</p> + +<p> +„Was mit der Bezahlung?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Sechs Pesos den Tag. Ich stelle Pferd und Sattelzeug. Beköstigen +müssen sie sich selbst. Ich gebe Ihnen sechs von meinen Leuten mit, +Indianer. Der Vormann, ein Halbblut, geht auch mit. Er ist ein ganz +tüchtiger Mann. Verläßlich. Ich könnte ihm die Herde vielleicht anvertrauen. +Aber besser nicht. Wenn er alles unterwegs verkauft und wegrennt, +kann ich nichts machen. Seine Frau und seine Kinder wohnen bei +mir auf dem Rancho. Aber das ist keine Sicherheit. Suchen Sie mal hier +jemand im Lande. Und ich möchte ihm auch nicht soviel Geld mitgeben. +Ohne Geld kann ich ihn nicht abschicken; da sind so viele Ausgaben +unterwegs. Es ist nicht gut, die Leute zu verführen. Selber kann ich +nicht so lange fortbleiben vom Rancho. Wenn man es weißt, dauert es +nicht lange, und die Banditen sind herum. Nun hätte ich gern einen +weißen Mann, der den Zug übernimmt.“ +</p> + +<p> +„Ob ich so ehrlich bin, wie Sie denken, das weiß ich nicht. Noch nicht“, +sagte ich lachend. „Ich verstehe es auch, mit einer Herde durchzubrennen. +Sie haben mich doch gerade hier auf der Straße aufgegriffen.“ +</p> + +<p> +„Ich sehe den Leuten ins Gesicht“, sagte Mr. Pratt. „Aber, um ganz +ehrlich zu sein: So auf gut Glück gehe ich ja nun auch nicht. Ich kenne +Sie.“ +</p> + +<p> +„Sie mich? Ich wüßte nicht woher.“ +</p> + +<p> +„Haben Sie denn nicht bei einem Farmer mit Namen Shine gearbeitet?“ +</p> + +<p> +„Allerdings“, bestätigte ich. +</p> + +<p> +„Da habe ich Sie gesehen. Sie gingen dann zu den Ölleuten zur Ablösung +eines Drillers. Na?“ +</p> + +<p> +„Stimmt. Ich erinnere mich aber nicht, daß ich Sie gesehen hätte.“ +</p> + +<p> +„Tut nichts. Aber Sie sehen, daß ich Sie kenne. Und Mr. Shines Wort, +daß ich mich auf Sie verlassen kann, trotzdem Sie sich immer um Streiksachen +kümmern –“ +</p> + +<p> +„Ich? Fällt mir gar nicht ein. Was kann ich denn dafür, daß immer +zufällig da, wo ich bin, die Hölle losgeht. Ich mische mich nie rein.“ +</p> + +<p> +„Lassen wir das beiseite. Bei mir haben Sie keine Gelegenheit. Sie haben +den Kontrakt und sind kein Arbeiter. Sie übernehmen es, die Herde zu +transportieren, und ich übernehme es, Ihnen das Geld vorzustrecken +und Ihnen Tagesdiäten zu zahlen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +„Kontrakt? Ganz gut. Aber was mit der Kontraktprämie?“ fragte ich. +</p> + +<p> +Mr. Pratt schwieg eine Weile, dann nahm er sein Notizbuch, rechnete +und sagte: „Ich habe zwei Meilen vom Markt, wo ich sie zum Verkauf +bringen will, eine Weide gepachtet. Sie ist aufgezäunt. Wenn ich die +Herde in der Weide halten kann, brauche ich nicht die Preise zu +nehmen, sondern kann meinen Vorteil wahrnehmen, bis man mir +kommt. Wahrscheinlich kriege ich mehrere Schiffsladungen in Auftrag. +Andernfalls verkaufe ich dutzendweise. Macht bessern Preis, als wenn +ich die ganze Herde auf einmal losschlagen muß. Ich werde mal sehen. +Ich habe einen guten Kommissionär da, der schon jahrelang mit mir +arbeitet und immer gute Preise geholt hat.“ +</p> + +<p> +„Das ist alles ganz gut,“ flocht ich ein, „aber das alles hat nichts mit +meinem Kontrakt und meiner Prämie zu tun.“ +</p> + +<p> +„Well, für jeden Kopf, den Sie gesund durchkriegen, bezahle ich Ihnen +extra sechzig Centavos. Wenn Sie weniger als zwei Prozent Verlust +haben, noch einmal hundert Pesos.“ +</p> + +<p> +„Und das Risiko?“ +</p> + +<p> +„Was Sie mehr verlieren als zwei Prozent, dafür ziehe ich Ihnen pro +Kopf verlorenes Vieh fünfundzwanzig Pesos ab“, sagte Mr. Pratt. +</p> + +<p> +„Warten Sie einen Augenblick“, sagte ich. Ich rechnete rasch auf einem +Zeitungsrand und antwortete dann: „Abgemacht. Einverstanden. Geben +Sie mir den Kontraktzettel.“ +</p> + +<p> +Er riß ein Blatt aus seinem Büchlein aus, schrieb mit Bleistift die soeben +vereinbarten Bedingungen auf, unterschrieb den Zettel und gab ihn mir. +„Ihre Adresse?“ fragte er. +</p> + +<p> +„Meine Adresse?“ sagte ich. „Ja, meine Adresse, das ist so eine Sache. +Sagen wir hier, sagen wir: Hotel Palacio.“ +</p> + +<p> +„Gut.“ +</p> + +<p> +„Wie ist denn das? Ist der Transport schon ausblockiert?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Nein, es ist noch nicht ein Kopf ausblockiert. Wir nehmen einen kleinen +Prozentsatz Einjährige und in der Masse Zwei- und Dreijährige. Vierjährige +habe ich nicht viel. Ein paar können Sie mithaben. Beim Ausblockieren +helfe ich Ihnen.“ +</p> + +<p> +„Ist alles gebrannt mit Ihrem Zeichen?“ +</p> + +<p> +„Alles, damit haben wir nichts zu tun.“ +</p> + +<p> +„Was mit den Leitstieren?“ +</p> + +<p> +„Das ist die Sache. Da müssen Sie zusehen, wie Sie die kriegen.“ +</p> + +<p> +„Ist recht. Werden wir schon einangeln.“ +</p> + +<p> +Mr. Pratt stand auf: „Nun wollen wir erst einen gießen, und dann lade +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +ich Sie zum Abendessen ein. Nachher habe ich Privatgeschäfte.“ Diese +Privatgeschäfte kümmerten mich nicht. +</p> + +<p> +Als wir uns nach dem Abendessen trennten, fragte Mr. Pratt, wieviel +ich Vorschuß haben wolle. Ich sagte ihm, daß ich nichts brauche. +</p> + +<p> +„Was, Sie brauchen keinen Vorschuß?“ fragte er erstaunt. „Das kommt +mir aber doch recht merkwürdig vor. Wo haben Sie denn das Geld +gemacht?“ +</p> + +<p> +„In der Spielbank.“ +</p> + +<p> +„Da werde ich heute abend später auch mal hingehen, vielleicht gewinne +ich Ihren Lohn und Ihre Prämie.“ +</p> + +<p> +„Von mir aber nicht,“ sagte ich, „denn ich komme nicht. Ich halte, was +ich habe.“ +</p> + +<p> +„Von Ihnen wollte ich es auch nicht holen. Den andern will ich es +abnehmen. Da sind immer so verrückte Kerle drin, die aus den Kamps +hereinkommen, die können es nicht schnell genug hergeben. Ich mache +Solotisch mit zweien oder dreien dieser Vögel. Wenn Sie lernen wollen, +wie das gemacht wird, dann kommen Sie hin und sehen Sie zu“, riet +er mir. +</p> + +<p> +„Ich habe kein Interesse“, sagte ich und ging meiner Wege. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-16"> +16 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> nächsten Morgen früh um fünf reisten wir ab. Wir +hatten sechzehn Stunden mit dem Schnellzug zu +fahren. Die Züge haben nur erste und zweite Klasse, +weil man hier nicht so viele Kastenunterschiede macht +wie in vierklassigen Ländern. Die erste Klasse kostet +wenig mehr als das Doppelte der zweiten. Man reist +aber in der zweiten ebenso rasch wie in der ersten +und keineswegs sehr unbequem. In der ersten Klasse +sind die Sitze an den Längsseiten, aber man sitzt quer zur Zugrichtung. +In der Mitte ist der Gang, der durch den ganzen Zug führt. In der +zweiten Klasse, wo die eingeborene ärmere Bevölkerung reist, sind an +beiden Längsseiten durchgehende Bänke, und man sitzt mit dem Rücken +gegen die Wand des Abteils. In der Mitte sind Quersitze, und an jeder +Seite zwischen den langen Bänken und den Quersitzen führt der Gang. +Die Lokomotiven, gigantische Maschinen, werden nur mit Öl geheizt. +Hinter dem Tender folgt der Expreßgutwagen und ferner der Gepäckwagen +mit der Post. Dann folgen zwei lange Wagen zweiter Klasse, +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +dann ein langer Wagen erster Klasse und endlich der Pullman-Wagen +für die Schlafgäste. +</p> + +<p> +Im ersten Wagen zweiter Klasse sitzt in jedem Zuge eine Abteilung +Soldaten von etwa zwölf bis achtzehn Mann mit geladenen Gewehren, +geführt von einem Offizier. Wegen der Banditenüberfälle auf Züge sind +die Soldaten notwendig. Es kommt trotzdem vor, daß die Züge von +Banditen überfallen werden. Dann entwickelt sich zwischen den Soldaten +und den Banditen eine Schlacht, die einige Stunden dauert und +eine gute Anzahl Tote kostet. Bei diesen Überfällen werden die Reisenden +ausgeraubt, jedoch nie getötet, es sei denn, daß sie bewaffneten +Widerstand leisten. Abgesperrte Bahnübergänge, Bahnwärter und so +etwas gibt es nicht. Die Züge sausen mit rasender Geschwindigkeit +durch das unübersehbare Land, durch Dschungel und Busch, über +Prärien und über Gebirge, die mit ewigem Schnee bedeckt sind. Über +weite Schluchten sind Brücken gezogen, vierzig, fünfzig, sechzig Meter +hoch, viele Kilometer lang. Und die Brücken sind nur aus Holz, und der +Zug rast in schwindelnder Höhe darüber hinweg. +</p> + +<p> +Die Bahnstrecke ist nicht abgezäunt. Rinderherden, Pferde, Esel, Maultiere +und Wild treiben sich in der Nähe der Bahnstrecke umher und +weiden oder ruhen mitten auf dem Geleise. Dann heult der Zug schauerlich, +um die Tiere zu verscheuchen. Manchmal stehen sie auf und rennen +davon; manchmal rühren sie sich nicht, und der Zug muß halten, und +ein Zugbeamter steinigt die Tiere hinweg. Dann wieder laufen die Tiere +direkt in den rasenden Zug oder sie werden übersehen. An der ganzen +langen Zugstrecke sieht man zu beiden Seiten der Geleise die Skelette +der Tiere liegen. Verwundete, denen die Füße abgefahren sind oder +der Leib aufgerissen wurde, liegen verdurstend, den Tod erwartend in +der tropischen Sonnenglut. Niemand, der vorbeikommt, tötet sie und +erlöst sie von ihren Qualen, weil der Besitzer vielleicht irgendwo +lauert; denn wenn man das Tier tötet, muß man ihm das Tier bezahlen, +als ob es lebend wäre, und er darf einen außerdem noch zum Gericht +schleppen, wo man wegen unerlaubter Tötung eines Tieres mit fünfzig +oder hundert Pesos oder gar mehr bestraft wird. +</p> + +<p> +Wenn man annimmt, daß man nicht beobachtet wird, hält man dem +armen Tier den Revolver ans Ohr. Dann aber muß man laufen. Mitleid +an Tieren üben ist kostspielig. Ich habe einmal einem Esel, der +neben dem Bahngleise im Busch lag und dem der eine Huf abgefahren +war, eine Schüssel mit Wasser gebracht, als die Sonne im Mittag stand. +Die dankbaren Augen des Tieres sind mir unvergeßlich. Aber ob ich es +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +ein zweites Mal tun werde, wenn Hütten nicht weit entfernt sind, weiß +ich nicht. Am Abend, als die Sonne unterging, starb das Tier. Es hatte +auch noch innere Verwundungen. Ich stand in der Tienda und trank +eine Limonade. Da kam ein Halbblut rein und sagte zu mir: „Der Esel +da drüben am Geleise gehört mir. Sie haben ihm heute mittag vergiftetes +Wasser gegeben. Der Esel ist jetzt tot. Sie werden mir den Esel +bezahlen. Sie haben ihn vergiftet. Sie haben ja hier den ganzen Nachmittag +zu den Leuten herumerzählt, es sei eine Schmach, daß man dem +Tier nicht einen Erlösungsschuß gebe.“ +</p> + +<p> +Das Wasser war natürlich nicht vergiftet, denn ich hatte es aus dem +Trinkwasser-Tank der Familie des Tienda-Besitzers genommen. Und +der Besitzer der Tienda bestätigte das auch dem Halbblut. Dieser +Bursche wußte natürlich recht gut, daß ich dem armen Tier kein Gift +gegeben hatte. Schließlich einigten wir uns, daß ich ihm fünf Pesos für +seinen Esel bezahlte und eine Flasche Bier und ein Päckchen Tabak. +Wenn nicht der Tienda-Mann und einige Indianer, die in der Kantine +waren, mir beigestanden hätten, wäre mein angewandtes Mitleid eine +teure Sache geworden. +</p> + +<p> +Entlang der Geleise hocken die Geier in Schwärmen und warten auf +die Beute. Sie begnügen sich auch mit Katzen, Hunden, Schweinen. +Weite Strecken dient das Bett der Eisenbahn ganzen Maultier- und +Eselskarawanen als Straße, weil die Straße, die nebenher führt, oft +nicht mehr zu finden ist, denn der Dschungel oder der Busch hat sie +verschlungen. +</p> + +<p> +Die Bahn hat nur ein Geleise. Etwa je fünfzig Kilometer voneinander +entfernt sind große Wassertanks errichtet, wo die Lokomotiven wieder +frisch aufgefüllt werden können. An vielen Stationen wird kaum gehalten, +besonders wenn keine Reisenden aussteigen oder einsteigen. +Dann fliegt nur der Postsack heraus, und der andre wird hineingepfeffert. +Auch die Eisblöcke, die in Säcke eingenäht sind und festumpackt +mit Hobelspänen und Sägespänen, um das Eis vor dem Zerschmelzen +zu schützen, werden einfach hinausgefeuert. Der Empfänger +wird sich schon darum kümmern. +</p> + +<p> +Die Fahrkarten kann man auf den Stationen kaufen oder im Zuge. +Kauft man sie im Zuge, muß man fünfundzwanzig Prozent mehr +zahlen. Diesen Aufschlag braucht man nicht zu zahlen, wenn die Station +keinen Fahrkartenverkauf hat. Viele Stationen brauchen nach fünf Uhr +abends keine Karten zu verkaufen, damit sie nach Eintreten der Dunkelheit +kein Geld im Gebäude haben, was den Agenten das Leben kosten +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +kann. Auch in diesem Falle wird im Zuge nur der Normalpreis erhoben. +Die Karte wird einem nach einer Weile im Zuge wieder abgenommen, +und der Schaffner steckt einem <a id="corr-25"></a>ein kleines Kärtchen in das Hutband, +auf das er die Kilometerzahl geschrieben hat. So hat er seine Gäste +alle unter schöner Kontrolle. +</p> + +<p> +Die Soldaten sitzen meist mit ihren Lesefibeln da, in denen sie buchstabieren. +Sie sind ausschließlich Indianer und können nur in ganz +seltenen Fällen lesen und schreiben. Aber sie haben einen brennenden +Ehrgeiz, es zu lernen. Einer hilft dem andern, und wenn der eine nur +gerade gelernt hat, wie man „eso“ schreibt, so ist er ganz aufgeregt, es +seine Kameraden auch zu lehren. +</p> + +<p> +Um acht oder halb neun wird zum Frühstück gehalten auf einer Station, +die schon eine belebte Stadt genannt werden darf. Wir stiegen aus und +gingen in das Bahnhofslokal. Natürlich wieder ein Chinese. Wenn man +doch endlich mal ein Restaurant finden möchte, das keinem Chinesen +gehört. +</p> + +<p> +„Da wundern sich die Leute noch,“ sagte Mr. Pratt, während uns chinesische +Kellner den Kaffee und die gebackenen Eier mit Schinken hinstellten, +„daß die Anti-China-Bewegung hier in dem Lande, wo man +sonst keinen Rassenhaß kennt, immer größeren Umfang annimmt. Aber +jedes Restaurant, das sie nur ergattern können, erwerben sie, und +gierig warten sie auf jeden Neuen, der Pleite machen muß, weil er sich +gegen sie nicht halten kann. Sie nisten sich ein wie Ungeziefer. Sollen +sich nicht wundern, wenn das mal eine blutige Nacht gibt.“ +</p> + +<p> +„An der Pazifikküste habe ich eine erlebt“, erzählte ich ihm. „Kostete +achtundzwanzig Chincs das Leben. Und niemand wußte, wer es getan +hat. Aber sie sind nicht gegangen. Sie übernehmen das Risiko.“ +</p> + +<p> +„Das ist es ja eben,“ erwiderte Mr. Pratt, „was ich mit Ungeziefer sagen +wollte. Sie sind wie die Läuse.“ +</p> + +<p> +Wir standen auf, zahlten und gingen ein wenig auf dem Bahnsteig +spazieren. Dutzende von Händlern liefen herum und boten alles mögliche +an, von dem man nicht glauben möchte, daß es auf Bahnsteigen +angeboten werden könnte. Papageien, junge Tiger, Tigerfelle, lebende +Rieseneidechsen, Blumen, Singvögel, Apfelsinen, Tomaten, Bananen, +Mangos, Ananas, Zuckerrohr, kandierte Früchte, zerbröckelnde Schokolade, +Tortillas, gebratene Hühnchen, geröstete Fische, gekochte Riesenkrebse, +die in ihrer runden, spinnenähnlichen Gestalt grauenerregend +aussehen, aber sehr gut schmecken, Flaschen mit Kaffee, mit Zitronenwasser, +mit Pulque. Zerlumpte und barfüßige Indianermädchen liefen +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +am Zuge entlang und boten sich als Dienstmädchen und Köchinnen an. +Es ist für die zwanzig oder dreißig Minuten, während der Zug hier +steht, ein Leben auf der Station wie auf dem tollsten Jahrmarkt. Der +Gegenzug kommt meist am Abend hier vorbei, aber da warten die +Gäste schon auf die nahe Großstadt und sind müde und abgespannt +von der Fahrt. Während der übrigen Zeit des Tages ist eine solche +Station, die augenblicklich sinnverwirrend erscheint, totenstill. Sie glüht +müde in der Sonne. Nur die Güterzüge bringen ein wenig Bewegung +unter die Beamten; aber alles ist träge und schläfrig. Das Leben ist +konzentriert auf die zwanzig Minuten am Morgen. Wer in diesen zwanzig +Minuten sein Geschäft nicht gemacht hat, muß diesen Tag aus seinem +Leben als einen erfolglosen Tag streichen. +</p> + +<p> +Mittags kamen wir in eine größere Station, wo der Zug etwa vierzig +Minuten zum Mittagessen hielt. In der Bahnhofswirtschaft – richtig +wieder Chinesen – standen an mehreren großen Tischen schon dreißig +Gedecke bereit. Die halbe Anzahl Teller war schon mit Suppe gefüllt. +Mit einem raschen Blick hatte der Inhaber heraus, auf wieviel Gäste er +rechnen könne. Manche aßen kein Dinner, sondern sie ließen sich nach +der Karte bedienen. Sie kamen schlechter dabei weg. Die Portionen +waren weder größer noch besser, aber teurer, als wenn sie im Dinner +gingen. +</p> + +<p> +Dann kam der lange, der ermüdend lange Nachmittag der Fahrt. Der +Zug sauste immer durch die gleiche Landschaft. Dschungel, Prärie, +Busch. Der Gegenzug, der hier an der Mittagsstation kreuzte, hatte die +Morgenzeitungen der entgegengesetzten Stadt mitgebracht. Sie wurden +im Zuge verkauft. Man konnte sonst noch alles mögliche im Zuge haben: +Bier, Wein, Limonade, Schokolade, Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten, +Zigarren. Alle Getränke waren geeist, und wer kein Geld hatte, bekam +gutes reines Eiswasser umsonst, das er sich selbst holte. +</p> + +<p> +Abends um neun stiegen wir auf einer kleinen Station aus. Es war die +Heimatstation des Mr. Pratt. Wir gingen in die Kantina, die gleichzeitig +das Hauptpostamt war. Mr. Pratt begrüßte den Kantina-Besitzer, +einen Senjor Gomez, und stellte mich ihm vor. +</p> + +<p> +Na, zu essen, was man woanders essen nennen würde, gibt es in solchen +Kantinas nicht. Aber man kann nicht verhungern. Man kann sich das +schönste Essen zusammenstellen. Wir nahmen eine Büchse Vancouver +Salm, einige Büchsen spanische Ölsardinen, einige Büchsen Wiener +Würstchen (gemacht in Chikago), eine Büchse Kraftkäse (die Marke +heißt Kraft, aber der Käse ist trotzdem gut und kräftig, wenn auch +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +teuer wie ein Stück Gold), und endlich nahmen wir noch ein Paket +Crackers, weil es Brot oder Brötchen nicht gibt. Was sollte man damit +auch auf dem Lande anfangen? Den Tag darauf ist es wie Stein oder +völlig verschimmelt oder innen und außen voll von kleinen roten +Ameisen. Diese Crackers sind viereckige Biskuits, so groß wie eine +Handfläche, und ich habe den Fabrikanten sehr stark im Verdacht, daß +er mit diesen Crackers die Christen an den Geschmack der Matze gewöhnen +will. Als mir mal jemand Matze zu kosten gab, sagte ich zu +ihm: „Schwindeln Sie mich doch nicht an, das ist ja ein Klotz-Cracker.“ +Ja, also so schmeckt das Zeug. Entsetzlich nüchtern und nichtssagend. +Aber was andres gibt es nicht. Und wenn man nicht zu den indianischen +Tortillas hält, sind diese Crackers wohl das gesündeste Brot in den +Tropen; denn europäisches oder gar deutsches Brot würde einem hier +den Magen umdrehen und in einer Woche auf den Cementerio bringen. +Der Cementerio ist der Platz, wo man hier die Toten begräbt, ein Platz, +den man woanders Friedhof nennt. +</p> + +<p> +Aber an Friedhof dachten wir nicht, denn wir machten uns mit dem +Senjor Gomez über seinen Bier- und Tequila-Vorrat her. Wir waren +zwar nach einer angemessenen Frist dann auch tot, jedoch nicht reif +zum Begraben. Wir wickelten uns in unsre Decken und legten uns auf +den Boden des Billardraumes in der Kantina. Senjor Gomez hatte es +besser. Er ging zu seiner Frau und lag weicher als wir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-17"> +17 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> diesem Gedanken an eine Frau oder an die +Frau im allgemeinen – so genau weiß ich das +nicht mehr – schlief ich ein, und mit dem Gedanken +an eine bestimmte Frau wurde ich am +nächsten Morgen geweckt. Diese Frau war Mrs. +Pratt. Sie war vom Rancho mit dem Ford gekommen, +um in der Kantina einiges einzukaufen. +Bei dieser Gelegenheit fand sie ihren Ehegatten, +den sie noch nicht erwartet hatte, und sie fand ihn in einer Verfassung, +die sie am allerwenigsten erwartet hätte. +</p> + +<p> +Wie das immer so geht, solange die Welt aufgebaut ist, es ist stets der +Unschuldige, der leiden muß. Ich war der Unschuldige, und ich mußte +infolgedessen leiden. Mr. Pratt war das Muster eines Ehemannes, und +ich, den er irgendwo im Schlamm aufgelesen hatte, war der nichtswürdige +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +Bube, der ihn verlockt, verführt und ihn in den Sumpf geworfen +hatte. Denn er, der brave Mr. Pratt, tat so etwas nie. +</p> + +<p> +Als wir gingen, gab Mr. Pratt Senjor Gomez einen Wink. Männer verstehen +den Wink sofort, besonders wenn die beiden, zwischen denen +der Wink ausgetauscht wird, Ehemänner sind, die mit ihren Frauen +gern in Frieden leben. +</p> + +<p> +„Sie hatten also so viele Ölsardinen und dann noch das und das und –“ +</p> + +<p class="ibr"> +Der Wink kam wieder. +</p> + +<p> +„– und Sie hatten zwei kleine Flaschen Bier, und hier der Mr. Gale +hatte vier. Ja, das ist alles. Ich habe die Flaschen genau angekreuzt.“ +</p> + +<p> +Mrs. Pratt war zufrieden mit ihrem Gatten. Er konnte ja später das +Schock Flaschen bezahlen, das da leer in der Ecke lag. Er war dem +Senjor Gomez ja gut. Aber ich kriegte einen Blick von Mrs. Pratt, der +mich das Schlimmste befürchten ließ, und ich überlegte ernsthaft, ob es +nicht besser sei, Mr. Pratt gleich hier zu sagen, daß ich auf den Kontrakt +doch lieber verzichten wolle. Denn ich hatte ja etwa zwei Wochen, wenn +nicht länger, im Hause der Mrs. Pratt zu leben. So lange konnte es +dauern, bis der Transport ausblockiert war. Und was konnte mir diese +Dame in jener langen Zeit alles antun! Man denke, ich hatte ihren nüchternen, +braven Ehegatten in eine Verfassung gebracht, daß er selbst +jetzt, nach einigen Stunden Schlaf, noch kaum auf den Füßen stehen +konnte und mit verglasten Augen in die Welt guckte. Man soll sich mit +verheirateten Männern nicht einlassen. Das tut nie gut. Das ist eine +ganz andre Rasse. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich Senjora +Gomez auch noch auf den Hals kriege. Dann aber laufe ich, das ist +sicher; denn gegen Senjoras läßt es sich schwerer ankommen als gegen +Missis. Deren Zungenbänder sind viel geläufiger als die anglosächsischen, +und die Senjoras arbeiten viel intensiver und viel unvorsichtiger mit +den Fingernägeln. +</p> + +<p> +Ich war deshalb recht froh, daß Mrs. Pratt ihren sonst so Nüchternen +in den Ford bugsierte, sich an das Steuerrad setzte, einschaltete und +abrasselte. Daß ich mit sollte und mit wollte, darum kümmerte sie sich +nicht. Ich konnte ja laufen, die vierzehn Meilen, die der Rancho von +der Station entfernt war. Aber der Gedanke daran gab mir eine ungeheuere +Schwungkraft, und mit dieser Schwungkraft setzte ich dem +Ford nach, als Mrs. Pratt die Kurve einbog, um auf den Weg zu +kommen. Ich rasselte in die offene Klappe, Kopf zuerst. Die Schwungkraft +hatte nicht ausgereicht, auch die Beine mit hineinzukriegen. Deshalb +hingen die Beine lang heraus. Ich bin überzeugt, daß die Indianer, +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +denen wir unterwegs begegneten, sicher glaubten, ich sei eine Anprobierpuppe, +die Mrs. Pratt von der Bahn geholt habe. Vielleicht glaubten +sie noch ganz andre Dinge, vielleicht, daß Mrs. Pratt mich überfahren +habe und mich nun rasch nach dem Rancho schleppe, um mich dort +einzuscharren. +</p> + +<p> +Wir kamen auf dem Rancho an. Aber niemand kümmerte sich um mich. +Mrs. Pratt fuhr das Auto unter ein Strohdach und ließ es dort stehen. +Ich hing noch immer in dieser unglücklichen Stellung in der Klappe. +Endlich aber wurde mir diese Lage doch zu unbequem. Ich zerrte mich +heraus und setzte mich in die Polster. +</p> + +<p> +Als ich erwachte, stand die Sonne tief. Ob sie aufgehend oder untergehend +war, wußte ich nicht, weil ich ja hier fremd war und die +Himmelsgegenden nicht kannte. +</p> + +<p> +„Hallo, Sie da unten, haben Sie jetzt Ihren Suff ausgeschlafen?“ rief +da Mrs. Pratt von der Veranda des Rancho-Hauses herunter. „Sie +scheinen mir ja gerade das richtige Hühnchen zu sein, das mein alter +Esel da auf der Straße aufgelesen hat. Sie werden wohl mit der Herde +am Panama-Kanal landen, Sie Trunkenbold. Dem Himmel sei Dank, +daß da der Kanal ist, sonst könnten wir der Herde bis nach Brasilien +nachlaufen. Wer weiß, wo Sie mit ihr hingeraten. Kommen Sie rein +zum Essen.“ +</p> + +<p> +Zum Essen. War das nun Frühstück oder Abendessen? Ich sah nach +meiner Uhr. Stehengeblieben. Natürlich. Wenn man so ein verfluchtes +Ding mal wirklich braucht, dann steht sie. Am liebsten möchte ich sie +gleich gegen die Wand pfeffern. Was tu ich mit einer Uhr, die stehnbleibt, +wenn man mal eine Flasche Bier trinkt und lustig ist und singt! +Also rauf zum Essen. Nur um die gute Frau nicht noch mehr zu ärgern, +aß ich von allem etwas. Mr. Pratt saß gleichfalls am Tisch und piekte +in seinen Tellern herum. Er sah nicht auf, und er tat, als ob er mich +gar nicht kenne. Wenn ich das Wort an ihn richtete, brummte er nur. +Ich kannte den Schwindel schon. Er hatte seiner Frau erzählt, daß ich +ihn verführt hätte, und daß er fertig mit mir sei, aber da er doch schon +die Kosten der Fahrt für mich bezahlt habe, wolle er mich mit der +Herde losschicken und dann nie wiedersehn. +</p> + +<p> +Als Mrs. Pratt einmal aufstand, um zur Küche zu gehen, sagte Mr. Pratt: +„Hallo, Boy, machen Sie das Konzert ein wenig mit. Morgen ist es verraucht. +Sie ist gar nicht so. Eine prächtige Seele. Nur mit dem Trinken +kann sie sich nicht befreunden.“ Nun änderte er den Ton: „Es war +unanständig von Ihnen, daß Sie mich immerfort aufforderten, auf die +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +Gesundheit des Präsidenten, auf die Fahne, auf das Vieh zu trinken. +Ich hatte Ihnen im voraus gesagt, daß ich trocken bin und nie trinke. +Aber wenn Sie mit Gesundheittrinken kommen, das ist ein unfaires +Spiel.“ +</p> + +<p> +Nanu? Was war denn das mit einem Male? Ach so, Mrs. Pratt war +wieder hereingekommen, und er hatte das Konzert zu machen. Er verstand +es. Er hatte die letzten Sätze so hinausgedonnert, daß Mrs. Pratt +sich ganz aufrecht auf ihren Stuhl setzte, als ob sie damit sagen wollte: +Da können Sie sehen, was für einen anständigen Mann ich habe; er tut +es nur aus Patriotismus, während Sie es aus Verkommenheit tun. +</p> + +<p> +Nach dem Essen wurden wir in Gnaden entlassen. Mir wurde meine +Stube gezeigt, und ich legte mich schlafen. +</p> + +<p> +Am folgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, sattelten wir auf +und ritten erst einmal nach der Pferdeprärie hinaus, damit ich mir ein +Pferd aussuchen möge. Die Pferde werden draußen auf der Prärie +gezeugt und geboren. Sie kommen nie in einen Stall und wachsen völlig +wild auf. Ställe gibt es überhaupt nicht. Pferde und Vieh sind Sommer +und Winter im Freien. Die Pferde werden durchaus menschenscheu +und fliehen, wenn sie nur einen Menschen in der Nähe riechen. +</p> + +<p> +Zweimal oder dreimal im Jahr werden die Pferde, die man nicht +gebraucht, eingefangen und in einen Korral, eine kleine Umzäunung +in der Nähe des Hauses, gebracht. Hier werden sie gefüttert, damit sie +sich des Menschen nicht ganz entwöhnen, werden angebunden, werden +geduldig aufgezäumt, aufgesattelt, endlich wird aufgesessen, und dann +werden sie wieder entlassen. Hier wird das alles mit großer Geduld +getan, um den Charakter des Pferdes nicht zu brechen, seinen Stolz +nicht zu verletzen, sein natürliches Feuer nicht auszulöschen. +</p> + +<p> +In Amerika geschieht das Brechen der wild aufgewachsenen Pferde +mitleidloser. Sie werden in den Korral gebracht, sehr fest gezäumt, fest +gesattelt, und gleich springt ein Mann rauf, den das Pferd nicht mehr +abwerfen kann, weil der Mann in dem Stocksattel sehr fest sitzt. Dann +wird das Tier gepeitscht, und es rast nun herum, bis es schäumend und +in Schweiß gebadet, keuchend und völlig ermattet zusammenbricht. +Dann zittert es tagelang nachher noch, wenn es nur den Sattel spürt. +Aber es wehrt sich nicht mehr. Es ist zahm. Man kann es nun reiten. +Aber es ist nicht mehr „das Pferd“, es ist nur „ein Pferd“. Ein Pferd +unter tausend gleichen Pferden. +</p> + +<p> +Ich suchte mir ein Pferd aus, von dem ich glaubte, daß es die anstrengende +Reise aushalten könne. Wir umzingelten es, lassoten es ein +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +und brachten es zurück zum Rancho. Ich band es an einen Baum und +ließ es ganz in Ruhe. Dann etwas später warf ich ihm Mais vor, den es +nicht nahm. Dann Gras, das es auch nicht fraß. Hierauf ließ ich es den +Rest des Tages und die Nacht hungern und dursten. Am Morgen gab +ich ihm Gras. Es lief fort, soweit die Leine reichte. Dann stellte ich ihm +Wasser hin, das es umschüttete, weil es nicht gewöhnt war, aus einem +Eimer zu trinken. Es hatte immer nur am Teich getrunken. +</p> + +<p> +Mit der Zeit brachte ich es, oder richtiger: sein eigner Hunger brachte es +zum Essen und Trinken. Und da es sein Essen und Trinken nur bekam, +wenn ich dabeistand, verband es das Essen mit meiner Gegenwart, +und nach zwei Tagen bereits kannte es mich, und ich durfte ihm nahe +kommen und es ganz leicht auf den Nacken klopfen. Es zitterte zwar +ein wenig, aber bald verschwand auch das Zittern. +</p> + +<p> +Natürlich konnte ich mich nicht die ganze Zeit über mit dem Pferde +beschäftigen, sondern eben nur, wenn ich zum Essen zum Rancho kam, +weil wir den ganzen Tag mit dem Blockieren zu tun hatten. +</p> + +<p> +Als es sich an mich noch besser gewöhnt hatte, zäumte ich es auf ohne +Maulknebel, nur mit Riemenzaum, der außen um das Maul gelegt wird. +Man kann die Pferde, wenn sie nicht durch falsche Behandlung verdorben +sind, gut ohne eisernen Maulknebel reiten. Sie gehen wundervoll +dabei; denn es ist eine irrige Annahme, daß man ein Pferd nur +meistern könne, wenn man seine Mundwinkel aufreißt oder wundscheuert. +Das ist lediglich die Folge falscher Behandlung. Kühen steckt +man ja auch keine Eisenknebel ins Maul. +</p> + +<p> +Dann sattelte ich es, und jedesmal, wenn ich zum Essen hereinkam, zog +ich die Gurten fester. Jedesmal drückte ich fest auf den Sattel, als ob +ich mich aufschwingen wolle. Dann ließ ich die Steigbügel hängen und +ließ sie baumeln, so daß sie gegen die Weichen schlugen. Erst leise, +dann immer ein wenig mehr. Beim ersten Male schlug das Pferd aus. +Aber auch an dieses Baumeln und Schlagen der Steigbügel gewöhnte es +sich nach zwei Tagen völlig. Dann hüpfte ich halb auf den Sattel und +ließ mich sofort wieder heruntergleiten. +</p> + +<p> +Während der ganzen Zeit war das Pferd angebunden. Bald sehr lang, +bald sehr kurz. Endlich wagte ich das Aufsitzen. Ich verband ihm die +Augen und sprang auf. Es stand und zitterte am ganzen Leibe. Sofort +war ich wieder herunter. Ich klopfte es auf den Nacken, auf den Rücken +und sprach unausgesetzt mit ihm. Wieder sprang ich auf. Es drehte +sich und wendete sich, sprang aber nur wenig. Bald ließ es auch das +Springen sein, nachdem es sich gegen den Baum gestoßen hatte. Nun +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +blieb ich im Sattel sitzen und schlug mit den Füßen in den Bügeln +gegen die Weichen. Nur beim ersten Male wurde es unruhig, dann +wußte es, daß es davon nicht stürbe. Endlich band ich das Tuch los. +Das Pferd gucke sich um. Ich, oben sitzend, sprach beruhigend auf das +Tier ein, klopfte es, und wieder fühlte es, daß ihm nichts Böses geschehe. +Dann kam der Prüfungstag, ob es überhaupt zum Reiten zu gebrauchen +sei. Ich hatte schon immer mit der Gerte hinten ein wenig aufgeklopft, +damit es sich auch an dieses Signal gewöhne. Nun saß ich wieder auf +und ließ losbinden. Es stand ganz ruhig, denn es wußte ja nicht, was +es tun solle. Ich gab ihm einen Klaps mit der Gerte, aber es reagierte +nicht. Nun bekam es einen unerwarteten tüchtigen Hieb, und da setzte +es los. Ich hatte es gut in der Hand, und es war Platz genug zum Auslaufen. +Ich ließ es nun erst einmal rennen, hielt aber mehr und mehr +zurück, bis es das Gefühl bekam, daß dies ein Signal sei zum Halten +oder zum Fallen in eine andre Gangart. Es wurde ein gutes Pferd, sein +kühner Stolz wurde nicht gebrochen. Ich nannte es Gitano. +</p> + +<p> +Zuerst blockierten wir die Stiere aus, weil ich mir einen Leitstier suchen +mußte. Wir kreisten die ein, die wir haben wollten, und trieben sie in +einen Korral. Dort ließ ich die, die ich für die geeignetsten hielt, hungern. +Nebenher wurden unausgesetzt die zwei- und dreijährigen Kühe ausblockiert, +die Ochsen und die übrigen Stiere. Ich sah mir jedes einzelne +der Tiere an, ob es gesund sei, dann kamen alle in eine große umzäunte +Weide, damit die, die den Transport mitzumachen hatten, wußten, daß +sie zusammengehörten. Als wir etwa dreihundert blockiert hatten und +sie in der Sperrweide waren, hielt ich die Stiere für reif. +</p> + +<p> +Ich jagte sie in die Sperrweide, und hier ging der Entscheidungskampf, +wer der Leitstier sein würde, los. Die keinen Wert darauf legten, +Herrscher zu sein, drückten sich so weit wie möglich. Fünf kämpften +sich aus. Der Sieger raste, noch schwer blutend, gleich auf eine der +schönsten Kühe, die sich schon erwartungsvoll herangedrängt hatten. +Die übrigen Stiere mußten wir sofort doktern. Als der Sieger ausgetobt +hatte und wieder Vernunft annahm, bekam er auch seine Medizin. +Denn wenn man die Wunden nicht gleich behandelt, sind in ein paar +Tagen dicke Würmer drin, und die wieder herauszukriegen, dauert +lange. Inzwischen kann das Tier draufgehen. +</p> + +<p> +Fängt es an zu magern, setzt eine andre Gefahr ein. Dann wird es von +den Zecken bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Zecken gehen +hauptsächlich an magerndes Vieh, an gesundes gehen sie nur in kleiner +Anzahl, die sich leicht bekämpfen läßt. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-18"> +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +18 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> wir die tausend Köpfe ausblockiert hatten, gab +mir Mr. Pratt fünf drauf als Krankgut, weil +zwischen tausend Stück Vieh immer einiges sein +mochte, das krank war, ohne daß man es gleich sah, +und das den Transport nicht aushielt. +</p> + +<p> +Dann bekam ich hundert Pesos Wegegeld und einige +Schecks, die ich unterwegs einlösen durfte, wenn mir +Geld fehlte. Ferner erhielt ich den Lieferschein und +endlich eine Karte, eine Land- und Wegkarte. +</p> + +<p> +Von dieser Karte, obgleich sie eine amtliche Karte war, will ich besser +nicht sprechen; denn auf eine Karte aus Papier kann man alles mögliche +zeichnen: Wege, Flußläufe, Dörfer, Städte, Grasflächen, Teiche, Gebirgspässe +und was sonst nicht noch alles. Das Papier weigert sich +nicht, das alles aufzunehmen. +</p> + +<p> +Aber was darauf gezeichnet ist, braucht noch lange nicht in Wirklichkeit +auch da zu sein. Ich habe auf Reisen Karten gehabt, amtliche +Karten, die als die besten galten. Da war eine Stadt mit Namen drauf +gezeichnet. Als ich zu der Stelle kam, war noch nicht einmal eine +Indianerhütte zu finden. Die Stadt war vor zwanzig Jahren geplant +worden und wurde seitdem in jeder Karte geführt, obgleich nie jemand +daran ging, sich dort niederzulassen. Das wäre auch nicht gut gegangen, +weil da meilenweite Sümpfe und Moraste waren. +</p> + +<p> +Böser ist es schon mit solchen Sachen, die nicht auf die Karte gemalt +sind, die aber in Wirklichkeit vorhanden sind, und, was das Allerschlimmste +ist, ganz unerwartet vorhanden sind. +</p> + +<p> +Es ist unangenehm, wenn man denkt, man kommt in ein sandiges +Gelände und verschwindet mit seiner ganzen Herde in einem Sumpf. +Und es ist ebenso peinlich, wenn auf der Karte eine schön grün gemalte +Prärie eingezeichnet ist, und in Wahrheit ist es eine weite Sandwüste +oder ein unwegsames Felsengebirge, das man zu kreuzen hat. Reist +man allein, so ist das schon widerwärtig genug. Reist man aber in +Begleitung einer Rinderherde, für deren Wohl man verantwortlich ist, +so fängt es an, tragisch zu werden. Die Herde will essen und trinken, +sie soll kein Gewicht verlieren, sondern zunehmen. Und am zweiten +Tage fängt das arme Vieh in seinen Durstqualen an zu brüllen, daß +man nur gleich so mitbrüllen möchte aus Mitleid. +</p> + +<p> +Wären die Karten aber wieder gut, so gut wie sie in den alten dichtbesiedelten +Ländern sind, dann könnte man solche großen Herden +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +nicht züchten und nicht transportieren. Mr. Pratt hatte zwölftausend +Stück Rindvieh, und er war nur ein kleiner Züchter. Denn wie sollen +gute Karten gemacht werden, wenn weder das Geld dafür vorhanden +ist noch die Bevölkerung, die ein Bedürfnis für solche Karten hat? Die +großen Minen- und Ölkompanien machen sich ihre Karten selbst, aber +nur gerade die Distrikte, wo sie interessiert sind, und in diese Karten +zeichnen sie nur eben das ein, was für die Kompanie speziellen Wert +hat. Im Verhältnis zur Größe des Landes sind diese Distrikte nur +Pünktchen auf der Karte. +</p> + +<p> +Ein Kompaß war für meine Zwecke ohne Nutzen, weil er nicht das sagt, +was man wissen will, und das ist: Wo sind die Weiden? Wo ist Wasser +für tausend Köpfe Vieh? Wo sind die Pässe über die Gebirge? Wo sind +die Furten durch die Ströme? +</p> + +<p> +Drei Packmulas nahm ich mir mit und Medizin, um krank werdendes +Vieh zu doktern, Kreolin, Alkohol, Salbe und eine Eisensäge, falls +Hörner gekappt werden müssen. Denn die Hörner des Viehes unterliegen +hier denselben Krankheiten wie die Zähne der zivilisierten +Menschen. Die Fäule frißt im Innern des Hornes, und das Tier magert +ab, weil es vor Zahnschmerzen – richtiger Hornschmerzen – nicht +mehr frißt. +</p> + +<p> +Mit Mrs. Pratt war ich in den Tagen, die wir für das Ausblockieren +und Vorbereiten des Transportes brauchten, sehr gut Freund geworden. +Sie war keineswegs ein solcher Hausdrachen, wie sie am ersten Tage +erschienen war. Ganz im Gegenteil, sie war ein lustiger Bursche, immer +vergnügt und guter Dinge. Sie hätte die Banditen bekämpft wie ein +alter Rancher. Jetzt in den letzten drei Jahren kam es nur ganz selten +vor, daß sich Banditen auf dem Rancho sehen ließen, aber vordem +war beinahe jede Woche was los, und das Ranchohaus zeigte Dutzende +von Kugellöchern. +</p> + +<p> +Fluchen konnte Mrs. Pratt, daß es eine wahre Freude war, ihr zuzuhören. +Das ging bei jedem zweiten Wort „Son of a bitch“, „Bastard“, +„F-ing Injun“, „F-yeself“ und was der schönen Dinge mehr sind. Auf +einem solchen Rancho ist es ja nun verflucht einsam, und die Nächte +sind lang. Selbst im Hochsommer ist es um sieben Uhr stockfinster, weil +es Dämmerungen nicht gibt. Und man konnte es Mrs. Pratt nicht verdenken, +daß sie das Leben so intensiv lebte, wie es das Dasein auf +einem Viehrancho nur zuläßt. Wie soll so eine arme Frau die überschüssigen +Kräfte, die ihr verbleiben, weil sie nicht im Dorfe oder in +der Stadt den ganzen Tag mit den Nachbarn herumschwätzen und +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +klatschen kann, verwenden? Sie flucht wie ein alter Steuermann eines +Klippers. Und alles ist „Hurensohn“, ihr Mann, ich, die Indianer, die +Fliege, die in die Kaffeetasse fällt, das Indianermädchen in der Küche, +der Finger, in den sie sich geschnitten hat, die Henne, die auf den Tisch +flattert und die Suppenschüssel umwirft, ihr Pferd, das zu langsam +läuft, na, kurz: jedes lebende und leblose Ding zwischen Himmel und +Erdmittelpunkt ist ein Hurensohn. +</p> + +<p> +Sie hatten ein Grammophon, und wir tanzten beinahe jeden Abend. Ich +tanzte zwar lieber mit dem indianischen Küchenmädchen aus mancherlei +Gründen, aber Mrs. Pratt tanzte bei weitem besser. Wir kamen zu +so guten Verhältnissen miteinander, daß sie mir eines Abends in Gegenwart +ihres Mannes ganz offen sagte, daß sie mich zu heiraten wünsche, +falls ihr Mann stürbe oder sich scheiden ließe. Sie erklärte mir gleichfalls +in Gegenwart ihres Mannes, daß sie mich recht gern habe, und daß +mein einziger Fehler das Saufen sei. Aber das sei kein unausrottbarer +Fehler, und sie würde mir diesen Fehler schon bald austreiben und +mir den Tequila so lange mit Petroleum mischen, bis ich mich davor +ekle. So habe sie ihrem Manne das Saufen auch abgewöhnt, dem +Hurensohn. +</p> + +<p> +Mir war nicht bange davor. Das Resultat, das sie bei Mr. Pratt erzielt +hatte, gab mir die Sicherheit, daß wenn ich Mrs. Pratt als nachgelassene +Witwe eines Tages heiraten sollte, ich keine Sorge zu haben brauche, +daß ich den Tequila oder sonst etwas abschwören müßte. Wenn +Mr. Pratt die Wege fand und er den Petroleum nicht herausschmeckte, +was bei dem Tequila überhaupt schwer ist, weil er an und für sich nach +Petroleum schmeckt, so würde ich wohl auch zu der einem Manne +zukommenden Ration gelangen. Schließlich mußte man ja auch Vieh +verkaufen in der Stadt, und da konnte sie einem ja nicht immer nachlaufen, +auch wenn sie mitreisen sollte. „Nur nicht von Weibern sich +unterkriegen lassen, wenn man etwas für notwendig und vernünftig +hält. Es führt zu nichts Gutem, und man gewöhnt sich nur Laster an, +die man nicht wieder los wird. Entweder man säuft, oder man läuft mit +andern Weibsbildern herum“, sagte mir Mr. Pratt. „Eine Erholung von +der Ehe muß der Mensch doch haben, wenn er das Leben ertragen will.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Er hatte ganz recht. Am besten, man stellt der Frau vorher die Frage: +</p> + +<p class="ibr"> +„Soll ich zum Tequila halten oder lieber Mäuschen jagen?“ Jedenfalls, +wenn es dazu kommen sollte, daß es mit Mrs. Pratt und mir ernst wird, +werde ich ihr diese Frage stellen. Dann habe ich von vornherein die +Offensive ergriffen, und sie kann sich entscheiden. Ich glaube dann +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +nicht, daß sie mir den Tequila mit Petroleum mischen wird, sondern sie +wird eine gute Sorte im Hause halten. Wenigstens für die Nachtkappe. +Sie ist eine feine Frau, Mrs. Pratt. Ich lasse nichts auf sie kommen. +Eine Frau, die mit dem wildesten Pferd fertig wird, die fluchen kann, +daß sich ein Wachtmeister vor Scham in eine Erdhöhle verkriechen +muß, die ihrem Manne alle Wünsche und jede Laune erfüllt – wie er +mir einmal vertraulich erzählte, ohne dabei seine Frau zu beleidigen –, +vor der die indianischen Cowboys zittern und die Banditen nicht +wagen, die Veranda zu betreten, eine Frau, die mir in Gegenwart ihres +Mannes, den sie liebt, ganz sachlich erklärt, daß sie mich zu heiraten +wünscht, wenn er stirbt, oder wenn er ihr fortläuft – verflucht noch +mal, eine solche Frau kann einen wohl bis in den tiefsten Busch und in +die fernsten Gedanken verfolgen, auch wenn man sich sonst nicht +gerade viel aus dem kreuzgottverfluchten Weibsvolk macht. +</p> + +<p> +„He, cantinero, una botella de tequila, eine ganze Flasche. Auf dein +Wohl, Ethel Pratt. Ich besaufe mich jetzt auf deine Gesundheit. Der +Petroleumgeschmack soll mich erinnern an – na – na ja, an dich, ganz +wie du bist, an alles, was du hast. Salud, Ethel!“ +</p> + +<p> +Sie stand auf der Veranda und winkte mit der Hand: „Viel Glück, +Boy. Sind immer willkommen auf dem Rancho. Hey, Suarez, du +Himmelhund, du verdreckter Sohn einer alten gottverfluchten alten +Hure, siehst du denn nicht, daß der schwarze Jungstier ausbricht, er +bockt, der Hurensohn von einem Stier. Wo hast du denn deine stinkenden +verfi– Augen? Well boy, good-bye!“ +</p> + +<p> +Ich schwenkte den Hut, und Gitano fegte ab mit mir. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-19"> +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +19 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> ging los, das Geschrei und das Gejohle, das Zurufen, +das Heulen und Schrillen der Indianer, das Pfeifen +der kurzstieligen Peitschen, das Trampeln der Hufe, +das Toben einer scheu werdenden Kolonne, die plötzlich +losraste und einblockiert werden mußte, damit +sie den Anschluß an den Haupttrupp nicht verliere. +Den ersten Tag begleitet uns Mr. Pratt. Der erste +Tag gehört mit zu den härtesten. Die Herde ist noch +zu lose. Das Zusammengehörigkeitsgefühl stellt sich erst nach einigen +Tagen des Transportes ein. Dann kennt die Herde die Leitstiere und +bekommt den Geruch der Verwandtschaft zueinander. Dann bildet sich +die Familie oder, eigentlich besser, das Volk. Nach einigen Tagen weiß +jedes Tier, daß es hier zu diesem Trupp gehört, und sie bleiben zusammen. +</p> + +<p> +Freilich darf man nicht glauben, daß sie so schön zusammenbleiben +wie eine Schafherde in Europa, die von einem Hirten und einem Hunde +zusammengehalten wird. Solche Rinder, die ihr bisheriges Leben auf +einer unermeßlichen Prärie verbracht haben, sind an Räumlichkeiten +gewöhnt. Sie drängen nicht aufeinander, sie streuen fortgesetzt. Die +paar Hunde, die wir mit hatten, konnten nicht viel schaffen. Sie ermüdeten +und waren nur für Kleinarbeit zu gebrauchen. Immerfort +mußte blockiert und eingekreist werden. Ein unausgesetztes Galoppieren +und Schreien und Schrillen. +</p> + +<p> +Ich hatte eine Trillerpfeife als Signalpfeife für die Boys, und der +Vormann hatte eine einfache Pfeife, damit man beide Signale unterscheiden +konnte. Dem Vormann gab ich die Spitze, und ich nahm den +Schwanz. In der Rückgarde übersieht man besser das ganze Feld des +Transports. Es läßt sich besser dirigieren, während die Front natürlich +auch wieder ihre besonderen Kniffe verlangt. +</p> + +<p> +Oh, was für einen schöneren Anblick gibt es, als so eine Riesenherde +gesunder halbwilder Rinder! Dort vor einem trampt und stampft sie, +die breiten Nacken, die runden Leiber, die mächtigen stolzen Hörner. +Das ist ein wogendes Meer voll unsagbarer Schönheit. Gigantische +Stärke lebendiger Natur gebändigt unter einem Willen. Und jedes +Hörnerpaar ist ein Leben für sich, ein Leben mit eignem Willen, eignen +Wünschen, eignen Gedanken, eignen Gefühlen. +</p> + +<p> +Von der Höhe seines Pferdes aus überblickt man das Gewoge der +Hörner und Nacken. Man könnte so von einem Rücken zum andern +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +Rücken über die ganze Herde wandern bis zu den läutenden Stieren +an der Front. +</p> + +<p> +Die Tiere brüllten ab und zu, oder zankten sich und stießen sich. +Es wurde geschrien und gerufen. Die Glocken läuteten. Die Sonne +lachte und glühte. Alles war grün. Das Land des ewigen Sommers. O du +schönes, o du wunderschönes, uraltes, sagen- und liederreiches Land +Mexiko! Deinesgleichen gibt es nicht wieder auf dieser Erde. +</p> + +<p> +Ich mußte singen. Und ich sang, was immer mir einfiel, Choräle und +süße Volkslieder, Liebeslieder und Gassenhauer, Opernarien, Sauflieder +und Dirnenlieder. Was kümmerte mich der Inhalt der Lieder? +Was ging mich die Melodie der Lieder an? Ich sang aus froher freier +Herzensfreude. +</p> + +<p> +Und welch eine Zauberluft! Der heiße Odem des tropischen Busches, +die warme, schwüle Ausdünstung dieser Masse von wandernden Rindern, +die schweren Wellen eines fernen Sumpfes, die vom Winde getragen +herüberwogten. +</p> + +<p> +Dicke Schwärme summender Beißfliegen und andrer Insekten kreisten +über der trottenden Herde, und dicke Schwaden schillernder grüner +Fliegen folgten uns nach, um sofort über den Dünger herzufallen. In +ganzen Völkern begleiteten uns Schwarzvögel, die sich auf die Rücken +der Tiere niedersetzten, um die Zecken aus der Haut zu picken. Millionen +von Lebewesen fanden ihre Nahrung durch diese gewaltige Herde. +Leben und Leben, und überall nichts als Leben. +</p> + +<p> +Unser Marsch führte nun einige Tage über Landwege. Zu beiden Seiten +waren die Felder und Weiden eingezäunt mit Stacheldraht. +</p> + +<p> +Umzäunte Weiden dürfen ohne ausdrückliche Genehmigung des Besitzers +nicht eingebrochen werden. Unsre Herde mußte auf den Wegen +weiden. Sie hatte reichlich zu fressen, und wir trafen auch genügend +Pfuhle an, die noch von der Regenzeit her mit Wasser gefüllt waren. +</p> + +<p> +Aber wenn Autos oder Fuhrwerke oder Karawanen die Wege passierten, +gab es Arbeit. Wir mußten die Tiere zur Seite drängen. Dabei +scheuten sie, brachen aus oder kehrten um und rasten einzeln oder in +Trupps kilometerweit zurück, und wir hatten hinterherzujagen und +sie wieder zum Anschluß zu bringen. +</p> + +<p> +Viel schwerer war die Arbeit, wenn wir auf offne Weiden kamen, wo +andres Vieh in großen Herden bereits weidete, oft ohne Aufsicht. Nicht +immer, aber doch zuweilen mischen sich die Herden, und man muß sie +lösen. Wir hatten einmal dreiviertel Tag zu arbeiten, um die Mischung +zu lösen. Denn von dem fremden Vieh darf man nicht ein einziges +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +Stück aus Versehen mitführen. Das gibt heillosen Spektakel. Ich und an +letzter Stelle Mr. Pratt waren verantwortlich für Vieh, das durch unsern +Transport einer andern Herde verlorenging. +</p> + +<p> +Zuweilen wird man die fremden Tiere nicht los. Sie wollen durchaus +folgen. Vielleicht, daß sie den Stier mögen, oder daß sie den Geruch +unsrer Herde lieben. Ebenso kommt es vor, daß sich ein Stück unsrer +Herde mit einer weidenden Herde mischt und dort nicht mehr heraus +will, sondern bei jener fremden Herde bleiben möchte. Das soll man +auch immer gleich wissen, daß man ein fremdes Stück in der eignen +Herde transportiert, oder daß ein eignes Stück dort zurückgeblieben ist. +Die Brandzeichen sind oft sehr ähnlich, oft sehr verwischt und unleserlich. +</p> + +<p> +Es ist dann gut, wenn man die eigne Herde gut erzogen hat, so daß sie +sich nicht mit den andern mischt und die fremden Tiere ganz von +selbst ausscheidet. +</p> + +<p> +Jagt man die fremde Herde beiseite, was der Vormann zu tun hatte +mit Hilfe eines der Treiber, ehe unsre Herde nahe kam, so konnte es +doch auch oft geschehen, daß einige Dutzend Köpfe der eignen Herde +glaubten, sie seien gemeint, und mit der fremden Herde davonjagten. +Dann wurde das Durcheinander beinahe unentwirrbar, und es kostete +Schweiß und Kehlen, die von dem vielen Schreien rauh waren wie +Sandpapier. +</p> + +<p> +Ein General braucht sich gar nichts auf seine Kunst einzubilden. Ein +Armeekorps Soldaten über Land zu bringen, ist die reine Spielerei +gegenüber der Arbeit, tausend Köpfe wild aufgewachsener Rinder +durch unwegsames und halbzivilisiertes Land zu transportieren. Den +Soldaten kann man sagen, was man von ihnen will. Rinderherden kann +man nichts sagen, da hat man alles selbst zu tun. Man ist Kommandant +und Kommandierter in derselben Person. +</p> + +<p> +Gegen fünf Uhr des Nachmittags machten wir in der Regel halt. Manchmal +früher, manchmal später. Das hing davon ab, ob wir Weide hatten +und Wasser. Einen Tag können es die Tiere ohne Wasser aushalten, +wenn sie frisches Gras haben, im Notfalle auch zwei Tage. Aber am +dritten Tage wird die Sache bedenklich. Hatte ich keinen Führer bekommen +können, oder war kein Wasser zu sehen, dann ließ ich die +Tiere laufen. In den meisten Fällen fanden sie selbst Wasser. Aber das +Wasser lag dann oft so, daß wir einen, zwei oder gar drei Tage, wenn +nicht mehr, in unsrer Weglinie verloren, weil wir ganz quer abwandern +mußten. +</p> + +<p> +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Wir bildeten zwei Lager des Nachts. Eines in Front, eines im Schwanz. +Es wurde Feuer gemacht, Kaffee gekocht, Bohnen oder Reis gekocht, +Brot gebacken und getrocknetes Fleisch dazu gegessen. Dann wickelten +wir uns in unsre Decken und schliefen auf der glatten Erde, mit dem +Kopf auf dem Sattel. +</p> + +<p> +Zwei Wachen mit Ablösung stellte ich aus, um Tiger zu verscheuchen, +und um zu verhindern, daß einzelne Tiere abstreuen. Unter dem Vieh +gibt es ebensogut Nachtbummler wie unter den Menschen. +</p> + +<p> +Die Tiere sind lange vor Sonnenaufgang auf und beginnen zu weiden. +Wir ließen ihnen Zeit, und dann ging es weiter. Mittag rasteten wir +abermals, damit die Tiere sich etwas suchen konnten, und damit sie +verdauen und käuen können. +</p> + +<p> +Bis jetzt hatte ich nur einen Stier verloren. Er hatte gekämpft und war +so schwer gespießt worden, daß wir ihn abstechen mußten. Wir schnitten +das beste Fleisch aus, schnitten es in schmale Streifen und trockneten +es. Für den Verlust aber hatte eine Kuh ein Kalb geworfen, eine Nacht +vorher. Das gibt eine neue Schwierigkeit. Das kleine Kälbchen kann den +Marsch nicht mitmachen. Aber töten möchte man es auch nicht. Man +möchte ihm gern sein junges freudiges Leben lassen, und man fühlt +auch mit der Mutter, die es so liebevoll beleckt und abschleckt. Was +blieb übrig? Ich nahm das Kälbchen zu mir aufs Pferd, und wir wechselten +ab: alle halbe Stunde nahm es ein andrer aufs Pferd. +</p> + +<p> +Das Kälbchen war unser Liebling. Es war eine Freude, rührend mitanzusehen, +wenn wir haltmachten und die Mutter herbeikam, um ihr +Kindchen in Empfang zu nehmen. Sobald wir es vom Pferde ließen, +war die Mutter da. Sie wußte, daß das Kälbchen im Transport ist, und +sie hielt sich immer in der Nähe des Reiters, der es vor sich im Sattel +hatte. Das war eine Schleckerei und Leckerei, eine Blökerei und eine +Brummerei, wenn wir das Kälbchen der Alten an den Euter setzten. +Die Alte brachte sich bald um vor Freude. +</p> + +<p> +Als das Kleine schwerer wurde, mußten wir es auf eines der Packmulas +verladen. Es dauert lange, ehe so ein Jungtier marschieren kann. Hätten +zu viele Kühe geworfen, dann wäre es uns nicht möglich gewesen, den +Müttern diesen kleinen Liebesdienst zu erweisen. Aber es kam doch +noch dreimal vor, und ich brachte es nicht fertig, die Kleinen zu töten. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-20"> +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +20 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">ndankbar</span> zu sein, ist eine Charaktereigenschaft +der Menschen, die den Menschen so sehr Natur ist, +daß man es am besten dabei bewenden läßt und +sich deswegen nicht kränkt. Die Natur aber ist dankbar +für jede Kleinigkeit, die man ihr erweist. Kein +Tier und keine Pflanze vergißt den Trunk Wasser, +den man ihnen spendet, oder die Handvoll Futter +oder die Mütze voll Dünger, die man ihnen gab. So +dankbar zeigten sich auch die Kälbchen und die Mütter der Kälbchen +für den Liebesdienst, den wir ihnen erwiesen hatten. +</p> + +<p> +Wir kamen an einen Fluß, und weder wir noch der Führer konnten eine +Furt ausmachen. Weiter stromabwärts fanden wir eine Fähre. Aber der +Fährmann forderte für jeden Kopf so viel, daß das Übersetzen eine +beträchtliche Summe ausgemacht haben würde. Solange man die hohen +Fähr- und Brückengelder sparen kann, tut man es; weil noch genügend +Brücken und Fähren kommen können, die man unbedingt gebrauchen +muß, wenn der Strom zu breit oder zu reißend ist, oder wenn man an +den Fluß nicht heran kann. +</p> + +<p> +Während ich mit dem Fährmann verhandelte, rastete die Herde etwa +sechs Kilometer stromauf. Wir hielten hier für zwei Tage, weil vortreffliche +Weide war und wir die Tiere einmal gründlich vollsaufen und +gründlich baden lassen wollten. Sie müssen zuweilen baden, des Ungeziefers +wegen, das beim Baden abstirbt. Die Tiere bleiben zu diesem +Zweck stundenlang im Flusse stehen, an Stellen, wo ihnen das Wasser +bis zur Hälfte des Bauches reicht. +</p> + +<p> +Nun aber, nachdem die beiden Erholungstage vorüber waren, mußten +wir den Fluß kreuzen. Die Herde mußte durch. Wir begannen zu +treiben, aber sobald die Tiere den Boden verloren, kehrten sie zum Ufer +zurück. Der Fluß war nicht sehr breit, hatte aber in der Mitte tiefe +Rinnen. +</p> + +<p> +Endlich kam ich auf einen Gedanken. Wir hackten mit den Machetes +Stämme ab, schälten Bast und bauten <a id="corr-26"></a>ein kleines leichtes Floß. Dann +knüpften wir die Lassos zu einer langen Leine zusammen, und ein +Indianer schwamm hinüber zum andern Ufer mit dem Ende der Leine. +Wir knüpften die Leine am Floß fest und machten eine zweite Leine +an. Dann packte ich eins der Kälbchen rauf, und drüben der Mann zog +das Floß rüber und landete das Tierchen. Wir zogen mit unsrer Leine +das Floß zurück und das zweite Kälbchen wanderte rüber. Nach wenigen +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +Minuten hatten wir alle vier Kälber auf der andern Seite. Und als sie +dort so ärmlich und wackelnd auf ihren mageren stöckigen hohen Beinen +allein standen, fingen sie erbärmlich an zu blöken. Es hörte sich kläglich +an. Und wenn uns schon das traurige Blöken dieser kleinen hilflosen +Geschöpfe zu Herzen ging, um wieviel mehr den Müttern. Kaum hatten +die Kleinen ein paarmal geblökt, da setzte eine der Mütter ins Wasser +und schwamm rüber. Gleich darauf folgten die andern drei Mütter. +Das Wiedersehen war herzlich. Aber wir hatten keine Zeit, uns lange +darum zu bekümmern; denn hier kriegten wir jetzt tüchtig Arbeit. Die +Kühe drüben blökten nun auch, weil sie von der Herde getrennt waren. +Sie fürchteten sich allein, und sie sehnten sich zurück nach ihrem Volke. +Die Stiere hörten das Blöken eine Weile, und dann machten sie den +Übergang. Der Leitstier war nicht dabei. Es waren jüngere Stiere, die +offenbar glaubten, sie könnten dort drüben auf diese Weise ein eignes +neues Reich gründen, wo sie von den stärkeren Stieren nicht gestört +würden. Nun aber erwachte hier die Eifersucht der größeren Stiere und +auch des Leitstieres. Sie schnaubten und dann sausten sie los, um den +naseweisen Grünlingen da drüben die Flötentöne beizubringen. +</p> + +<p> +Auf der Wasserfahrt aber kühlten sie ab, und als sie drüben waren, +hatten sie die Lust zum Kämpfen verloren, trotzdem sie hier so wütend +geschnauft hatten. Aber die Stiere waren drüben und brüllten, und die +Kühe hier auf dieser Seite hatten keine Lust, ihr ferneres Leben ohne +Stiere zu verbringen. Und da sie gewöhnt waren, den Stieren immer und +überall zu folgen, so folgten sie auch jetzt, und bald war das Wasser +angefüllt mit schnaubenden, plantschenden, prustenden Rindern, die +sich bemühten, hinüberzukommen. Es war ein wildes Durcheinander +von gehörnten Köpfen und schlagenden und peitschenden Ungetümen. +Manche kehrten wieder um, wenn es ihnen zu gefährlich schien. +</p> + +<p> +Und das war der Augenblick, wo wir eingreifen mußten. Es durfte nicht +zur Manie werden, dieses Umkehren, sonst konnte die halbe Herde umkehren, +weil sie ja keine Richtung im Wasser halten können, sondern +nur drauflos platschen und auf ein Ufer losgehen. +</p> + +<p> +Wir schrien und peitschten und setzten mit den Pferden rein und jagten +die Tiere zusammen und immer rüber und rüber zur andern Seite. +</p> + +<p> +Einzelne kamen ins Schwimmen und ins Treiben. Die hatten wir abzufangen +und sie zum Ufer zu dirigieren. Drei gingen mir verloren, die +abtrieben und die wir nicht holen konnten. Das war der ganze Verlust, +den ich bei diesem Übersetzen hatte. Er war billig. Oft wird es teurer. +Die Verlorenen waren an sich nicht viel wert. Sie hatten uns schon auf +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +dem Transport Schwierigkeiten gemacht. Sie gehörten zu den Schlappen. +Und je kleiner man den Trupp der Marschhinker halten kann, um so +besser. Wir ließen die Tiere drüben wieder rasten und machten gleich +Lager für die Nacht. In derselben Nacht wurde mir eine schöne Zweijährige +von einem Jaguar zerrissen. Es war so rasch und so lautlos zugegangen, +daß niemand etwas gehört hatte. Wir sahen es am nächsten +Morgen nur an dem Kadaver und an den Fährten, was sich in der Nacht +abgespielt hatte. +</p> + +<p> +In jeder Hinsicht war ich billig davongekommen. Das Übersetzen mit +der kleinen Fähre würde nach meiner Schätzung eine volle Woche gedauert +haben. Auch dabei konnten Tiere verlorengehen, die abspringen, +oder die man bei einem so langen Aufenthalt an einem Fluß durch +Tiger und Alligatoren einbüßt. Man hat an tausend verschiedene +Kleinigkeiten und Nebenumstände zu denken. Dazu kam noch das +Fährgeld. Und was ich an Fährgeldern, Brückengeldern, Wegegeldern, +Weide- und Wassergebühren sparte, ging in meine Tasche und gehörte +mit zu meinem Verdienst. +</p> + +<p> +Was ich hier bei diesem Übergang über den Fluß gespart hatte, verdankte +ich niemand sonst als meinen lieben kleinen Kälbern. Sie hatten +die Liebe, die wir ihnen und ihren Müttern entgegengebracht hatten, +reichlich vergolten. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-21"> +21 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> wäre ja kein echter Transport gewesen, wenn er +ohne die Mithilfe von Banditen zu Ende gegangen +wäre. Man erwartet sie eigentlich immer, und man +wundert sich nur dann, wenn wieder einmal ein Tag +vorüber ist, ohne daß sich der eine oder der andre +Trupp hat sehen lassen. Ein solcher großer Viehtransport +geht ja nicht schweigend vor sich. Dutzende +von Indianern sehen ihn, und es spricht sich herum. +Und man weiß nie, wer den Kundschafter macht für eine Horde. Die +Mehrzahl der Banditenhorden sind die Überbleibsel der Revolutionsarmeen, +die gegen die Arbeiterarmeen kämpften. Es sind die Reste +jener Truppen, die von den Diktaturanhängern, von den großen Landeigentümern, +von einer Clique amerikanischer Kapitalisten geworben +wurden, und die bei Beendigung der Revolution übrigblieben, weil sie +das Freischärlertum vorzogen. +</p> + +<p> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +Eines Morgens kamen sie. Genauer gesagt, eines Morgens trafen wir sie. +Sie kamen ganz unschuldig angeritten. Sie konnten Peons sein, die +irgendwohin zum Markte ritten oder auf der Arbeitsuche waren. Sie +kamen aus der Flanke. Wir zogen auf einem breiten Buschwege, und +plötzlich standen sie an der Seite des Weges, am Ausgange eines +schmalen Buschpfades. +</p> + +<p> +„Hallo!“ rief der Führer. „Keinen Tequila?“ +</p> + +<p> +„Nein“, sagte ich. „Haben keinen. Aber wir haben Tabak mit. Könnt +hundert Gramm abbekommen.“ +</p> + +<p> +„Gut. Nehmen wir. Habt Ihr Maisblätter?“ +</p> + +<p> +„Zwei Dutzend können wir wohl abgeben.“ +</p> + +<p> +„Nehmen wir auch.“ +</p> + +<p> +„He, wie ist es denn mit Geld? Der Transport hat doch Geld für die +Fähren und Brücken und so.“ Jetzt wurde es heiß. Das Geld. +</p> + +<p> +„Wir haben kein Geld mit“, sagte ich. „Wir haben nur Schecks.“ +</p> + +<p> +„Schecks ist Dreck. Kann ich nicht lesen.“ +</p> + +<p> +Die Leute sprachen etwas zueinander, und dann kam der Sprecher +herangeritten und sagte: „Wegen des Geldes wollen wir doch einmal +nachsehen.“ +</p> + +<p> +Er durchsuchte meine Taschen und das Sattelzeug, aber ich hatte kein +Geld. Er fand nur die Schecks, und er sah ein, daß ich recht hatte. +</p> + +<p> +„Kühe können wir auch gebrauchen“, rief er nun. +</p> + +<p> +„Die brauche ich selbst“, sagte ich. „Ich bin nicht der Besitzer, ich habe +nur den Transport.“ +</p> + +<p> +„Dann tut es Ihnen ja nicht weh, wenn ich mir ein paar aussuche.“ +</p> + +<p> +„Bitte,“ sagte ich, „helfen Sie sich nur. Ich habe eine hufkranke Kuh. +Die Kuh ist gut, sie milcht in drei Monaten. Den Huf können Sie +kurieren. Ist frisch.“ +</p> + +<p> +„Wo ist sie denn?“ +</p> + +<p> +Ich ließ sie heraustreiben, und sie gefiel ihm. Während der ganzen Zeit +wanderte der Transport natürlich weiter. Der läßt sich ja nicht so auf +Kommando halten, besonders wenn keine Weide da ist, sondern nur so +dünnes mageres Gras am Wege entlang steht. Die guten Leute ritten +neben mir her. +</p> + +<p> +Der Führer sagte: „Schön, eine haben Sie mir gegeben, jetzt bin ich an +der Reihe und darf mir eine aussuchen.“ +</p> + +<p> +Er suchte sich eine aus, aber er verstand nichts von Vieh. Sie war nicht +viel wert. Ich verschmerzte sie leicht. +</p> + +<p> +„Nun dürfen Sie mir wieder eine aussuchen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +Er bekam sie. Dann suchte er wieder eine aus. Diesmal nahm er eine +der milchenden. +</p> + +<p> +„Jetzt sind Sie wieder an der Reihe, Senjor“, sagte er. +</p> + +<p> +Ich versuchte es mit einem Scherz. Ich rief einen meiner Leute heran, +der das Kalb jener Kuh trug, die sich der Wegelagerer ausgesucht hatte. +„Hier haben Sie das Jungtier dazu“, sagte ich und händigte ihm das +Kälbchen ein. Mit dem Angebot war er sehr zufrieden, und er ließ das +Kalb für ein Volltier gelten. Das tat er nicht aus Generosität. Nein, +viele der Indianer können die Kühe nicht melken. Sie können nur +melken, wenn das Kalb gleichzeitig saugt, sonst kriegen sie keinen +Tropfen aus den Zitzen. Die Milch muß so halb von allein fließen, die +Kuh muß glauben, daß sie die Milch dem Kalb gibt. Darum war ihm +das zugehörige Kalb so willkommen, denn nun konnte er die Kuh +melken, und sie hatten Milch daheim. +</p> + +<p> +Dann war er wieder an der Reihe. Als sie fortritten, zogen sie mit +sieben Kühen und einem Kalb von dannen. Kostete mich, wenn ich das +Kalb nicht rechnete, hundertfünfundziebzig Pesos. Denn auf welche +Weise ich die Tiere verlor, das war gleichgültig. Was mir fehlte, wurde +mir abgezogen. Mit den Banditen wurde gerechnet und mit den Zöllen, +die man ihnen zu zahlen hatte. Es kam eben darauf an, wie man mit +ihnen handelseinig wurde. Man mußte handeln mit ihnen wie mit Geschäftsleuten. +Diplomatie spielte eine Rolle. Sie hätten ja auch mit +fünfzehn abziehen können oder mit vierzig. +</p> + +<p> +Das alles sind Transportunkosten. Gehört zur Fracht. Kann überall +geschehen. Woanders entgleist ein Zug, oder es verbrennt oder scheitert +ein Schiff, und der Transport ist fertig. Zu all dem hat man die hohen +Versicherungsprämien zu zahlen. Hier versichert niemand. Keine Versicherungsgesellschaft +übernimmt das Risiko, oder sie übernimmt es nur +zu Sätzen, die zu zahlen sich nicht lohnt. Woanders sind es die Verladekosten, +die Fütterungskosten und wer weiß was sonst noch alles für +Kosten. Hier sind es die Flußläufe, die Bergübergänge, die Pässe, die +Schluchten, die Sandstrecken, die wasserlosen Strecken, die Banditen, +die Jaguare, die Klapperschlangen, die Kupferschlangen, und wenn es +ganz schief gehen soll, eine Seuche, die dem Vieh auf dem Marsche +irgendwo von anderm Vieh, dem es begegnet, mitgegeben wird. +</p> + +<p> +Wenn man am Schlusse die Rechnungen vergleicht, sind die Unterschiede +in den Transportunkosten nicht so groß, wie man vielleicht erwartet. +Hier trägt es die Masse, die Masse der Aufzucht und die Masse +des Transportes. Man kann sich natürlich mit den Banditen in einen +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +Streit einlassen oder in eine Schießerei oder in Drohungen mit dem +Militär. Warum nicht? Es gibt immer noch hin und wieder einen Narren, +der es tut, und man sieht es manchmal so schön im Kino, wie die Banditen +rennen, drei Dutzend vor einem smarten Kuhjungen. Ja, im Kino. +In Wirklichkeit ist das alles ganz, aber ganz, ganz anders. Die Banditen +rennen nicht so schnell. Und mit den Drohungen! Ach, du blauer Himmel! +Das Militär ist weit, und das Land ist groß. Die Dörfer der Banditen +sind unzugänglich, und die Offiziere der Regierungstruppen finden sie +nicht auf den Karten. Die Familie des Banditen hat sechs Brüder, drei +dienen beim regulären Militär, drei dienen bei den Banditen, die nur +darauf warten, daß wieder ein Diktator, der von den amerikanischen +Ölkompanien und Minenkompanien genügend unterstützt wird, +irgendwo auftaucht. Und wie das so wechselt. Die drei Brüder, die bei +den regulären Truppen dienen, fressen morgen vielleicht etwas aus und +finden Unterschlupf bei den Banditen, während die drei Brüder bei +den Banditen sich freiwillig der Gnade des Gouverneurs unterwerfen +und sich in die reguläre Armee einreihen lassen, wo sie vortreffliche +Banditenjäger werden, weil sie alle Pfade und Tricks kennen. +</p> + +<p> +Ausrottung der Banditen. Das läßt sich alles so schön in den Zeitungen +empfehlen, und es läßt sich noch viel schöner von der amerikanischen +Regierung, die das Land im Interesse der amerikanischen Großkapitalisten +als Kolonie betrachten möchte, kommandieren, mit der Drohung, +die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Aber die Banditen lesen +keine Zeitungen, und sie hassen die Amerikaner, und sie finden ihre +Körbe am besten gefüllt, wenn es infolge der diplomatischen Auseinandersetzungen +im Lande unruhig wird. +</p> + +<p> +Abgesehen von allem, es ist das gute Recht eines Banditen, sich zu +nehmen, was er braucht. Dreihundert Jahre Sklaverei und Verluderung +durch die spanischen Herren und Peitscher und Folterknechte, dann +hundert Jahre Militärdiktatur und kapitalistische Cliquendiktatur von +gewissenlosen Räubern und Banditen mit polierten Fingernägeln und +Klubsesseln müssen das wundervollste und liebenswerteste Volk der +Erde in Grund und Boden verlottern. In zivilisierten Ländern haben +fünf Jahre Krieg die Völker so verludert, daß sie zwischen Recht und +Unrecht nicht mehr durchfinden können, daß die Hälfte der Bevölkerung +in jenen Ländern Verbrecher und die andere Hälfte Polizisten, +Gefängniswärter und Staatsanwälte sind. +</p> + +<p> +Meine Banditen waren zufrieden, daß sie alles so leicht, so vergnügt +und mit so angenehmer Unterhaltung bekommen hatten. Und ich war +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +zufrieden, daß sie nicht mehr genommen hatten, und daß ich so billig +loskam. Was hat sich da die Polizei hineinzumischen? Man wird ganz +gut fertig, wenn man sich nicht um die Polizei kümmert. Ehe man nicht +erschlagen ist, hilft einem die Polizei nicht. Und wenn sie endlich hilft, +dann hilft sie nur dem Mörder und nicht dem Erschlagenen. Was hat +der Erschlagene davon, wenn der Mörder oder der Bandit auf den +Friedhof geführt und erschossen wird? Er wird davon nicht lebendig. +</p> + +<p> +Wir hatten jetzt einen weiten Umweg zu machen. Eine größere Stadt +lag auf unserm Wege, und die mußten wir weitab liegen lassen, denn +da gab es keine Weiden. Einen langen Flußlauf hatten wir hinauf zu +wandern, und dann kam der Übergang über das Gebirge. +</p> + +<p> +Es wurde recht kühl. Reichlich Wasser war vorhanden, aber die Weiden +wurden knapp. Die Tiere aßen das Laub der Bäume. Das Laub war +ebenso sättigend wie Gras. Es schien dem Vieh eine angenehme Abwechslung +zu sein, Laub zu weiden. Wenn ich die Rinder so geschickt +das Laub abstreifen sah, so kam mir manchmal der Gedanke, daß die +Rinder in einer fern zurückliegenden Zeit vielleicht gar keine Steppen- +und Prärietiere gewesen sein mögen, sondern Waldtiere, in Wäldern, +die Sträucher und niedrige, buschähnliche Bäume hatten. Wälder, die +heute verschwunden sind, weil nur die hoch emporwachsenden Bäume +überleben konnten. +</p> + +<p> +Der Paßübergang war mühevoll, und wir mußten alle unsre Aufmerksamkeit +anwenden, um die Tiere gut zu leiten; denn sie waren Gebirge +ja nicht gewohnt. Zwei rutschten ab. Darunter ein prächtiger Jungstier. +Er rutschte mit seiner Kuh, während er gerade so lustig am Springen +war. Liebestragödie. Wir konnten sie unten in der tiefen Schlucht +liegen sehen, zerschmettert. Ich hatte auf mehr Abstürze gerechnet. +</p> + +<p> +Zwei Schlangenbisse erlebten wir auch. Wir sahen es am Morgen an +den geschwollenen Füßen zweier Kühe. Wir untersuchten und fanden +die Einhiebe der Fänge. Aber die Kühe hatten Glück gehabt. Die +Schlangen hatten vorgebissen, auf Holz oder auf irgendein wildes Tier. +So bekamen die Kühe nicht die volle Ladung eingespritzt. Wir behandelten +sie mit Schneiden, Abknebeln und achtundneunzigem Alkohol. +Da wir hier, nachdem wir den Übergang durch hatten, zwei Tage haltmachten, +kamen die Kühe schön wieder hoch, und ich sparte sie. +</p> + +<p> +Am Abend fingen zwei Indianer an, sich gräßlich darüber zu streiten, +was es für Schlangen gewesen seien. Der eine behauptete, es seien +Klapperschlangen gewesen, während der andre darauf bestand, daß es +Kupferschlangen gewesen seien. +</p> + +<p> +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +Ich schlichtete den Streit, der sehr ernst zu werden drohte, mit einem +Vergleich. Ich sagte zu Castillo: „Wenn Sie geschossen oder gar erschossen +sind, so ist es Ihnen doch sicher ganz gleichgültig, ob Sie mit +einem Revolver oder mit einem Gewehr, ob mit einer Achter oder mit +einer Siebener erschossen sind.“ +</p> + +<p> +„Freilich, Senjor, ist das egal, wenn man schon geschossen ist, denn +geschossen ist geschossen.“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie, Senjores, so ist es auch mit den Kühen. Sie sind von einer +Giftschlange gebissen, und es ist ihnen ganz und gar gleichgültig, ob sie +von einer Rattler oder einer Copper gebissen sind. Sie sind gebissen, +und es tut ihnen weh. Um das übrige kümmern sie sich nicht einen +Dreck.“ +</p> + +<p> +„Sie haben recht, Senjor, es war eine Giftschlange, und was es für eine +war, tut jetzt nichts mehr zur Sache.“ +</p> + +<p> +Meinen Richterspruch fanden sie so klug, daß sie nicht mehr von den +Schlangen sprachen, sondern nur von der Heilbarkeit der Schlangenbisse. +Sie brachten alle möglichen indianischen Hausmittel zur Sprache, +und dadurch endete der Streit der beiden. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-22"> +22 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">ines</span> Morgens bei Sonnenaufgang, als wir den Aufbruch +riefen und ich auf einen Hügel ritt, um von +dort aus die Herde übersehen zu können und in die +vorteilhafteste Richtung zu lenken, sah ich in der +Ferne die Türme der Kathedrale liegen. Von leuchtendem +Golde umflossen, stand das Ziel vor meinen +Augen. Die Mühen waren zu Ende, und die Freude +wartete in der Stadt, die im Glanze der Sonne badete. +Ich ließ die Herde hier auf der Prärie und ritt zur Stadt. Ich sandte ein +Telegramm an Mr. Pratt mit der Nachricht, daß ich hier sei. Dann ritt +ich zurück zur Herde. Es war Abend, als ich zurückkam. Unsre Feuer +loderten, und die beiden Männer, die Wache hatten, ritten gemächlich +um die Herde und sangen die Tiere zur Ruhe. +</p> + +<p> +Die Nächte in den Tropen haben für den Menschen, der, solange wir +ihn kennen, ein Taggeschöpf ist, etwas unsagbar Unheimliches an sich. +Viel unheimlicher noch sind die tropischen Nächte für die Tagtiere. +Kleine Herden kommen des Abends zum Ranchohaus, um in der Nähe +der Menschen zu sein. Sie wissen es ganz genau, daß der Mensch sie +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +beschützt. In den Wochen nach der Regenzeit, in denen die Moskitos +und die Beißfliegen in der Luft schwirren, dick wie aufgewirbelter +Staub, kommen die Rinder selbst am Tage von den Prärien heim und +drängen sich um das Ranchohaus, wo sie auf Hilfe hoffen. Man kann +ihnen keine Hilfe gewähren, weil man selbst Kopf, Gesicht und Hände +mit Tüchern umwickelt hat, um sich gegen die Geister der tropischen +Hölle zu schützen. +</p> + +<p> +Aber selbst die Riesenherden fangen an, unruhig zu werden, sobald die +Sonne untergegangen ist. Sie umzirkeln die Hütten der Herdenaufseher +und lagern sich rundherum. Die Wachleute umreiten die Herden +während der ganzen Nacht. Abends, nach Sonnenuntergang, ziehen alle +Männer herum und singen die Herde in den Schlaf. Dann erst beginnen +die Tiere sich zu legen. Manche großen Viehzüchter überlassen es den +Herdenmännern, den Cowboys, ob sie singen wollen oder nicht; sie +halten es für überflüssig, für alten Kohl. Aber Vieh, das nicht eingesungen +wird, ist nicht so gut wie andres, das in den Schlaf gesungen +wird. Das Vieh bleibt die ganze Nacht hindurch unruhig, legt sich für +zehn Minuten und springt wieder auf, um umherzuwandern und andres +Vieh zu streifen und die Kameradschaft zu fühlen. Dieses Vieh ist am +Morgen schläfrig, und weil es am andern Tage den verlorenen Schlaf +nachholen muß, frißt es nicht so gut wie das gesungene. Es kommt infolgedessen +viel langsamer in Form. Auf Transporten muß man erst +recht singen; denn hier ist das Vieh viel unruhiger, weil es ja auf ungewohnten +Prärien lagert. Würde man die Herde hier nicht in den +Schlaf singen, hätte man es an der Marschzeit schwer zu büßen, weil +die Herde dann am Tage mehr ruht, als es für den Marsch gut ist. +</p> + +<p> +Ich jedenfalls ließ jeden Abend singen, und die Männer taten es mit +Vergnügen. Sie ritten langsam und gemütlich, steckten sich zuweilen +eine Zigarette an, und dann sangen sie wieder. Und bei dem Singen +legten sich die Rinder in dem Bewußtsein absoluter Geborgenheit hin +und ruhten. Schläfrig sahen sie dem reitenden Manne nach, brummten +und begannen zu schlafen. Wird auch des Nachts ab und zu gesungen, +so ist das den Tieren nur um so lieber. Sie wissen, daß ihnen dann +nichts geschehen kann, denn der Mensch ist in der Nähe und beschützt +sie gegen die Schrecknisse der Nacht. In der Tat verscheucht das Singen +der Männer die Jaguare und Berglöwen. Daß dieses Singen der Kuhmänner +auch alle Menschen verscheucht, die sich unter Singen eben +Singen vorstellen, erwähne ich nicht. Man braucht mich nur singen zu +hören, dann weiß man die letzten Geheimnisse der Welt. +</p> + +<p> +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +Ich hatte die Kopfwache, die der Vormann hielt, auch hierher genommen, +damit wir die letzten paar Abende noch alle zusammen sein +konnten. Die Vorwache war überflüssig geworden, weil drüben der Fluß +lag, der sich bis zur Stadt hinstreckte. Die Flanken konnten leicht gehalten +werden von den beiden Wachen. Während die Leute rauchten +und schwatzten, sattelte ich noch einmal auf und ritt die Herde ab, +singend, pfeifend, summend und den Tieren zurufend. +</p> + +<p> +Klar wie nur der Nachthimmel in den Tropen sein kann, lag die +schwarzblaue Wölbung über der singenden Prärie. Wie kleine goldne +Sonnen standen die strahlenden Sterne in der satten Nacht. Und Sterne +flogen umher, hunderte, tausende, als wären sie heruntergekommen von +dem hohen Dom der Welt, um Liebe zu suchen und Liebe zu spenden +und dann wieder zurückzukehren in die stille einsame Höhe, wo keine +Brücke führt von dem einen zum andern. Die Glühkäferchen waren +das einzige sichtbare Leben hier unten. Aber das unsichtbare sang mit +Milliarden Stimmen und Stimmchen, musizierte mit Geigen und Flöten +und Harfen, mit Zimbeln und Glöckchen. Und da lag meine Herde. Ein +schwarzer, dunkler Brocken neben dem andern. Brummend, atmend und +einen warmen, vollen, schwer lastenden Hauch erdischer Gesundheit +verbreitend, der so reich war in sich, in seinem Unbewußtsein, der so +wohl tat und so unendlich zufrieden machte. +</p> + +<p> +Mein Heer! Mein stolzes Heer, das ich über Flüsse führte und über +Felsengebirge, das ich beschützte und behütete, dem ich Nahrung brachte +und erfrischendes Wasser, dessen Streitigkeiten ich schlichtete und +dessen Krankheiten ich heilte, und das ich Abend um Abend in den +Schlaf sang, um das ich mich sorgte und härmte, um das ich zitterte, und +das meinen Schlaf beunruhigte, um das ich weinte, wenn eines mir verlorenging, +und das ich liebte und liebte, ach, so sehr liebte, als wäre es +mein Fleisch und Blut! O du, der du ein Kriegerheer über die Alpen +führtest, um in friedliche Länder den Mord und den Brand zu tragen, +was weißt du von der vollkommenen Glückseligkeit, ein Heerführer +zu sein! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-2-23"> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +23 +</h3> + +</div> + +<p class="dropart"> +<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> nächsten Morgen kam der Salztransport heraus, +und ich salzte die Tiere. Ich hatte ihnen nur einmal +Salz gegeben während des ganzen Marsches. Man +kann sich darauf nicht gut einlassen, wenn man nicht +ganz genau weiß, daß man viel Wasser noch am selben +Tag erreichen wird. Jetzt aber war das Salz von +großem Wert. Sie konnten sich tüchtig danach volltrinken +und kamen in Glanz und Pracht, als hätten +sie neue Uniformen erhalten. Ihre Felle schimmerten, als wären sie mit +Bronzelack übergossen worden. Ich konnte mich mit meinem Transport +sehen lassen. Drei Tage später kam Mr. Pratt mit dem Kommissionär, +der den Verkauf übernommen hatte. +</p> + +<p> +„Donnerwetter! Donnerwetter nochmal!“ sagte er immer wieder. „Das +ist Vieh. Das geht wie warme Butter fort.“ +</p> + +<p> +Mr. Pratt schüttelte mir die Hand und sagte: „Mensch, Gale, wie haben +Sie denn das nur fertiggebracht? Ich habe Sie nicht vor Ende nächster +Woche erwartet. Vierhundert habe ich schon verkauft. Dadurch, daß +Sie so früh hier sind, rechne ich, daß wir innerhalb einer Woche das +letzte Paar Hörner los sind. Es ist noch ein zweiter Transport von einem +andern Züchter unterwegs. Und wenn Sie später gekommen wären, +hätte das auf den Preis gedrückt; zweitausend Kopf in derselben Woche +kann der Markt nicht tragen, ohne erheblich zu pressen. Kommen Sie +nur mit zur Stadt gefahren, der Vormann kann den Rest jetzt allein +schaffen.“ +</p> + +<p> +Die beiden Herren waren mit dem Auto herausgekommen, und wir +waren am frühen Nachmittag schon in die Stadt zurück. Wir rechneten +ab, und ich bekam ein recht nettes Sümmchen. Zwei Kälbchen waren +noch hinzugeboren worden, und so hatte ich im ganzen fünf, die mir +als volle Köpfe angerechnet wurden, wodurch meine Verluste sich um +diese fünf Köpfe verringerten. +</p> + +<p> +„Mache ich einen guten Preis,“ sagte Mr. Pratt, „dann gebe ich Ihnen +noch einen Hunderter zur Belohnung. Sie haben ihn verdient. Mit den +Banditen sind Sie ja billig losgekommen.“ +</p> + +<p> +„Kein Wunder,“ sagte ich, „den einen kannte ich gut, ein gewisser Antonio. +Ich habe einmal Baumwolle mit ihm gepflückt, und wir waren +gute Freunde. Er sorgte dafür, daß es billig wurde.“ +</p> + +<p> +„Ja, das ist es,“ meinte Mr. Pratt, „Glück muß man haben. Überall. +Ob man Vieh züchtet, oder ob man sich eine Frau nimmt.“ +</p> + +<p> +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +Er lachte laut auf und sagte: „Sie, hören Sie einmal, Junge. Was haben +Sie denn mit meiner Frau gemacht?“ +</p> + +<p> +„Ich? Mit Ihrer Frau?“ Mir blieb der Bissen im Munde stecken, und +ich bin sicher, ich wurde etwas blaß. Frauen können so wundervoll unkontrollierbar +sich benehmen. Sie kriegen zuweilen Einfälle und manchmal +Anfälle. Fallen sogar ganz aus heiler Haut heraus in die Beichtwut. +Die Frau wird ihm doch nicht etwa was geläutet haben? Sie sah mir +gar nicht so aus, als ob sie alle ihre Geheimnisse an die Glocke hänge. +</p> + +<p> +„Als Ihr Telegramm ankam, da war sie wie toll und rief: Da siehst du +wieder einmal, was du für ein Nichtstuer bist, und was du für ein überflüssiges +Werkzeug bist. Da bringt dieser Junge die Herde rüber, als ob +er sie in seiner Basttasche habe, und als ob sie ihm am Sattelknopf +hinge. Das schaffst du in deinem ganzen Leben nicht. Das ist ein andrer +Bursche, dieser F-ing son of a bitch.“ +</p> + +<p> +„Um des Himmels willen, Mr. Pratt, Sie werden sich doch nicht etwa +scheiden lassen.“ +</p> + +<p> +„Scheiden lassen? Ich? Warum denn? Wegen so einer Kleinigkeit?“ +</p> + +<p> +Er lächelte wieder so eigentümlich. Wenn ich doch nur wüßte, wie er +das meint: „Kleinigkeit“? Das kann heißen, daß er alles weiß, und das +kann auch ebensogut heißen, daß er überhaupt nichts weiß. +</p> + +<p> +„Nein“, fuhr er fort. „Warum soll ich mich denn scheiden lassen? Haben +Sie Angst, daß ich mich scheiden lasse?“ +</p> + +<p> +„Ja“, gestand ich. +</p> + +<p> +„Warum denn aber?“ +</p> + +<p> +„Weil mich Ihre Frau dann doch heiraten würde. Sie hat es doch ganz +offen erklärt.“ +</p> + +<p> +„Ach so, ja. Ich erinnere mich, das hat sie gesagt. Wenn meine Frau so +was sagt, dann tut sie es auch. Da kommen Sie nicht los davon, Junge.“ +</p> + +<p class="ibr"> +Mir wurde ungemütlich zumute. Mr. Pratt merkte es, und er fragte: +</p> + +<p class="ibr"> +„Warum haben Sie denn da eine solche Angst? Gefällt Ihnen denn +meine Frau nicht? Ich denke doch, daß –“ +</p> + +<p> +Ich ließ ihn nicht zu Ende reden, denn vielleicht kam jetzt das heraus, +was er wußte. Und ich hielt es für besser, diese Angelegenheit in der +Schwebe und unentschieden zu lassen. +</p> + +<p> +„Freilich. Ihre Frau gefällt mir sogar sehr gut“, gestand ich. +</p> + +<p> +„Kann ich mir denken“, sagte Mr. Pratt. +</p> + +<p> +Das war nun wieder so, daß es alles und nichts bedeuten konnte. +</p> + +<p> +„Sehen Sie, Mr. Pratt,“ sagte ich nun, „es ist so eine dumme Sache. Ihre +Frau gefällt mir sogar sehr. Aber, bitte, lassen Sie sich doch nicht +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +scheiden. Sie vertragen sich doch so gut. Ich müßte sie ja dann heiraten. +Es wäre ja vielleicht so übel nicht. Aber ich weiß doch gar nicht, was +ich mit meiner Frau, entschuldigen Sie, bitte, was ich mit Ihrer Frau +machen sollte.“ +</p> + +<p> +„Na, was man mit jeder Frau macht. Ihr die Freude machen, die sie +gern hat.“ +</p> + +<p> +„Das ist es nicht. Es ist etwas andres. Ich weiß nicht, wie ich mit der Ehe +fertig werde.“ Ich versuchte es ihm klarzulegen. „Ich weiß nicht, wie ich +mich da benehmen soll. Ich halte das einfach nicht aus. Ich kann nicht +stillhalten. Ich kann nicht stillsitzen auf dem Ursch, verstehen Sie. Ich +muß vagabondieren. Da kann ich doch meine Frau nicht mitschleifen. +Ich würde ausrücken, weil ich das nicht vertrage, den ganzen Tag und +jeden Tag vor einem ordentlichen Tisch zu sitzen und jeden Tag ein +richtiges Frühstück und Mittagessen zu bekommen. Das verträgt auch +schon mein Magen nicht. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen –“ +</p> + +<p> +„Jeden. Schon erfüllt“, sagte Mr. Pratt gutgelaunt. +</p> + +<p> +„Lassen Sie sich nicht scheiden von Ihrer Frau. Sie ist eine so gute Frau, +eine so schöne Frau, eine so kluge Frau, eine so tapfere Frau. So eine +kriegen Sie nie wieder, Mr. Pratt.“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich. Deshalb lasse ich mich ja auch nicht scheiden. Ich habe +nie daran gedacht. Ich weiß überhaupt gar nicht, wie Sie auf solchen +Cabbage kommen. Hopp auf, wir gehen jetzt die Ablösung vom +Kontrakt einweichen.“ +</p> + +<p> +Wir zogen ab. +</p> + +<p> +Was ist denn da los? So viele Indianerweiber mit ihren Körben habe ich +ja nie gesehen. So viele Tortillas zu verkaufen? +</p> + +<p> +„Was ist denn eigentlich los hier?“ fragte ich Mr. Pratt. „Man sieht ja +nichts weiter als Tortillas und Tortillas und Tortillas.“ +</p> + +<p> +„Die Bäcker streiken. Die Leute haben kein Brot und müssen alle +Tortillas essen“, erklärte mir Mr. Pratt. +</p> + +<p> +„He, Mr. Pratt,“ rief ich da laut, mitten auf der Straße stehenbleibend, +„da sehen sie gleich an diesem Beispiel, wie bitter Unrecht Sie und +Mr. Shine mir getan haben.“ +</p> + +<p> +„Mr. Shine und ich? Inwiefern?“ +</p> + +<p> +„Sie haben doch beide behauptet, daß ich mich immer nur um Streiksachen +kümmere, und daß überall, wo ich arbeite, ein Streik losgeht. +Hier an dem Bäckerstreik bin ich doch ganz und gar unschuldig. Ich war +doch wochenlang gar nicht hier. Wie kann ich denn da etwas mit dem +Bäckerstreik zu tun haben?“ +</p> + +<p> +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +„Das sagen Sie, Gale. Aber nun gehen Sie einmal in die La-Aurora-Bäckerei +und hören Sie, was Senjor und Senjora Doux den Leuten +erzählen.“ +</p> + +<p> +„Was können denn die Leute von mir erzählen?“ fragte ich. +</p> + +<p> +„Die behaupten und erzählen es jedem Gast, daß Sie den Streik angezettelt +haben.“ +</p> + +<p> +„Das sind nichtswürdige Verleumder, diese Douxens. Ich habe mit dem +Streik gar nichts zu tun. Ich habe für Sie einen Transport gebracht und +weiß gar nichts von einem Bäckerstreik.“ +</p> + +<p> +„Die Douxens aber behaupten, seit Sie dort gearbeitet haben, sind die +Arbeiter in der Bäckerei mit nichts mehr zufrieden, nicht mehr mit dem +Essen, nicht mehr mit dem Schlafen, nicht mehr mit dem Lohn und nicht +mehr mit der langen Arbeitszeit. Und kaum waren Sie fort, ging es los. +Zuerst in der La Aurora und dann am folgenden Tage in sämtlichen +Bäckereien. Die wollen zwei Pesos Mindestlohn, luftige Schlafräume +und achtstündige Arbeitszeit.“ +</p> + +<p> +„Nun will ich Ihnen aber doch die Wahrheit sagen, Mr. Pratt“, sagte ich +darauf. „Mit dem Streik habe ich wirklich nichts zu tun. Ich habe Ihnen +ja schon damals gesagt, als wir uns zum ersten Male trafen und Sie +mir das mitteilten, was Mr. Shine über mich erzählt hat, daß rein zufällig +immer da, wo ich arbeite oder wo ich gearbeitet habe, gestreikt +wird, sobald ich mich da auch nur umgesehen habe. Dafür kann ich doch +aber nicht. Das ist doch nicht meine Schuld, wenn es den Leuten nicht +mehr gefällt und sie es besser haben wollen. Ich sage nie etwas. Ich +bin immer ganz ruhig und lasse immer die andern reden. Aber weiß +der Kuckuck, überall, wohin ich komme, behaupten die Leute, ich sei +ein Wobbly, und ich versichere Sie, Mr. Pratt, das ist –“ +</p> + +<p> +„– die reine und unverfälschte Wahrheit“, beendete Mr. Pratt meinen +Satz, den ich ganz anders zu beenden gedachte. +</p> + +<p> +Aber so geht das immer, wenn einem die Leute die Worte aus dem +Munde nehmen und dann gar noch herumdrehen. Da braucht man sich +wahrhaftig nicht zu verwundern, wenn sich die Menschen falsche +Meinungen bilden. Sie sollen einen andern auch einmal reden lassen. +Aber stets und immer müssen sie sich in die Ansichten, die andern +Leuten gehören, hineinmischen. Kein Wunder, daß dann lauter Unsinn +herauskommt. +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> + (mehrfache Fälle)<br> +... Da kam der <span class="underline">Chink</span> mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. ...<br> +... Da kam der <a href="#corr-0"><span class="underline">Chinc</span></a> mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. ...<br> +</li> + +<li> +... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <span class="underline">Gale</span> ein. „Nun ist der ...<br> +... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <a href="#corr-11"><span class="underline">Shine</span></a> ein. „Nun ist der ...<br> +</li> + +<li> +... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <span class="underline">algeria</span>, ...<br> +... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <a href="#corr-19"><span class="underline">alegria</span></a>, ...<br> +</li> + +<li> +... und der Schaffner steckt einem <span class="underline">eine</span> kleines Kärtchen in das Hutband, ...<br> +... und der Schaffner steckt einem <a href="#corr-25"><span class="underline">ein</span></a> kleines Kärtchen in das Hutband, ...<br> +</li> + +<li> +... Stämme ab, schälten Bast und bauten <span class="underline">eine</span> kleines leichtes Floß. Dann ...<br> +... Stämme ab, schälten Bast und bauten <a href="#corr-26"><span class="underline">ein</span></a> kleines leichtes Floß. Dann ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76111-h/images/cover.jpg b/76111-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..9f3f78d --- /dev/null +++ b/76111-h/images/cover.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_a.jpg b/76111-h/images/drop_a.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..5988e42 --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_a.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_d.jpg b/76111-h/images/drop_d.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..3c59a90 --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_d.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_e.jpg b/76111-h/images/drop_e.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..2fb3596 --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_e.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_i.jpg b/76111-h/images/drop_i.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..33bc742 --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_i.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_m.jpg b/76111-h/images/drop_m.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..0a9be30 --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_m.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_n.jpg b/76111-h/images/drop_n.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..75e1c0f --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_n.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_s.jpg b/76111-h/images/drop_s.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..402a3fd --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_s.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_u.jpg b/76111-h/images/drop_u.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..964f3bb --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_u.jpg diff --git a/76111-h/images/drop_w.jpg b/76111-h/images/drop_w.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..c14472d --- /dev/null +++ b/76111-h/images/drop_w.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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