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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***
+
+
+ BUCHMEISTER-VERLAG
+ GMBH, BERLIN, LEIPZIG
+ 1926
+
+
+
+
+ DER WOBBLY
+
+
+ VON
+ B. TRAVEN
+
+
+ ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H., BERLIN
+ BUCHBINDERARBEITEN DER FIRMA KREMPLER & CO., LEIPZIG / NACHDRUCK
+ VERBOTEN / ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN ANDRE
+ SPRACHEN SOWIE DAS RECHT DER VERFILMUNG VORBEHALTEN
+
+ COPYRIGHT, 1926, BY B. TRAVEN, TAMAULIPAS (MEXIKO)
+
+
+
+
+ ERSTES BUCH.
+ DIE BAUMWOLLPFLÜCKER
+
+
+ GESANG
+ DER BAUMWOLLPFLÜCKER
+ IN MEXIKO
+
+ Es trägt der König meine Gabe,
+ Der Millionär, der Präsident;
+ Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe
+ In meiner Tasche keinen Cent.
+ Trab, trab, aufs Feld!
+ Gleich geht die Sonne auf.
+ Häng um den Sack,
+ Zieh fest den Gurt!
+ Hörst du die Wage kreischen?
+
+ Nur schwarze Bohnen sind mein Essen,
+ Statt Fleisch ist roter Pfeffer drin;
+ Mein Hemde hat der Busch gefressen,
+ Seitdem ich Baumwollpflücker bin.
+ Trab, trab, aufs Feld!
+ Gleich geht die Sonne auf.
+ Häng um den Sack,
+ Zieh fest den Gurt!
+ Hörst du die Wage brüllen?
+
+ Die Baumwoll’ stehet hoch im Preise,
+ Ich habe keinen ganzen Schuh;
+ Die Hose hängt mir fetzenweise
+ Am Ursch, und ist auch vorn nicht zu.
+ Trab, trab, aufs Feld!
+ Gleich geht die Sonne auf.
+ Häng um den Sack,
+ Zieh fest den Gurt!
+ Hörst du die Wage wimmern?
+
+ Und einen Hut hab ich, ’nen alten,
+ Kein Hälmchen Stroh ist heil daran;
+ Doch diesen Hut muß ich behalten,
+ Weil ich ja sonst nicht pflücken kann.
+ Trab, trab, aufs Feld!
+ Gleich geht die Sonne auf.
+ Häng um den Sack,
+ Zieh fest den Gurt!
+ Siehst du die Wage zittern?
+
+ Ich bin verlaust, ein Vagabund,
+ Und das ist gut, das muß so sein;
+ Denn wär ich nicht so ’n armer Hund,
+ Käm keine Baumwoll’ ’rein.
+ Im Schritt, im Schritt!
+ Es geht die Sonne auf.
+ Füll in den Sack
+ Die Ernte dein!
+ Die Wage schlag in Scherben!
+
+
+ 1
+
+Ich stand auf der Station und sah mich um, wen von den wenigen
+Eingeborenen, die dort herumlungerten oder auf dem nackten Erdboden
+hockten, ich hätte nach dem Wege fragen können.
+
+Da kam ein Mann auf mich zu, den ich schon im Zuge gesehen hatte. Braun
+verbrannt im Gesicht und am Körper. Vierzehn Tage nicht rasiert. Einen
+alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopfe. Einen roten Baumwollfetzen,
+der offenbar einmal ein richtiges Hemd gewesen war, am Leibe. Eine, an
+fünfzig Stellen durchlöcherte gelbe Leinenhose an den Beinen und an den
+Füßen die landesüblichen Sandalen.
+
+Er stellte sich vor mich hin und sah mich an. Sicher wußte er nicht, in
+welche Form und Reihenfolge er die Worte bringen sollte für den Satz,
+den er mir sagen wollte.
+
+„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich endlich, als es mir zu lange
+dauerte.
+
+„Buenos dias, Senjor!“ begann er. Dann gluckste er ein paarmal und kam
+endlich heraus: „Könnten Sie mir vielleicht sagen, auf welchem Wege ich
+nach Ixtilxochitchuatepec zu gehen habe?“
+
+„Was wollen Sie denn da?“ platzte ich heraus.
+
+Die Unhöflichkeit, ihn nach seinen persönlichen Angelegenheiten zu
+fragen in einem Lande, wo es taktlos, beinahe beleidigend ist, jemand
+nach Namen, Beruf, Woher und Wohin auszuforschen, kam mir gleichzeitig
+zum Bewußtsein. Deshalb fügte ich rasch hinzu:
+
+„Dort will ich nämlich auch hin.“
+
+„Dann sind Sie wohl Mr. Shine?“ fragte er.
+
+„Nein,“ sagte ich, „der bin ich nicht, aber ich will zu Mr. Shine,
+Baumwolle pflücken.“
+
+„Ich will auch Baumwolle pflücken bei Mr. Shine“, erklärte er nun und
+heiterte auf; zweifellos weil er einen Weggenossen gefunden hatte.
+
+In diesem Augenblick kam ein langer und stark gebauter Neger auf uns zu
+und sagte: „Senjores, wissen Sie den Weg zu Mr. Shine?“
+
+„Cotton picking?“ fragte ich.
+
+„Yes, feller. Ich habe seine Adresse bekommen von einem andern schwarzen
+Burschen in Queretaro.“
+
+So weit waren wir, als ein kleiner Chinese auf uns zugetrippelt kam. Er
+lachte uns breit an und sagte: „Guten Molgen, Senjoles, Gentlemen! Ich
+will dolt hin und möchte Sie flagen, wo ist der Weg?“
+
+Umständlich brachte er ein Notizblättchen heraus, las und sagte dann:
+„Mr. Shine in Ixtilxo...“
+
+„Stopp!“ unterbrach ich ihn laut lachend. „Wir wissen ja schon, wohin
+Sie wollen, verrenken Sie sich nur nicht die Zunge. Wir wollen auch dort
+hin.“
+
+„Auch cotton pickin’ dolt?“ fragte der Chinc.
+
+„Ja,“ antwortete ich, „auch. Sechs Centavos für das Kilo.“
+
+Durch diese meine Äußerung war auch mit dem Chinc das kameradschaftliche
+Band hergestellt. Die proletarische Klasse bildete sich, und wir hätten
+gleich mit dem Aufklären und dem Organisieren anfangen können.
+
+Auf jeden Fall fühlten wir uns alle vier so wohl wie Brüder, die nach
+langer Trennung sich plötzlich unerwartet an irgendeinem fremden fernen
+Punkt der Erde getroffen haben.
+
+Ich könnte nun noch erzählen, in welcher Form ein zweiter Neger, nur
+halb so lang wie sein Rassenvetter, aber ebenso pechschwarz wie jener,
+auf uns zuschlenderte, und mit welcher Sorglosigkeit und mit welchem
+Reichtum an Zeit ein schokoladebrauner Indianer uns ansteuerte, beide
+mit dem gleichen Ziel der Reise: Mr. Shine in Ixtilxochitchuatepec,
+Baumwolle pflücken für sechs Centavos das Kilo.
+
+Keiner von uns wußte, wo Ixtil... lag.
+
+Die Station war inzwischen so leer geworden, lag so einsam und verträumt
+in der tropischen Glut, wie eben nur eine Station in Zentralamerika zehn
+Minuten nach Abfahrt des Zuges daliegen kann.
+
+Den Postsack, fünfmal mehr Quadratzoll Leinen als Quadratzoll Inhalt,
+selbst wenn man alle Briefe und Umschläge auseinanderfaltete, hatte
+irgendein jemand, den kein vernünftiger Mensch für einen Postbeamten
+gehalten hätte, mitgenommen.
+
+Das Frachtgut: eine Kiste Büchsenmilch – in einem Erdstrich, wo das
+ganze Jahr hindurch das Gras grünt und ein ganzer Erdteil mit Milch
+versorgt werden könnte –, zwei Kannen Gasolin, fünf Rollen Stacheldraht,
+ein Sack Zucker und zwei Kisten Bonbons lagen herrenlos auf dem
+glühenden Bahnsteig.
+
+Die Bretterbude, wo die Fahrkarten verkauft und das Gepäck abgewogen
+wurde, war mit einem Vorhängeschloß abgeschlossen. Der Mann, der alle
+diese Amtshandlungen vorzunehmen hatte, zu denen auf einer europäischen
+Bahnstation wenigstens zwölf gutgedrillte Leute notwendig sind, hatte
+die Station schon verlassen, als der letzte Wagen des Zuges noch auf dem
+Bahnsteig war.
+
+Selbst die alte kleine Indianerin, die zu jedem Zuge erschien mit zwei
+Bierflaschen voll kaltem Kaffee und in Zeitungspapier eingewickelten
+Maiskuchen, was sie alles in einem Schilfkorbe trug, schlich bereits
+durch das mannshohe Gras in ziemlicher Entfernung heimwärts. Sie hielt
+stets am längsten auf dem Bahnsteige aus. Obgleich sie nie etwas
+verkaufte, kam sie doch jeden Tag zum Zuge. Wahrscheinlich war es vier
+Wochen lang immer derselbe Kaffee, den sie zur Bahn brachte. Und das
+wußten offenbar auch die Reisenden. Andernfalls hätten sie in der Hitze
+wohl wenigstens hin und wieder einmal der Alten etwas zu verdienen
+gegeben. Aber das Eiswasser, das in den Zügen kostenlos gegeben wurde,
+war ein zu starker Konkurrent, gegen den ein so kleines Kaffeegeschäft
+nicht aufkommen konnte.
+
+Meine fünf proletarischen Klassengenossen hatten sich gemütlich auf den
+Erdboden neben der Bretterbude gesetzt. In den Schatten.
+
+Freilich, da jetzt die Sonne senkrecht über uns stand wie mit dem Lot
+gerichtet, gehörte schon eine langausprobierte Übung dazu,
+herauszufinden, wo eigentlich der Schatten war.
+
+Zeit war ihnen ein ganz und gar unbekannter Begriff; und weil sie
+wußten, daß ich ja auch dort hin wollte, wo sie hin wollten, überließen
+sie es mir, den Weg auszukundschaften. Sie würden gehen, wann ich gehe,
+nicht früher; und sie würden mir folgen, und wenn ich sie bis nach Peru
+führte, immer in der Gewißheit lebend, daß ich ja zum gleichen Ort müsse
+wie sie.
+
+
+ 2
+
+Wenn ich nur wüßte, wo Ixtil... zu finden sei. In der Nähe der Station
+war kein Haus zu sehen. Die Stadt, zu der die Station gehörte, mußte
+irgendwo im Busch versteckt liegen. Ich machte nun den Vorschlag, daß
+wir erst einmal in diese Stadt gingen, wo sicher jemand zu finden sein
+würde, der den Weg wisse.
+
+Nach einer Stunde kamen wir in die Stadt. Zwei Häuser nur waren aus
+Brettern. In dem einen wohnte der Stationsvorsteher. Ich ging hinein und
+fragte ihn, wo Ixtil... liegt. Er wußte es nicht und erklärte mir
+höflich, daß er den Namen nie gehört habe.
+
+Fünfhundert Meter von diesem Holzhause entfernt war das andere „moderne“
+Brettergebäude. Es war der Kaufladen. Er war gleichzeitig Postamt,
+Billardsalon, Bierwirtschaft, Schnapsausschank und Agentur für alle
+möglichen Dinge und alle möglichen Unternehmungen. Ich fragte den
+Inhaber, aber er kannte den Ort auch nicht und sagte mir, innerhalb
+fünfzig Kilometer im Umkreis sei er sicher nicht, denn da kenne er jeden
+Platz und jeden Farmer.
+
+Da kam einer von den Billardspielern, die ebenso zerlumpt aussahen wie
+wir, an den Ladentisch, setzte sich darauf, drehte sich eine Zigarette,
+wobei er den Tabak in ein Maisblatt wickelte, und als er sie angezündet
+hatte, sagte er:
+
+„Den Ort kenn ich nicht. Aber die einzigen Baumwollfelder, die hier in
+dem ganzen Staate überhaupt sind, liegen in jener Richtung.“
+
+Dabei streckte er den Arm ziemlich unbestimmt nach jener Gegend hinaus,
+die er meinte.
+
+„Von dort her“, fügte er hinzu, „ist vor drei Jahren einmal ziemlich
+viel Baumwolle hier verladen worden. Die Farmer kamen mit Autos, also
+wird wohl noch etwas Weg übriggeblieben sein. Ob einer von den Farmern
+Mr. Shine hieß, weiß ich freilich nicht, ich habe nicht nach den Namen
+gefragt, ich habe nur beim Verladen mitgearbeitet.“
+
+„Wie weit kann es denn sein?“ fragte ich.
+
+„Wenigstens achtzig Kilometer von hier, vielleicht neunzig. So genau
+weiß ich es nicht. Die kamen mittags an und sind sicher frühmorgens
+abgefahren.“
+
+„Dann müssen wir also in jene Richtung gehen, wenn in einer andern
+Richtung keine Baumwolle gebaut wird.“
+
+„Ich glaube sicher,“ sagte er dann, „daß einer von den Farmern Mr. Shine
+heißen kann, alle sind Gringos.“
+
+„Gringo“ ist in Lateinamerika der Spottname für Amerikaner. Er hat
+ungefähr dieselbe mißachtende Bedeutung wie „Boche“ in Frankreich für
+Deutsche. Aber die Amerikaner, die viel zuviel unzerstörbaren Humor
+besitzen, um sich so lächerlich leicht beleidigt zu fühlen und dadurch
+das Leben schwer zu machen, haben diesem Spottnamen die ganze Schärfe
+genommen dadurch, daß sie, wenn in Lateinamerika gefragt, was für
+Landsleute sie seien, sie sich selbst „Gringo“ nennen. Und sie sagen das
+mit einem so heiteren Lächeln, als ob es der schönste Witz wäre.
+
+Die übrigen Gebäude der Stadt, etwa zehn oder zwölf, waren die üblichen
+Indianerhütten. Sechs rohe Stämme senkrecht auf den Erdboden gestellt
+und ein Dach aus trocknem Gras darüber. Die besseren hatten Wände aus
+dünnen Stämmchen, aber nicht dicht aneinandergefügt. Keine Türen, keine
+Fenster. Alles, was in der Hütte vor sich ging, konnte man von außen
+sehen. Die einfacheren Hütten, wo ärmere oder bequemere Mexikaner
+wohnten, hatten nicht einmal diese angedeuteten Wände, sondern oben um
+das Dach herum hingen einige große Palmblätter, um die Strahlen der
+Sonne, wenn sie in den frühen Vormittagsstunden und am späten Nachmittag
+schräger einfielen, abzuschatten.
+
+Das Vieh und das Hühnervolk hatten keine Ställe. Die Schweine mußten
+sich draußen im Busch irgendwo und irgendwie das Futter zusammensuchen.
+Die Hühner saßen nachts in dem Baum, der der Hütte am nächsten stand.
+Eine alte Kiste oder ein durchlöcherter Schilfkorb hing an einem Ast, wo
+die Hühner brav ihre Eier hineinlegten.
+
+Rund um die Hütten standen Bananenstauden, die, ohne jemals gepflegt zu
+werden, ihre Früchte in reichen Mengen spendeten. Die kleinen Felder, wo
+nur gesäet und geerntet wird, sonst kaum etwas getan wird, lieferten
+Mais und Bohnen mehr als die Bewohner aufbrauchen konnten.
+
+In einer dieser Hütten nach dem Wege zu fragen, war zwecklos. Wenn eine
+Auskunft überhaupt zu erhalten war, so war sie sicher falsch. Nicht
+falsch gegeben mit der Absicht, uns irrezuführen, aber aus purer
+Höflichkeit, irgendeine beliebige Auskunft zu geben, um nicht „nein“
+sagen zu müssen.
+
+
+ 3
+
+So wanderten wir denn frischweg los in jener Richtung, die uns im
+Postamt von dem Billardspieler genannt worden war, und die ich für die
+einzige glaubwürdige hielt.
+
+„Achtzig Kilometer“ war uns gesagt worden. Also werden es wohl
+hundertzwanzig oder hundertfünfzig Kilometer sein.
+
+Wir waren unser sechs.
+
+Da war der Mexikaner Antonio, spanischer Herkunft, der mich zuerst
+angesprochen hatte.
+
+Dann kam der Mexikaner Gonzalo, indianischer Abstammung. Er war nicht
+ganz so zerlumpt wie Antonio und hatte ein Bündelchen, eingewickelt in
+eine alte Schilfmatte, und eine schöne, nach mexikanischer Art
+farbenfreudig gemusterte Decke, die er über der Schulter trug.
+
+Der Chinese Sam Woe war der eleganteste Bursche unter allen. Der
+einzige, der ein heiles und frisch gewaschenes Hemd trug, heile Hosen
+hatte, gute Straßenstiefel, seidene Strümpfe und einen runden
+städtischen Strohhut. Er hatte zwei Bündel, ziemlich reichlich gepackt.
+Sie schienen gar nicht so leicht zu sein.
+
+Er hatte immer die praktischsten Ideen und Ratschläge, lächelte immer,
+konnte das „R“ nicht aussprechen und war scheinbar immer guten Mutes. Es
+wurde mit der Zeit unser größter Kummer, daß wir ihn mit nichts, was
+immer wir auch taten, wütend machen konnten. Er hatte in einem Ölfeld
+als Koch gearbeitet und gut verdient. Sein Geld hatte er vorsichtig auf
+einer chinesischen Bank in Guanajuato hinterlegt, was er uns gleich
+erzählte, nur damit wir nicht etwa denken sollten, er trüge es bei sich
+und könnte dafür geopfert werden.
+
+Baumwollepflücken war ja nicht gerade seine große Leidenschaft – meine
+noch viel weniger –, aber weil es nicht so sehr außerhalb seines Weges
+lag, wollte er die sechs bis sieben Wochen Verdienst noch mitnehmen. Er
+hoffte dann zum Herbst ein kleines Restaurant – „comida corrida 50“ – zu
+eröffnen. Er war der einzige unter uns, der wohldurchdachte Pläne für
+die Zukunft hatte.
+
+Sobald wir an den Busch gekommen waren, schnitt er sich ein dünnes
+Stämmchen, hing über jedes der beiden Enden eines seiner Bündel und
+legte sich das Stämmchen über die Schulter. Während er bisher mit uns im
+gleichen Schritt gegangen war, begann er nun mit kurzen, raschen
+Schrittchen zu trippeln. In diesem Trippelschritt hielt er den ganzen
+Marsch durch, ohne je langsamer oder schneller zu gehen und ohne jemals
+zu ermüden. Wenn wir uns zur Rast niedersetzten oder niederlegten, tat
+er es auch, war aber jedesmal erstaunt, daß wir „schon wieder“ ausruhen
+mußten. Wir schimpften ihn dann aus, daß wir richtige Christenmenschen
+seien, während er als verdammter Chinc von einem gelben, fratzenhaften
+Drachenungeheuer ausgebrütet worden wäre, und daß darin die
+übermenschliche Ausdauer seiner stinkigen und uns widerlichen Rasse zu
+suchen sei. Er erklärte darauf heiter lächelnd, daß er nichts dafür
+könne, und daß wir alle von demselben Gott geschaffen seien, aber daß
+dieser Gott gelb sei und nicht weiß. Da wir keine Missionare waren und
+auf dem Gebiete der Bekehrung auch keine Lorbeeren ernten wollten,
+ließen wir ihn in seinem finstern Unglauben.
+
+Der hünenhafte Neger, Charley, paßte mit seinen Lumpen und seinem in
+fettigem und zerrissenem Papier verschnürten Bündel, das unzählige Male
+auf dem Marsche aufging, viel besser in unsre Gesellschaft als der
+elegante Chinc. Charley behauptete, aus Florida zu sein. Aber da er
+weder Englisch geläufig sprechen noch verstehen konnte, auch den
+amerikanischen Niggerdialekt sprach, konnte er mich von seiner Herkunft
+nicht überzeugen. Vielleicht war er von Honduras oder von St. Domingo.
+Aber er sprach auch nur sehr unbeholfen ein notdürftiges Spanisch. Ich
+habe nie erfahren können, wo er eigentlich hingehörte. Nach meiner
+Meinung war er entweder aus Brasilien heraufgekommen oder er hatte sich
+von Afrika herübergeschmuggelt. Er wollte sicher nach den States, und
+für ihn als Nigger mit etwas Englisch war es leichter, sich über die
+Grenze nach den States zu schmuggeln, als für einen Weißen, der gut
+Englisch sprechen konnte. Er war der einzige, der offen erklärte, daß er
+Baumwollepflücken als die schönste und einträglichste Arbeit betrachte.
+
+Dann war noch der kleine Nigger da, Abraham aus New-Orleans. Er hatte
+ein schwarzes Hemd an. Weil nun seine Hautfarbe ebenso schwarz war wie
+das Hemd, konnte man nicht so recht erkennen, wo die letzten Überreste
+des Hemdes waren, und wo die Haut war, die bedeckt werden sollte. Er als
+einziger hatte eine Mütze. Und zwar eine Mütze, wie sie von den Heizern
+und Maschinenschmierern auf den amerikanischen Schiffen getragen wird.
+Dann trug er eine weiß und rot gestreifte Leinenhose, Lackhalbschuhe und
+weiße Baumwollstrümpfe.
+
+Er hatte kein Bündel, sondern trug einen Kaffeekessel und seine
+Bratpfanne an einem Bindfaden über der Schulter und in einem Säckchen
+seinen Bedarf an Lebensmitteln.
+
+Abraham war der echte, dummschlaue, gerissene, freche und immer lustige
+amerikanische Nigger der Südstaaten. Er hatte eine Mundharmonika, mit
+der er uns das blöde „Yes, we have no bananes“ so lange vorspielte, bis
+wir ihn am zweiten Tage weidlich verprügeln mußten, um damit vorläufig
+nur zu erreichen, daß er es wenigstens nur sang oder pfiff und dazu,
+während des Marsches, tanzte. Er stahl wie ein Rabe – der Vergleich war
+von Gonzalo, ich weiß nicht, ob er richtig ist – und log wie ein
+Dominikanermönch.
+
+Am dritten Abend des Marsches erwischten wir ihn, wie er einen dicken
+Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte, stahl. Wir
+nahmen ihm den Raub wieder ab, bevor er ihn in der Pfanne hatte, und wir
+erklärten ihm ganz ernsthaft, daß, wenn wir ihn noch einmal beim Stehlen
+ertappten, wir Buschrecht an ihm ausüben würden. Wir würden eine
+Gerichtssitzung abhalten und ihn dann, nach gefälltem Urteil, mit der
+Schnur, die sein Couleurbruder Charley um sein Bündel geschnürt habe, am
+nächsten besten Mahagonibaum aufhängen, mit einem Zettel auf der Brust,
+wofür er gehängt sei.
+
+Da sagte er ganz frech, wir sollten ja nicht versuchen, ihn auch nur
+anzutasten, er sei amerikanischer Bürger, „native born“, und wenn wir
+ihm nur das allergeringste Leid täten, so würde er das an die Regierung
+nach Washington berichten, und die werde dann mit einem Kanonenboot und
+dem Sternenbanner kommen und ihn blutig rächen; er sei ein freier Bürger
+„of the States“, und das könne er durch „c’tificts“ beweisen, und als
+solcher habe er das Recht, vor ein ordentliches Gericht gestellt zu
+werden. Als wir ihm nun erklärten, daß wir ihm keine Zeit lassen und
+keine Gelegenheit geben würden, nach Washington einen Bericht zu
+schicken, und daß wir auch nicht glaubten, daß ein amerikanisches
+Kanonenboot mit dem Sternenbanner in den Busch fahren würde, sagte er:
+„Well, Gentlemen, Sirs, berühren Sie mich nur mit der Fingerspitze, dann
+werden Sie sofort erleben, was geschieht.“
+
+Wir erwischten ihn auch richtig einige Tage später, als er dem Chinc
+eine Büchse Milch stahl und frech erklärte, es sei seine eigne, er habe
+sie in Potosi im American Store gekauft. Er wurde daraufhin so
+windelweich gedroschen, daß er keinen Finger krumm machen konnte, um
+nach Washington zu schreiben. Bei uns hat er dann nicht mehr gestohlen,
+und was er bei umliegenden Farmern zusammenstahl, ging uns nichts an.
+
+Dann war ich noch, Gerard Gale, über den ich weniger zu berichten weiß,
+da ich mich in der Kleidung von den übrigen nicht unterschied und zum
+Baumwollepflücken, welche zeitraubende und schlechtbezahlte Arbeit ich
+kannte, auch nur ging, weil eben keine andre Beschäftigung zu haben war
+und ich bitter notwendig ein Hemd, ein Paar Schuhe und eine Hose
+brauchte. Vom Althändler! Denn vom Neuhändler sie zu kaufen, dazu hätte
+selbst die Arbeit von vierzehn Wochen auf einer Baumwollfarm nicht
+gelangt. Ich war der einzige, der keine Strümpfe trug, weil ich keine
+hatte.
+
+Eine Jacke besaßen nur der Chinc und Antonio. Warum Antonio den Fetzen
+eigentlich „seine Jacke“ nannte, ist mir nie klar geworden. Sie mag
+vielleicht einmal, in weit zurückliegenden Zeiten, lange vor der
+Entdeckung Amerikas, die Ähnlichkeit mit einer Jacke gehabt haben. Das
+will ich nicht bestreiten. Aber heute sie Jacke zu nennen, war nicht
+Übertreibung, sondern sündiger Hochmut, für den Antonio dereinst wird
+büßen müssen.
+
+
+ 4
+
+Wir wanderten lustig darauf los.
+
+Über uns die glühende Tropensonne, zu beiden Seiten neben uns der
+undurchdringliche und undurchsichtbare Busch. Der ewig jungfräuliche
+tropische Busch mit seiner unbeschreiblichen Mystik, mit seinen
+Geheimnissen an Tieren der phantastischsten Art, mit seinen traumhaften
+Formen und Farben der Pflanzen, mit seinen unerforschten Schätzen an
+wertvollen Steinen und kostbaren Metallen.
+
+Aber wir waren keine Forscher, und wir waren auch keine Gold- oder
+Diamantengräber. Wir waren Arbeiter und hatten mehr Wert auf den sichern
+Arbeitslohn zu legen als auf den unsichern Millionengewinn, der
+vielleicht links oder rechts von uns im Busch verborgen lag und auf den
+Entdecker wartete.
+
+Die Sonne stand schon sehr tief, und es mußte ungefähr fünf Uhr sein.
+Wir sahen uns deshalb nach einem Lagerplatz um.
+
+Bald fanden wir eine Stelle, wo seitlich in den Busch hinein hohes Gras
+stand. Wir rissen so viel von dem Gras aus, wie wir Platz zum Lagern
+brauchten. Dann zündeten wir ein Feuer an und brannten den Rest des
+Grases nieder, wodurch wir uns Ruhe vor Insekten und kriechendem Getier
+für die Nacht verschafften. Eine frischgebrannte Grasfläche ist der
+beste Schutz, den man haben kann, wenn man nicht mit den
+Ausrüstungsstücken eines Tropenreisenden wandert.
+
+Ein Campfeuer hatten wir, aber es gab nichts zum Kochen, denn wir hatten
+kein Wasser.
+
+Da kam der Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. Wir
+wußten nichts davon, daß er einen so wertvollen Stoff mit sich führte.
+Er machte den Kaffee heiß und bereitwillig bot er uns allen zu trinken
+an. Aber was ist ein Liter Kaffee für sechs Mann, die, ohne einen
+Schluck Wasser zu haben, einen halben Tag in der Tropensonne gewandert
+sind, vor morgen früh um sieben oder acht Uhr ganz bestimmt auch nichts
+Trinkbares haben werden und vielleicht die nächsten sechsunddreißig
+Stunden genau so wenig Wasser finden werden, wie sie heute nachmittag
+gefunden haben. Der Busch ist das ganze Jahr hindurch grün, aber Wasser
+findet man dort nur in der Regenzeit an günstigen Stellen, wo sich
+Tümpel bilden können.
+
+Nur wer selbst im tropischen Busch gewandert ist, weiß, was für ein
+Opfer es war, das der Chinc uns bot. Aber keiner sagte „danke!“; jeder
+betrachtete es als ganz selbstverständlich, daß der Kaffee in Teile
+ging. Wahrscheinlich hätten wir es genau so selbstverständlich gefunden,
+wenn der Chinc den Kaffee allein getrunken hätte. Nach einem halben Tag
+Wanderung in wasserlosem Landstrich raubt man noch nicht für einen
+Becher Kaffee; aber am dritten Tage beginnt man ernsthaft Mord zu sinnen
+im Busch für eine kleine rostige Konservenbüchse voll stinkender
+Flüssigkeit, die man Wasser nennt, obgleich sie keine andre Ähnlichkeit
+mit Wasser hat, als daß sie eben Flüssigkeit ist.
+
+Antonio und ich hatten etwas hartes Brot zu knabbern.
+
+Gonzalo hatte vier Mangos und der große Nigger einige Bananen. Der
+kleine Nigger aß irgendwas ganz verstohlen. Was es war, weiß ich nicht.
+Der Chinc hatte ein Stück Zelttuch, daß er über seinen Schlafplatz
+spannte. Dann wickelte er sich in ein großes Handtuch ein, auch den
+Kopf, und begann zu schlafen.
+
+Gonzalo hatte seine schöne Decke, in die er sich einrollte, so daß er
+wie ein Baumstamm aussah.
+
+Ich wickelte mir den Kopf in einen zerlumpten Lappen ein, den ich stolz
+„mein Handtuch“ nannte und schlief los.
+
+Wie sich die übrigen einrichteten, weiß ich nicht, weil die noch lange
+um das Feuer herumsaßen und rauchten und schwatzten.
+
+Vor Sonnenaufgang waren wir schon wieder auf dem Marsche. Abzukochen gab
+es nichts, und waschen brauchte man sich auch nicht. Denn womit hätte
+man es tun sollen?
+
+Der Weg durch den Busch war weite Strecken hindurch schon wieder
+zugewachsen. Der Nachwuchs der jungen Bäume reichte uns oft bis über die
+Schultern und der Grund war mit Kaktusstauden so dicht bewachsen, daß
+diese stachligen Pflanzen zuweilen beinahe die ganze Breite des Weges
+einnahmen. Meine nackten Unterschenkel waren bald so zerschnitten, als
+wenn sie durch eine Hackmaschine gezogen worden wären. Gegen mittag
+kamen wir an eine Stelle, wo sich rechts des Weges ein Stacheldrahtzaun
+hinzog, der uns die Gewißheit gab, daß hier eine Farm liegen müsse.
+
+Nachdem wir etwa zwei Stunden lang, immer den Stacheldrahtzaun zur
+rechten Hand, gewandert waren, kamen wir an eine weite offene Stelle im
+Busch, die mit hohem Gras bewachsen war. Als wir den Platz absuchten,
+fanden wir auch eine Zisterne. Aber sie war leer. Einige morsche Pfähle,
+alte Konservenbüchsen, verrostetes Wellblech und ähnliche Überbleibsel
+einer menschlichen Behausung, offenbarten uns eine verlassene Farm.
+
+Über eine solche Enttäuschung muß man rasch hinweg kommen. Farmen werden
+hier gegründet; zehn, auch zwanzig Jahre lang bewirtschaftet und dann
+aus irgendeinem Grunde plötzlich aufgegeben. Fünf Jahre später, oft
+schon früher, ist kein Zeichen mehr davon vorhanden, daß hier jemals
+Menschen gelebt und gearbeitet haben. Es erweckt den Anschein, als seien
+es hundert Jahre her, seit jemand hier gelebt hat. Der tropische Busch
+begräbt rascher als Menschen bauen können, er kennt keine Erinnerung, er
+kennt nur Gegenwart und Leben.
+
+Aber um vier Uhr kamen wir doch an eine lebende Farm. Hier wohnte eine
+amerikanische Familie.
+
+Ich wurde im Hause gut bewirtet und fand auch ein Lager innerhalb des
+Hauses. Die übrigen als Nichtweiße wurden auf der Veranda beköstigt und
+durften in einem Schuppen übernachten. Sie bekamen alle reichlich zu
+essen, aber ich war der eigentliche Gast. Mir wurde aufgetischt, wie
+eben nur in einem so menschenarmen Lande einem Weißen von weißen
+Gastgebern aufgetischt werden kann. Drei verschiedene Fleischgänge, fünf
+verschiedene Beigerichte, Kaffee, Pudding und abends heißen Kuchen.
+
+Am nächsten Morgen bekamen wir alle ein reichliches Frühstück; ich
+wieder am Tische des Farmers.
+
+Der Farmer hatte genügend leere Flaschen, und so bekam jeder einzelne
+von uns eine Literflasche kalten Tee mit auf den Weg.
+
+Er kannte Mr. Shine und sagte uns, daß wir noch etwa sechzig Kilometer
+zu marschieren hätten. Kein Wasser am ganzen Weg; die Straße an
+verschiedenen Stellen kaum noch erkennbar, weil sie seit drei Jahren
+nicht mehr benutzt worden sei.
+
+Um neun Uhr hatte der kleine Nigger Abraham seinen Tee schon
+ausgetrunken und die Flasche fortgeworfen. Es war ihm zu lästig, sie zu
+tragen. Wir erklärten ihm, daß er unter diesen Umständen von uns nichts
+zu erwarten habe und falls er versuchen sollte, auch nur einen Schluck
+zu stehlen, würden wir ihn braun und blau schlagen.
+
+An diesem Abend im Lager war es, wo er zwar keinen Tee stahl, aber jenen
+Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte. Da sich unsre
+Drohung nur auf Tee bezog, ließen wir ihn laufen mit der Warnung, daß
+von nun an jeder Raub in unsre Drohung einbegriffen sei. Den folgenden
+Tag gegen mittag kamen wir bei Mr. Shine an.
+
+
+ 5
+
+Mr. Shine empfing uns mit einer gewissen Freude, weil er nicht genügend
+Leute zum Baumwollepflücken hatte.
+
+Mich nahm er persönlich ins Gebet. Er rief mich ins Haus und sagte zu
+mir: „Was! Sie wollen auch Baumwolle pflücken?“
+
+„Ja,“ sagte ich, „ich muß, ich bin vollständig ‚broke‘, das sehen Sie
+ja, ich habe nur Fetzen am Leibe. Arbeit ist in den Städten keine zu
+haben. Alles ist überschwemmt mit Arbeitslosen aus den States, wo die
+Verhältnisse augenblicklich auch nicht rosig zu sein scheinen. Und wo
+man wirklich Arbeiter braucht, nimmt man lieber Eingeborene, weil man
+denen Löhne zahlt, die man einem Weißen nicht anzubieten wagt.“
+
+„Haben Sie denn schon mal gepickt?“ fragte er.
+
+„Ja,“ antwortete ich, „in den States.“
+
+„Ha!“ lachte er, „das ist ein ander Ding. Da können Sie etwas dabei
+werden.“
+
+„Ich habe auch ganz gut dabei verdient.“
+
+„Das glaube ich Ihnen. Die zahlen viel besser. Die können’s auch. Die
+kriegen ganz andre Preise als wir. Könnten wir unsre Baumwolle nach den
+States verkaufen, dann würden wir noch bessere Löhne zahlen; aber die
+States lassen ja keine Baumwolle hinein, um die Preise hochzuhalten. Wir
+sind auf unsern eignen Markt angewiesen, und der ist immer gleich
+gepackt voll. Aber nun Sie! Ich kann Sie weder beköstigen, noch in
+meinem Hause unterbringen. Aber ich brauche jede Hand, die kommt. Ich
+will Ihnen etwas sagen; ich zahle sechs Centavos für das Kilo, Ihnen
+will ich acht zahlen, sonst kommen Sie auf keinen Fall auf das, was die
+Nigger machen. Selbstverständlich brauchen Sie das den andern nicht zu
+erzählen. Schlafen könnt ihr da drüben in dem alten Hause. Das habe ich
+gebaut und mit meiner Familie zuerst darin gewohnt, bis ich mir das neue
+hier leisten konnte. Well, das ist dann abgemacht.“
+
+Das Haus, von dem der Farmer gesprochen hatte, lag etwa fünf Minuten
+entfernt. Wir machten uns dort häuslich, so gut wir es konnten. Das
+Haus, aus Brettern leicht gebaut, hatte nur einen Raum. Jede der vier
+Wände hatte je eine Tür, die gleichzeitig als Fenster diente. Der Raum
+war vollständig leer. Wir schliefen auf dem bloßen Fußboden. Ein paar
+alte Kisten, die vor dem Hause herumlagen, im ganzen vier, benutzten wir
+als Stühle.
+
+Dicht bei dem Hause war eine Zisterne, die Regenwasser enthielt, das
+ungefähr sieben Monat alt war und von Kaulquappen wimmelte. Ich
+berechnete, daß etwa hundertzwanzig Liter Wasser in der Zisterne seien,
+mit denen wir sechs Mann sechs bis acht Wochen auskommen mußten. Der
+Farmer hatte uns schon gesagt, daß wir von ihm kein Wasser bekommen
+könnten, er wäre selbst sehr kurz mit Wasser dran und habe noch sechs
+Pferde und vier Maultiere zu tränken. Waschen konnten wir uns einmal in
+der Woche und hatten dann noch zu je drei Mann dasselbe Waschwasser zu
+gebrauchen. Es sei aber immerhin möglich, fügte er hinzu, daß es in
+dieser Jahreszeit alle vierzehn Tage wenigstens einmal zwei bis vier
+Stunden regnen könne, und wenn wir die Auffangrinnen reparierten,
+könnten wir tüchtig Wasser ansammeln. Außerdem sei ein Fluß nur etwa
+drei Stunden entfernt, wo wir baden gehen könnten, falls wir Lust dazu
+hätten.
+
+Vor dem Hause richteten wir ein Lagerfeuer ein, zu dem uns der nahe
+Busch das Holz in reicher Menge hergab.
+
+Auf die recht nebelhafte Möglichkeit hin, daß es vielleicht innerhalb
+der nächsten drei Wochen regnen könnte, wuschen wir uns zunächst einmal,
+in einer alten Gasolinbüchse. Seit drei Tagen hatten wir uns nicht
+gewaschen.
+
+Ich rasierte mich. Es mag mir noch so dreckig gehen, ein Rasiermesser,
+einen Kamm und eine Zahnbürste habe ich immer bei mir.
+
+Auch der Chinc rasierte sich.
+
+Da kam Antonio auf mich zu und bat mich um mein Rasiermesser. Er hatte
+sich seit beinahe drei Wochen nicht rasiert und sah aus wie ein
+fürchterlicher Seeräuber.
+
+„Nein, lieber Antonio,“ sagte ich, „Rasierzeug, Kamm und Zahnbürste
+verpumpe ich nicht.“
+
+Und der Chinc, mutig gemacht durch meine Weigerung, sagte lächelnd, daß
+sein schwaches Messer bei diesem starken Bart sofort stumpf würde, und
+er hier keine Gelegenheit habe, es schleifen zu lassen. Er selbst hatte
+nur dünne Stoppeln.
+
+Antonio gab sich mit diesen beiden Weigerungen zufrieden.
+
+Wir kochten unser Abendessen, ich Reis mit spanischem Pfeffer, der andre
+schwarze Bohnen mit Pfeffer, der nächste Bohnen mit getrocknetem
+Rindfleisch, ein vierter briet einige Kartoffeln mit etwas Speck. Da wir
+am nächsten Morgen schon um vier Uhr zur Arbeit gingen, bereiteten wir
+auch noch unser Brot für den nächsten Tag, das wir in unsern Pfannen
+buken.
+
+Als wir gegessen hatten, hängten wir unsre armseligen Lebensmittel an
+Bindfaden an den Querbalken im Hause auf, weil uns die Ameisen und Mäuse
+über Nacht sonst alles fortgeholt hätten, wenn wir diese Vorsorge nicht
+getroffen hätten.
+
+Etwas nach sechs Uhr ging die Sonne unter. Eine halbe Stunde später war
+rabenschwarze Nacht.
+
+Glühwürmchen, mit Lichtern, so groß wie Haselnüsse, flogen um uns her.
+Wir krochen in unser Haus, um zu schlafen.
+
+Der Chinc war der einzige, der ein Moskitonetz hatte. Wir andern wurden
+von dem Viehzeug gräßlich geplagt und schimpften und wüteten, als ob
+sich diese Gesandten einer Hölle etwas daraus machen würden. Die beiden
+Nigger, die Seite an Seite schliefen, sich vor dem Einschlafen
+entsetzlich zankten und sich handfeste Backpfeifen anboten, schienen von
+den Biestern nicht gestört zu werden.
+
+Ich entschloß mich, diese Qual für die Nacht zu erdulden, aber morgen
+für irgendeine Abhilfe zu sorgen.
+
+Noch vor Sonnenaufgang waren wir auf den Beinen. Jeder kochte sich etwas
+Kaffee, aß ein Stückchen Brot dazu, und fort ging es im halben Trab. Das
+Baumwollfeld war eine halbe Stunde entfernt.
+
+Der Farmer und seine zwei Söhne waren schon dort. Wir bekamen jeder
+einen alten Sack, den wir uns umhängten, dann wurde der Gürtel
+festgezogen, damit wir die Fetzen nicht verloren, und dann ging es an
+die Arbeit. Jeder nahm eine Reihe.
+
+Wenn die Baumwolle schön reif ist und man den Griff erst weg hat,
+bekommt man jede Frucht mit einem einzigen Griff. Da aber die Knollen,
+die ähnlich aussehen wie die Hülsen der Kastanien, nicht alle die
+gleiche Reife haben, muß man doch bei der Hälfte einige Male gut zupfen,
+ehe man die zarte Frucht aus der Hülse gerissen hat und sie in den Sack
+tun kann. Bei guter Reife, und wenn die Stauden gut stehen, kann man,
+sobald man die Übung hat, gleichzeitig mit beiden Händen an
+verschiedenen Stellen rupfen. Aber bei Mittelernte und bei schlechten
+Stauden darf man dafür auch oft beide Hände brauchen, um eine Frucht zu
+kriegen. Obendrein muß man sich auch noch unaufhörlich bücken, weil die
+Früchte nicht alle in bequemer Höhe am Strauch hängen, sondern oft bis
+dicht über dem Boden wachsen und, wenn unerwartet starker Regen kam,
+sind die Früchte auch noch in den Boden gehauen, wo man sie ’rausklauben
+muß.
+
+Je weiter es gegen mittag geht, desto höher steht die Sonne und desto
+mühseliger wird die Arbeit. Man trägt nichts weiter am Leibe als Hut,
+Hemd, Hose und Schuhe, aber der Schweiß rinnt in Strömen an einem herab.
+Sehr kleine lästige Fliegen, die einem unausgesetzt in die Ohren
+kriechen, und Moskitos machen einem das Leben recht schwer. Kommt ein
+leichter Wind auf, der die Moskitos verscheucht, geht es noch; aber bei
+völliger Windstille wird die Qual mit jeder Stunde größer. Gegen elf
+Uhr, nach beinahe siebenstündiger ununterbrochener Arbeit, kann man
+nicht mehr.
+
+Wir suchten den Schatten einiger Bäume auf, die mehr als zehn Minuten
+entfernt waren. Wir aßen unser trockenes Pfannenbrot, das, bei mir
+wenigstens, ganz verbrannt war, und legten uns dann hin, um zwei Stunden
+zu schlafen, bis die Sonne anfängt, wieder abwärts zu wandern. Wir
+bekamen furchtbaren Durst, und ich ging zum Farmer, um ihn um Wasser zu
+ersuchen.
+
+„Es tut mir leid, ich habe keins. Ich sagte Ihnen doch schon gestern,
+daß ich selber sehr kurz mit Wasser bin. Gut, heute will ich euch noch
+etwas geben, von morgen ab müßt ihr euch euer Wasser selbst mitbringen.“
+
+Er schickte einen seiner Söhne mit dem Pferde nach Hause, der dann bald
+mit einer Kanne Regenwasser zurückkam.
+
+Baumwolle ist teuer. Das lernt jeder bald, wenn er sich einen Anzug, ein
+Hemd, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe oder nur ein Taschentuch kauft.
+Aber der Baumwollpflücker, der wohl die härteste und qualvollste Arbeit
+für die Stoffe leistet, die ein König oder ein Milliardär oder ein
+einfacher Landmann trägt, hat an dem hohen Preis des Anzuges den
+allergeringsten Anteil.
+
+Für ein Kilogramm Baumwolle pflücken bekamen wir sechs Centavos, ich
+ausnahmsweise acht. Und ein Kilogramm Baumwolle ist beinahe ein kleiner
+Berg, den zu schaffen, man unter ständigem Bücken in der mitleidlosen
+Tropensonne zweihundert bis fünfhundert Knollen auszupfen muß. Dazu eine
+Nahrung, die als die allerbescheidenste angesehen werden darf, von der
+Menschen irgendwo auf Erden leben. Den einen Tag schwarze Bohnen mit
+Pfeffer, den nächsten Tag Reis mit Pfeffer, den übernächsten wieder
+Bohnen, dann wieder Reis; dazu Brot, selbstgebacken aus Weizen- oder
+Maismehl, entweder kleistrig oder zu Kohle verbrannt, Monate altes,
+abgestandenes Regenwasser, Kaffee gekocht aus selbstgebrannten
+Kaffeebohnen, auf einem Stein zerrieben, und den Kaffee gesüßt mit einem
+billigen, übelriechenden, schwarzbraunen Rohzucker in kleinen Kegeln.
+Das Salz, das man verwendet, ist Seesalz, das man sich selbst vor dem
+Gebrauch erst reinigen muß. Ein paar Kilogramm Zwiebeln in der Woche
+hinzugekauft ist bereits Delikatesse und ab und zu ein Streifen
+getrocknetes Fleisch ist schon ein Luxus, der, wenn man ihn sich zu oft
+leistet, vom Lohn nicht einmal das Reisegeld bis zur nächsten größern
+Stadt, wo man neue Arbeit finden könnte, übrigläßt. Bei sehr fleißiger
+Arbeit verdient man in einer Woche gerade so viel, daß man sich, wenn
+man keinen Centavos für Essen ausgibt, das billigste Paar Schuhe kaufen
+kann, das man im Laden vorfindet.
+
+Der Baumwollfarmer verursacht auch nicht immer die hohen Preise der
+Fertigware. Er ist oft tief verschuldet und kann in vielen Fällen die
+Pflückerlöhne nur auszahlen, wenn er auf die Ernte einen Vorschuß nimmt.
+
+
+ 6
+
+Um vier Uhr nachmittags machten wir Schluß, um noch bei Tageslicht „nach
+Hause“ zu kommen und unser Essen zu kochen.
+
+Ich quartierte aus.
+
+In der Nähe des Hauses, nur etwa zweihundert Meter entfernt, hatte ich
+eine Art Unterstand entdeckt. Welchen Zwecken er diente oder gedient
+haben mochte, wußte ich nicht. Er hatte ein Dach aus Wellblech, aber
+keine Wände, es wäre denn, daß man einige Baumstämme, die an der einen
+Seite gegen das Dach gelehnt waren, als Wand bezeichnen will.
+
+In diesem Unterstand war eine Art Tisch. Es waren vier Pfähle in die
+Erde gerammt und auf den Pfählen lagen ein paar Platten Wellblech.
+Diesen Unterstand wählte ich als Behausung und den Tisch als Bett. Der
+große Nigger wollte den Unterstand mit mir teilen. Er kam hin, sah sich
+die Sache an, und es gefiel ihm.
+
+Plötzlich rief er: „A snake! A snake!“
+
+„Wo?“ fragte ich.
+
+„Da, dicht vor Ihren Füßen.“
+
+Richtig, da wand sich eine Schlange auf dem Boden hin, eine feuerrote,
+etwa einen Meter lang.
+
+„Macht nichts,“ sagte ich, „die wird mich nicht gleich auffressen, die
+Moskitos sind schlimmer.“
+
+Der Nigger zog wieder ab.
+
+Nach einer Weile kam Gonzalo. Die rote Schlange war inzwischen
+verschwunden.
+
+Es gefiel ihm sehr, und er fragte mich, ob ich etwas dagegen habe, wenn
+er auch hier schliefe.
+
+„Nein,“ sagte ich, „schlafen Sie ruhig hier, mir ist das ganz egal.“
+
+Da starrte er auf den Boden.
+
+Ich folgte seinem Blick.
+
+Es war wieder eine Schlange. Diesmal eine schöne grüne.
+
+„Ich will doch lieber im Hause schlafen,“ sagte nun Gonzalo, „ich mag
+Schlangen nicht.“
+
+Ich mache mir nichts aus Schlangen. So leicht werden sie ja wohl kaum
+auf den Tisch kommen; und wenn sie sich wirklich hinaufringeln sollten,
+was sie zuweilen tun, so werden sie ja nicht gleich beißen, und wenn sie
+beißen sollten, so werden sie wohl nicht gleich giftig sein. Wären sie
+alle giftig und würden sie alle einen schlafenden Menschen, der ihnen
+nichts zuleide tut, beißen, wäre ich längst nicht mehr am Leben. Da
+dieser Unterstand höher lag als das Haus, keine Wände hatte, jedem
+kleinen Windzug freieren Durchgang ließ, in der Nähe auch kein
+Strauchwerk war und er weit genug von der Zisterne und dem
+ausgetrockneten Tränkepfuhl entfernt war, hatte ich hier in der Tat
+beinahe gar nicht unter den Moskitos zu leiden.
+
+Am nächsten Morgen kamen noch etwa zwölf Eingeborene zur Mitarbeit. Die
+wohnten ziemlich weit entfernt in einem Dorfe, das irgendwo im Busch
+liegen mochte. Sie kamen auf Maultieren geritten; manche hatten weder
+Sattel noch Steigbügel. Andre hatten wohl einen Holzsattel, aber keinen
+Zaum; an Stelle des Zaumes war den Tieren ein Strick um das Maul
+gebunden.
+
+Diese Leute waren an die Feldarbeit in den Tropen besser gewöhnt als
+wir, die wir, mit Ausnahme des großen Niggers alle Städter waren. Aber
+sie schafften viel weniger als wir und mußten eine viel längere
+Mittagspause machen. Jedoch das ging uns nichts an, und darüber
+nachzudenken, lohnte sich auch nicht recht.
+
+Am Samstag kriegten wir ausbezahlt. Wir ließen uns von den paar Kröten,
+die wir in so mühseliger Arbeit verdient hatten, gerade so viel geben,
+wie wir brauchten, um Lebensmittel für die nächste Woche einzukaufen.
+Den Rest ließen wir beim Farmer stehen, denn auch nur einen Nickel in
+der Tasche zu haben, ist nichts als Versuchung für andre.
+Selbstverständlich arbeiteten wir Sonntags auch. Der brachte dann knapp
+ein Kilo Speck ein, oder fünf Kilo Kartoffeln; weil wir an dem Tage
+schon um drei Uhr Schluß machten, um uns wenigstens einmal in der Woche
+waschen zu können, und um das verschwitzte Zeug, das man Tag und Nacht
+auf dem Leibe hatte, durchs Wasser zu ziehen.
+
+Der Chinc und Antonio waren in den nächsten Laden gegangen, der etwa
+dreiundeinehalbe Stunde entfernt lag, um für uns alle das einzukaufen,
+was jeder ihnen auf ein Maisblatt aufgeschrieben hatte. Die
+Hieroglyphen, die auf jenen Maisblättern standen, waren nur von den
+Einkäufern zu entziffern, denen wir mündlich die Bedeutung der
+phantastischen Zeichen ausführlich hatten erklären müssen.
+
+Den nächsten Sonntag hatten dann ich und Charley einkaufen zu gehen.
+
+An diesem Sonntag war Charley schon um zwei Uhr von der Plantage
+verschwunden. Er war mit seinem Sack Baumwolle zur Wage gegangen und
+nicht zurückgekommen.
+
+Als wir zum Hause kamen, waren Sam und Antonio schon mit den Gütern
+angelangt.
+
+„Eine elende, nichtswürdige Schlepperei“, sagte Antonio.
+
+„Ach das war nicht so schlimm!“ begütigte Sam.
+
+„Ruhig, du gelber Heidensohn, du natürlich, mit deiner
+Lastträgervergangenheit, was verstehst du von Schleppen?“ rief Antonio,
+während er sich auf eine Kiste hinsetzte, die auch noch unter ihm
+zusammenbrach und seine Laune durchaus nicht besserte.
+
+„Hören Sie, Antonio, warum haben Sie denn nicht Mr. Shine um ein Mula
+oder einen Esel gebeten?“ fragte ich.
+
+„Aber das habe ich ja getan. Er hat es abgelehnt. Er sagte zu mir und
+Sam: Wie kann ich euch denn ein Mula geben? Ich kenne euch ja gar nicht.
+Ihr habt ein paar Tage bei mir gearbeitet, Sachen habt ihr keine,
+Papiere habt ihr auch keine, und wenn ihr welche hättet, kann ich mir
+für eure Papiere, die vielleicht noch nicht einmal euch gehören, kein
+andres Mula kaufen, wenn ihr es im nächsten Ort verschachert und euch
+dann hier nicht mehr sehen laßt.“
+
+„Von seinem Standpunkt aus hat er recht“, erwiderte ich; „doch von
+unserm Standpunkt aus gesehen, ist es eine große Niedertracht. Aber was
+können wir machen?“
+
+Und gerade jetzt, wo wir so schön im Zuge waren, das Lieblingsthema
+aller Arbeiter der Erde anzuschlagen und uns den ungerechten Zustand in
+der Welt, der die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in Drohnen und
+Enterbte teilt, mit mehr Lungenkraft als Weisheit klarzumachen, kam
+Abraham an mit sechs Hennen und einem Hahn, die er an den Füßen
+zusammengebunden hatte und, ihre Köpfe nach unten hängen lassend, an
+einem Bindfaden über der Schulter trug.
+
+Er warf das Bündel auf die Erde, wo die Vögel sich vergeblich mühten,
+aufzustehen oder von den Fesseln los zu kommen.
+
+„So, fellers,“ grinste er, „jetzt könnt ihr Eier von mir haben. Ich
+lasse euch das Stück für neun Centavos, billig, weil ihr ja meine
+Arbeitskollegen seid. In der Stadt kosten die Eier zehn, sogar elf.“
+
+Wir starrten bald das Bündel Hühner, bald den grinsenden Abraham an. An
+ein solches Geschäft hatte keiner von uns gedacht, und es lag doch so
+nahe, war so einfach, verlangte absolut keine besondere Intelligenz;
+jeder von uns hätte das ebensogut machen können. Sam Woe empfand keinen
+Neid, keine Eifersucht, nur Bewunderung für den unternehmungslustigen
+Geflügelzüchter; jedoch er schämte sich, daß er sich von einem Nigger
+beim Ausdenken einer ehrlichen Nebeneinnahme hatte schlagen lassen.
+
+Vor unsern Augen, nicht einmal über Nacht, sondern über drei
+Nachmittagsstunden war aus einem Enterbten und Ausgebeuteten ein
+Produzent, ein Unternehmer geworden. Er hatte sich von seinem Lohn die
+Hühner gekauft, wir Lebensmittel. Er hatte keine Lebensmittel mitbringen
+lassen, und wir hatten uns schon vorbereitet, wie wir ihm das Stehlen,
+auf das er unter diesen Umständen angewiesen war, unmöglich machen
+wollten. Aber er hatte uns übertrumpft. Er lieferte Eier und tauschte
+dafür an Reis und Bohnen ein, was er brauchte. Trat nun der Fall ein,
+daß wir seine Produkte boykottierten, so konnte er ja den Hahn
+schlachten, vielleicht noch ein Huhn, bis er wieder Lohn bekam. Am
+nächsten Morgen hatte Abraham vier Eier. Das Geschäft konnte beginnen.
+
+Eier betrachteten wir noch als einen größeren Luxus denn Speck oder
+Fleisch. Aber jetzt, wo die Eier so verlockend nahe zur Hand waren, viel
+schneller zubereitet werden konnten als irgendeine andre Speise und uns
+dadurch eine Möglichkeit gegeben war, zum Frühstück etwas andres und
+Kräftigeres in den Magen zu bekommen als den dünnen Kaffee und ein
+schmales Stückchen verbranntes Brot, da wollten und konnten wir auf Eier
+nicht mehr verzichten. Wir sahen plötzlich ein, daß wir ohne Eier noch
+vor Beendigung der Ernte an Unterernährung zugrunde gehen würden, und
+wenn wir je wirklich die Ernte überlebten, so würden wir doch so
+entkräftet sein, daß uns niemand in Arbeit nehmen würde. Die Sklaven
+wurden immer, so erzählte uns Abraham, der es von seinem Großvater
+wußte, in gutem Ernährungszustande gehalten, wie Pferde; um den
+Ernährungszustand der freien Arbeiter kümmerte sich kein Mensch. Wenn
+sie zu schlecht ernährt waren, weil der Lohn für eine bessere Ernährung
+nicht reichte, flogen sie ’raus.
+
+Solche merkwürdigen Ansichten, die natürlich keine wissenschaftliche
+Grundlage hatten und auch ganz und gar unrichtig waren, brachte Abraham
+vor, nur um seinen Eiern einen regen und dauernden Absatz zu sichern.
+Uns leuchtete eine solche Betrachtung menschlicher Verhältnisse um so
+mehr ein, als es gerade Abraham gewesen war, der uns gestern mitten in
+jener regen Auseinandersetzung unterbrochen hatte, die uns ohne Zweifel,
+wenn auch nicht auf dem Wege über Eier, zu genau derselben
+Schlußbetrachtung der Welt geführt haben würde.
+
+Außerdem stundete uns Abraham gutmütig den Betrag für gelieferte Eier
+bis zum nächsten Lohntage. Er tat es nur aus Gutmütigkeit, und weil er
+nicht wollte, daß wir, seine lieben Arbeitskameraden, im spätern Leben,
+also nach der Ernte, wegen Unterernährung Schiffbruch erleiden sollten.
+
+Nach drei Tagen konnten wir nicht mehr verstehen, wie wir es überhaupt
+jemals fertiggebracht hatten, ohne Eier auszukommen. Es gab Eier zum
+Frühstück, es wurden Eier zum Mittagessen mitgenommen und abends gab es
+erst recht Eier, wir backten Eier sogar ins Brot, nur um die nötige
+Arbeitskraft für unser ferneres Leben zu erhalten.
+
+Abraham verstand die Geflügelzucht, das mußte man ihm lassen.
+
+Er fütterte seine Hühner reichlich mit Mais. Jeden zweiten Abend mit
+Dunkelwerden machte er sich auf den Weg mit einem Sack, um bei den
+Farmern Mais einzukaufen. Manchmal ging er schon um drei Uhr vom Felde
+heim, um seine Hühner auch gut zu versorgen. Vom Mais einkaufen kam er
+aber immer erst zurück, wenn wir schon längst schliefen.
+
+Die sechs Hühner und der eine Hahn, als ob sie unsern Bedarf schon im
+voraus kannten, taten das menschenmögliche, nein, hühnermögliche, um uns
+vor der drohenden Unterernährung zu schützen. Und für den reichlich
+gelieferten Mais lieferten sie als gerechte Gegenleistung mehr, als
+sonst eine Henne zu liefern sich verpflichtet fühlt.
+
+Am ersten Morgen hätten die Hühner, wie schon berichtet, vier Eier
+gelegt, am zweiten Morgen sieben, und als wir bezweifelten, daß dies
+möglich sei, führte uns Abraham am darauffolgenden Morgen zu den drei
+alten Schilfkörben, die er für den Zweck aufgehängt hatte, und
+gestattete uns, selbst nachzuzählen. Wir zählten an diesem dritten
+Morgen siebzehn Eier, die von den Hühnern über Nacht gelegt waren. Da
+wir die Eier persönlich bei Sonnenaufgang gesehen und persönlich gezählt
+hatten, zweifelten wir von dem Tage an nicht mehr an der Zahl der von
+Abrahams Hühnern gelegten Eier, obgleich er uns eines Morgens
+freudestrahlend, als hätte er in der Lotterie gewonnen, mitteilen
+konnte, daß die Hühner achtundzwanzig Eier über Nacht gelegt hätten. Uns
+war es ja gleichgültig, wie Abraham seine Hühner behandelte, um solche
+Resultate zu erzielen. Als Sam Woe eines Tages erklärte, bei ihm zu
+Hause wisse man auch aus einer Krume Erde oder aus einer Henne
+herauszuholen, was nur überhaupt ein Gott sonst noch herausquetschen
+könne, aber das hätten sie daheim doch noch nicht geschafft, da fuhr ihm
+der Nigger gleich übers Maul: „Ihr seid eben Esel, ihr versteht die
+rationelle Geflügelzucht ebensowenig wie hier herum die ganzen Farmer,
+die noch größere Esel sind, als ihr seid. Aber wir in Louisiana, wir
+verstehen Hühner zu behandeln. Ich habe es von meiner Großmutter
+gelernt. Es hat viel Prügel gesetzt, ehe ich es begriffen habe; aber
+jetzt kommt auch kein noch so tüchtiger Farmer gegen mich mehr auf, wenn
+ich in der Nähe eine Geflügelzucht betreibe und einmal zeige, wie man
+Hühner rentabel macht.“
+
+
+ 7
+
+Wir aßen die Eier nur. Aber die Eier rächten sich: sie fraßen. Sie
+fraßen an unserm Lohn so gierig, daß niemand sein gestecktes Ziel
+erreichen konnte, sei es ein neues Hemd, eine neue Hose oder eine
+Fahrkarte nach einer Stadt mit besserer Arbeitsgelegenheit.
+
+Auch Sam Woe, dessen Landsleuten sehr zu Unrecht nachgesagt wird, daß
+sie sich lieber den Finger abbeißen als Geld für etwas Überflüssiges
+auszugeben, hatte ein ganz nettes Schuldsümmchen für Eier bei Abraham
+stehen. Ich glaube aber doch, daß er bei jedem Ei, das er aß, immer
+bedauerte, daß er nicht der Lieferant sei.
+
+So vergingen zwei weitere Wochen. Verglichen mit der ersten Woche lebten
+wir jetzt in Saus und Braus. Das taten die Eier, und das tat eine Nacht
+mit fünfstündigem Wolkenbruch, der uns so gut mit Wasser versorgte, daß
+wir hierin fürstlich schwelgen konnten.
+
+Freilich bedeutete dieser Regen einen halben Tag Verlust an Arbeitslohn.
+Das Feld war am Morgen so lehmig und schlammig, daß wir die Füße kaum
+herausziehen konnten. Erst gegen Mittag, als die Sonne die übliche
+Kruste gebrannt hatte, konnten wir wieder an die Arbeit gehen. Am
+dritten Lohntag sehen wir ein, daß wir mit dem Geld, das wir verdienten,
+nicht auskommen konnten. Wenn die Ernte vorüber sein wird, werden wir
+knapp zwei Wochen Lohn in der Hand haben. Ehe wir bis zur nächsten Stadt
+kommen und dort irgendeine Arbeitsgelegenheit finden würden, hätten wir
+genau soviel oder richtiger sowenig übrig, als wenn wir nicht sechs
+Wochen, jede Woche zu sieben Tagen, in tropischer Sonnenglut von
+Sonnenaufgang bis beinahe Sonnenuntergang bei, trotz der Eier,
+allerbescheidenster Nahrung hart gearbeitet hätten. Denn außer für Essen
+und etwas Tabak gaben wir nichts aus. Es war auch keine Gelegenheit
+dazu. Der nächste Saloon, wo es Bier und Schnaps gab, und wo man spielen
+konnte, war über drei Stunden entfernt.
+
+„Daran sind die verfluchten Eier schuld, daß wir für nichts geschuftet
+haben sollen!“ sagte Antonio am Abendfeuer, als wir unsre Lage
+überdachten.
+
+„Aber wir hätten sie doch nicht kaufen brauchen,“ warf ich ein, „Abraham
+hat sie uns doch nicht aufgedrängt. Er hätte sie doch sammeln und
+Sonntags zum Laden bringen können.“
+
+„Da hätte er aber mehr Arbeit davon gehabt“, sagte Gonzalo.
+
+In dem Augenblick kam Abraham gerade von seinem abendlichen Maiseinkauf
+zurück. Er warf den Sack auf die Erde und sagte: „Wovon ist denn die
+Rede? Vielleicht etwa gar von den Eiern? Ich habe sie doch ehrlich an
+euch abgeliefert, und frisch gelegt war jedes einzelne auch, da kann ich
+doch auch wohl ehrlich mein Geld verlangen, nicht wahr, fellers? That
+so?“
+
+„Von Nichtbezahlen hat niemand gesprochen, wenn Sie nicht wissen, wovon
+und worüber geredet worden ist, dann halten Sie lieber ihre Gosche“,
+sagte ich.
+
+„Nein,“ sagte Antonio, „die Rede ist davon, daß, wenn wir nicht den
+Luxus mit den Eiern einstellen, wir hier die vielen Wochen umsonst
+gearbeitet haben.“
+
+„Luxus nennt ihr das?“ rief Abraham entrüstet aus. „Ja, wollt ihr denn
+als Skelette ’rumlaufen, wenn die Ernte vorüber ist? Meinetwegen, ich
+kann meine Eier auch anderswo verkaufen. Also, jetzt kassiere ich.
+Antonio, Sie haben – –“
+
+Das interessierte mich nun gar nicht, wieviel jeder hatte und was jeder
+zu bezahlen haben mochte. Ich bezahlte meine Rechnung bei Abraham und
+ging dann nach meiner Behausung schlafen. Als ich unterwegs war, hörte
+ich, wie Charley und Abraham in Wortwechsel gerieten. Der große Nigger
+behauptete, Abraham habe ihm drei Eier zuviel angerechnet. Abraham
+bestritt es und drängte auf richtige Bezahlung. Nach einer Weile Hin-
+und Herredens mußte Charley zugeben, daß er sich geirrt habe, und daß
+Abraham im Recht sei. In diesen Dingen, die das Geschäft unmittelbar
+betrafen, also Lieferung und Bezahlung, war Abraham unbedingt ehrlich.
+
+Des Abends vor dem Einschlafen nahm ich mir vor, diese Woche einmal ohne
+Eier auszukommen.
+
+Am Morgen, als ich zum Feuer ging, hörte ich Antonio schon rufen: „Wo
+sind denn heute morgen die Eier, du rabenschwarzer Yank? Ich will fünf
+haben.“
+
+Abraham zählte seine Eier, die er in den Körben gesammelt hatte, mit
+einem Ernst und mit einer Sorgfalt, als ob er sie wirklich zum ersten
+Male in der Hand habe und nicht schon gestern abend genau gewußt hätte,
+wieviel Eier die Hühner über Nacht legen würden. Er tat, als habe er den
+Geschäftsauftrag Antonios nicht gehört.
+
+„Ja, Mensch, Nigger, hast du denn nicht gehört, fünf Eier will ich
+haben, oder soll ich sie mir vielleicht selber nehmen?“ wütete jetzt
+Antonio.
+
+„Was denn!“ sagte Abraham ganz unschuldig. „Ich will euch doch nicht
+meine Eier aufdrängen und euch den sauer verdienten Wochenlohn aus der
+Tasche rauben. Spart das Geld lieber! Ihr könnt auch ganz gut ohne Eier
+auskommen. Ihr seid ja die ersten Tage auch ohne Eier fertig geworden.“
+
+Das war ein ganz neuer Ton, den wir von Abraham bisher nie vernommen
+hatten.
+
+Wir empörten uns gegen eine solche Bevormundung unsrer Lebensweise wie
+ein Mann.
+
+„Was fällt denn dir schwarzem Karnickel ein, mir vorzuschreiben, was ich
+essen und was ich nicht essen soll, ob ich mein Geld spare, oder ob ich
+es da in die Zisterne werfe, hä!“ mischte sich Gonzalo jetzt ein.
+„Sofort gibst du mir sechs Eier, oder ich schlage dir deinen Wollschädel
+in Scherben.“
+
+„Gut,“ sagte Abraham resigniert, „da ihr es nicht anders haben wollt und
+mir sogar mit Schlägen droht, will ich euch die Eier wie bisher
+liefern.“
+
+„Ja, was hast du dir denn gedacht?“ sagte Sam Woe ganz ruhig und
+schulmeisterlich. „Erst verführst du uns, Eier zu essen, und wenn wir
+dalan gewöhnt sind, willst du sie uns verweigern. Gib mir dlei Eier!“
+
+Der Chinc hatte ein bestimmtes Gefühl bei mir ausgelöst: Jetzt auf
+einmal, wo wir uns an die Eier, an die Bequemlichkeit ihrer Zubereitung,
+an die Nachhaltigkeit ihres Nährstoffes und an ihre mühelose Beschaffung
+so sehr gewöhnt hatten, sollten wir plötzlich einer Laune des Niggers
+wegen darauf verzichten! Das war ja nicht anders, als wenn wir aus dem
+Zeitalter der drahtlosen Abendunterhaltung in das der Steinaxt
+zurückgeschleudert werden sollten. Gestern abend, den Magen übervoll
+gefüllt mit einem dicken, prächtigen vollwertigen Eierpfannkuchen, hatte
+ich allerdings den Entschluß gefaßt, diese Woche einmal keine Eier zu
+beziehen. Aber am Morgen, als der Magen leer war wie ein vertrockneter
+Autoreifen, hielt ich den Entschluß für kindisch. Warum sollte ich mich
+denn kasteien und meinen mir lieben Körper qualvoll peinigen beim
+Anblick der schönen frischen Eier, die bereits lustig in den Pfannen der
+andern brutzelten?
+
+„Gib mir sechs!“ kommandierte ich Abraham.
+
+Freilich, als ich drei Spiegeleier gegessen und zwei zum Mitnehmen für
+das Mittagessen gekocht hatte, fiel mich wieder die reuige Wehmut an.
+Also es blieb bei den Eiern.
+
+
+ 8
+
+Auf dem Nachhauseweg rief mich Mr. Shine an: „Hören Sie, Mr. Gale,
+können Sie auf eine Viertelstunde herein? Meine Frau hat einen guten
+Kuchen gebacken, Sie können eine Tasse Kaffee mit uns trinken.“
+
+Dann, als wir bei Tische saßen, erzählte mir Mr. Shine, wie er mit 260
+Dollar, die er sich sauer erspart hatte, hier angefangen habe, wie er
+mit eigner Hand die Farm aus dem rohen Busch herausgearbeitet habe, wie
+die Straße, die mehr als drei Stunden zur nächsten Ortschaft führt, bei
+seiner Ankunft nur ein schmaler, verwachsener Weg war, gerade breit
+genug, um mit dem Maultier durchzukommen, wie er auch diese Straße
+verbreitert habe, so daß er sie jetzt mit eignem Ford befahren könne.
+
+„Vierundzwanzig Jahre harter, sehr harter Arbeit waren notwendig, um
+etwas zu werden. Und wir Gringos hier, die wir dem Lande erst Wert
+geben, sind trotzdem immer wie auf dem Sprunge, plötzlich fliehen und
+alles verlassen zu müssen. Wir werden gehaßt wie der Tod, weil man um
+die Freiheit und Unabhängigkeit, die den Leuten hier über alles gilt,
+bangt.“ Er war nicht der erste Amerikaner, der mir diese Nöte
+schilderte.
+
+„Manches Jahr ist sehr gut. Ich habe schon häufig vier Ernten im Jahr an
+Mais gehabt. Das erreichen wir drüben in den States nicht. Aber dieses
+Jahr ist schlecht. Die Baumwolle hat, was seit fünfzehn Jahren nicht
+vorgekommen ist, Frost abbekommen; deshalb ist sie nur halb wie sie sein
+soll. Und ich weiß auch gar nicht, was mit dem Hühnervolk los ist. Wir
+haben nie so wenig Eier gehabt, wie in den letzten Wochen. Auch Mr.
+Fringell und Mr. Shape klagen über ihre Hühner.“
+
+Am Abend erzählte ich Abraham, was mir Mr. Shine über die Hühner gesagt
+hatte. Aber mein Kamerad geriet nicht in die geringste Verlegenheit.
+
+„Na, da seht ihr es ja, fellers,“ sagte Abraham eifrig, „das sind die
+richtigen amerikanischen Farmer wie drüben. Vor Geiz möchten sie am
+liebsten ihre Fingernägel aufessen. Da gönnen sie den armen Hühnern kaum
+eine Handvoll Mais. Wie können denn die Hühner richtig legen, wenn sie
+nicht gut gefüttert werden? Da seht meine Hühner an! Ich spare nicht mit
+dem Mais. Aber dafür geben die Tierchen auch etwas her. Man muß sie nur
+gut und reichlich füttern und sachgemäß behandeln, dann tun sie auch
+ihre Pflicht. Das hat mich meine gute Großmutter Susanne gelehrt, und
+die war eine sehr kluge Frau, das könnt ihr mir glauben, fellers. That’s
+a fact!“
+
+Na, wir glaubten es ihm. Die Beweise lagen ja vor.
+
+
+ 9
+
+Am selben Abend nach dem Essen setzte wieder die Unterhaltung über die
+Frage ein, wieviel uns an Geld übrigbliebe, wenn die Ernte vorüber sei.
+Diesmal aber wurden weder die Eier noch Abraham, der dabeisaß, in dem
+Gespräche erwähnt.
+
+An diesem Abend kamen wir alle einmütig zu dem Ergebnis, daß wir
+ordentlich essen müßten, um uns arbeitsfähig zu erhalten, daß wir eine
+bestimmte Summe am Ende der Ernte übrighaben müßten, um nicht umsonst
+gearbeitet zu haben oder wie Sklaven nur für das Essen, und daß also,
+kurz und bündig, der Lohn zu niedrig sei. Wenn wir statt sechs acht
+Centavos für das Kilogramm bekämen, könnten wir gerade zurechtkommen.
+
+Mit diesem Gedanken gingen wir schlafen.
+
+Am nächsten Morgen, sobald die andern Arbeiter auf das Feld gekommen
+waren, gingen Antonio und Gonzalo gleich zu ihnen und erklärten ihnen,
+daß wir die Absicht hätten, acht Centavos zu verlangen und zwei Centavos
+Nachbezahlung für die bisher schon gepflückten Kilos. Diese Leute, alle
+unabhängiger als wir, weil sie alle ihr Stückchen Land hatten, waren
+ohne weiteres damit einverstanden.
+
+Nun gingen Antonio und Gonzalo sowie zwei von den andern Leuten zur Wage
+und sagten Mr. Shine, was los sei.
+
+„Nein,“ antwortete Mr. Shine, „das bezahle ich nicht, ich bin doch nicht
+verrückt! Das habe ich noch nie bezahlt! Das kommt ja gar nicht rein!“
+
+„Gut,“ sagte Antonio, „dann machen wir Schluß. Wir wandern dann noch
+heute ab.“
+
+Da mischte sich einer von den ansässigen Arbeitern ein: „Hören Sie,
+Senjor, wir warten zwei Stunden. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie dann
+noch Nein! sagen, satteln wir unsre Mulas. Wir wollen schon dafür
+sorgen, daß Sie keine Leute kriegen.“
+
+Damit war die ganze Konferenz erledigt. Die vier Abgesandten gingen ins
+Feld zurück, berichteten die abschlägige Antwort, und alle Leute
+verließen ihre Reihen, gingen zu den Bäumen und legten sich schlafen.
+Als ich auch auf dem Wege zu den Bäumen war, rief Mr. Shine herüber:
+„He, Mr. Gale! Kommen Sie auf einen Augenblick her!“
+
+Ich ging hinüber. „Na,“ sagte ich gleich beim Näherkommen, „wenn Sie
+etwa glauben, daß ich hier die Mittelsperson mache, dann sind Sie im
+Irrtum, Mr. Shine. Wäre ich Farmer, stünde ich auf Ihrer Seite, und ich
+ginge mit Ihnen durch dick und dünn. Da ich aber kein Farmer, sondern
+Farm-Hand bin, stehe ich zu meinen Arbeitskollegen. Das verstehen Sie
+doch?“
+
+„Gar kein Zweifel, Mr. Gale,“ erwiderte er, „es ist auch gar nicht meine
+Absicht, Sie herüberzuziehen; denn Sie allein könnten die Baumwolle ja
+doch nicht hereinholen. Aber wir wollen das einmal in Ruhe überrechnen.“
+
+Mr. Shine zündete sich eine Pfeife an und gab mir Tabak. Sein ältester
+Sohn, der etwa sechsundzwanzig Jahre alt war, steckte sich eine Zigarre
+an, und der zweite Sohn, der jüngste in der Familie, ungefähr
+zweiundzwanzig Jahre alt, pellte ein Stück Kaugummi aus einem Stück
+verschweißtem Papier heraus und schob es in den Mund.
+
+„Sie sind der einzige Weiße hier unter den Pflückern, und da ich Ihnen
+ja schon acht bezahle, sind Sie eigentlich parteilos und können hier
+mitsprechen. Sie haben doch nicht etwa den andern Burschen gesagt, daß
+Sie acht bekommen?“ fügte Mr. Shine, die Pfeife aus dem Munde nehmend,
+hinzu.
+
+„Nein,“ sagte ich, „dazu hatte ich nicht die geringste Ursache.“
+
+Dick, der älteste Junge, kletterte in das Lastauto, lehnte sich gegen
+einen Ballen Baumwolle und ließ die Beine über die Reling baumeln.
+
+Pet, der jüngere, setzte sich zum Steuerrad und druselte, unausgesetzt
+seinen Gummi knatschend, vor sich hin.
+
+Der Alte lehnte sich gegen den Wagen und fummelte, unaufhörlich
+fluchend, an seiner Pfeife herum, die bald ausging, bald verstopft war,
+bald neuen Tabak brauchte, obgleich der Rest noch gar nicht ganz
+aufgebrannt war.
+
+Die ganze Erregung, die den Farmer durchtobte, äußerte sich nur in der
+Behandlung seiner Pfeife.
+
+Nachdem etwa fünf Minuten lang niemand etwas gesagt hatte, platzte
+plötzlich Pet heraus: „Weißt du was, Daddy, ich an deiner Stelle würde
+bezahlen, ohne viele Worte zu machen.“
+
+„Ja, du,“ rief Mr. Shine wütend, „du würdest bezahlen. Es geht ja nicht
+aus deiner Tasche, da ist das ‚Bezahlen würden‘ sehr leicht. Aber dann
+ziehe ich dir’s von deinem Taschengelde ab.“
+
+„Das wirst du nicht tun, Daddy, oder du mußt mir das Geld für die
+verkaufte Baumwolle auch geben, sonst wäre es ungerecht.“
+
+„Ha! Daß ich nicht platze vor Lachen. Das Geld für die verkaufte
+Baumwolle!? Habe ich denn überhaupt schon für einen Dime verkauft? Ich
+sage Ihnen, Mr. Gale, noch nicht einen blanken Tinker hat man mir
+geboten. Und was für eine Baumwolle in diesem Jahr! Die weißeste
+Schneeflocke von Alaska muß sich dagegen schämen. Und sehen Sie einmal
+hier, Mr. Gale,“ dabei rupfte er eine Knolle, die dicht neben ihm stand,
+ab und quetschte sie, sie mir dicht vor die Nase haltend, in seinen
+Fingern, „die weichsten Daunen sind dagegen der purste Stacheldraht. –
+Ja, Gosch, sagen Sie doch auch einmal ein Wort! Stehen Sie doch nicht so
+da, als ob Sie die Sprache verloren hätten!“
+
+„Aber ich bin doch unparteiisch“, sagte ich darauf.
+
+„Ja richtig, Sie sind unparteiisch. Aber Sie können doch wenigstens den
+Mund mal aufmachen!“
+
+Es kam ihm nur darauf an, jemand zu finden, dem er widersprechen konnte.
+
+Da räkelte sich Dick ein wenig bequemer in seine Stellung ein und sagte
+ganz langsam und bedächtig mit breit gezogenen Worten:
+
+„Da will ich dir mal was sagen, Dad –“
+
+„Du? Ja du bist mir gerade der Rechte.“
+
+„Dann eben nicht. Ich habe Zeit. Es ist ja nicht meine Baumwolle, es ist
+ja deine.“
+
+Und als Dick nun wieder in seine bulkige Schweigsamkeit zurückfiel,
+sagte der Alte plötzlich ganz erbost: „Ja, verflucht noch mal, dann rede
+doch schon! Oder soll ich hier vielleicht stehen, bis die ganze
+Baumwolle verfault und verwurmt ist?“
+
+„Siehst du, Dad, das meine ich gerade: verfault. Wenn die Leute gehen,
+andre kriegen wir nicht. Und wenn wir die Leute herschippen lassen von
+den Städten, müssen wir mehr Reisegeld bezahlen, als die Sache wert
+ist.“
+
+„Rede doch schon einen Strich schneller!“
+
+„Aber ich muß mir doch erst ausdenken, was ich sagen will. Sieh mal,
+Dad, einmal hat es schon geregnet. Und es sieht ganz so aus, als ob wir
+eine sehr frühe Regenzeit kriegen oder eine volle Woche Stripregen. Dann
+ist die ganze Baumwolle hinüber, dann ist sie in den Dreck gehauen, und
+du kannst lange suchen, bis du einen findest, der dir anstatt der
+Baumwolle den Sand abkauft. Je eher wir die Baumwolle ‚ginned‘ und auf
+den Markt gebracht haben, desto besser ist der Preis. Wenn der Markt
+erst mal voll ist, müssen wir froh sein, wenn wir sie mit zwanzig oder
+fünfundzwanzig Centavos Verlust losschlagen, wenn wir sie dann überhaupt
+unterbringen und sie uns nicht auf dem Halse liegen bleibt. Bis jetzt
+sind wir sehr früh dran und sind mit die ersten auf dem Markt.“
+
+„Verflucht noch mal, Junge, du hast verteufelt recht! Vor vier Jahren
+habe ich sie mit dreißig Centavos das Kilo unter dem Anfangspreis
+verkaufen müssen und habe noch dagestanden wie ein armseliger Bettler,
+der um ein Stück Brot boomen muß. Aber ich bin doch nicht ganz und gar
+wahnsinnig geworden, daß ich acht Centavos bezahle! Früher habe ich
+sogar bloß drei, wenn sie schlecht stand, vier bezahlt. Nein, das ist
+abgemacht, da lasse ich sie, by Gosh!, zehnmal lieber verfaulen und
+verschimmeln, just wie sie dasteht, ehe ich nachgebe.“
+
+Dabei schlug er mit der Hand nach einer Staude, als ob er mit dieser
+einen Handbewegung das ganze Feld abrasieren wollte.
+
+Dann kam ihm in seinem Zorn ein andrer Gedanke:
+
+„Aber an der ganzen Geschichte sind bloß die Fremden schuld, die
+Auswärtigen. Die hetzen uns hier die Leute auf. Die können nie den
+Rachen vollkriegen. Unsre Leute hier herum sind immer zufrieden. Ja, Sie
+auch, Mr. Gale, Sie sind auch einer von den Aufwieglern und von den
+Bolsches, die alles auf den Kopf stellen und uns das Land wegnehmen und
+das Bett unter dem Hintern fortziehen wollen. Bei mir kommt ihr aber an
+die falsche Nummer. Das habe ich selber mitgemacht. Das kenne ich, weiß,
+wie es gemacht wird. Aber wir haben keine I. W. W.[1] und alles solchen
+Stoff gehabt.“
+
+„Wenn Sie mich meinen, Mr. Shine, tun Sie sich keinen Zwang an. Nebenbei
+bemerkt, habe ich Ihnen gar keinen Grund gegeben, festzustellen, ob ich
+ein Wobbly[2] bin oder nicht.“
+
+„Mischen Sie sich doch nicht ’rein, von Ihnen ist ja gar nicht die Rede.
+Ich habe Sie ja gar nicht gemeint. Aber bezahlen tu ich nicht, basta!“
+
+„Na hör’ mal, Daddy“, sagte jetzt Pet, ohne sich seinem Vater
+zuzuwenden, „in bezug auf die Fremden hat du unrecht, durchaus. Die
+sechs Fremden schaffen mehr herein als die zwölf oder vierzehn Indianer.
+Die tun doch überhaupt bloß etwas, weil sie sehen, wie die Fremden
+arbeiten und was verdient werden kann. Wenn unsre Hiesigen einen Peso
+machen, dann sind sie zufrieden und halten lieber fünf Stunden
+Mittagschlaf, weil ihnen das wichtiger ist. Ohne die Fremden bekämen wir
+die Baumwolle vor Weihnachten nicht herein, da wette ich mein Leben
+darauf.“
+
+„Aber ich bezahle keine acht, und damit Schluß!“
+
+„Dann kann ich ja ankurbeln, und wir können heimfahren“, sagte Dick
+trocken und kletterte gemächlich von dem Wagen herunter.
+
+Es waren noch lange keine zwei Stunden vergangen, aber die „Hiesigen“
+wurden jetzt beweglich. Sie fingen ihre Maultiere ein und begannen
+aufzusatteln.
+
+Als einige der Peons schon soweit waren, aufzusitzen, sprangen Antonio
+und Gonzalo plötzlich auf, warfen ihre großen Hüte hoch in die Luft und
+begannen mit schrillen Stimmen zu singen:
+
+ Es trägt der König meine Gabe,
+ Der Millionär, der Präsident –
+
+Die Leute hörten sofort auf, an ihren Tieren zu arbeiten, und standen
+stille wie Soldaten nach einem Kommando. Sie hatten das Lied nie gehört,
+fühlten jedoch sofort mit dem Instinkt des Mühseligen, daß es ihr Lied
+sei, daß dieses Lied mit dem Streik, mit dem ersten Streik, den sie
+erlebten, ebenso innig zusammenhing wie ein Kirchenchoral mit der
+Religion. Sie wußten nicht, was I. W. W. war, was eine Organisation
+bedeutet, was eine Klasse sei. Aber der Gesang hämmerte auf sie ein, die
+Worte trafen den Atem ihres Daseins. Und das Lied schmiedete sie
+zusammen zu einem ehernen Block. Das erste leise Bewußtsein der
+ungeheuren Macht und Stärke der zu einem gemeinsamen Wollen vereinigten
+Proleten erwachte in ihnen.
+
+Als der erste Refrain wiederholt wurde, sang bereits das ganze Feld. Was
+vielleicht geschehen könnte, wenn der letzte Refrain begann, ohne
+inzwischen die gewünschte Antwort erhalten zu haben, wußte ich. Ich habe
+es erlebt.
+
+Der Gesang, so eintönig und so schlicht in seiner Melodie, aber so
+federnd wie feinster Stahl in seinem klingenden Rhythmus, steckte mich
+an. Ich konnte nicht anders, ich begann, das Lied mitzusummen.
+
+„Natürlich! Sie auch!“ sagte Mr. Shine, halb ironisch, halb
+selbstverständlich zu mir. „Ich hab’s ja gewußt!“
+
+Als der zweite Refrain erklang, wendeten sich die Leute, die bisher
+zwanglos in einer losen Gruppe bei ihren Maultieren gestanden hatten,
+alle wie ein Mann zu uns herüber, wodurch der Gesang herausfordernd und
+persönlich wurde.
+
+Mr. Shine faßte nervös nach hinten und knöpfte die lederne
+Revolvertasche auf, machte sie aber gleich wieder zu mit einer Geste der
+Verlegenheit, die ebensogut auch eine der Scham oder gar der
+Wurschtigkeit sein konnte.
+
+„Teufel noch mal,“ rief er dann, „that means business, die scheinen
+Ernst zu machen.“
+
+„Das machen sie,“ sagte Pet knatschend, „und wenn sie einmal fort sind,
+haben wir unsre liebe Mühe und Not, sie wieder heranzuholen.“
+
+„Gut,“ sagte Mr. Shine, „ich bezahle acht, aber erst von heute an. Was
+bezahlt ist, bleibt bezahlt, da wird nichts nachgegeben. Mr. Gale, seien
+Sie doch so gut, bitte, und rufen Sie die Leute heran!“
+
+Ich lief ’rüber und brachte die ganze Horde zusammen.
+
+„Na, was ist?“ fragten die Leute, als sie nahe genug der Wage waren.
+
+„Also es ist abgemacht,“ sagte Mr. Shine halb erbost, halb von oben
+herab, „ich zahle acht für das Kilo, aber –“
+
+Antonio ließ ihn nicht ausreden:
+
+„Und für die schon gepflückten Kilos?“
+
+„– zahle ich die zwei Centavos nach. Aber nun auch tüchtig ran an die
+Arbeit, daß wir den ganzen Bettel noch trocken hereinkriegen.“
+
+„Hurra für Mr. Shine!“ schrie Abraham.
+
+„Halt’s Maul, damned Nigger, du bist nicht gefragt!“ schrie der Farmer
+wütend.
+
+„Aber was mache ich denn nun mit Ihnen, Mr. Gale?“ sagte er zu mir. „Sie
+bekommen doch schon acht.“
+
+„Ja,“ sagte ich, „da gehe ich halt leer aus, Mr. Shine.“
+
+„Das sollen Sie nicht. Bei einem Mann kommt es mir auch nicht darauf an.
+Und weil Sie Weißer sind, der einzige Weiße, Sie sollen zehn haben.“
+
+„Mit Nachzahlung?“
+
+„Mit Nachzahlung! Ich bin ein fair businessman. Was stehen Sie denn noch
+’rum? Machen Sie, daß Sie an die Arbeit kommen! Wir haben, weiß Gott,
+beinahe eine Stunde total verquatscht. Gerade um diese Stunde kann uns
+der Regen zu früh kommen. Das ziehe ich euch beiden Rangen ab, da könnt
+ihr Gift drauf nehmen“, so wandte er sich seinen Söhnen zu, die gerade
+dabei waren, die Wage wieder aufzuhängen.
+
+----------
+
+[1] I. W. W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale
+Arbeiter-Organisation.
+
+[2] Wobbly = Mitglied der I. W. W.
+
+
+ 10
+
+So lief der Trott nun weiter die nächsten zwei, drei Wochen. Ohne
+besondere Ereignisse. Ein Tag wie der andre. Rennen im Trab, Arbeit,
+Rennen, Essen kochen, Schlafen, Rennen im Trab, Arbeit.
+
+Eines Nachmittags, als ich vom Feld heimkam, ging ich zu Mrs. Shine und
+fragte sie, ob sie mir ein Kilo Speck verkaufen oder bis Sonntag leihen
+wolle, da ich vergessen hätte, welchen mitbringen zu lassen.
+
+„Können Sie haben, Mr. Gale, gegen Bezahlung oder Rückgabe, ganz wie Sie
+wollen.“
+
+„Gut,“ sagte ich, „dann gegen Bezahlung. Mr. Shine kann es mir ja am
+Samstag anrechnen.“
+
+Während sie eben dabei war, den Speck abzuwiegen, kam Mr. Shine von der
+Stadt zurück, wo er seine Post abgeholt und einige Bedarfsmittel
+eingekauft hatte.
+
+„Da sind Sie ja gerade wie gerufen, Mr. Gale“, sagte er zu mir, als er
+ins Zimmer trat. „Ich habe eine Neuigkeit für Sie.“
+
+„Für mich? Woher soll die wohl kommen?“
+
+„Direkt aus der Stadt. Im Store traf ich den Manager von Camp 97. Er saß
+da und trank gerade eine Flasche Bier nach der andern. Er war in großen
+Nöten. Da haben sie im Camp ein kleines Malheurchen gehabt. Beim
+Auswechseln von Achter-Rohren gegen Zehner hat ein Rohr ausgeschlagen
+und dem einen Driller den rechten Arm böse gequetscht, weil einer von
+den Indianern wieder mal nicht aufgepaßt und rechtzeitig zugepackt hat.
+Der Driller ist ein tüchtiger, erfahrener und verläßlicher Bursche, den
+sie nicht gehen lassen wollen. Nun suchen sie einen guten Ersatzmann für
+drei bis vier Wochen. So lange wird es wohl dauern, bis der Mann wieder
+arbeiten kann. Aber sie sind jetzt gerade an einem heiklen Punkt. Sie
+sind auf siebenhundert Fuß und sind auf Lehm, und wenn sie jetzt keinen
+guten Driller bekommen, dann können sie vielleicht eine Knickung in der
+Bohrung erleben. Na, und was das bedeutet, was das für Scherereien,
+Zeitverlust und Kosten verursacht, das wissen Sie ja selbst, Sie haben
+ja in den Fields gearbeitet. Das gibt allemal den Sack für die Driller
+und Tooldresser, manchmal für das ganze Camp.“
+
+„Weiß ich,“ erwiderte ich, „kann dem besten Mann passieren, wenn man
+noch so sehr aufpaßt. Ein Stein, den der Satan gerade dort hingefeuert
+hat, wo man ihn am allerwenigsten vermutet, kann zwanzigtausend Dollar
+kosten.“
+
+„Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Shine ein. „Nun ist
+der Manager in Sorge, was er machen soll. Er hat schon eine Schicht
+selber gearbeitet, aber auf die Dauer geht es nicht. Telegraphiert er
+nun zur Kompagnie, dauert es immerhin drei bis vier Tage, bis er den
+Mann hier hat. Und ob er einen Mann kriegt, wie er ihn braucht, weiß er
+auch nicht. Denn ein tüchtiger Mann nimmt für drei Wochen nichts an,
+weil er dadurch vielleicht eine andre Stellung, wo er sechs Monate in
+Sicherheit hat, verpassen kann. Ich habe nun zu dem Manager gesagt:
+Well, habe ich gesagt, Sie sind just der Mann, auf den ich gewartet
+habe, Mr. Beales.“
+
+„Aber ich weiß noch immer nicht, was ich eigentlich damit zu tun habe“,
+sagte ich.
+
+„Ja warten Sie doch ab, Gale, was kommt. In drei, höchstens vier Tagen
+haben wir die Baumwolle drin. Was wollen Sie denn dann machen?“
+
+„Das weißt ich jetzt noch nicht. Ich lasse den Tag erst einmal
+herankommen. Ich kann ebensogut nach Norden wie nach Süden, ebenso
+leicht nach Ost wie nach West gehen. Eigentlich habe ich vor, nach
+Guatemala, Costa Rica und Panama ’runter zu tippeln. Vielleicht nach
+Kolumbien. Da soll allerhand Öl ausgemacht worden sein.“
+
+„Top!“ sagte Mr. Shine. „Das habe ich auch gedacht, daß es Ihnen ganz
+egal ist; und nach Guatemala und allen den übrigen Landschaften kommen
+Sie immer noch rechtzeitig genug. Da habe ich nun zu dem Manager gesagt:
+Well, habe ich gesagt, auf Sie habe ich gerade gewartet. Ich habe da
+einen Fellow, einen Picker, einen weißen Mann, weiß im Gesicht und weiß
+unter dem Brustlatz ebensogut, einen Burschen, der Ihnen die
+verteufeltste Bohrung aus dem elendesten Dreck herausholt. Man muß doch
+ein wenig trumpfen, Gale, wenn man was erreichen will. Also, habe ich
+gesagt, Mr. Beales, ich schicke Ihnen den Mann ’runter. Na, was sagen
+Sie nun, Gale, Junge, hä? Das habe ich doch fein gemacht. Da gehen Sie
+noch morgen früh ’runter zum Store. Der Storekeeper kennt den Weg zum
+Camp und kann Ihnen Bescheid sagen. Um fünf Uhr nachmittags sind Sie
+schon im Camp und können sich gleich zum Essen hinsetzen.“
+
+Das mit dem Essen war allerdings verführerisch.
+
+„Wenn Sie dann nicht mit der Arbeit zurechtkommen, ist der Verlust auch
+nicht allzu groß. Einen Tag kriegen Sie auf alle Fälle ausbezahlt, und
+außerdem haben Sie einen Tag wieder mal menschenwürdig gegessen“, setzte
+Mr. Shine hinzu.
+
+Zu überlegen gab es da eigentlich nichts. Hier war noch für drei oder
+vier Tage Arbeit, harte und schlechtbezahlte Arbeit. Im Ölfeld mußte man
+zwar auch zwölf Stunden arbeiten, weil nur zwei Schichten waren, aber
+man arbeitete wenigstens unter dem Derrick, wo die Sonne nicht ganz so
+unmittelbar auf einen losbrennen konnte. Dazu hatte man sterilisiertes
+Eiswasser, soviel man nur trinken wollte. Vor allen Dingen aber hatte
+man, wie schon Mr. Shine richtig gesagt hatte, ein menschenwürdiges
+Essen, mit Teller, Messer, Gabel, Eßlöffel, Teelöffel, Tasse und Glas an
+einem Tisch, der zwar von einem Zimmermann ziemlich roh gemacht war,
+aber es war doch ein Tisch und eine richtige Bank. Man brauchte nicht
+aus der Pfanne von der Erde zu essen und sich beim Essen von einer
+wackligen Kiste, auf der man saß, herunterzubücken. Man brauchte nicht
+mit demselben Löffel, den man aus den fettigen Bratkartoffeln zog, den
+Kaffee umzurühren. Das Brot, das man aß, war weder zu Kohle verbrannt,
+noch war es klebrig wie Kleister. Die schwarzen Bohnen, immer hart wie
+Kieselsteine, hörten auf, ein wichtiger Bestandteil der Mahlzeiten zu
+sein. Man schlief nicht ohne jede Unterlage auf einer Tafel Wellblech,
+sondern man schlief in gut ventilierten Baracken, in sauberen
+Feldbetten, auf weicher Matratze und gut geborgen unter einem
+schleierdünnen Moskitonetz. Man hatte jeden Tag ein Brausebad und hatte
+ein W.-C. Daß es solche Dinge auf Erden gibt, hatte ich ganz vergessen.
+Romantik ist schön, sehr schön! – von ferne gesehen. Wenigstens in der
+Entfernung, gerechnet von einem bequemen Sitz im Kino bis zur
+Silberwand. Auf dieser Silberwand sind die Helden des Busches und des
+Urwaldes der Traum der Mädchen, und sie erregen Ehescheidungsgedanken
+bei Frauen; in Wahrheit bohren sie sich beim Essen in der Nase herum und
+schmieren dies und das an ihren Sitz oder an die nächste erreichbare
+Tischplatte. Und das kann man gerade noch erzählen. Würde man einiges
+mehr erzählen, noch nicht einmal alles und noch nicht einmal das
+Schlimmste, so würde sich der bunte Schmetterling in die widerwärtigste
+Raupe rückverwandeln. Aber trotz alledem, Romantik ist auch im Ölfeld,
+das auf den ersten Blick so trostlos prosaisch und so nüchtern aussieht
+wie eine Kohlenzeche in Herne. Man muß die Romantik nur zu sehen und nur
+zu finden wissen.
+
+Bei meinem Abschied von den bisherigen Arbeitskollegen war mir nichts so
+wichtig, als meine Eierrechnung bei Abraham auf den Cent genau zu
+begleichen. Er wäre mir sonst in meinen Träumen erschienen und
+nachgelaufen bis nach Paraguay, wenn ich ihm nur zehn Centavos schuldig
+geblieben wäre. –
+
+Als ich zum Öl-Camp kam und mit dem Manager sprach, machte er nicht im
+geringsten ein erstauntes Gesicht, seinen neuen Driller so in Lumpen und
+Fetzen zu sehen, wie kein Mensch in Europa, selbst nicht in Odessa
+herumlaufen könnte. Daran ist man hier gewöhnt.
+
+Die weißen Arbeiter, ebenfalls alle Gringos, waren froh, daß Dick, der
+Driller, einen Ersatzmann hatte und das Camp also nicht zu verlassen
+brauchte; denn er war ein beliebter und lustiger Bursche, der im Camp
+war, seit der erste Pfeiler für das Derrick gestellt wurde. Sie fixten
+mich auf, der eine brachte mir ein Hemd, der andre eine Hose, jener
+Strümpfe, ein andrer Arbeitshandschuhe. Ja Handschuhe, denn ein
+amerikanischer Arbeiter macht sich beim Arbeiten die Hände nicht
+schmutziger, als unbedingt notwendig ist. Keiner von ihnen hatte
+irgendein Handwerk gelernt, wie das in Europa üblich ist, aber jeder
+konnte ein Auto fahren, Pannen beseitigen, Dampfmaschinen reparieren
+oder Werkzeuge schmieden. Vielleicht nicht ganz so sauber und geschickt
+wie ein englischer, deutscher oder französischer Arbeiter, aber was er
+machte, war brauchbar, und darauf kam es ihm und denen, die ihn dafür
+bezahlten, ja nur an.
+
+Als ich meine Schicht beendigt hatte, sagte Mr. Beales zu mir: „Sie
+können bleiben, Junge, vollen Drillerlohn.“ –
+
+Dick war schneller hergestellt, als wir alle gedacht hatten, und so
+mußte ich wieder gehen. Beim Abschied gab mir Dick zwanzig Dollar extra
+aus seiner Tasche, für Reisegeld und daß ich mir einen guten Tag machen
+sollte, wie er sagte.
+
+Als ich dann beim Manager meinen Lohn ausbezahlt bekam, sagte er: „Hören
+Sie mal, Gale, können Sie nicht hier irgendwo eine Woche oder so
+herumhängen?“
+
+„Ja,“ erwiderte ich, „das kann ich leicht. Ich gehe ’rauf zu Mr. Shine,
+da kann ich gut für eine Weile hausen. Warum?“
+
+„Auf einem unsrer Nachbarfelder da ist ein Bursche, der möchte auf
+vierzehn Tage in Urlaub gehen, ’rauf in die States. Da können Sie für
+die zwei Wochen als Ersatzmann eintreten. Anfang nächsten Monats.“
+
+„Mache ich“, sagte ich. „Sie können ja im Store eine Mitteilung für mich
+an Mr. Shine hinterlegen, wenn es soweit ist.“
+
+„Gut, abgemacht!“ sagte Mr. Beales.
+
+
+ 11
+
+Ich wanderte also am nächsten Morgen wieder ’rauf zu Mr. Shine und
+fragte ihn, ob ich in dem Unterstande, in dem ich seinerzeit gehaust
+hätte, ein paar Tage wohnen dürfe.
+
+„Natürlich, Mr. Gale,“ sagte der Farmer, „solange Sie wollen.“ Ich
+erklärte ihm, warum, und fragte ihn dann nach den Leuten, mit denen ich
+da gewohnt hatte.
+
+„Ach,“ antwortete er, „der lange Nigger ist gleich den Tag nach Ihnen
+gegangen, ich glaube ’rauf nach Florida. Das geht mich nichts an. Der
+kleine Nigger, Abraham heißt er, scheint ein ganz geriebener Schlingel
+zu sein.“
+
+„Wieso?“ fragte ich.
+
+„Er hat mir da Hühner verkauft, gute Leghühner, wie er mir versicherte.
+Er hatte sie bei Indianern für einen Peso das Stück gekauft, wie ich
+inzwischen erfahren habe. Mir hat er anderthalb Pesos dafür abverlangt.
+Ich habe sie ihm auch bezahlt dafür, denn die Hühner waren gut genährt.
+Aber mit den guten Leghühnern hat er mich ’reingelegt, der schwarze
+Teufel. Mit dem Legen ist nicht viel los bei ihnen. Aber na, das Fleisch
+ist es ja wert.“
+
+„Und was ist mit dem Chinc und den beiden Mexikanern?“
+
+„Die sind am Montag sehr früh hier vorbeigekommen. Ich habe sie vom
+Fenster aus gehen sehen. Soviel ich weiß, sind sie nach Pozos gegangen.
+Diese Station ist nicht ganz so weit wie die, von der Ihr gekommen seid.
+Der Weg ist auch besser, weil wir jetzt diese Station selbst benutzen,
+während wir in frühern Jahren immer zu der andern gingen. Aber Pozos
+liegt bequemer für uns, früher hatten wir nur keinen Weg. Seitdem aber
+die Ölleute gekommen sind, haben die einen Weg geschaffen. Ich empfehle
+Ihnen, wenn Sie wieder zurückgehen, auch diesen Weg, da können Sie ab
+und zu schon einmal ein Auto antreffen, wo Sie jumpen können. Nebenbei
+bemerkt, warum wollen Sie denn in dem Unterstand hausen, Sie können doch
+in dem Hause wohnen.“
+
+Ich lachte. „Nein, Mr. Shine, das Haus kenne ich zur Genüge. Ich betrete
+es nicht mit einer Zehenspitze. Das ist die reine Moskito-Hölle.“
+
+„Na, wie Sie wollen. Ich habe mit meiner Familie fünfzehn Jahre drin
+gewohnt. Wir sind von den Moskitos nicht merklich geplagt worden. Aber
+Sie können schon recht haben. Wenn so ein Haus lange nicht bewohnt wird,
+nicht genügend Luft ’reinkommt, sammelt sich schon allerlei von diesem
+Zeug an. Ich bin übrigens seit einem Vierteljahr nicht oben gewesen,
+weiß gar nicht, wie es da herum augenblicklich aussieht. Und
+wahrscheinlich komme ich im ganzen nächsten Vierteljahr auch nicht
+’rauf. Ich habe ja da oben nichts verloren. Ab und zu lasse ich mal die
+Pferde und die Mulas ’rauftreiben, weil sie da herum genügend Gras
+finden und ein Tränkepfuhl oben ist. Aber, wie gesagt, es ist mir
+gleichgültig, wo Sie Ihre Wohnung aufmachen. Mich stören Sie nicht, und
+Sonntags können Sie schon mal ’runterkommen und eine Tasse Kaffee mit
+uns trinken und ein Stück Kuchen essen.“
+
+Ich richtete mich oben in meinem Unterstande wieder ein. Mein Feuer
+machte ich mir jetzt gleich vor dem Unterstand, weil dort in der Nähe
+des Hauses, wo sonst unser gemeinschaftliches Feuer gewesen war, ja doch
+keine Unterhaltung gepflogen werden konnte, denn es war ja niemand da.
+
+Ich lebte nun in schönster Einsamkeit. Als einzige Gefährten hatte ich
+nur Eidechsen, von denen zwei sich in drei Tagen so an mich gewöhnt
+hatten, daß sie all ihre angeborene Scheuheit vergaßen und mir an und
+auf meinen Füßen die Fliegen wegfingen, die dort nach Krümelchen von
+meinen Mahlzeiten suchten.
+
+Tagsüber kroch ich in dem nahen Busch herum oder beobachtete die Tiere
+bei ihren Handlungen oder las in den Zeitschriften, die ich vom Camp
+mitgebracht hatte.
+
+In Wasser konnte ich schwelgen, so reichlich hatte ich es, weil es
+inzwischen einige Male gut geregnet hatte und die Zisterne beim Hause zu
+einem Drittel gefüllt war. Wir hatten ja derzeit die Auffänge in Ordnung
+gebracht.
+
+Ich konnte mich waschen und mir sogar den Luxus leisten, mich zweimal
+des Tages zu waschen. Kaffee kochte ich in Riesenmengen, teils um mir
+die Zeit zu vertreiben, teils um so viel Vorrat in mich hineinzutrinken,
+daß ich gut wieder einmal einen Tramp von einigen Tagen durch
+wasserlosen Busch aushalten konnte. Da ich im Store tüchtig hatte
+einkaufen können, denn Geld hatte ich jetzt reichlich, so lebte ich
+wirklich einen guten Tag. Sorgenfrei, weder durstig noch hungrig, ein
+freier Mann im freien tropischen Busch, Siesta haltend nach Belieben,
+und herumstreifend, wo und wann und solange ich wollte. Es ging mir gut.
+Und dieses Gefühl lebte ich auch voll bewußt.
+
+Die Zisterne, aus der ich mein Wasser holte, war dicht an dem alten
+Hause. Und zu diesem Hause hatte ich jedesmal etwa zweihundertfünfzig
+Schritte von meinem Unterstand aus zu gehen.
+
+Das Wasser holte und schöpfte ich mit einer von jenen Konservenbüchsen,
+die zwanzig Liter Inhalt haben. Mit Konserven in kleinen Büchsen gibt
+man sich hier nicht viel ab, höchstens wenn es sich um schnell
+verderbliche Ware handelt.
+
+Das Haus, das man überall, nur nicht in Zentralamerika, eine ganz elende
+Bretterbude nennen würde, kaum gut genug, um auf einem Bauplatz als
+Lagerschuppen zu dienen, stand auf Pfählen. Die meisten Häuser hier,
+besonders außerhalb der größeren Städte, werden auf Pfählen errichtet.
+Stünden sie auf flacher Erde, wären sie vielleicht gar noch
+unterkellert, so würden sie in der Regenzeit jeden Tag überflutet. Das
+ist aber nicht der einzige Grund. Bei einem auf Pfählen ruhenden Haus
+kann der Wind von allen Seiten unter dem Fußboden hin und her fegen und
+so das Innere des Hauses kühl halten. Außerdem bekommt ein Haus, das in
+dieser Art gebaut ist, nicht soviel unerwünschte Gäste, wie Schlangen,
+Eidechsen, Skorpione, Spinnen, Grashopper, Grillen, Milliarden von
+Ameisen und tausende andre unangenehme Überläufer aus dem nahen Busch.
+Alle diese mehr oder weniger erfreulichen Bewohner des tropischen
+Busches klettern natürlich auch an den Pfählen hoch, können aber doch
+nicht in solchen Mengen und so leicht ins Haus gelangen, wie wenn das
+Haus auf ebener Erde errichtet wäre.
+
+Alle die Gründe, die den Menschen hier veranlassen, sein Haus in dieser
+Form zu erbauen, sind die gleichen geblieben, die unsre Urvorväter
+zwangen, sich eine Behausung in den Wipfeln der Bäume zu bauen.
+
+Ein Holzhaus, so errichtet, erzittert und schwankt oft beim Sturm so,
+daß man glauben könnte, es sei in der Tat auf einem Baume errichtet. Die
+Indianer freilich haben ihre Hütten zu ebener Erde. So zu ebener Erde
+war ja auch mein Unterstand, wo das Busch-Getier aus und ein ging, als
+wäre es sein gutes Recht.
+
+An jeder Seite des Hauses war eine Tür, um Licht und Wind
+hineinzulassen. Beim Verlassen des Hauses hatten meine damaligen
+Arbeitskollegen die Türen geschlossen, wie üblich mit einem drehbaren
+Stückchen Holz. Damals war immer Leben im Hause und vor dem Hause,
+Streit um das Feuer, Zank wegen einer Prise Salz, die jemand genommen
+hatte, ohne den Besitzer zu fragen, lange und fruchtlose Diskussionen
+darüber, wer das Holz heute zu holen habe. An diese lebhaften Bilder
+zurückdenkend, erschien jetzt das Haus geisterhaft einsam und still.
+Jedesmal, wenn ich Wasser holte, quälte es mich, doch mal einen Blick
+hineinzuwerfen, ob jemand etwas zurückgelassen habe. Aber dann wieder
+gefiel mir diese gespensterhafte Stille, die über dem Hause lagerte. Sie
+fügte sich zu der Einsamkeit der Umgebung nicht weniger als zu der
+Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der ich augenblicklich lebte. So
+unterdrückte ich jedesmal, wenn ich an das Haus kam, den Wunsch, eine
+Tür aufzumachen und hineinzulugen. Ich wußte genau, die Hütte war leer,
+vollkommen leer, niemand hatte etwas, sei es auch nur der Fetzen eines
+alten Hemdes, zurückgelassen, denn bei uns hatte alles seinen Wert. Die
+Ungewißheit, die mysteriöse Stimmung, die um das Haus lagerte, wollte
+ich mir nicht zerstören. So, wie es wirkte, mochte ich träumen, daß
+vielleicht der Geist eines der alten aztekischen Priester, der wegen der
+Dutzende von Menschen, die er auf dem Altar seines Gottes geschlachtet
+und ihnen das Herz aus dem lebendigen Leibe gerissen hatte, um es seinem
+unersättlichen Gotte vor die goldenen Füße zu werfen, nun keine Ruhe
+finden konnte und deshalb aus dem Busch in das gefeite Haus eines
+Christen geflüchtet sei, um wenigstens ein paar Wochen von seinem
+rastlosen Herumirren auszuruhen.
+
+
+ 12
+
+Eines Tages, als ich wieder Wasser holte, sah ich eine schwarzblaue
+Spinne mit glänzend grünem Kopf, die an der Wand des Hauses nach Beute
+jagte. Sie lief blitzschnell ein paar Zoll weit, saß still, lauerte eine
+Weile und lief dann wieder ein ganz kurzes Streckchen, um wieder zu
+lauern. So überholte sie einen Meter eines Brettes im Zickzackkurs, kein
+Fleckchen auslassend, dabei oft, nicht immer, einen ganz feinen Faden
+zurücklassend, um Insekten, die an dem Brette hinaufklettern würden,
+nicht gerade festzuhalten und zu verstricken, sondern deren Lauf nur zu
+verlangsamen, damit die Spinne, wenn sie inzwischen das Nachbarbrett
+abgesucht hatte und hier wieder zurückkam, ihre Beute mit einem
+mächtigen Satz anspringen konnte. Diese Spinne nimmt ihre Beute nur im
+Sprunge, wobei sie das Insekt von hinten anspringt und sofort im Nacken
+packt, so daß dieses Insekt von seinen Waffen, seien es nun ein Stachel
+oder Zangen oder Scheren, gar keinen Gebrauch machen kann.
+
+Diese Spinne nun, die zu beobachten ich Tage und Wochen in den häufigen
+Perioden von Arbeitslosigkeit verwandt hatte, war es, die sofort wieder
+meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich wollte ihr Gesichtsfeld prüfen und
+lernen, wie sie sich verhält, wenn sie selbst angegriffen und verfolgt
+wird. Ich stellte meine Konservenbüchse mit Wasser auf den Boden und
+vergaß, daß ich mir doch meinen Reis kochen wollte.
+
+Ich bewegte meine Hand in ziemlicher Entfernung über der Spinne hin und
+her, und sofort reagierte sie darauf. Sie wurde unruhig, ihre
+Zickzackläufe wurden unregelmäßig, und sie suchte diesem großen Etwas,
+das ein Vogel sein mochte, zu entwischen. Aber die glatte Wand bot
+keinen Schlupfwinkel. Sie wartete eine Weile, duckte sich ganz langsam
+und behutsam und machte plötzlich, ganz unerwartet, einen Sprung in
+halber Armeslänge auf eines der benachbarten Bretter, natürlich an
+senkrechter Wand. Und so sicher war der Sprung, als wäre er auf ebener
+Erde vollführt. Dieses Brett nun hatte eine Leiste, die gespalten war
+und sich auch ein wenig verzogen hatte, so daß sie einen Unterschlupf
+bieten konnte.
+
+Jedoch ich ließ der Spinne keine Zeit, sich den besten Platz
+auszusuchen. Ich nahm einen dünnen Zweig auf, der gerade zu meinen Füßen
+lag, und berührte damit die Spinne leicht, sie so zwingend, einen andern
+Weg zu wählen. Sie lief nun in rasender Schnelligkeit davon, aber wohin
+sie auch fliehen mochte, immer fand sie den angreifenden Zweig, entweder
+ihren Kopf berührend oder ihren Rücken. So lief sie kreuz und quer,
+immer verfolgt von dem Zweig, der ihr keine Gelegenheit ließ, zu einem
+Sprunge anzusetzen. Plötzlich aber, als ich sie gerade im Rücken
+berührte, machte sie blitzschnell kehrt, und in rasender Wut und mit
+unvergleichlicher Tapferkeit griff sie den sie belästigenden Zweig an,
+der gegenüber ihren bescheidenen Ausmaßen, etwa vier Zentimeter, für sie
+gigantische Formen und übernatürliche Kräfte haben mußte. Und immer,
+wenn ich den Zweig zurückzog, so daß sie glauben mußte, sie habe den
+Feind abgeschlagen oder wenigstens eingeschüchtert, lief sie auf die
+schützende Leiste zu. Schließlich besiegte sie mich doch und fand dort
+Unterschlupf, aber nicht genügend, um sich ganz zu verbergen, denn sie
+konnte sich nur zur Hälfte darin verkriechen.
+
+Nun schlug ich mit der flachen Hand an die Wand. Die Spinne kam sofort
+wieder hervor, lief eilends weiter nach oben, wo sie eine günstigere
+Höhle fand, in der sie sofort verschwand, ohne daß man noch viel von ihr
+sehen konnte.
+
+Um sie nun auch dort wieder hinauszujagen und zu sehen, was sie zu guter
+Letzt tun würde, schlug ich mit voller Gewalt mit der flachen Hand so
+fest gegen die Wand, daß das ganze Haus erzitterte.
+
+Die Spinne kam nicht hervor. Ich wartete einige Sekunden. Und als ich
+gerade zum zweiten Male kräftig gegen die Wand schlagen will, fällt
+innerhalb des Hauses etwas um.
+
+Was konnte das sein? Ich kannte das Innere des Hauses. Es war nichts,
+absolut gar nichts darin, was mit so einem merkwürdigen Geräusch
+umfallen konnte. Eine Stange, ein Stück Holz, das einzige, was es
+vielleicht hätte sein können, war es nicht, nach dem Geräusch zu
+urteilen. Es war schon eher wie ein mit Mais gefüllter Sack. Aber wenn
+ich mir das Geräusch vergegenwärtigte, so war etwas sonderbar Hartes
+dabei. Es konnte also kein Sack mit Mais sein.
+
+Es wäre nun doch so einfach gewesen, sofort die paar Sprossen der Leiter
+hinaufzuklettern, die Tür aufzustoßen und hineinzusehen. Aber irgendein
+unerklärbares Empfinden hielt mich davon ab. Es war wie Furcht, als
+könnte ich drinnen etwas unsagbar Grauenhaftes sehen.
+
+Ich nahm das Wasser auf und ging zu meinem Unterstand. Ich redete mir
+ein, daß es nicht Furcht vor dem Anblick von etwas ganz Gräßlichem sei,
+was mich veranlaßte, das Haus nicht zu betreten, sondern ich sagte mir:
+Du hast ja in dem Hause durchaus nichts zu suchen, du hast überhaupt gar
+kein Recht, es zu betreten, und vor allen Dingen, es geht dich ja gar
+nichts an, was da drin ist. So entschuldigte ich mein Gebaren.
+
+Als ich dann aber beim Feuer saß und darüber immer wieder nachdachte,
+was für ein Gegenstand das Geräusch verursacht haben könnte, kam mir
+plötzlich ein seltsamer Gedanke: In dem Hause hat sich jemand erhängt,
+und zwar schon vor einiger Zeit; die Schnur ist morsch geworden oder der
+Hals durchgefault, und nun beim Schlagen an die Wand ist der Körper
+erschüttert worden, die Schnur gerissen und der Leichnam umgefallen. So
+ähnlich war auch das Geräusch, als ob ein menschlicher Körper umfiele
+und der Kopf auf den Boden schlüge.
+
+Aber diese Idee war ja lächerlich. Sie schien zu zeigen, wohin die
+Phantasie einen führt, wenn man sich nicht von der Tatsache überzeugt.
+So verwandelt sich ein Baumstamm in der Dunkelheit in einen Räuber, der
+auf der Lauer steht. In den Tropen erhängt sich so leicht niemand, ich
+wenigstens habe nie davon gehört. Hier sind die Tage nicht trübe genug
+dazu. Und wenn es wirklich einer täte, so würde er in den Busch gehen,
+wo man drei Tage später bestenfalls nur noch an der Schnalle seines
+Gürtels erkennen würde, daß es sich um einen Mann handelt.
+
+Sooft ich auch noch Wasser holte, ich ging nicht in das Haus und vermied
+es sogar, irgendeine Spalte zu suchen und durchzulugen. Das Unbestimmte,
+das Geheimnisvolle sagte mir mehr zu als eine vielleicht sehr prosaische
+Gewißheit.
+
+Jedoch abends, wenn ich am Feuer saß oder wenn ich nachts wach lag,
+beschäftigten sich meine Gedanken mit nichts anderm als mit der Frage,
+was in dem Hause wohl sein könne.
+
+Am Freitag ging ich zu Mr. Shine und fragte ihn, ob er irgendwelchen
+Bescheid vom Manager habe. Aber Mr. Shine war die ganze Woche nicht im
+Store unten gewesen und würde auch die nächste Woche nicht hinunter
+kommen. Weil nun Montag der letzte Termin war, der für den
+Urlaubsantritt jenes Drillers, für den ich Ersatzmann sein sollte, in
+Betracht kam, so beschloß ich, Samstag früh, reisefertig mit meinem
+Bündel, selbst zum Store zu gehen und nachzufragen. War Bescheid da,
+dann konnte ich Sonntag mittag, also rechtzeitig genug, im Camp sein.
+War kein Bescheid da, so wußte ich, daß der Driller entweder nicht in
+Urlaub ging oder daß er die Sache anders zu regeln gedachte. In diesem
+Falle würde ich gleich zur Station gehen und meinen Plan, nach Guatemala
+zu wandern, ohne weiteres durchführen.
+
+Samstag früh holte ich mir Wasser für den Kaffee. Als ich mit dem Wasser
+an dem Hause schon ein Stück vorüber war, dachte ich, nun will ich aber
+doch noch zu guter Letzt nachsehen, was da drin los ist, denn wenn ich
+das nicht tu, so kann es sein, daß mich der Gedanke an das Haus die
+nächsten fünf bis sechs Monate nicht los läßt. Es konnte ja die bekannte
+Gelegenheit sein, die, einmal verpaßt, nie im Leben wiederkehrt.
+
+Ich kletterte die paar Sprossen der Leiter hinauf, stieß die Tür, die
+hier nur eingeklemmt war, auf und ging in den Raum, den einzigen Raum,
+den das Haus hatte.
+
+An der Wand zur Rechten sah ich etwas liegen, ein großes Bündel. Ich
+konnte aber nicht sofort erkennen, was es sein mochte, denn die Sonne
+war noch vor dem Aufgehen.
+
+Ich trat näher hinzu: Es war ein Mann. Tot!
+
+Es war Gonzalo.
+
+Gonzalo war getötet worden.
+
+Ermordet!
+
+Sein zerfetztes Hemd war schwarz von Blut. Ein Ball Baumwolle, den er
+zerknüllt in der rechten Hand hielt, war gleichfalls vollgesogen von
+Blut.
+
+Er hatte einen Stich in der Lunge und noch einige Stiche auf der Brust,
+an der rechten Schulter und am linken Oberarm.
+
+Der Körper war nicht verwest, sondern vertrocknet.
+
+Er hatte auf dem Boden gesessen, gegen die Wand gelehnt, und als ich
+gegen die Wand geschlagen hatte, war der Körper auf die Seite gefallen,
+und der Kopf war auf den Erdboden geschlagen.
+
+Ich suchte seine Taschen durch. Er hatte fünf Pesos und 85 Centavos
+darin. Er hätte haben müssen: wenigstens fünfundzwanzig bis dreißig
+Pesos.
+
+Also des Geldes wegen.
+
+Dann hatte er noch ein kleines Leinensäckchen mit Tabak neben sich
+liegen, auch einige geschnittene Maisblätter lagen verstreut herum.
+
+Während er sich eine Zigarette drehen wollte, war er überfallen worden,
+an derselben Stelle, wo er sich jetzt befand.
+
+Der Chinc und Antonio waren die letzten, die das Haus verlassen hatten.
+Der Chinc war nicht der Mörder. Wegen zwanzig Pesos jemand auch nur zu
+berühren, dazu war er viel zu klug. Diese zwanzig Pesos waren zu teuer
+für ihn.
+
+Also Antonio.
+
+Das hätte ich von ihm nie gedacht.
+
+Ich steckte Gonzalo das Geld wieder in die Tasche, ließ ihn jedoch
+liegen wie er lag.
+
+Dann klemmte ich die Tür wieder ein, wie ich sie gefunden hatte, und
+verließ das Haus.
+
+Kaffee kochte ich nun nicht mehr, sondern ich machte mich sofort auf den
+Weg.
+
+Ich ging zu Mr. Shine und sagte ihm, daß ich nun selber zum Camp gehen
+wolle und, falls nichts los sei, gleich weiter marschieren werde.
+
+„Haben Sie sich da oben in Ihrem luftigen Wohnhause nicht einsam
+gefühlt, Mr. Gale?“ fragte er.
+
+„Nein,“ sagte ich, „ich habe immer so viel zu sehen und so viel zu
+beobachten, daß der Tag herum ist, ehe ich es merke.“
+
+„Ich dachte, Sie würden vielleicht doch in das Haus übersiedeln, weil es
+eben ein Haus ist.“
+
+„Daran war nicht zu denken. Ich sagte Ihnen ja schon, als ich zurückkam,
+daß es darin vor Moskitos nicht auszuhalten sei.“
+
+„Um die Jahreswende wollen meine beiden Neffen auf Besuch kommen und
+hier ein wenig herumstreifen und jagen. Die stecke ich dann da hinein,
+da können sie hausen nach Belieben. Die werden die Moskitos schon
+ausräuchern. Na, dann also ‚Viel Glück!‘ Mr. Gale, für Ihre Zukunft.“
+
+Wir schüttelten uns die Hände, und ich ging.
+
+Warum hätte ich denn etwas sagen sollen? Daß ich der Mörder sein könnte,
+diesen Gedanken würde niemand haben; denn ich war ja vor allen den
+übrigen Leuten fortgegangen und hatte die ganze Zeit im Camp gearbeitet.
+
+Und hätte ich etwas von meinem Fund gesagt, so hätte das eine Unmenge
+Fragen verursacht, Hin- und Herlaufen und wer weiß was noch. Dabei wäre
+ich gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Camp gekommen.
+
+
+ 13
+
+Nachdem der Driller von seinem Urlaub zurückgekehrt war, wurde ich
+ausbezahlt und fuhr mit einem Lastwagen, der Öl zu holen hatte, zur
+Station, von der ich nach Dolores Hidalgo reiste. Von dort aus fuhr ich
+ohne viel Aufenthalt glatt durch bis zur nächsten größeren Stadt, so daß
+ich schon in wenigen Tagen in Guatemala sein konnte, vorausgesetzt, daß
+ich meinen Plan nicht wieder einmal änderte.
+
+In der Stadt wollte ich erst einmal herumhören, was im Süden los sei,
+was hinter den Gerüchten von den neuen Ölfeldern und den
+Arbeitsmöglichkeiten überhaupt zu suchen sei, und ob ich nicht besser
+vielleicht einen windigen Segelkasten ergattern und auf Argentinien los
+gehen sollte. Aber von dort kamen mir auch wieder zu viele herauf, die
+wahre Schauergeschichten von der furchtbaren Epidemie Arbeitslosigkeit
+berichteten. Achtzigtausend lagen in Buenos Aires auf der Straße und
+suchten eine Gelegenheit, fortzukommen. Aber schlimmer als in Mexiko
+konnte es ja dort auf keinen Fall sein.
+
+Ich setzte mich auf eine Bank im Park. Ich ließ mir die Stiefel putzen,
+trank ein Glas Eiswasser, und als ich mich von diesen Beschäftigungen
+gerade so recht ungestört, zufrieden mit mir und der Welt, ausruhen
+will, sehe ich, daß auf der Bank, der meinen gegenüber, ein Bekannter
+sitzt.
+
+Es ist Antonio.
+
+Ich gehe ’rüber zu ihm und sage: „Hallo, Antonio, guten Tag, was machen
+Sie denn hier?“
+
+Wir gaben uns die Hand. Er war sehr erfreut, mich zu sehen. Ich setzte
+mich neben ihn und sagte ihm, daß ich auf der Suche nach Arbeit sei.
+
+„Das ist gut“, sagte er. „Ich arbeite seit zwei Wochen in einer
+Bäckerei, Brot- und Kuchenbäckerei. Da können Sie gleich heute anfangen
+als Bäcker. Wir suchen gerade einen Gehilfen. Sie haben doch schon als
+Bäcker gearbeitet, nicht wahr?“
+
+„Nein,“ erwiderte ich, „ich habe zwar schon in hundert verschiedenen
+Berufen gearbeitet, sogar schon als Kameltreiber – und das ist eine
+gottverfluchte Beschäftigung –, aber bis zu einem Bäcker habe ich es
+noch nicht gebracht.“
+
+„Das ist ausgezeichnet, dann können Sie anfangen,“ sagte Antonio darauf.
+„Wenn Sie nämlich Bäcker wirklich wären oder etwas vom Backen
+verstünden, dann wäre nichts zu machen. Der Inhaber ist ein Franzose, er
+hat keine Ahnung vom Backen; wenn Sie ihm erzählen, in ein Brot gehöre
+Pfeffer hinein, das glaubt er Ihnen. Der wird Sie natürlich fragen, ob
+Sie Bäcker seien. Da müssen Sie ganz dreist sagen, das sei Ihr Beruf,
+seitdem Sie nicht mehr in die Schule gingen. Der Meister ist ein Däne,
+ein entlaufener Schiffskoch. Er versteht auch nichts vom Backen. Seine
+größte Sorge ist nun, daß ein richtiger Bäcker dort anfangen könnte,
+einer, der das Backen wirklich versteht. Dann wäre es natürlich mit der
+Meisterherrlichkeit des Dänen gleich aus, denn ein richtiger Bäcker
+würde doch nach zehn Minuten sehen, was los ist. Wenn Sie nun der
+Meister fragt, müssen Sie gerade das Gegenteil sagen von dem, was Sie zu
+dem Inhaber sagen. Zum Meister müssen Sie sagen, es sei das erstemal in
+Ihrem Leben, daß Sie in einer Backstube stehen. Dann nimmt er Sie sofort
+an, und Sie sind sein Freund.“
+
+„Das kann ich ja gut machen. Als Bäcker wollte ich schon immer mal
+arbeiten,“ sagte ich, „man kann dann, wenn man mal in der Verlegenheit
+ist, die Bäcker alle so schön mitnehmen und stoßen. Dann hört die Sorge
+um das tägliche Brot auf, und man hält es leichter aus. Also, wird
+gemacht. Was ist denn der Lohn?“
+
+„Ein Peso und fünfundzwanzig Centavos.“
+
+„Nackt?“
+
+„Ach wo, mit Essen und Schlafen. Seife haben wir auch frei. Sie kommen
+weiter damit als beim Baumwollpflücken, das kann ich Ihnen ganz gewiß
+sagen.“
+
+„Wie ist denn das Essen? Gut?“
+
+„Ach, es ist nicht gerade schlecht, es ist –“
+
+„Weiß schon Bescheid.“
+
+„Aber man wird immer satt.“
+
+„Kenne die Magenkneter zur Genüge.“
+
+Antonio lachte und nickte. Er drehte sich eine Zigarette, bot mir Tabak
+und Maisblatt an und sagte nach einer Weile: „Unter uns gesagt, das mit
+dem Essen ist auszuhalten. Hier wird in den Bäckereien und Konditoreien
+mit Eiern und Zucker gewirtschaftet, daß es eine wahre Freude ist. Na
+und sehen Sie, da kommt es auf so ein Dutzend Eier auf den Mann nicht
+an. Da sind rasch drei Eier in die Tasse geschlagen, mit Zucker
+verrührt, und da hilft man der Kost nach. Das macht man in der Nacht und
+am Vormittag so vier- oder fünfmal, dann können Sie schon gut
+zurechtkommen.“
+
+„Wie lange arbeitet ihr denn?“
+
+„Das ist verschieden, manchmal fangen wir schon um zehn Uhr abends an
+und arbeiten dann durch bis eins, zwei oder drei Uhr nachmittags.
+Manchmal wird es auch fünf.“
+
+„Das wären dann also fünfzehn bis neunzehn Stunden täglich?“
+
+„So ungefähr. Aber nicht immer, manchmal, besonders Dienstags und
+Donnerstags, fangen wir auch erst um zwölf an.“
+
+„Verlockend ist es ja nun gerade nicht“, sagte ich.
+
+„Aber man kann ja so lange dort arbeiten, bis man etwas Besseres
+findet.“
+
+„Natürlich! Wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, würde man ja
+auch Zeit finden, sich nach andrer Arbeit umsehen zu können. Aber so!
+Immerhin, ich werde anfangen.“
+
+Der Gedanke, daß ich von nun an mit einem Raubmörder Tag und Nacht
+zusammenarbeiten, mit ihm aus derselben Schüssel essen, mit ihm
+vielleicht gar im selben Bett schlafen sollte, der Gedanke kam mir gar
+nicht. Entweder war ich moralisch schon so tief gesunken, daß ich für
+solche Feinheiten der Zivilisation das Empfinden verloren hatte, oder
+aber ich war so weit über meine Zeit hinausgewachsen und über die
+herrschende Sitte erhaben, daß ich jede menschliche Handlung verstand,
+daß ich mir weder das Recht anmaßte, jemand zu verurteilen, noch mir die
+billige Sentimentalität einflößte, jemand zu bemitleiden. Denn Mitleid
+ist auch eine Verurteilung, wenn auch eine uneingestandene, wenn auch
+eine unbewußte. Und vielleicht ein Gefühl des Schauderns vor Antonio,
+Abscheu, seine Hand zu schütteln? Es laufen so viele Raubmörder herum,
+wirkliche und moralische, mit Brillanten an den Fingern und einer dicken
+Perle in der Halsbinde oder goldenen Sternen auf den Achseln, denen
+jeder Ehrenmann die Hand drückt und sich dabei noch geehrt fühlt. Jede
+Klasse hat ihre Raubmörder. Die der meinen werden gehenkt; diejenigen,
+die nicht meiner Klasse angehören, werden bei Mr. Präsident zum Ball
+eingeladen und dürfen auf die Sittenlosigkeit und Roheit, die in meiner
+Klasse herrscht, schimpfen.
+
+Zu solchen Gedanken verwildert man und sinkt man hinab in den Morast und
+zwischen den Abschaum der Menschheit, wenn man um Brotrinden kämpfen
+muß.
+
+Aber aus diesem Strudel törichter und verrückter Gedanken, die mir das
+Blut zu Kopfe jagten, riß mich plötzlich Antonio mit der Frage:
+
+„Wissen Sie, Gale, wer noch hier in der Stadt ist?“
+
+„Nein! Wie kann ich das auch wissen, ich bin ja gestern abend erst
+angekommen.“
+
+„Sam Woe, der Chinese.“
+
+„Was tut denn der hier? Hat der hier auch Arbeit gefunden?“
+
+„Aber nein! Er hat uns doch damals schon immer erzählt von seiner
+Speisewirtschaft, die er aufmachen wollte.“
+
+„Und hat er eine aufgemacht?“
+
+„Natürlich! Das können Sie sich doch denken. Was sich so ein Chinc
+einmal vornimmt, das tut er auch. Er hat das Geschäft mit einem
+Landsmann in Kompanie.“
+
+„Ja, lieber Antonio, wir haben halt nicht die geschäftliche Ader, die zu
+solchen Dingen notwendig ist. Ich glaube sicher, wenn ich ein solches
+Geschäft gründete, würden sofort alle Leute ohne Magen geboren, nur
+damit ich ja nicht etwa auf einen grünen Zweig komme.“
+
+„Das kann schon möglich sein“, lachte Antonio. „Geht mir gerade ebenso.
+Ich habe schon einen Zigarettenstand gehabt, schon einen
+Zuckerwarentisch, habe schon Eiswasser herumgeschleppt und wer weiß was
+nicht sonst noch alles versucht. Mir hat selten jemand etwas abgekauft.
+Ich habe immer elendiglich Pleite gemacht.“
+
+„Ich glaube, die Ursache ist eben,“ erwiderte ich, „wir können die Leute
+nicht genügend anschwindeln. Und schwindeln muß man können, wenn man
+Geschäfte machen will. Aber gründlich.“
+
+„Wir könnten eigentlich mal hingehen zu Sam. Der wird sich auch freuen,
+Sie zu sehen. Ich esse ab und zu ganz gern mal draußen irgendwo. Zur
+Abwechslung, sehen Sie. Jeden Tag denselben langweiligen Fraß, das wird
+einem auch über.“
+
+
+ 14
+
+Wir machten uns also auf den Weg in das Gelbe Viertel, wo die Chinesen
+alle wohnten, wo sie ihre Geschäfte und ihre Restaurants haben. Nur
+wenige hatten ihre Läden in andern Stadtvierteln. Sie hocken am liebsten
+immer zusammen.
+
+Sam war wirklich hoch erfreut, mich zu sehen. Er drückte mir immer
+wieder die Hand, lachte und schwatzte drauflos, lud uns zum Niedersetzen
+ein, und wir bestellten unser Essen.
+
+Die chinesischen Speisewirtschaften sind alle über einen Kamm geschoren.
+Einfache viereckige Holztische, manchmal nur drei, an jedem Tisch drei
+oder vier Stühle. Wegen der Menge der Speisen, die man erhält, können
+bestenfalls drei sehr verträgliche Gäste gleichzeitig an einem Tisch
+sitzen. Was in der Küche vor sich geht, kann man in den meisten Fällen
+von seinem Tische aus mit ansehen.
+
+Die Art und die Menge der Speisen ist in allen chinesischen
+Speisewirtschaften der Stadt die gleiche. So schließen die Chinesen
+unter sich jede unreelle Konkurrenz aus.
+
+Sam hatte fünf Tische. Auf jedem Tische stand eine braunrote, tönerne,
+weitbauchige Wasserflasche, von der Art und Form, wie sie schon bei den
+Azteken im Gebrauch war. Dann eine Flasche mit Öl und eine mit Essig.
+Ferner eine Büchse mit Salz, eine mit Pfeffer, eine große Schale mit
+Zucker und ein Glas mit Chile. Chile ist eine dicke aufgekochte Suppe
+von roten und grünen Pfefferschoten. Ein halber Teelöffel in die Suppe
+getan, genügt, um einen normalen Europäer zu veranlassen, die Suppe als
+total verpfeffert und durchaus ungenießbar zu erklären, weil sie ihm
+Zunge und Gaumen verbrennen würde.
+
+Sam bediente die Gäste, während sein Geschäftsteilhaber mit Hilfe eines
+indianischen Mädchens die Küche besorgte.
+
+Zuerst bekamen wir einen großen Klumpen Eis in einem Glase, das wir mit
+Wasser füllten. Kein Wirt hier berechnet den Wert seines Geschäftes nach
+dem Bierverbrauch, man erhält Bier nur auf ausdrückliches Verlangen; und
+kein Wirt verdirbt einem den Genuß beim Essen durch sein ewiges
+Lamentieren, daß er am Essen nichts verdienen könne. Dann bekamen wir
+ein großes Brötchen, es folgte die Suppe. Es ist immer Nudelsuppe.
+Antonio schüttete sich einen Eßlöffel voll Chile in die Suppe, ich zwei,
+zwei gehäufte. Ich habe ja bereits erwähnt, daß ein halber Teelöffel die
+Suppe für einen normalen Europäer ungenießbar macht. Aber man wird auch
+bereits bemerkt haben, daß ich weder normal bin, noch daß ich mich zu
+den Europäern zähle. Die Europäer haben mir das abgewöhnt, nicht die
+Indianer in der Sierra de Madre. Während wir noch in der Suppe
+herumfischten, kamen ein Beefsteak, geröstete Kartoffeln, ein Teller mit
+Reis, ein Teller mit butterweichen Bohnen und eine Schüssel mit Gulasch.
+Das gibt es hier nicht, daß man sich nach jedem Gang die Galle anärgern
+muß, weil der Kellner sich eine halbe Stunde lang erst überlegt, ob er
+einem nun den folgenden Gang eigentlich bringen soll oder nicht. Hier
+werden alle Gänge gleichzeitig auf den Tisch gestellt.
+
+Nun ging das Tauschen vor sich. Antonio tauschte seine Bohnen ein gegen
+Tomatensalat, den man sich selbst am Tische zubereitet, und ich tauschte
+meinen Gulasch ein gegen ein Omelett.
+
+Antonio schüttete seinen Reis gleich in die Suppe; hätte er seine Bohnen
+behalten, würde er sie auch noch dazugeschüttet haben. Aber Bohnen
+schien es genug in der Bäckerei zu geben, dagegen wohl seltener
+Tomatensalat.
+
+Ich schüttete mir eine Lage schwarzen Pfeffer auf das Beefsteak und eine
+Lage auf die gerösteten Kartoffeln. Dann würzte ich den Reis mit zwei
+Eßlöffel Chile und die Bohnen mit vier Eßlöffel Zucker.
+
+Darauf kam für jeden ein Stück Torte. Antonio bestellte Eistee mit
+Zitrone, ich Café con leche, wofür man auch ebensogut sagen kann: Kaffee
+mit Milch. Kaffee trinkt man mit einem Drittel des Tasseninhaltes Zucker
+darin. Diese Sitte halte ich für sehr gut und für sehr vernünftig.
+
+Beim Bezahlen an der Kasse bekommt man dann noch einige Zahnstocher.
+Deshalb sieht man auch nie, daß ein Mexikaner mit der Gabel in den
+Zähnen herumfuhrwerkt, wie ich das in Lyons Cornerhouse am Trafalgar
+Square und an andern Plätzen, leider auch in Mitteleuropa, häufig zu
+beobachten Gelegenheit hatte. Daß man mit dem Messer recht gut essen
+kann, ohne sich gleich die Lippen oder die Mundwinkel aufzuschlitzen,
+wie so oft von ungeschickten und furchtsamen Leuten behauptet wird, weiß
+ich aus eigner Erfahrung. Etwas unbequem sind die starken
+Seemannsmesser, wie ich eines habe, weil die am Ende spitz sind und
+nicht breit, deshalb kriegt man die Tunke nicht so gut aus der Pfanne,
+und man muß mit dem Finger nachhelfen. Ob man hier den Fisch mit dem
+Messer ißt oder mit dem Eßlöffelstiel, weiß ich nicht. Sooft ich
+Mexikaner habe Fisch essen sehen, an den offenen Garküchen, auf den
+Märkten und an andern Orten, aßen sie ihn immer mit dem Zeigefinger und
+dem Daumen. Das heißt, sie aßen ihn natürlich, wie jeder erwachsene und
+vernünftige Mensch es tut, mit dem Munde, aber ich meine, sie packen
+ihre Beute mit den Fingern. Die Verkäufer haben auch meist gar kein
+Messer, das sie dem Gast geben könnten, sondern eben auch nur die
+natürlichen Werkzeuge, die sie nicht erst zu kaufen brauchen.
+
+In diesen Gedankengängen bewegte sich unser Tischgespräch, weil wir, der
+besseren Verdauung wegen, während des Essens nichts Gedankenschweres in
+unserm Hirn herumwälzen wollten, und weil man beim Essen nur vom Essen
+sprechen soll.
+
+Ich führe dieses Gespräch hier auch nur an, um zu zeigen, daß wir keine
+ungebildeten Leute oder, was viel schlimmer ist, etwa gar revolutionäre
+Arbeiter waren. Denn das kann man so sehr leicht werden, wenn man sich
+gehen läßt und nachgibt, besonders wenn man augenblicklich keine andre
+Zukunftsmöglichkeit vor Augen sieht als eine fünfzehn- bis
+siebzehnstündige Arbeitszeit für einen Peso fünfundzwanzig.
+
+Für diese Mahlzeit zahlten wir jeder fünfzig Centavos, alles
+einbegriffen. Es war der übliche Preis in einer chinesischen
+Speisewirtschaft. Antonio goß sich noch ein Glas Wasser ein, spülte sich
+gründlich Mund und Zähne und spuckte das Wasser auf den Fußboden.
+Saubern Mund und saubre Zähne zu haben, ist dem Mexikaner wichtiger als
+ein trockner Fußboden. Die nimmermüde tropische Sonne trocknet ja den
+Fußboden, ehe sich der nächste Gast an unsern Tisch setzt.
+
+
+ 15
+
+Nun segelten wir zuerst einmal zu der Bäckerei. Ich ging in den Laden
+und fragte den Verkäufer nach dem Prinzipal.
+
+„Sind Sie Bäcker?“ fragte der Inhaber.
+
+„Jawohl, Brot- und Kuchenbäcker“, sagte ich.
+
+„Wo haben Sie denn zuletzt gearbeitet?“
+
+„In Monterrey.“
+
+„Gut, dann können Sie heute abend anfangen. Freie Kost, Wohnung, Wäsche
+und einen Peso fünfundzwanzig für den Tag.“
+
+„Halt!“ sagte er plötzlich. „Sind Sie sicher auf Torten, auf Torten mit
+Gußornamenten?“
+
+„Ich habe in meiner letzten Stellung in Monterrey nur Torten mit
+Gußornamenten gebacken.“
+
+„Das ist fein! Da will ich aber doch erst mal mit meinem Meister
+sprechen, was der dazu sagt. Ein sehr tüchtiger Meister, von dem können
+Sie viel lernen.“
+
+Er ging mit mir in die Kammer, wo der Meister sich gerade die Stiefel
+anzog, um auszugehen.
+
+„Hier ist ein Bäcker aus Monterrey, der Arbeit sucht. Hören Sie mal, ob
+Sie ihn brauchen können.“
+
+Der Inhaber ging wieder in sein Zimmer und ließ uns beide allein.
+
+Der Meister, ein kleiner dicker Bursche mit Sommersprossen, zog sich
+ruhig erst die Stiefel an, dann setzte er sich auf den Bettrand und
+zündete sich eine Zigarre an.
+
+Nachdem er ein paar Züge getan hatte, betrachtete er mich mißtrauisch
+von oben bis unten und sagte endlich:
+
+„Sie sind Bäcker?“
+
+„Nein, ich habe keine blasse Ahnung vom Backen.“
+
+„So!?“ sagte er darauf, immer noch mißtrauisch. „Verstehen Sie was von
+Torten?“
+
+„Gegessen habe ich schon welche,“ sagte ich, „aber wie sie gemacht
+werden, davon habe ich keinen Begriff. Ich wollte das gerade lernen.“
+
+„Hier haben Sie eine Zigarre. Sie können anfangen, heute abend um zehn
+Uhr. Aber pünktlich! Wollen Sie was essen?“
+
+„Nein, danke! Nicht jetzt.“
+
+„Gut, ich werde mit dem Alten sprechen. Ich will Ihnen nun Ihr Bett
+zeigen.“
+
+Sein Mißtrauen war geschwunden, und er war sehr freundlich.
+
+„Ich werde einen tüchtigen Bäcker und Konditor aus Ihnen machen, wenn
+Sie gut aufpassen und willig sind.“
+
+„Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein, Senjor. Bäcker und Konditor
+wollte ich schon immer werden.“
+
+„Wenn Sie nun wollen, können Sie schlafen gehen oder sich die Stadt
+ansehen. Ganz, wie Sie wollen.“
+
+„Gut!“ sagte ich, „dann will ich in die Stadt gehen.“
+
+„Also um zehn Uhr, nicht wahr?“
+
+Ich traf, wie verabredet, Antonio im Park auf der Bank.
+
+„Na?“ begrüßte er mich.
+
+„Ich fange heute abend an.“
+
+„Das ist gut“, sagte er. „Vielleicht gehe ich später mit Ihnen ’runter
+nach Kolumbien.“
+
+Ich setzte mich zu ihm.
+
+Weil ich nicht recht wußte, was ich mit ihm reden sollte, und um ein
+Gesprächsthema zu haben, dachte ich, jetzt ist der gegebene Zeitpunkt,
+nach Gonzalo zu fragen. Es war mir eigentlich nicht so sehr darum zu
+tun, nur zu schwätzen, als vielmehr zu beobachten, wie er sich benehmen
+würde, wie sich ein Mensch beträgt, der einen Raubmord auf dem Gewissen
+hat und den man damit überrascht, daß man ihm sagt, man wisse es.
+
+Eine Gefahr war freilich damit verknüpft. War Antonio in Wahrheit ein
+echter Mörder, dann würde er bei erster Gelegenheit mich auf die Seite
+schaffen als Mitwisser. Aber darauf wollte ich es ankommen lassen. Diese
+Gefahr kitzelte mich erst recht, auf den Busch zu klopfen. Ich war ja
+vorbereitet und konnte mich meiner Haut wehren. Mit ihm allein durch den
+Busch, vielleicht gar nach Kolumbien zu trampen, würde ich dann schon
+wohlweislich vermeiden.
+
+„Wissen Sie, Antonio,“ sagte ich plötzlich aus heiler Haut heraus, „daß
+Sie von der Polizei gesucht werden?“
+
+„Ich?“ erwiderte er ganz erstaunt. – „Ja, Sie!“
+
+„Weswegen denn? Ich weiß nicht, daß ich etwas verbrochen habe.“
+
+Es klang sehr aufrichtig; mir schien, zu aufrichtig, um echt zu sein.
+
+„Wegen Mordes! Wegen Raubmordes!“ setzte ich hinzu.
+
+„Sie sind wohl verrückt, Gale. Ich wegen Raubmordes? Da sind Sie aber
+böse im Irrtum. Vielleicht eine Namensähnlichkeit.“
+
+„Wissen Sie, daß Gonzalo tot ist?“
+
+„Was?“ Er schrie es beinahe.
+
+„Ja“, sagte ich ruhig, ihn im Auge behaltend. „Gonzalo ist tot. Ermordet
+und beraubt.“
+
+„Der arme Kerl! Er war ein guter Bursche“, sagte Antonio bedauernd.
+
+„Ja,“ bestätigte ich, „er war ein braver Kerl! Und es ist schade um ihn.
+Wo haben Sie ihn denn zuletzt gesehen, Antonio?“
+
+„In dem Hause, wo wir alle wohnten.“
+
+„Mr. Shine erzählte mir, daß ihr drei, Sie, Gonzalo und Sam, zusammen am
+Montag morgen fortgegangen seid.“
+
+„Wenn Mr. Shine das sagt, dann irrt er. Gonzalo ist zurückgeblieben. Wir
+zwei nur, Sam und ich, sind zur Station gegangen.“
+
+„Das verstehe ich nicht“, sagte ich nun. „Mr. Shine hat am Fenster oder
+in der Tür gestanden, ich weiß nicht wo, und hat euch drei bestimmt
+gesehen.“
+
+Da lachte Antonio leicht auf und sagte: „Mr. Shine hat recht und ich
+habe auch recht. Aber der dritte, der bei uns war, war nicht Gonzalo,
+sondern einer dort aus der Gegend, einer von den Eingeborenen, der die
+Hühner von Abraham kaufen wollte, weil er dachte, er könne sie billig
+haben. Abraham war aber schon zwei Tage fort und hatte die Hühner
+bereits verkauft, ich glaube an Mr. Shine.“
+
+„In dem Hause, wo Sie Gonzalo zuletzt gesehen haben,“ sagte ich nun
+langsam, „habe ich ihn auch gefunden, ermordet und beraubt. Das heißt,
+es ist ihm nicht alles geraubt worden, fünf Pesos und etwas darüber hat
+ihm der Mörder gelassen.“
+
+„Ich möchte ernst bleiben bei der tragischen Geschichte,“ sagte Antonio,
+leicht vor sich hingrinsend, „aber da muß ich doch lachen. Das übrige
+Geld von Gonzalo habe ich.“
+
+„Na also!“ rief ich. „Davon rede ich ja die ganze Zeit.“
+
+„Davon reden Sie allerdings, Gale“, erwiderte Antonio. „Aber das Geld
+habe ich ihm doch abgewonnen. Sam weiß das gut, der war doch dabei. Sam
+hat selber fünf Pesos dabei verloren. Er hat sich ja mit in die Wette
+hineingedrängt.“
+
+Das wurde jetzt eine merkwürdige Geschichte.
+
+„Sam, ich und der Indianer, wir sind zusammen vom Hause fortgegangen.
+Gonzalo wollte zurückbleiben und sich gut ausschlafen. Ich bin mit Sam
+bis Celaya gefahren. Sam ist dann weitergefahren, und ich bin teils
+gelaufen, teils habe ich ein paar Strecken mit den Zügen blind gemacht.“
+
+Was Antonio sagte, klang wahr. Außerdem hatte er Sam als Zeugen. Und daß
+Antonio diese weite Strecke von Celaya zurückgereist sein sollte, um
+Gonzalo zu ermorden, war ganz und gar unwahrscheinlich. Sein Geld hatte
+er ihm ja abgewonnen, ehrlich, Sam war Zeuge. Irgendeinen Wertgegenstand
+besaß Gonzalo nicht. Wir kannten jeder den ganzen Tascheninhalt des
+andern; und auf dem Leibe konnte auch niemand etwas verbergen, wir
+liefen ja immer dreiviertel nackt herum. Da war nichts Verdächtiges
+übrig, Antonio war unschuldig.
+
+„Na, lieber Antonio,“ sagte ich, „da bitte ich Sie herzlich um
+Verzeihung, weil ich geglaubt habe, Sie könnten am Morde oder Tode des
+Gonzalo schuldig sein.“
+
+„Macht nichts, Gale,“ antwortete er gemütlich, „nehme ich Ihnen nicht
+übel; aber ich hätte doch gedacht, Sie würden nicht gleich das Böseste
+von mir denken. Ich habe doch nie jemand irgendeine Ursache hierfür
+gegeben.“
+
+„Das ist wahr. Das haben Sie nicht“, sagte ich darauf. „Aber sehen Sie,
+die Umstände waren so merkwürdig auf Sie gerichtet. Sie und Sam waren
+die letzten mit Gonzalo im Hause. Gonzalo hat, wenn er, wie Sie sagen,
+nicht mit Ihnen gegangen ist, das Haus nicht mehr verlassen. Er ist
+darin ermordet worden. Mr. Shine sagte mir, daß, seit Sie fortgegangen
+seien, niemand sonst dort herum war. Es gibt ja nichts zu stehlen da,
+und ein Weg, der jemand zufällig dahin bringen könnte, führt auch nicht
+vorbei. Ich bin noch mal oben gewesen, weil ich dort auf Bescheid von
+einem Öl-Camp warten mußte. Rein aus Neugierde geriet ich in das Haus
+und fand Gonzalo tot. Er hatte mehrere Wunden von Messerstichen, die
+gefährlichste war ein Lungenstich in der linken Brust, an dem Stich ist
+er offenbar verblutet.“
+
+Als ich das von den Wunden so langsam erzählte, ging in Antonio eine
+erschütternde Veränderung vor sich. Er wurde leichenblaß, starrte mich
+mit entsetzten Augen an, bewegte die Lippen und schluckte und schluckte,
+konnte aber kein Wort hervorbringen. Mit der linken Hand arbeitete er an
+seinem Gesicht und an seinem Halse, als ob er sich das Fleisch
+herunterreißen wollte, während er mit der rechten Hand wie im Traum nach
+meiner Schulter und nach meiner Brust tastete, als ob er sich
+vergewissern müsse, ob da jemand sitze oder ob das nur eine
+Wahnvorstellung sei.
+
+Ich wußte nicht, was ich aus all dem machen sollte. Ich konnte mir jetzt
+überhaupt nichts mehr erklären. In Antonio zeigte sich plötzlich das
+ganze Schuldbewußtsein eines Menschen, dem seine Tat mit allen ihren
+Folgen klar zu werden beginnt. Und eben noch hatte er gelacht, als ich
+ihn des Mordes an Gonzalo verdächtigte. Wie sollte ich mir ein solches
+Verhalten zurechtlegen, um darüber nicht selbst meine Gedanken zu
+verschlingern und mir vielleicht gar noch einzuträumen, daß ich selbst
+Gonzalo erschlagen habe!
+
+
+ 16
+
+Die Lampen im Park flammten auf.
+
+Die Nacht war blitzschnell über uns hereingebrochen in der kurzen
+Zeitspanne, wo der Kampf in Antonio begann. Denn es war im hellen
+Tageslicht gewesen, daß ich sein Gesicht offen und unbefangen zuletzt
+gesehen hatte. Und nun deckte die Nacht das in seinem Gesicht zu, was
+für mich der nackte, der natürliche, der wahre, der unverschleierte
+Mensch Antonio war. Das, was für mich ein unvergeßliches Ereignis hatte
+werden sollen, die Züge und Gesten eines Menschen zu studieren, den die
+finstersten Mächte überfallen haben, den sie schütteln und rütteln und
+dem sie jedes Härchen und jede Pore an seinem Körper in Aufruhr
+versetzen, wurde mir nun zerstört durch die grellen Lampen, die in das
+Gesicht Antonios Schatten und Linien hineinlogen, die in Wahrheit nicht
+darinnen waren.
+
+Wahrheit allein war sein heißes Atmen, und Wahrheit allein waren seine
+tastenden und krallenden Finger. Alles andre wurde Rampenlicht. Auf der
+Nebenbank saß ein indianischer Arbeiter, zerlumpt wie zehntausende
+unsrer Klasse, weil der Lohn kaum für das Essen reicht, häufig nichts
+übrigbleibt für eine Dreißig-Centavos-Pritsche in einem der vielen
+Schlafhäuser, wo sich morgens fünfzig oder achtzig oder hundert
+Schlafgenossen aller Rassen und aller Völker der Erde, behaftet mit
+vielleicht ebenso vielen oder mehr Krankheiten, die von den Ärzten
+gekannt und nicht gekannt oder nicht einmal erahnt sind, alle in
+demselben Wascheimer waschen, alle an demselben Handtuch abtrocknen,
+alle mit demselben Kamm kämmen.
+
+Der indianische Prolet war auf der Bank eingeschlafen. Seine Glieder
+entspannten sich, und der ganze ermüdete und abgearbeitete Körper sank
+zu einem Häuflein Lumpen mehr und mehr zusammen.
+
+Da schlich sich ein indianischer Polizist heran. Er umkreiste die Bank
+wie ein Raubvogel seine Beute, die er aus seiner Höhe auf dem Erdboden
+kriechen sieht. Dann, als er wieder an der Rückseite der Bank war, zog
+er seine Lederpeitsche durch die Hand und hieb, mit bestialischer
+Brutalität und mit einem tückischen Grinsen auf dem Gesicht, dem
+Arbeiter die Peitsche über den Rücken. Ein furchtbarer Hieb. Mit einem
+unterdrückten ächzenden Schrei fiel der Oberkörper des Indianers kurz
+nach vorn über, als hätte man ihm den Rücken mit einem Schwert
+durchschnitten. Dann aber schnellte der Körper rasch nach hinten, und
+sich mit einem Gestöhn windend, griff er langsam mit der Hand nach dem
+gemarterten Rücken. Der Polizist trat jetzt nach vorn und grinste den
+Arbeiter mit einer teuflischen Grimasse an. Dem Gepeinigten liefen vor
+Schmerzen dicke Tränen über das Gesicht. Aber er sagte nichts. Er stand
+nicht auf. Er blieb ruhig auf der Bank sitzen. Denn das war sein Recht.
+Sitzen durfte er auf der Bank, er mochte noch so zerlumpt sein, es
+mochten noch so viele elegante Caballeros und Senjoras herumirren, um
+die Kühle des Abends auf einer der bequemen Bänke zu genießen und dem
+Konzert zuzuhören, das bald beginnen würde. Der Indianer wußte, er war
+der Bewohner und der Bürger eines freien Landes, wo der Millionär nicht
+mehr Recht hat, auf dieser Bank zu sitzen, und wäre es vierundzwanzig
+Stunden lang, als der arme Indianer. Aber schlafen durfte er nicht auf
+der Bank. So weit ging die Freiheit nicht, obgleich die Bank auf dem
+„Platze der Freiheit“ stand. Es war die Freiheit, wo derjenige, der die
+Autorität besitzt, den peitschen darf, der die Autorität nicht hat. Der
+uralte Gegensatz zweier Welten. Uralt wie die Geschichte von der
+Herauspeitschung aus dem Paradiese. Der uralte Gegensatz zwischen der
+Polizei und den Mühseligen und Beladenen und Hungernden und
+Schlafbedürftigen. Der Indianer war im Unrecht, das wußte er wohl,
+deshalb sagte er nichts, sondern stöhnte nur. Satan oder Gabriel –
+dieser hier hielt sich für das zweite – war im Recht.
+
+Nein! Er war nicht im Recht! Nein! Nein! Mir stieg das Blut zu Kopfe. In
+allen Ländern der hohen Zivilisation, in England, in Deutschland, in
+Amerika und erst recht in den andern Ländern, ist es die Polizei, die
+peitscht, und ist es der Arbeiter, der gepeitscht wird. Und da wundert
+sich dann der, der zufrieden an der Futterkrippe sitzt, wenn plötzlich
+an der Krippe gerüttelt wird, wenn die Krippe plötzlich umgeschleudert
+wird und alles in Scherben geht. Aber ich wundere mich nicht. Eine
+Schußwunde vernarbt. Ein Peitschenhieb vernarbt nie. Er frißt sich immer
+tiefer in das Fleisch, trifft das Herz und endlich das Hirn und löst den
+Schrei aus, der die Erde erbeben läßt. Den Schrei: „Rache!“ Warum ist
+Rußland in den Händen der Bolsches? Weil dort vor dieser Zeit am meisten
+gepeitscht wurde. Die Peitsche der Polizisten ebnet den Weg für die
+Heranstürmenden, deren Schritte Welten erdröhnen und Systeme explodieren
+macht.
+
+Wehe den Zufriedenen, wenn die Gepeitschten „Rache“ schreien! Wehe den
+Satten, wenn die Peitschenstriemen das Herz der Hungernden zerfressen
+und das Hirn der Geduldigen auseinanderreißen! Man zwang mich, Rebell zu
+sein und Revolutionär. Revolutionär aus Liebe zur Gerechtigkeit, aus
+Hilfsbereitschaft für die Beladenen und Zerlumpten. Ungerechtigkeit und
+Unbarmherzigkeit sehen zu müssen, macht ebenso viele Revolutionäre wie
+Unzufriedenheit oder Hunger.
+
+Ich sprang auf und ging zu der Bank, wo immer noch der Polizist stand,
+die Peitsche durch die Hand ziehend, sie ab und zu durch die Luft
+pfeifen lassend und mit funkelnden Augen auf sein sich windendes Opfer
+grinsend. Er nahm keine Notiz von mir, weil er glaubte, ich wolle mich
+auf die Bank setzen.
+
+Ich ging aber dicht auf ihn zu und sagte: „Führen Sie mich sofort zur
+Wache. Ich werde Sie zur Meldung bringen. Sie wissen, daß Ihre
+Instruktion Ihnen nur das Recht gibt, sich der Peitsche zu bedienen,
+falls Sie angegriffen werden oder bei Straßenaufläufen nach wiederholtem
+Aufruf. Das wissen Sie doch?“
+
+„Aber der Hund hat hier auf der Bank geschlafen“, verteidigte sich der
+kleine braune Teufel, der kaum höher war als fünf Fuß.
+
+„Dann durften Sie ihn wecken und ihm sagen, daß er hier zu dieser Zeit
+nicht schlafen dürfe, und wenn er wieder einschlafen sollte, durften Sie
+ihn von der Bank verweisen, aber auf keinen Fall durften Sie ihn
+schlagen. Also kommen Sie mit zur Wache. Von morgen ab werden Sie keine
+Möglichkeit mehr haben, jemand zu peitschen.“
+
+Der Bursche sah mich eine Weile an, sah, daß ich ein Weißer war, und
+sah, daß ich es im Ernst sagte. Er hing die Peitsche an den Haken in
+seinem Gürtel, und mit einem schnellen Satz war er verschwunden, als
+habe ihn die Erde verschluckt.
+
+Der Indianer stand auf und ging langsam seiner Wege.
+
+Ich schlenderte zurück zu Antonio.
+
+Mörder hin, Mörder her! dachte ich. Es ist ja alles egal. Alles ist
+Busch. Überall ist Busch. Friß! oder du wirst gefressen! Die Fliege von
+der Spinne, die Spinne vom Vogel, der Vogel von der Schlange, die
+Schlange vom Coyote, der Coyote von der Tarantel, die Tarantel vom
+Vogel, der Vogel von –. Immer im Kreise herum. Bis eine Erdkatastrophe
+kommt oder eine Revolution und der Kreis von neuem beginnt, nur anders
+herum.
+
+Antonio, du hast ganz recht gehabt! Du bist im Recht! Der Lebende hat
+immer recht! Du bist im Recht! Der Tote ist schuld. Hättest du nicht
+Gonzalo ermordet, hätte er dich ermordet. Vielleicht. Nein sicher. Es
+ist der Kreis im Busch. Man lernt es so schnell im Busch. Das Beispiel
+ist zu häufig, und die ganze Zivilisation ist ja nichts andres als die
+natürliche Folge seiner bewundernswerten Nachahmungsfähigkeit.
+
+
+ 17
+
+„Nein!“ sagte Antonio, ruhiger geworden, „es war ganz bestimmt nicht
+meine Absicht, Gonzalo zu töten. Es hätte mich genau so gut treffen
+können. Glauben Sie mir doch, oh, amigo, mio! Ich bin nicht schuld an
+seinem Tode.“
+
+„Ich weiß, Antonio. Es konnte auch Sie treffen. Es kann Sie heute abend
+noch treffen. Es ist der Busch, der uns alle am Kragen hat und mit uns
+macht, was er will.“
+
+„Ja!“ sagte er, „Sie haben recht, Gale, es ist der Busch. Hier in der
+Stadt wären wir auf so eine verrückte Idee gar nicht verfallen. Aber da
+singt der Busch die ganze Nacht, da schreit ein Fasan seinen
+Todesschrei, wenn er gepackt wird, da heult der Cougar auf seinem
+Mordwege. Alles ist Blut, alles ist Kampf. Im Busch sind es die Zähne,
+bei uns sind es die Messer. Aber es war doch nur Scherz, nur der reine
+Spaß. Wirklich nur Spaß. Nichts weiter.
+
+Ob es nun die Würfel sind, oder die Karten, oder das Rädchen, oder die
+Messer! Wir hatten nach siebenwöchiger Arbeit keiner soviel Geld übrig,
+wie wir brauchten, um aus dieser verlassenen Gegend fortzukommen und was
+andres aufzusuchen.
+
+Wir hatten ziemlich gleich viel Geld. Gonzalo hatte etwas über zwanzig
+Pesos, ich hatte fünfundzwanzig.
+
+Es war am Sonntag abend. Montag früh wollten wir gehen.
+
+Abraham war schon ein paar Tage fort, auch Charley war gegangen, Sie
+waren auch nicht mehr da. Wir waren nur noch drei, Gonzalo, Sam und ich.
+
+Wir zählten unser Geld auf dem Erdboden. Wir hatten jeder Goldstücke,
+das kleine in Silber.
+
+Und als das Geld nun da vor uns auf dem Erdboden lag, kaum zu sehen bei
+dem Schein unsres Feuers, da fing Gonzalo an zu fluchen.
+
+Er sagte: „Was tu ich mit den paar lausigen Kröten? Da hat man nun
+sieben Wochen geschuftet wie ein verrückter Negersklave, in der Glut,
+von früh um vier bis Sonnenuntergang, dann heim. Und dann abgerackert,
+daß man kaum noch einen Knochen rühren kann, noch den elenden Fraß zu
+kochen und ’runterzuwürgen. Keinen Sonntag gehabt, kein Vergnügen, keine
+Musik, keinen Tanz, kein Mädchen, keinen Schnaps und den schlechtesten
+Tabak. Was soll ich mit dem Lausedreck da anfangen?“
+
+Dabei schob er mit dem Fuß das Geld fort.
+
+„Mein Hemd ist in Fetzen,“ schimpfte er weiter, „meine Hose ein Lumpen,
+meine Stiefel, guck’ sie dir an, Antonio, keine Sohle, kein Oberleder,
+kein Nischt, sogar die Riemen sind zwanzigmal geknotet. Und nischt
+bleibt übrig, und geschuftet wie ein Pferd. Ja, wären es wenigstens
+vierzig Pesos!“
+
+Als er das sagte, heiterte sich sein Gesicht auf.
+
+„Mit vierzig Pesos“, sagte er, „käme ich zurecht. Könnte nach Mexico
+Capitale fahren, mir neue Lumpen kaufen, damit man auch anständig
+aussieht, wenn man zu einem Mädchen ‚Buenos tardes!‘ sagen will. Und man
+hat noch ein paar Pesos übrig, um es ein paar Tage auszuhalten.“
+
+„Du hast recht, Gonzalo,“ sagte ich nun, „vierzig Pesos sind es auch
+gerade, die ich haben müßte, um wenigstens das Notdürftigste zu kaufen.“
+
+„Weißt du was?“ sagte darauf Gonzalo, „laß uns um das Geld spielen.
+Keiner von uns kann mit den paar Dreckgroschen etwas Rechtes anfangen.
+Wenn du mein Geld noch dazu bekommst oder ich das deine, dann kann doch
+einer von uns wenigstens etwas werden, denn so, wie es jetzt ist, ist
+jeder ein Bettler. Diese paar Groschen versäuft man doch gleich auf den
+ersten Sitz aus lauter Wut, daß man umsonst geschuftet hat.“
+
+„Die Idee von Gonzalo war nicht schlecht“, erzählte Antonio weiter. „Ich
+hätte mein Geld auch gleich versoffen. Wenn man mit dem gottverfluchten
+Tequila erst einmal anfängt, hört man nicht eher auf, bis der letzte
+Centavos verwichst ist. Das geht dann durch, besoffen, nüchtern,
+besoffen, nüchtern, besoffen immerfort, bis alles hin ist. Und was man
+nicht selber durch die Gurgel rasselt, das helfen dann die Mitsäufer
+davon, und der Wirt beschwindelt einen ums Dreifache, und der schäbige
+Rest wird einem aus der Tasche gestohlen. Das kennen Sie doch, Gale?“
+
+Und ob ich das kannte! Ob ich den Tequila kannte, der einem die Kehle so
+zerreißt, daß man sich nach jedem Glase schütteln muß und schnell ein
+paar eingemachte Bohnen, die einem der kluge Wirt mit einem spitzen
+Hölzchen zum Aufspießen hinstellt, hinterher schlucken muß, um den
+Petroleumgeschmack los zu werden. Aber man trinkt in einem fort wie
+besessen, als ob man behext wäre oder als ob dieser Rachenzerreißer ein
+Zaubertrank wäre, den man aus irgendeinem mysteriösen Grunde durch die
+Kehle jagen muß, ohne ihn mit der Zunge zu betasten. Und wenn man dann
+endlich glaubt, genug zu haben, hat man weder Hirn noch Körper, noch
+Blut. Man hört auf, zu existieren. Das Daseinsbewußtsein erlischt
+vollständig. Alles ist fortgewischt. Sorgen, Leid, Ärger, Zorn.
+Übrigbleibt nur das absolute Nichts. Welt und ich sind verweht. Nicht
+einmal Nebel bleibt.
+
+Antonio brütete eine Weile vor sich hin wie in der Erinnerung suchend.
+Dann fuhr er in seiner Erzählung fort: „Wir hatten keine Karten und
+keine Würfel. Wir zogen Hölzchen. Aber der gesetzte Peso ging immer hin
+und zurück. Es wurden nie mehr als fünf Pesos, die überwechselten. Dann
+spielten wir Kopf und Wappen. Merkwürdig, es wurden nie mehr als ein
+paar Pesos, die aus der einen Tasche zur andern gingen. Sam spielte auch
+mit, und auch sein Geld wechselte nicht von Haus zu Haus.
+
+Es war nun schon ziemlich spät in der Nacht geworden. Vielleicht zehn
+oder elf Uhr.
+
+Da wurde Gonzalo wütend und fluchte wie ein Wilder, jetzt habe er genug
+von diesem Kinderspiel, jetzt wolle er endlich wissen, woran er morgen
+früh sei.
+
+„Ja, weißt du denn einen andern Vorschlag?“ sagte ich zu ihm.
+
+„Nein!“ erwiderte er, „das ist es ja gerade, was mich so wütend macht.
+Wir albern hier herum wie die kleinen Kinder, ohne zu einem Ende zu
+kommen. Immer hin und her. Es ist zum Verrücktwerden!“
+
+Dann, als er eine Weile beim Feuer gehockt hatte, in die Glut starrend,
+sich eine Zigarette nach der andern drehend, die er, kaum angeraucht,
+ins Feuer warf, sagte er, plötzlich aufspringend: „Jetzt weiß ich, was
+wir tun. Wir machen ein Azteken-Duell um die ganze Summe.“
+
+„Ein Azteken-Duell?“ fragte ich. „Was ist denn das?“
+
+Gonzalo war aztekischer Abstammung. Er war aus Huehuetoca, und seine
+Vorfahren waren einst Caciques gewesen. Das ist so etwas wie Heerführer
+und Statthalter. Die Erinnerung an solche Adelsfamilien wird auf dem
+Lande durch Tradition festgehalten, so gut festgehalten, daß sehr selten
+ein Irrtum unterläuft.
+
+„Ja, weißt du denn das nicht, was das ist, ein Azteken-Duell?“ sagte
+Gonzalo erstaunt.
+
+„Nein,“ gab ich zur Antwort, „wie sollte ich denn? Wir sind doch
+spanischer Abkunft, wenn wir auch schon mehr als hundert Jahre hier
+sind, Vaters und Mutters Seite. Aber von einem Azteken-Duell habe ich
+nie gehört.“
+
+„Aber das ist ganz einfach“, sagte Gonzalo. „Wir nehmen zwei junge,
+gerade gewachsene Bäumchen, binden oben unsre Messer fest daran und
+werfen sie dann gegenseitig aufeinander los, bis der eine aus Ermattung
+nachgeben muß. Einer von beiden muß ja zuerst ermüden. Und wer
+stehenbleibt, hat gewonnen, der kriegt dann das ganze Geld. Dann kommen
+wir doch wenigstens zu einem Ende.“
+
+Ich überlegte mir das eine Weile, denn es schien mir eine ganz verrückte
+Idee zu sein.
+
+„Du hast doch nicht Angst, Spanier?“ lachte Gonzalo.
+
+Und weil in seinen Worten so ein merkwürdiger Ton von Verhöhnung lag,
+brauste ich auf:
+
+„Angst vor dir? Vor einem Indianer? Ein Spanier hat nie Angst! Das will
+ich dir gleich beweisen. Los zum Azteken-Duell!“
+
+
+ 18
+
+Wir nahmen ein flammendes Holzscheit vom Feuer und krochen im Busch
+herum, bis wir zwei passende Stämmchen gefunden hatten.
+
+Sam wurde beauftragt, genügend Holz heranzuschleppen, damit wir ein
+tüchtiges Feuer bekämen, um beim Kampfe auch Ziellicht zu haben. Wir
+befreiten die Stämmchen von den Ästen und banden oben unsre
+aufgeklappten spitzen Taschenmesser fest an.
+
+„Selbstverständlich lassen wir nicht die ganze Messerklinge überstehen“,
+sagte Gonzalo. „Denn wir wollen uns ja nicht ermorden. Es ist ja nur um
+das Spiel. Das Messer braucht nicht weiter überstehen, als ein
+Fingerglied. So, das ist gut!“ fügte er hinzu, meinen Speer betrachtend.
+„Jetzt binden wir unten noch ein Stück Holz an, um dem Speer ein
+richtiges Schaftgewicht zu geben, damit er nicht flattert.“
+
+Dann umwickelten wir unsern linken Arm mit Gras und einem Sack, um ein
+Abwehrschild zu haben. „Denn,“ erklärte Gonzalo, „der Schild ist
+wichtig. Das ist ja eben gerade das Vergnügen, aufzufangen und
+abzuwehren.“
+
+Als wir mit allem fertig waren, sagte Sam: „Ja, und ich? soll ich
+vielleicht nur zugucken? Ich will auch mitspielen.“
+
+Der Chinc hatte recht. Für seine Mühewaltung als Verwahrer der
+Spielsumme und als Zeuge mußte er seinen Lohn haben. Sie wissen ja,
+Gale, was für Spielratten die Chincs sind. Die würden die Frachtkosten
+für ihren Leichnam verspielen, wenn ihnen das nicht gegen alle Moral
+ginge.
+
+„Ho!“ sagte Gonzalo zu Sam, „du kannst ja auf einen von uns wetten.“
+
+„Fein!“ erwiderte Sam, „dann wette ich auf dich, Gonzalo. Fünf Pesos.
+Wenn du gewinnst, bekomme ich von dir fünf Pesos, und wenn du verlierst,
+kliegst du von mir fünf Pesos. Du hast ja kein Intelesse zu verlielen,
+weil du dann deine zwanzig Pesos los würdest.“
+
+Wir deponierten jeder unsre zwanzig Pesos, die Sam vor sich auf einen
+Stein legte, und dann tat er selbst seine fünf Pesos Wetteinsatz hinzu.
+Sam schritt fünfundzwanzig Schritte ab, und wir legten jeder ein langes
+Stück Holz an die Marken, die keiner der Kämpfer überschreiten durfte,
+wenn er nicht sofort fünf Pesos an den andern verlieren wollte. Dann
+warfen wir die Speere aufeinander los. Zum Rückwerfen benutzte jeder den
+Speer des andern.
+
+Bei dem flackernden, ab und zu qualmenden Feuer konnte ich Gonzalo nur
+in Umrissen sehen, und den Speer, wenn er auf einen zugeflogen kam,
+konnte man beinahe gar nicht sehen, denn rundherum war ja stockdunkle
+Nacht.
+
+Gleich beim zweiten Gang bekam ich einen Stich in die rechte Schulter.
+Sie können hier die Wunde noch sehen, Gale.“
+
+Dabei zog er sein Hemd von der Schulter, und ich sah den Stich, noch
+unvernarbt.
+
+„Nach und nach kamen wir in Bewegung oder eigentlich in Aufregung. Ich
+bekam nach einigen weiteren Gängen noch einen Stich, der mir durch die
+Hose ins Bein ging.
+
+Aber ich konnte ganz gut aushalten.
+
+Wie lange wir warfen, weiß ich nicht. Aber weil keiner nachgeben wollte,
+wurde das Tempo immer rascher.
+
+Es kam so mittlerweile ein gutes Stück Wildheit in die Sache, und
+jemand, der uns jetzt beobachtet hätte, würde niemals geglaubt haben,
+daß es nur ein Spiel sei.
+
+Vielleicht warfen wir eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe. Ich
+weiß es nicht. Ich wußte auch nicht, ob ich Gonzalo überhaupt schon
+einmal ernsthaft getroffen hatte oder nicht. Aber ich fing dann doch an,
+müde zu werden. Der Speer wurde mir bald so schwer, als ob er zwanzig
+Kilo wiege, und das Werfen wurde langsamer bei mir. Ich konnte mich bald
+kaum noch bücken, um den Speer aufzuheben, und einmal wäre ich beim
+Niederbücken beinahe zusammengesunken. Aber ich hatte doch das Gefühl,
+ich darf nicht niedersinken, sonst kann ich bestimmt nicht mehr
+aufstehen.
+
+Gonzalo konnte ich nicht mehr sehen. Ich konnte überhaupt nichts mehr
+sehen. Ich warf den Speer immer nur in der Richtung, in der ich ihn
+bisher geworfen hatte und wo Gonzalo stehen mußte. Es wurde mir ganz
+gleichgültig, ob ich ihn traf oder nicht. Ich wollte nur nicht zuerst
+aufhören. Und weil von drüben immer wieder der Speer kam, warf ich ihn
+eben immer wieder zurück.
+
+Plötzlich, als das Feuer einmal hell aufflammte, sah ich, daß Gonzalo
+sich umdrehte, um den Speer zu suchen, der offenbar weit an ihm
+vorbeigeflogen war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand den Speer,
+hob ihn auf und, als er sich mir zuwandte, um ihn zu werfen, sank er auf
+einmal so heftig in die Knie, als habe ihn jemand mit großer Wucht
+niedergeschlagen.
+
+Ich warf meinen Speer, den ich in der Hand hatte, nicht, weil ich froh
+war, ihn zu stellen und mich darauf zu stützen, sonst wäre ich
+umgefallen.
+
+Wenn Gonzalo jetzt aufgestanden wäre und geworfen hätte, ich hätte
+meinen Arm nicht mehr heben können, um zu erwidern.
+
+Aber Gonzalo blieb in die Knie gesunken.
+
+Sam lief hin zu ihm und rief dann:
+
+„Jetzt habe ich meine fünf Pesos verloren. Antonio, Sie haben gewonnen.
+Gonzalo gibt auf.“
+
+Ich schleppte mich zu einer Kiste am Feuer, hatte aber nicht mehr die
+Kraft, mich drauf zu setzen. Ich sank neben der Kiste auf den Boden. Sam
+führte Gonzalo schleifend zum Feuer und gab ihm Wasser, daß er gierig
+hinuntergoß.
+
+Ich sah jetzt, daß seine nackte Brust blutig war.
+
+Aber ich hatte für nichts mehr Interesse. Mir fiel der Kopf schläfrig
+auf die Brust, und als ich gleichgültig die Augen aufschlug, bemerkte
+ich, daß mein Hemd und meine Brust ebenso voll Blut waren, wie die
+Gonzalos. Aber ich legte keinen Wert darauf. Es war mir alles egal.
+
+Sam brachte mir die vierzig Pesos und schob sie mir in die Hosentasche.
+Ich hatte das Empfinden, als ob das alles irgendwo in ganz weiter Ferne
+geschähe. Wie durch einen Schleier sah ich, daß Sam dem Gonzalo die fünf
+Pesos ebenfalls in die Tasche steckte.
+
+So hockten wir wohl eine halbe oder eine ganze Stunde. Das Feuer wurde
+kleiner und kleiner.
+
+Da sagte Sam: „Jetzt lege ich mich schlafen.“
+
+Ich wiederholte diese Worte, als wären sie meine eignen gewesen: „Ja,
+jetzt lege ich mich schlafen.“
+
+Ich sah, wie sich auch Gonzalo erhob und ebenso schwankend und sich
+festkrallend wie ich die Leiter zum Hause raufkletterte.
+
+Und als ich mich dort hingeworfen hatte und eben eindämmerte, hörte ich,
+wie Gonzalo sagte: „Wenn ihr morgen zeitig geht und ich bin noch nicht
+auf, braucht ihr mich nicht wecken. Ich will lange durchschlafen, ich
+bin furchtbar müde. Ich fahre ja doch nicht mit euch, ich habe ja kein
+Fahrgeld.“
+
+Lange vor Sonnenaufgang stieß mich Sam an. Es war Zeit. Um acht Uhr
+abends mußten wir auf der Station sein, sonst verloren wir zwei Tage. Es
+war noch stockfinster. Ich konnte nichts in der Hütte sehen. Sah auch
+Gonzalo nicht, der noch fest in seiner Ecke schlief.
+
+Wir weckten ihn nicht, sondern ließen ihn ruhig weiterschlafen.
+
+Wir packten rasch unsre Bündel zusammen, und als gerade der Tag zu
+grauen anfing, gingen wir.
+
+Ein paar Schritte weiter trafen wir den Indianer, der die Hühner kaufen
+wollte.
+
+Ja, sehen Sie, Gale, das ist die Geschichte, die wahre Geschichte.“
+
+„Ihr hättet Gonzalo an diesem Morgen auch gar nicht wach gekriegt“,
+sagte ich.
+
+„Warum denn nicht?“ fragte Antonio, die Wahrheit schon halb ahnend.
+
+„Weil er bereits tot war!“
+
+„Aber das ist die Wahrheit, Gale. Wir können noch gleich jetzt zu Sam
+gehen, der weiß es auch.“
+
+„Ist nicht nötig, Antonio. Lassen Sie nur sein. Ich glaube es. Es ist
+die Wahrheit!“
+
+
+ 19
+
+Die Musik im Park hatte angefangen zu spielen. „Die Ehre der Bauern in
+Sizilien.“ Was ging mich deren Ehre an!
+
+Ich schloß die Augen, um die starren elektrischen Lampen nicht sehen zu
+müssen.
+
+Aber ich sah Gonzalo auf dem Boden liegen. Vertrocknet. Ausgelöscht aus
+den Lebenden und Hoffenden. Seine Hand mit einem Knäuel roher, schwarz
+verfärbter Baumwolle auf die Brust gepreßt.
+
+Die Baumwolle.
+
+Antonio hatte mich offenbar eine Zeitlang schon angesehen, ohne daß ich
+es bemerkte.
+
+„Warum weinen Sie denn, Gale?“ sagte er.
+
+„Halten Sie’s Maul!“ rief ich wütend. „Ich glaube, Sie sehen Gespenster.
+Bilden Sie sich doch keine Dummheiten ein.“
+
+Er schwieg.
+
+„Diese himmelgottverfluchte Begräbnismusik!“ sagte ich ärgerlich.
+„Sollen lieber spielen ‚Lustige Witwe‘ oder ‚Kratz mir den Affen mal am
+Hintern‘. Es ist ja alles so lustig, die Witwen tanzen, und die Bananen,
+yes, die haben wir nicht. Das ganze Leben ist so lustig. Begräbnismusik
+für die Verreckten und dudelige Operetten für die Lebenden. Kommen Sie,
+Antonio. Es geht auf zehn. Was hat der Hundesohn gesagt? Seien Sie
+pünktlich, hat er gesagt. Für einen Peso fünfundzwanzig.“
+
+
+
+
+ ZWEITES BUCH.
+ DER WOBBLY
+
+
+ 1
+
+Der Inhaber der Bäckerei La Aurora, Senjor Doux, sah aus, als ob er die
+Ewige Malaria hätte. Er war auch immer kränklich und lief herum wie ein
+Todkranker. Aber essen konnte er für zwölf Lebende. Frühmorgens um vier
+Uhr stand er auf, trank einen Liter Milch und aß sechs Eier mit
+geröstetem Schinken. Dann trank er einen Kognak, und hierauf ging er auf
+den Markt, um für den Tagesverbrauch einzukaufen. Neben der Bäckerei und
+Konditorei hatte er noch ein gutgehendes Café-Restaurant, wo man außer
+den üblichen Eisgetränken, Sahne-Eis, Frucht-Eis, geeiste Früchte,
+Weine, Bier, auch Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen konnte.
+Das Café war zu ebener Erde. In dem Stockwerk darüber befand sich ein
+Hotel, das Senjor Doux aber nicht selbst leitete, sondern verpachtet
+hatte. Mit dem Pächter hatte er täglich eine erfrischende Unterhaltung.
+Wenn man dieser Unterhaltung einmal beigewohnt hatte, dann konnte man
+begreifen, warum Senjor Doux nie gesund werden konnte, und warum er so
+elend, so gelbgrünweiß im Gesicht aussah.
+
+Der Streit ging meist um das Wasser. Wasser ist ja nun in den Tropen
+nicht nur eines der kostbarsten Dinge, sondern auch eines der Objekte,
+um die ewig gekämpft wird. Die Natur kämpft um das Wasser auf Leben und
+Tod; die Tiere zerfleischen sich um das Wasser oder vertragen sich um
+seinetwillen so sehr, daß der durstige Jaguar dem kleinen Zicklein am
+Wasser kein Leid antut, sondern es in ehrfurchtsvoller Entfernung vom
+Wasser auf dem Rückwege erwartet.
+
+Wehmütig zuweilen ist der Kampf der Pflanzen und Bäume um das Wasser.
+Aber wenn sich die Menschen um das Wasser streiten, so sind sie allen
+andern irdischen Geschöpfen in den Kampfesmitteln überlegen. Die
+Menschen führen den Kampf am erbarmungslosesten gegen Tiere, Pflanzen
+und Nachbarn.
+
+Das Gebäude hatte nur zwei Stockwerke, unten das Café, oben das Hotel.
+Nach Art der meisten Gebäude in Latein-Amerika war das Haus eigentlich
+ein Hausblock, herumgebaut um einen Hof, in dem tropische Pflanzen
+standen, die bis über den obersten Stock hinauswuchsen. Die Vorderfront
+nahm das Café ein; die rechte Seitenwand die Restaurationsküche,
+Toiletten, Waschräume und Vorratskammern; die linke Seite bildete
+Bäckerei und Konditorei und den Schlafraum der Bäckereiarbeiter. In der
+Hinterfront waren die Wohnräume des Inhabers.
+
+Das Hotel erstreckte sich gleichfalls in einem Viereck um den Hof herum,
+alle Türen und Fenster lagen nach dem Hofe hin, nur die Fenster der
+Vorderfront gingen auf die Straße. Dort befand sich ein Balkon, der die
+ganze Länge des Hotelstocks einnahm.
+
+Auf dem Dache standen zwei große Wassertanks. Der eine war für den
+unteren Stock, der andre für den oberen. Jeder Tank hatte seine eigne
+Pumpe, die das Wasser mit motorischer Kraft in die Tanks pumpte. Wenn
+die trockene Jahreszeit kam, lief der Brunnen, der zur Bäckerei und zum
+Café gehörte, leer, während der Brunnen für das Hotel reichlich Wasser
+hatte. Das Café und die Bäckerei konnten ohne Wasser nicht durchkommen,
+und nun begann der Kampf. Senjor Doux wollte jetzt das Wasser aus dem
+Hotelbrunnen in seinen Tank pumpen unter der wahren Behauptung, daß er
+ja der Besitzer beider Brunnen sei. Der Hotelpächter aber gestattete das
+nicht; er hatte es in seinem Kontrakt, daß ihm der Hotelbrunnen allein
+zustehe. Er befürchtete, wenn er dem Café erlaubte, Wasser aus seinem
+Brunnen zu entnehmen, daß er dann eines Tages selbst kein Wasser haben
+würde und den Gästen keine Bäder geben könne. Ohne Bäder ist ein Hotel
+in den Tropen wertlos.
+
+Beide Brunnen waren abgeschlossen. Der Pächter hatte einen Schlüssel für
+seinen und Senjor Doux hatte einen Schlüssel für den Cafébrunnen. Es
+blieb also Senjor Doux nichts andres übrig, als in der Nacht den Brunnen
+seines Pächters aufzubrechen, die Rohre zu koppeln und die Pumpe laufen
+zu lassen. Wenn der Pächter die Pumpe hörte, wachte er natürlich auf,
+und es gab einen Mordsspektakel mitten in der Nacht. Die Hotelgäste
+mischten sich ein, die Cafégäste, manchmal in angeheiterter oder in
+kampffreudiger Laune, nahmen Partei, es flogen Flaschen, Stühle, Brote,
+Eisbrocken und entsetzliche Flüche und Verwünschungen durch die Luft.
+Die Pumpe, parteilos und absolut gleichgültig gegen das Getobe,
+arbeitete allein und pumpte den Tank inzwischen voll. Dann koppelte
+Senjor Doux die Rohre ab, und der nächtliche Frieden begann und wurde am
+nächsten Morgen aufs neue gestört. Es begann damit, daß der Hotelpächter
+einen Handwerker kommen ließ, der den Brunnen besonders schwer
+verrammeln mußte. Dann lief Senjor Doux zur Polizei, weil nach dem
+Gesetze niemandem das Wasser abgesperrt werden darf. Dann zeigte der
+Hotelpächter seinen Kontrakt, den Senjor Doux eigenhändig unterschrieben
+hatte, und der auch die vorgeschriebenen Steuermarken trug, und die
+Polizei zog wieder ab. In der Nacht wurde der Brunnen wieder
+aufgebrochen, weil Senjor Doux ja Wasser haben mußte.
+
+Es hatte also wohl seine guten Gründe, daß Senjor Doux wie ein
+Sterbender aussah und trotzdem gut essen konnte.
+
+Wenn Senjor Doux vom Markt heimkam, gegen sechs Uhr etwa, frühstückte er
+erst einmal. Fisch und Braten und eine halbe Flasche Wein, hinterher
+Kaffee mit drei oder vier Stücken Kuchen.
+
+Inzwischen kamen schon Frühgäste. Dann mußte mit den Lieferanten
+verhandelt und abgerechnet werden; es lief die Post ein; nun kamen
+Bestellungen auf Brot, Brötchen, Kuchen, Torten, Backwaren und kandierte
+Früchte.
+
+Um halb neun machte Senjor Doux zweites Frühstück, an dem seine Frau
+teilnahm. Diesmal gab es neben einem Eiergericht noch zwei
+Fleischgerichte und großen Nachtisch mit Bier.
+
+Senjora Doux war eine hübsche Frau, aber sehr behäbig. Im Widerspruch
+mit der Auffassung, daß alle Wohlgenährten immer guter Laune seien, war
+Senjora Doux ewig mißgelaunt. Nur wenn sehr viele Bestellungen auf
+Backwaren einliefen, verzog sie das Gesicht zu einem kurzen Lächeln, das
+jedoch nur ein paar Sekunden währte. Das Café konnte zum Brechen voll
+sein, die Leute mochten sich um die Sitze schlagen, Senjora Doux machte
+trotzdem ein saures Gesicht und guckte jeden Gast an, als ob er ihr
+persönlich schweres Leid zugefügt und die Absicht habe, sie für ihr
+ferneres Leben unglücklich zu machen. Sie trug nie Schuhe oder Stiefel,
+sondern immer nur weiche Pantoffel. Ich glaube nicht, daß sie jemals
+ausging; gesehen habe ich es nie. Sie fürchtete, daß während ihrer
+Abwesenheit ein Kellner sie betrügen könnte. Sie hatte ihre Augen
+überall; es geschah nichts im ganzen Hause, was sie nicht wußte, oder
+worüber sie keine Kontrolle hatte. Was sie am meisten bedauerte
+(eigentlich bedauerte sie alles), das war, daß der Mensch, wenigstens
+sie, auch schlafen müsse. Denn während sie schlief, konnte ja irgend
+etwas geschehen, was sie nicht sah. Aus diesem Grunde betrachtete sie
+niemanden mit größerem Mißtrauen als die Arbeiter in der Bäckerei und
+Konditorei. Die arbeiteten nachts, zu der Zeit, wo Senjora Doux schlafen
+mußte, um den ganzen Tag über, bis spät in die Nacht hinein, das Café zu
+überwachen. Obgleich sie schon alles am Halse hängen hatte, übernahm sie
+auch noch die Kasse. Eine Kassiererin würde es bei ihr auch nicht
+ausgehalten haben. Die Senjorita hätte ehrlich sein können und
+unbestechlich wie der Erzengel mit dem Schwert, Senjora Doux würde sie
+trotzdem täglich ein paarmal angeschuldigt haben, daß sie wieder zehn
+Pesos unterschlagen habe. Diese Geschichte mit der Kasse war eine
+schwere Arbeit. Senjora Doux traute keinem Kellner. Sie saß an der Kasse
+oder wanderte im Lokal umher und beobachtete die Gäste, was sie
+verzehrten. Wenn der Gast ging und bezahlt hatte, so mußte der Kellner
+das Geld sofort zur Kasse bringen und abliefern. Denn hätte man ihm das
+Geld, das er während seiner Arbeitszeit eingenommen hatte, und das
+manchmal einige hundert Pesos betrug, in der Tasche gelassen, damit er
+erst dann mit der Kasse abrechne, wenn er abgelöst wurde, so hätte er ja
+eine Viertelstunde vorher mit der ganzen Einnahme und unter
+Zurücklassung seines Hutes und seiner Jacke verschwinden können auf
+Nimmerwiedersehen. Es muß freilich zugestanden werden, daß solche Dinge
+vorkamen, sogar wenn der Kellner manchmal nur sechzig oder siebzig Pesos
+in der Tasche hatte. Aber in dem Café La Aurora des Senjor Doux war das
+nicht durchführbar.
+
+Wenn wenig Bestellungen für die Bäckerei einkamen, hatten die Bäcker und
+Konditoren nichts zu lachen. Dann fegte Senjora Doux mit ihnen herum,
+daß meist einer oder der andre seinen Lohn verlangte und ging. Denn an
+solchen Tagen betrachtete sie die Ausgabe für die Bäckerei als
+verschwendetes Geld. Kamen am nächsten Tage die Bestellungen doppelt
+oder dreifach ein, so mußten die Leute drei, vier oder fünf Stunden mehr
+arbeiten, weil inzwischen natürlich kein neuer Bäcker oder Hilfsarbeiter
+eingestellt worden war.
+
+Die Musiker im Café hatten es nicht besser, sondern noch viel
+schlechter. Die Bäcker schafften ja noch etwas wenigstens, aber die
+Musik war die unsinnigste Verschwendung, die Senjor und Senjora Doux
+sich nur denken konnten. Die Musik produzierte nicht, sie fraß nur und
+wollte immer Geld haben. Da aber andre Cafés Musik hatten, mußte Doux
+schon mitmachen, um auf der Höhe zu bleiben. Er hatte jeden Tag Krach
+mit der Musik. Waren wenig Gäste da, dann erklärte er den Musikern, daß
+sie schuld seien, weil sie saumäßig spielten. Dann packten die Musiker
+ihre Instrumente ein, ließen sich ihr Geld geben und gingen. Senjora
+Doux war darüber recht zufrieden, denn nun hatte sie einen Grund, das
+Geld für die Musik zu sparen und den Gästen zu erklären, daß die Musiker
+fortgelaufen seien.
+
+Waren dann wieder die Gäste nach ein paar Tagen unzufrieden und
+verlangten sie Musik, dann mußte Senjor Doux den Musikern nachlaufen.
+Oft geschah es, daß er nur einen Bandonium- oder Gitarrespieler bekam.
+Die Gäste verzogen sich, und endlich brachte Doux wieder eine gute
+Kapelle ins Haus, bis nach einer Weile der Krach wieder da war und sich
+die ganze Geschichte wiederholte.
+
+Eines Tages kam eine ganz vorzügliche Kapelle von acht Mann aus
+Mexiko-City und bot sich in den Cafés an. Sie kamen zuerst zu Senjor
+Doux.
+
+„Fünfzig Pesos den Tag für acht Mann? Zahle ich nicht. Auch noch das
+Essen? Ich bin doch nicht verrückt. Und nur wochenweise und mit
+dreitägiger Kündigung? Da können Sie in der ganzen Stadt herumlaufen,
+gibt Ihnen niemand. Fünfundzwanzig will ich zahlen und tägliche
+Kündigung. Ich kriege genug Leute.“
+
+Die Kapelle ging in ein andres Café, bekam, was sie verlangte, und das
+Café war jeden Abend gut besetzt, obgleich die Leute sich hier wenig in
+Cafés oder Restaurants setzen; nur gerade so lange, bis sie ihr Eis
+geschluckt oder ihre Coca-Cola gesaugt haben. Dann gehen sie wieder,
+weil sie lieber auf den Plätzen spazierengehen oder auf den Bänken
+sitzen.
+
+Aber die Kapelle hielt die Leute auch für zwei Eisgetränke oder eine
+extra Flasche Bier, und das um so lieber, weil der Wirt anständig genug
+war, keinen Preisaufschlag auf die Getränke zu nehmen.
+
+Dieses Café war nur fünf Häuser weit von der La Aurora, noch im selben
+Block, und La Aurora war so leer, daß es wie ein beleuchteter Leichnam
+aussah. Senjora Doux wollte das Licht auf die Hälfte abdrehen, weil es
+überflüssig brenne; aber Senjor Doux widersetzte sich diesem Gedanken.
+Jede Stunde einmal ging er, ohne Hut und ohne sich Jacke oder Weste
+anzuziehen, zum Kino, um sich die ausgestellten Plakate anzusehen. Er
+kannte sie auswendig. Aber in Wahrheit ging er nur, um die Gäste in der
+La Moderna zu zählen; denn da mußte er vorüber, wenn er zum Kino wollte.
+Er ging vorbei, ohne den Kopf zu wenden. So sah es aus. In Wirklichkeit
+aber sah er doch jeden Gast in der La Moderna, und zu seiner Trauer sah
+er viele, die sonst bei ihm saßen.
+
+Ein paar Tage sah er sich das mit an. Dann stellte er sich vor die Tür
+seines Cafés und paßte auf, wann der erste Geiger der La-Moderna-Kapelle
+vorüberkam.
+
+„Einen Augenblick, Senjor!“
+
+„Bitte?“
+
+„Wollen Sie nicht zu mir kommen? Ich zahle Ihnen fünfzig.“
+
+„Bedaure, wir bekommen fünfundsechzig.“
+
+„Das bezahle ich nicht.“
+
+„Muy bien, Senjor, Adios.“
+
+Als wieder eine Woche vorbei war, fragte er den Geiger abermals.
+
+„Gut, für fünfzig, Senjor.“
+
+„Abgemacht. Dann von Freitag an.“
+
+Senjor Doux stürmte rein zu seiner Frau: „Ich habe die Kapelle. Für
+fünfzig. Fein.“
+
+Die Kapelle konnte es dafür machen, denn sie war in der La Moderna
+gekündigt und hatte kein anderes Engagement in der Stadt.
+
+Aber die Sahne war herunter. Die Leute hätten gern wieder einmal eine
+andre Kapelle gesehen. Es kamen zwar genügend Gäste nun in die La
+Aurora, aber doch bei weitem nicht so viel, wie in der La Moderna jeden
+Abend gesessen hatten. Senjor Doux sagte der Kapelle, daß sie saumäßig
+spiele. Die Musiker ließen es sich nicht gefallen, es kam zum Krach, und
+sie verließen das Café. Senjor Doux brauchte ihnen nicht zu kündigen und
+sparte das Geld.
+
+
+ 2
+
+Mittags gegen halb zwölf hatte Senjor Doux auch seine Bücher ausgefüllt,
+und dann setzte er sich zum Mittagessen hin. Um zehn hatte er ein kaltes
+Huhn verzehrt, weil es ihm bis zum Mittagessen zu lange dauerte. Jetzt
+aß er zum ersten Male am Tage richtig. Dann ging er schlafen, weil,
+abgesehen von den Mittagsgästen, jetzt stille Zeit kam. Um fünf stand er
+wieder auf, wusch und rasierte sich und eilte ins Café, vom Hunger
+getrieben.
+
+Von jetzt an blieb er im Café bis Schluß. Die Polizei kümmert sich hier
+nicht um die Sitten, um Sittlichkeit und um Gesittung der Menschen. Das
+überläßt sie den Leuten selbst. Wer Zeit und Geld hat, sich die ganze
+Nacht im Café herumzudrücken, mag es tun. Es ist sein Geld, seine Zeit
+und seine Gesundheit. Wenn der Wirt keine Gäste mehr hat, macht er schon
+von selbst zu und braucht dazu keine guten Ratschläge und Strafmandate
+der Polizei, denn er ist ja ein erwachsener Mensch und kein Säugling,
+der noch in die Windeln macht und die Milchflasche nicht allein halten
+kann. Und weil keine Polizeistunde ist, niemand einen Spaß darin sieht,
+die Polizei zu ärgern und an verbotenen Früchten zu naschen, so hat das
+Café um zwölf selten noch genügend Gäste, daß es sich lohnt, Licht zu
+verbrennen. Denn die Leute, die aus Gründen ihres Berufes nachts auf
+sein müssen, gehen nun nicht ins Café, sondern in die Bars, wo zu jeder
+Stunde des Tages oder der Nacht vollständige Mahlzeiten oder
+Spezialplatten verabreicht werden zu billigeren Preisen als im Café.
+
+Zu dieser Zeit waren wir mitten drin in der dicksten Arbeit.
+
+„Putzen Sie mal die Bleche“, sagte der Meister zu mir. „Das werden Sie
+ja wohl können. Wenn mal die Alte (das war Senjora Doux, die keineswegs
+alt, sondern kaum dreißig war) reinkommen sollte – die muß ja ihre Nase
+in jeden Dreck reinstecken –, dann putzen Sie nur immer Bleche. Dann
+merkt sie nicht, daß Sie nichts von der Bäckerei verstehen. Aber jetzt
+kommt sie nicht, jetzt ist gerade der Alte drüber; die haben ja sonst
+keine Zeit. Mich wundert es nur, daß sie dafür überhaupt noch Zeit und
+Gedanken finden. Aber Gedanken werden sie sich dabei wohl kaum machen.
+Die denken dabei an uns, ob wir uns etwa keine Eier verrühren. Das
+wollen wir jetzt erst mal machen.“ Nun wurden tüchtig Eier
+eingeschlagen, Butter rein und dann in den Ofen geschoben. Als die
+Fütterung vorüber war, lernte ich Bleche sauber machen. Das kann man
+nicht so ohne weiteres, wie man vorher wohl denkt. Es muß gelernt sein.
+Dann mußte ich Mehl abwiegen. Auch das hat seine Kniffe. Und dann mußte
+ich fünfhundert Eier aufschlagen, das Gelbe und das Weiße voneinander
+trennen. Würde man das so machen, wie es Mutter in der Küche tut, so
+brauchte man dazu eine Woche. Hier muß das in kaum zwanzig Minuten
+geschehen sein, und es darf kein Pünktchen Gelb in der Weißmasse
+gefunden werden, weil das allerlei Schwierigkeiten zur Folge hätte.
+
+Dann lernte ich die Teigteilmaschinen bedienen, das Feuer in Ordnung
+halten, Brot- und Brötchenteig ansetzen, Kleingebäck glasieren, Torten
+beschneiden und für die Ornamentierung vorarbeiten, Schüsseln und
+Geschirre reinigen, die Tische abwaschen, die Backstube ausfegen, Eis
+mahlen, Eismasse ansetzen und so manches andre mehr. Alles so nach und
+nach, alles in der Weise, wie man jedes Ding lernen kann. Es gibt
+überhaupt nichts, das man nicht lernen könnte.
+
+Dann kam der Samstag. Lohntag. Aber Lohn gab es nicht. „Manjana,
+morgen“, sagte Senjor Doux. Morgen war Sonntag, und wir mußten mehr
+arbeiten als die übrigen Tage. Hinsichtlich des Lohnzahlens aber
+erklärte Senjor Doux, es sei Sonntag, und Sonntags zahle er keinen Lohn:
+„Morgen.“ Montag zahlte er aber auch nicht, weil er noch nicht zur Bank
+gewesen sei. Dienstag gab es kein Geld, weil er das Geld, das er von der
+Bank geholt, bereits ausgegeben habe. Mittwoch bekamen die Kellner erst
+mal ihr Geld, und Donnerstag hatte er überhaupt kein Geld und konnte
+nicht zahlen. Freitag war er nicht zu finden; immer, wenn man ihn
+suchte, war er gerade in seine Wohnung gegangen und wollte nicht gestört
+werden. Samstag waren bereits zwei Löhne fällig, aber da hatte er zu
+große Ausgaben, weil er für den Sonntag mit einkaufen mußte und die
+Banken schon mittags schlossen. „Morgen“, sagte er. Aber morgen war
+Sonntag, wo er keine Löhne zahlte. „Morgen“, das war Montag, aber da war
+er noch nicht zur Bank gewesen.
+
+Nach drei Wochen bekam ich das erstemal Geld von ihm, nicht für drei
+volle Wochen Arbeitslohn, sondern nur für eine Woche. So ging das immer
+durch, immer war er Wochen und Wochen mit dem Lohn im Rückstand. Wir
+aber durften mit der Arbeit nicht eine Viertelstunde im Rückstand sein,
+dann gab es Radau. Fünfzehn, sechzehn, ja einundzwanzig Stunden Arbeit
+am Tage hatten wir zu leisten. Das hielt er für ganz selbstverständlich,
+und für ebenso selbstverständlich hielt er es, daß er den Lohn zahle,
+wann es ihm beliebe, und nicht, wenn er fällig sei.
+
+Aber andre Arbeit war nicht zu finden, und wäre sie zu finden gewesen,
+wir hatten ja keine Zeit, sie zu suchen. Wenn wir in der Backstube des
+Nachmittags fertig waren, dann waren die andern Werkstätten oder
+Bureaus, wo man nachfragen konnte, meist schon geschlossen. Man mußte
+eben aushalten. Wenn man leben will, muß man essen, und wenn man auf
+irgendeine andre Art kein Essen findet, muß man tun, wie es dem, der das
+Essen hat, gefällt.
+
+Den Kellnern ging es nicht besser. Sie bekamen nur zwanzig Pesos den
+Monat und sollten im übrigen vom Trinkgeld leben. Aber hier ist man
+nicht freigebig mit dem Trinkgeld, und wenn die Gäste knapp waren, dann
+hatten wieder die Kellner nichts zu lachen. Dann waren sie schuld daran,
+daß die Gäste ausblieben, und Senjora Doux gönnte ihnen nicht einmal die
+zwanzig Pesos Lohn. Wir wohnten im Hause, die Kellner nicht. Die hatten
+Familie und wohnten mit ihren Familien. Dadurch hatten sie besondere
+Ausgaben. Sie bekamen nicht einmal volles Essen, sondern nur so
+nebenbei, als Gnade oder als besondere Vergünstigung. Unser Meister
+hatte schon vier Monate Lohn stehen. Selbst wenn er hätte gehen wollen,
+er konnte nicht, weil Senjor Doux ihn wochenlang vielleicht mit der
+Restsumme hingehalten hätte. Wir sollten jeder täglich zum Mittagessen
+eine Flasche Bier bekommen. Das war ausgemacht. Aber wir bekamen Bier
+nur dann, wenn Senjora Doux bei sehr guter Laune war, wenn viele
+Bestellungen vorlagen, und wenn wir zwanzig Stunden zu arbeiten hatten.
+Das Essen selbst war sehr gut. Es gab viel Fleisch, zwei oder drei
+Fleischgerichte zu Mittag. Aber nach einer Woche konnte man nichts mehr
+essen; denn es gab jeden Tag genau dasselbe zum Essen. Da war auch nicht
+ein Reiskörnchen heute anders, als es gestern war, und nicht eine
+Fleischfaser schmeckte heute anders, als sie morgen schmecken würde.
+
+Ein Kellner bekam Fieber und war in drei Tagen tot. Er war ein Spanier
+gewesen, der erst vor zwei Jahren herübergekommen war. An seiner Stelle
+trat ein Mexikaner ein, namens Morales. Er war ein flinker,
+intelligenter Bursche. Wenn ich gelegentlich Backware in das Café zu
+bringen hatte, so sah ich beinahe jedesmal, daß Morales mit dem einen
+oder dem andern seiner Kollegen sprach. Sie sprachen ja natürlich immer
+zusammen, wenn sie nicht bedienten. Aber hier fiel mir das Sprechen doch
+zum ersten Male auf. Wenn sonst die Kellner zusammen miteinander
+sprachen, so war das immer so oberflächlich. Sie redeten über
+Lotterielose oder über Nebengeschäfte oder über Mädchen oder über ihre
+Familien. Meist lachten sie dabei oder witzelten.
+
+Dagegen wenn Morales mit einem sprach, wurde nicht gelacht, sondern
+immer sehr andächtig zugehört. Morales war immer der Sprecher und die
+übrigen immer die Zuhörenden. Ich sah es blühen. Das „Syndikat der
+Restaurationsangestellten“ arbeitete.
+
+Die Gewerkschaften in Mexiko haben keinen schwerfälligen
+bureaukratischen Apparat. Ihre Sekretäre fühlen sich nicht als „Beamte“,
+sondern sie sind alle junge brausende Revolutionäre. Die Gewerkschaften
+hier sind erst durch die Revolution der letzten zehn Jahre entstanden.
+Und so sind sie gleich in die allermodernste Richtung geraten. Sie haben
+die Erfahrung der amerikanischen Gewerkschaften, die Erfahrung der
+russischen Revolution, die Explosivgewalt des Jungen Stürmers und
+Drängers und die Elastizität einer Organisation, die noch nach ihrer
+eignen Form sucht und noch täglich ihre Taktik wechselt.
+
+Richtig, in der La Moderna war der Streik da. Kellnerstreik. Senjor Doux
+lachte sich eins. Bei ihm brauchte er das nicht zu befürchten. Und nun
+kamen die Gäste der La Moderna alle in sein Lokal, weil sie sich in dem
+Café, wo der Streik war, fürchteten. Die Furcht ist berechtigt. Denn die
+Polizei ist in Arbeiterkämpfen neutral. Wenn einem Gast, der in ein Café
+geht, wo gestreikt wird, ein Stein an den Kopf fliegt, so darf er zur
+Sanitätspolizei gehen und sich verbinden lassen. Im übrigen aber kümmert
+sich die Polizei nicht darum. Die Streikposten, die vor dem Café stehen,
+haben ihm ja gesagt, daß in dem Café gestreikt wird. Außerdem steht es
+in der Zeitung, und Flugblätter werden ihm auch genug in die Hand
+gedrückt. Er weiß, was ihm bevorsteht. Er braucht ja nicht in dieses
+Café zu gehen, er kann ja in ein andres gehen oder sich auf die Bank auf
+der Plaza setzen oder spazierengehen. Wer da hingeht, wo Steine in der
+Luft umherfliegen, dem geschieht es ganz recht, wenn er einen an den
+Kopf kriegt.
+
+La Moderna bewilligte nach vier Tagen alles.
+
+
+ 3
+
+Drei Wochen später ging Morales zu Senjor Doux und sagte: „Also
+achtstündige Arbeitszeit, zwölf Pesos die Woche, eine Vollmahlzeit und
+zweimal Kaffee mit Gebäck.“
+
+Senjor Doux, der die ganze Zeit voller Schadenfreude gewesen war, weil
+seinem Konkurrenten so übel mitgespielt wurde, kriegte zuerst einen
+Schreck. Dann sagte er: „Morales, kommen Sie zur Kasse. Da ist Ihr Lohn,
+und Sie können gehen, Sie sind entlassen.“
+
+Morales drehte sich um, zog seine weiße Jacke aus, und sofort zogen die
+übrigen Kellner gleichfalls ihre Jacken aus und kamen zur Kasse.
+
+Ein wenig verstört zahlte Senjor Doux die Löhne, und dann ließ er die
+Leute gehen. Er war ganz sicher, daß er andre Leute kriegen würde. Die
+paar Gäste, die gerade drin waren, bediente Senjora Doux. Dann verließen
+die Gäste auch das Café. Aber wenn andre kamen und sahen, daß keine
+Kellner drin waren, setzten sie sich gar nicht erst, sondern gingen
+gleich wieder raus. Nur einige Fremde kamen, setzten sich, bestellten
+etwas und betrachteten diese Art von langsamer Bedienung als die hier
+übliche. An diesem Abend standen keine Streikposten vor dem Café. Aber
+am nächsten Tage waren sie da, und es wurden eifrigst Flugblätter
+verteilt. Es waren wieder nur Fremde, die in das Café gingen, die die
+spanisch geschriebenen Flugblätter nicht lesen konnten und auch nicht
+verstanden, was die Streikposten zu ihnen sagten.
+
+Aber um diese Fremden kümmerten sich die Posten nicht viel. Außerdem
+fühlten die Fremden, meist Amerikaner, Engländer oder Franzosen, auch
+immer sehr bald, daß die Luft merkwürdig schwül war, und sie verließen
+das Café ziemlich rasch, oft ohne ihr Eisgetränk auch nur anzurühren.
+
+Den zweiten Tag darauf hatte Senjor Doux zwei Kellner, einen Deutschen
+und einen Ungarn. Beide waren erbärmlich zerlumpt. Senjor Doux hatte
+ihnen weiße Jacken gegeben, einen Kragen und einen schwarzen Schlips.
+Aber er gab ihnen weder Hosen noch Schuhe. Und gerade in diesen beiden
+Dingen sahen die Burschen entsetzlich aus. Sie verstanden kein Wort
+Spanisch und waren nicht zu gebrauchen. Aber Senjor Doux wollte mit
+ihnen ja nur protzen vor den Streikposten.
+
+Nach dem Mittagessen, das sie mit allerlei bösen Zwischenfällen serviert
+hatten, war ein wenig Ruhe im Café. Senjor Doux war schlafen gegangen,
+und Senjora Doux saß schläfrig in einer Nische. Ich brachte ein Blech
+Backware hinein und hörte, daß die beiden Vögel deutsch sprachen.
+
+„Sind Sie Deutscher?“ fragte ich den, der richtig deutsch sprach.
+
+„Ja, der hier ist ein Ungar“, antwortete er erfreut, daß jemand mit ihm
+deutsch sprach.
+
+„Wissen Sie, daß die Kellner hier streiken, und daß Sie hier den
+Streikbrecher machen?“
+
+„Die streiken nicht“, sagte er. „Die wollen nur nicht arbeiten, die sind
+nicht zufrieden.“
+
+„Was zahlt Ihnen denn der Alte?“
+
+„Fünf Pesos die Woche, das ist ganz schönes Geld. Und das Essen und
+Schlafen“, gab er zur Antwort.
+
+„Na, nun mal deutlich, lieber Freund, schämen Sie sich denn nicht, hier
+den Streikbrecher zu machen?“
+
+„Streikbrecher? Das bin ich nicht. Die streiken nicht, die haben nur
+aufgehört, weil sie mit dem Lohn nicht zufrieden sind. Ich bin mit fünf
+Pesos zufrieden. Was soll ich auch machen. Ich bin ganz herunter, habe
+nichts zu essen und keinen ganzen Fetzen.“
+
+„Dann gehen Sie lieber betteln“, riet ich.
+
+„Betteln? Nein, das ist unanständig.“
+
+„Streikbrechen ist anständiger?“
+
+„Was will ich denn machen, wenn man Hunger hat?“
+
+„Dann stehlen Sie, wenn Ihnen Betteln zu unanständig ist, aber
+Streikbrechen ist ein dreckiges Geschäft.“
+
+„Sie haben gut reden,“ platzte er nun los, „Sie arbeiten hier schön in
+der Konditorei, haben zu essen, haben ein Dach und kriegen Ihr Geld.“
+
+„Das ist richtig“, erwiderte ich. „Und ich will Ihnen nun etwas sagen.
+Ich kann Ihnen hier keinen Vortrag darüber halten, in welchem
+Zusammenhang der Streik jener Leute und Ihr Hungerleben steht. Ich kann
+Ihnen hier so auf einen Ruck nicht klarmachen, wie durch jeden Streik,
+ob er gewonnen oder verloren wird, das Hungerleben der arbeitslosen
+Arbeiter um einen Grad seltener wird. Wenn die Leute hier die
+achtstündige Arbeitszeit durchsetzen, muß der Alte zwei, vielleicht gar
+drei arbeitslose Kellner mehr einstellen. Das ist nur gerade das Nächste
+und Klarste. Darüber hinaus kommen noch andre Umstände zugunsten der
+Arbeiter in Betracht, die viel weiter reichen als gerade bis zu dem
+kleinen Vorteil, den man vor der Nase sieht.“
+
+Durch unser Gespräch wachte Senjora Doux aus ihrem Nickerchen auf, und
+sie rief herüber: „Sie, hören Sie mal, Sie wollen wohl die beiden
+Deutschen da verhetzen? Scheren Sie sich in die Backstube, wo Sie
+hingehören, Sie haben hier gar nichts verloren.“
+
+„Verhetzen? Ich? Die beiden Deutschen? Nein, ich lehre sie nur ein paar
+wichtige spanische Worte, damit sie besser im Leben zurechtkommen“,
+sagte ich.
+
+„Das ist gut,“ sagte Senjora Doux, „das tun Sie nur, das ist sehr gut.“
+
+„Nun will ich Ihnen mal noch was sagen“, fuhr ich fort, mich wieder an
+den Deutschen wendend. „Bis jetzt haben sich die Streikposten um euch
+noch nicht viel gekümmert. Sie wissen, daß ihr Fremde seid. Aber das
+geht nur ein oder zwei Tage so weiter. Morgen abend oder übermorgen seid
+ihr erstochen oder erschossen, damit Sie es wissen. Hier fackelt man
+nicht lange mit solchem Kroppzeug wie ihr seid. Wir können hier nur
+anständige Leute gebrauchen.“
+
+„Die tun uns nichts“, sagte der Mann. „Wir gehen nicht raus.“
+
+„Keine Angst, lieber Freund. Die kommen rein und machen das hier drin
+ab, unter voller Kaffeehausbeleuchtung mit Musikbegleitung. Verlassen
+Sie sich drauf. Nebenbei bemerkt, das einzig richtige Mittel, wie man
+mit Streikbrechern umgehen muß. Einen Mexikaner oder einen Spanier
+kriegen sie hier nicht als Streikbrecher, die wissen, was es bedeutet.“
+
+Er war ein wenig bleich geworden. Nun fragte er: „Gibt es denn hier
+keine Polizei?“
+
+„Natürlich, so gut wie bei euch zu Hause“, sagte ich. „Aber die Polizei
+mischt sich hier nicht in Streitigkeiten zwischen Arbeiter und
+Unternehmer so ein wie bei euch da drüben. Die ist hier neutral. Wenn
+sie den Mörder erwischt, wird er mit einigen Jahren verknackst. Aber
+einen Mann, der einem Streikbrecher die letzte Wahrheit gesagt hat, den
+kriegen sie nicht. Der ist nicht unter den Streikenden. Sie suchen ihn
+auch gar nicht. Den Raubmörder suchen sie. Aber dem hier laufen sie
+nicht lange nach. Es hat euch ja niemand geheißen, in die Gefahrzone zu
+gehen. Wenn ihr trotzdem geht, habt ihr auch die Verantwortung zu
+tragen. Als vernünftiger Mensch stellen Sie sich doch nicht auch bei
+einem Gewitter direkt unter einen einzelnen hohen Baum? Oder vielleicht
+doch? Ihre Schuld, wenn der Blitz Sie erschlägt. Da kann die Polizei gar
+nichts tun. Die Polizei ist hier nicht für die Kapitalisten da, sondern
+für die Kapitalisten und für die Arbeiter, die Betonung liegt auf dem
+Und. Sie steht weder dem Kapitalisten bei noch dem Arbeiter, wenn die
+beiden einen Handel miteinander auszufechten haben. Der Streikbrecher
+hat in diesem Handel gar nichts verloren.“
+
+Der gute Mann wußte nicht, worum es ging, vielleicht wollte er es nicht
+einmal wissen. Er sagte: „Ich denke, das ist ein freies Land? Wo ist
+denn da die Freiheit, wenn man nicht arbeiten darf, wo man will?“
+
+„So wenig wie Sie da stehen können, wo ein andrer steht, ebensowenig
+können Sie an dem Platze arbeiten, wo ein andrer arbeitet. Denn die
+Leute haben ihren Platz nicht verlassen, sie haben nur die Arbeit
+unterbrochen, und sie kehren zurück, sobald der Alte Vernunft annimmt.“
+
+„Ich finde so leicht nicht wieder Arbeit“, sagte er nun. „Ich bin froh,
+daß ich die hier habe. Ich bleibe hier und lasse mich auf der Straße
+nicht sehen.“
+
+„Seien Sie nur ganz unbesorgt, die haben ein gutes Gedächtnis und kennen
+Sie auch noch nach Monaten wieder. Aber wir beide haben uns wohl von nun
+an nichts mehr zu erzählen. Und wagen Sie ja nicht, sich in der
+Backstube sehen zu lassen. So gesund, wie Sie reingekommen sind, kommen
+Sie nicht mehr raus, darauf können Sie sich verlassen. Sie sind für mich
+kein Deutscher, sondern ein Lump. Wenn Sie auch sonst nichts verstehen
+wollen, das werden Sie ja wohl noch verstehen.“
+
+Jeder Mensch, der in das Café gehen wollte, mußte sich an den
+Streikposten vorbeidrängen, und jedem wurde gesagt, daß gestreikt wurde.
+Darauf kehrten die Leute regelmäßig um. Polizei war nicht zu sehen. Es
+war ja ganz ruhig. Niemandem geschah etwas.
+
+Aber am Abend, es war vielleicht halb neun, da stand der Deutsche an der
+einen Tür. Die Türen sind ja alle offen, und man sieht von draußen
+alles, was drinnen vorgeht, so klar, als ob es mitten auf der Straße
+geschähe. Die Gäste wollen raussehen und wollen gesehen werden, und die
+Nichtgäste wollen reinsehen und sich daran erfreuen, wie sich andre
+einen angenehmen Abend machen.
+
+Er stand da an der Tür und wippte mit der Serviette. Er schien recht
+stolz zu sein, daß er es zum Kellner gebracht hatte. Unter normalen
+Umständen hätte er vielleicht Geschirrwäscher werden können. Die
+Streikposten kümmerten sich gar nicht um ihn. Sie schielten nur
+gelegentlich zu ihm rüber.
+
+Da kam ein junger Bursche vorbei mit einem Stück Holz in der Hand. Der
+Streikbrecher ging ein wenig zurück, aber der Bursche ging mit einem
+ruhigen Schritt die eine Stufe hoch und hieb ihm zwei gesunde Hiebe über
+den Schädel. Dann warf er das Holz weg und ging ruhig seiner Wege.
+
+Der Notkellner stürzte hin und blutete nach Kräften. Kaum hatte Senjor
+Doux das gesehen, da trat er vor die Tür und rief: „Polizei!“ Es kam
+gleich einer an, seinen Knüttel in der Hand schwingend.
+
+„Den haben sie totgeschlagen“, rief Senjor Doux dem Polizisten entgegen.
+– „Wer?“ fragte der Beamte.
+
+„Das weiß ich nicht“, antwortete Senjor Doux. „Wahrscheinlich die
+streikenden Kellner.“
+
+Sofort sprangen zwei Streikposten hinzu und schrien: „Wenn du Hurensohn
+das noch mal sagst, schlagen wir dir die Knochen entzwei.“
+
+Senjor Doux verschwand sofort im Café und sagte nichts mehr.
+
+„Haben Sie gesehen, wer den Mann hier geschlagen hat?“ fragte ein
+zweiter Polizist, der hinzugekommen war, die Posten.
+
+„Ja, so halb. Ein junger Bursche kam vorbei mit einem Stück Holz – da
+liegt es noch – und schlug auf den Mann los“, sagte der eine Posten.
+
+„Kennen Sie den Burschen?“
+
+„Nein. Zu unserm Syndikat gehört er nicht.“
+
+„Dann hat er mit dem Streik gar nichts zu tun. Wahrscheinlich eine andre
+Geschichte“, sagte der Polizist.
+
+„Zweifellos“, bestätigte der Posten.
+
+Die beiden Polizisten führten den Notkellner zur Wache, wo er verbunden
+und für die Nacht dabehalten wurde.
+
+„He, du da drin, du Hurensohn“, riefen die Posten jetzt hinein zu dem
+Ungarn. „Wie lange bleibst du noch da drin? Du kriegst eins mit der
+Eisenstange, wir haben kein Holz mehr.“
+
+Der Ungar verstand kein Wort. Jedoch er fühlte, was sie sagten. Er wurde
+blaß und ging zurück.
+
+Senjor Doux aber hatte es verstanden. Er lief zur Tür und rief nach der
+Polizei. Aber es kam keine. Nach einer Viertelstunde aber sah er einen
+an der Ecke stehen. Er rief ihn heran.
+
+„Die Posten haben meinen Kellner mit dem Tode bedroht“, sagte er, als
+der Polizist herangekommen war.
+
+„Welcher hat ihn mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist.
+
+„Der da“, antwortete Senjor Doux und zeigte dabei auf Morales. Morales
+hatte gar nichts gesagt, aber ihn haßte Doux am besten.
+
+„Haben Sie den Kellner mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist.
+
+„Nein. Fällt mir auch gar nicht ein. Dieser Bastard ist mir viel zu
+dreckig, als daß ich das Wort an ihn richten würde“, sagte Morales.
+
+„Kann ich mir denken“, erwiderte der Polizist. „Wer hat ihn denn mit dem
+Tode bedroht?“ fragte der Polizist nun.
+
+„Ich habe gesagt, er möge nicht so dicht zur Tür kommen, es könne ihm
+sonst vielleicht eine Eisenstange auf den Kopf fallen, da oben vom
+Balkon.“ Das sagte einer der Posten.
+
+Senjor Doux stand noch in der Tür. Der Polizist drehte sich jetzt zu ihm
+herum und sagte: „Nun, hören Sie, Senjor, wie können Sie denn so etwas
+sagen? Es ist doch gar nicht wahr.“
+
+„Sie haben doch den andern auch schon halb erschlagen“, verteidigte sich
+Doux.
+
+„Vertragen Sie sich lieber mit Ihren Leuten,“ riet jetzt der Polizist,
+„dann kommt so etwas nicht vor.“
+
+„Das ist ja eine nette Geschichte hier, daß man nicht mal seinen Schutz
+bekommt“, rief Doux wütend.
+
+„Ruhig!“ sagte der Polizist laut, „sonst nehme ich Sie zur Wache. Keine
+Beleidigung hier.“
+
+„Ich zahle doch meine Steuern, und da kann ich doch verlangen ...“
+
+„Was Steuern?“ unterbrach ihn der Polizist. „Die Kellner zahlen auch
+Steuern, genau so gut wie Sie. Und nun lassen Sie uns in Ruhe. Machen
+Sie Ihre Geschäfte mit Ihren Leuten ab, aber stören Sie uns nicht
+immerwährend.“
+
+Der Ungar stand eine Weile im Café unschlüssig, während hier draußen die
+Verhandlungen waren. Es hatten sich Leute angesammelt, die alle auf
+seiten der Kellner waren. Und zum Teil waren es deren Ausbrüche der
+Sympathie, die dem Polizisten, der ja auch Prolet war, das Rückgrat
+steiften. Fr wußte ja nicht, ob nicht vielleicht Doux einen dicken
+Freund unter den Inspektoren hatte, der ihm sagen könnte, daß er seine
+Pflicht vernachlässigt habe.
+
+Als der Polizist gegangen war, zog der Ungar seine weiße Jacke aus und
+ging zur Kasse, um sich seine zwei Tage Lohn geben zu lassen. Er stand
+jetzt da in Hemdsärmeln. Diese Hemdsärmel waren nur Fetzen und Dreck.
+Zwei Gäste waren im Café, und die sahen den Unglücklichen. Ihnen verging
+der Geschmack am Kaffee und am Gebäck, als sie bemerkten, welchen
+Schmutz und welche Lumpen die weiße Jacke verdeckt hatte. Sie standen
+auf, zahlten an der Kasse und gingen.
+
+Senjor Doux fragte den Ungarn, was los sei, und warum er gehen wolle.
+Der konnte nicht antworten und versuchte nun, mit Gebärden, die er
+überreichlich verschwendete, klarzumachen, daß sein treuer Kollege etwas
+über den Schädel gekriegt habe, und daß er wohl der nächste sein würde,
+der dran glauben müsse. Draußen standen die Posten und andre Leute, die
+diese Gebärdensprache aus fossiler Vorzeit mit Vergnügen verfolgten.
+Doux versuchte dem Ungarn begreiflich zu machen, daß er hier im Café
+durchaus sicher sei. Aber der Ungar traute dieser Zusage nicht. Wäre er
+mit den Sitten und Gebräuchen besser bekannt gewesen, so würde er gewußt
+haben, daß er nie und nirgends sicher ist, daß er ja nicht ewig
+innerhalb der vier Wände bleiben könne, und daß er, sobald er das Haus
+verließe, geliefert ist. Denn sein Gesicht kennen jetzt schon alle
+Arbeiter der Stadt, die brauchen keine Photographie und keinen
+Steckbrief. Die vier Wände schützen ihn auch nicht. Eines Tages, morgen
+oder übermorgen schon, geht einer rein, tut als ob er Eis an den Tisch
+gebracht haben will, und wenn der Ungar kommt, hat er das Messer sitzen
+oder den Spucknapf so geschickt über den Schädel gehauen, daß die
+Ambulanz ihn abholen muß. Ehe man drinnen weiß, was geschehen ist, ist
+der Strafvollziehende einige Block weit. Niemand, der beste Detektiv
+nicht, findet ihn je. Einer der Gründe, warum es hier nie Streikbrecher
+gibt. Man kennt die wirksamsten Mittel und scheut sich nicht eine Minute
+lang, sie rücksichtslos anzuwenden. Krieg ist Krieg. Und die Arbeiter
+sind im Kriege, bis sie endlich nicht nur eine Schlacht, sondern den
+ganzen Feldzug gewonnen haben. Wenn den Staaten jedes Mittel im Kriege
+erlaubt ist, warum nicht den Arbeitern in ihrem Kriege ebenfalls? Der
+Arbeiter begeht nur immer den Fehler, daß er als ein anständiger Bürger
+angesehen werden will. Aber dafür gibt ihm niemand etwas.
+
+Der Ungar kam heraus, und einer der Posten nahm ihn gleich in Empfang.
+Sie brachten ihn zum Bureau des Syndikats, gaben ihm ein Nachtquartier
+und versprachen ihm, man wolle versuchen, ihm eine Stelle in einer
+Blechschmiede zu verschaffen.
+
+Senjor Doux hatte ihn auch noch um seinen Streikbrecherlohn betrogen,
+ihm nur fünfzig Centavos gegeben und vierzig Centavos für ein
+zerbrochenes Wasserglas berechnet.
+
+Der Deutsche machte andre Erfahrungen, wie mir später erzählt wurde. Am
+folgenden Morgen wurde er dem Polizeioffizier vorgeführt. Anstatt daß
+man ihn gelobt hätte für seine treue Streikbrecherarbeit, fragte ihn der
+Offizier, wo er seinen Einwanderungsschein habe.
+
+„Ich habe keinen“, sagte er mit Hilfe eines Dolmetschers.
+
+„Wie sind Sie denn hier in das Land gekommen?“
+
+„Mit einem Schiff.“
+
+„So. Also von einem Schiff ausgerückt.“
+
+„Nein, ich habe abgemustert.“
+
+„Ja, diese Abmusterung kennen wir schon. Wir übergeben Sie jetzt Ihrem
+Konsul mit der Bedingung, daß er Sie mit dem nächsten Schiff wieder nach
+Deutschland zurückschickt. Wir können die Deutschen sonst sehr gut
+leiden, aber Sie machen dem deutschen Namen keine Ehre. Sie stiften hier
+nur Unfrieden, und für solche Leute haben wir hier keinen Platz.“
+
+Zwei Polizisten brachten ihn zum Konsul.
+
+Von nun an war der Konsul für ihn verantwortlich. Er mußte ihn
+verpflegen, bis ein deutsches Schiff da war, das ihn mitnahm.
+
+„Was haben Sie denn hier ausgefressen? Gestohlen?“ fragte der Konsul.
+
+„Nein. Ich habe in der La Aurora als Kellner gearbeitet und eins über
+den Kopf gekriegt“, sagte der Mann.
+
+„In der La Aurora wird doch gestreikt. Wußten Sie das nicht?“
+
+„Freilich. Sonst hätte ich doch nicht da als Kellner arbeiten können,
+ich bin doch Tischler.“
+
+„Ja, lieber Freund, Sie sind hier nicht in Deutschland. Streikbrecher
+sind hier nicht beliebt. Wir haben hier eine Arbeiterregierung, und zwar
+eine richtige Arbeiterregierung, die zu den Arbeitern hält. Wenn hier im
+Wasserwerk oder im Elektrizitätswerk gestreikt wird, dann gibt es keine
+Technische Nothilfe wie in Deutschland oder in Amerika, sondern dann
+gibt es eben kein Wasser und keine Elektrizität, bis die Streikenden
+sagen: So, nun gibt es wieder was. Hier ist die Regierung neutral in
+solchen Streitigkeiten. Also, Ihre Tätigkeit hier ist erschöpft. Laufen
+Sie mir nicht davon. Ich kriege Sie, und dann lasse ich Sie daheim
+verknacken. Sie stehen jetzt unter meiner Autorität; ich habe gebürgt
+für Sie, andernfalls müßten Sie hier im Gefängnis warten, bis ein Schiff
+da ist. Und das Gefängnis hier ist kein Spaß, sondern ist eine ernste
+Sache.“
+
+Damit war nun die Frage der Streikbrecher in der La Aurora entschieden.
+
+
+ 4
+
+Es waren immer ein paar Gäste im Café, die von Senjor und Senjora Doux
+bedient wurden. Aber Geschäft konnte man es nicht nennen. Wir in der
+Bäckerei hatten auch nicht viel zu tun, nur gerade die Bestellungen, die
+aus dem Hause gingen.
+
+Es war zwei Tage später und am Nachmittag. Es mochten vielleicht sechs
+oder acht Gäste im Lokal sein. Unter ihnen war ein Polizeiinspektor
+namens Lamas. Er war ständiger Gast in der La Aurora, kam am Nachmittag
+und kam am Abend. Er hatte bei Senjor Doux eine ganz nette Rechnung
+stehen, die er immer „morgen“ bezahlen wollte. Obgleich er gut
+verheiratet war und zwei Kinder besaß, hatte er doch außerdem drei
+Geliebte, die er alle unterhalten mußte. Das kostete Geld, und das Geld
+mußte herangeschafft werden. Darum hatte er auch überall Schulden. Also
+die Gäste saßen da drin im Café und aßen ihr Eis oder tranken geeiste
+Erfrischungen. An einem Tisch wurde Domino gespielt und an einem andern
+Karten.
+
+In den Vereinigten Staaten sind ja die Streikposten gute und fromme
+Bürger, die an Gesetz und Autorität glauben. Wenn sie Streikposten
+stehen, so tun sie das gerade so, als ob sie einem aufgebahrten Leichnam
+die Ehrenwache geben. Sie sagen kein Wort, und wenn die Polizisten
+kommen und sagen: „Sie müssen weiter zurücktreten, Sie stören den
+Verkehr“, so tun sie das sofort, als ob der Polizist sie bezahlte und
+nicht der Polizist von ihrem Gelde lebte. Dort haben die Arbeiter noch
+Disziplin, und sie sind gedrillt wie Soldaten.
+
+Hier dagegen haben die Arbeiter nur wenig Disziplin, und die Sekretäre
+müssen tun, was die Mitglieder wollen. Und es ist merkwürdig, sie
+gewinnen beinahe jeden Streik.
+
+„He, du Hurensohn da drin,“ rief einer der Posten einem Gaste zu, „friß
+doch nicht das Eis. Das ist doch nur Wasser und Zucker. Nicht ein Löffel
+voll Sahne drin. Der Sauhund da will doch aus deiner Portion das
+herausschlagen, was er sonst verdient, wenn nicht gestreikt wird.“
+
+Der Gast hielt es offenbar mit dem Wirt; er rief hinaus: „Bezahlst du
+das Eis oder ich, du Dreck.“
+
+„Paß nur auf, du Eiterbeule, daß ich dir nicht mal reinkomme“, sagte
+jetzt der Posten, und seine Rede wurde mit lautem Gelächter begleitet.
+Einer der Gäste hatte eine Dame bei sich, die aus Strohhälmchen ihre
+Squeeze saugte.
+
+„Ist sie noch eine Jungfrau?“ rief jetzt ein andrer Streikposten hinein.
+„Mach nur schnell, Rodriguez, ehe dir ein andrer zuvorkommt.“
+
+Die Dame tat, als hätte sie nichts gehört. Aber der Herr, der bei ihr
+saß, rief zurück: „Dann lade ich dich ein, du Faulenzer. Für nützliche
+Dinge bist du ja nicht zu gebrauchen.“
+
+„Richtig, Faulenzer,“ sagte der Posten, „an wen verkaufst du sie denn
+heute abend? Zwanzig Centavos bezahlt einer wohl noch und ein Glas
+Eiswasser.“
+
+Nun kam Senjor Doux zur Tür und sagte: „Stören Sie hier meine Gäste
+nicht, wer nicht hergehört, fort!“
+
+„Gäste? Sind ja alles Hurenbengel, aber keine Gäste“, schrien nun nicht
+nur die Streikposten, sondern auch andre Burschen, die dabeistanden.
+„Bezahlen Sie mal einen anständigen Lohn und geben Sie richtiges Essen.
+Wir sollen Ihnen wohl erst einmal das Leder abziehen. Machen Sie nur ja
+recht rasch. Lange warten wir nicht mehr und stehen hier auch nicht mehr
+lange Posten. Dazu haben wir keine Zeit. Dann werden wir mal einen
+andern Ton anstimmen.“
+
+Nun kam der Inspektor Lamas zur Tür. Er mußte sich wohl für seine
+Schulden einsetzen. Vorige Woche hatte er auch noch eine Torte für
+fünfundzwanzig Pesos bekommen mit dem schönen Namen „Adelia“
+draufgegossen. Adelia war eine jener drei Geliebten, und die Torte war
+für ihren Geburtstag bestimmt. Er war noch besonders in die Backstube
+gekommen und hatte Rosenranken als Verzierungen gewünscht. Diese Torte
+war er auch noch schuldig.
+
+Er stand eine Weile in der Tür und hörte sich die Reden mit an. Dann zog
+er seinen Revolver und schlug dem Posten, der ihm am nächsten stand, mit
+dem Knauf eins über den Kopf, so daß gleich das dicke Blut herausquoll.
+Dann pfiff er. Es kamen zwei Polizisten, und er ließ alle Posten und
+einige andre Leute, die in Sympathie mit den Streikenden waren, zur
+Hauptwache führen.
+
+Kaum waren sie abgeführt, da kam Morales zurück, der drei Stunden
+abgelöst worden war und jetzt wiederkam, um seinen Posten von neuem
+anzutreten. Als er hörte, was geschehen war, rief er rein: „Du Hundesohn
+da drin,“ er meinte Doux damit, „jetzt geht es dir schlecht, das sollst
+du mal sehen. Bis jetzt haben wir nur Spaß gemacht. Aber wenn du das
+nicht anders haben willst, wir können auch noch eine andre Flöte
+blasen.“
+
+Morales ging sofort zum Bureau des Syndikats.
+
+Zehn Minuten darauf war schon der Sekretär auf der Wache.
+
+„Was wollen Sie?“
+
+„Sofort her mit dem Inspektor. Mit dem werde ich jetzt mal ein Wörtchen
+reden. Der ist besoffen.“
+
+Der Inspektor kam, und der Sekretär wollte seine verhafteten Leute
+sehen. Auch diese Leute kamen, und der Sekretär fragte nun nach dem
+Polizeidirektor. Auch der kam, wurde ganz aufgeregt, als er den Sekretär
+des Syndikats sah, und machte sich gleich an das Geschäft.
+
+„Warum haben Sie den Mann geschlagen?“ fragte der Direktor.
+
+„Er hat die Leute im Café beschimpft.“
+
+Der Direktor sah ihn jetzt voller Wut an: „Wo steht, daß Sie einen Mann,
+der jemand beschimpft und sonst nichts tut, schlagen dürfen?“
+
+Lamas wollte was sagen, aber der Direktor fiel ihm gleich ins Wort:
+„Kennen Ihre Instruktion nicht!“ Er wandte sich zum Schreiber:
+„Schreiben Sie, Lamas ist in Unkenntnis über seine Instruktionen.“
+
+Dann sagte er zu Lamas: „Das ist hier kein guter Platz für Sie. Ich
+werde sehen, daß ich ein Dorf für Sie kriege, wo Sie kein Unheil
+anrichten können. Und wenn noch mal etwas Ähnliches vorkommt, werden wir
+ohne Sie fertig werden müssen. Wird uns nicht schwerfallen. Warum haben
+Sie die Leute hier verhaftet?“
+
+„Die haben alle Gäste und Senjor Doux beschimpft“, sagte Lamas
+schüchtern.
+
+„Beschimpft. Beschimpft. Was heißt das, beschimpft?“
+
+„Sie haben Hurensohn gesagt“, verteidigte sich Lamas.
+
+„Wenn Sie jeden verhaften wollen, der Hurensohn sagt, dann werden Sie
+wohl gleich um das ganze Land eine Gefängnismauer ziehen müssen. Ich
+glaube, Sie sind nicht ganz richtig im Kopfe.“
+
+„Sie haben die Leute aber auch noch bedroht.“ Es klang recht kläglich,
+was Lamas sagte und wie er es sagte.
+
+„Bedroht. Was verstehen Sie denn darunter?“
+
+„Sie haben gesagt, sie wollen Senjor Doux erschlagen.“
+
+„Das haben wir nicht gesagt“, riefen die Verhafteten.
+
+Der Direktor sah Lamas ironisch an und sagte: „Hat zu Ihnen noch nie
+jemand gesagt, daß er Sie erschlagen wolle? Haben Sie dann Ihre Frau und
+Ihre Freunde und Bekannten auch gleich verhaftet und mit dem
+Revolverkolben über den Kopf geschlagen?“
+
+„Das schien aber hier sehr ernst zu sein“, sagte Lamas.
+
+„Um Ihre Haut oder um was? Hat einer von denen, die Sie verhaftet haben,
+jemand geschlagen oder beraubt oder das Café des Senjor Doux demoliert?
+Sicher nicht, denn dann würden Sie mir das gleich erzählt haben. Wir und
+Sie sind dazu da, um das Eigentum und die Person des Senjor Doux zu
+schützen, aber es steht nicht in der Verfassung, daß wir dazu da seien,
+ihm zu helfen, Löhne zu zahlen, von denen kein Mensch leben kann, und
+ihm zu helfen, seine Leute jeden Tag so lange zu beschäftigen, daß sie
+nicht einmal mehr Zeit finden, mit ihrer Familie spazierengehen zu
+können. Wenn die Leute sich das gefallen lassen, das geht uns nichts an;
+aber wenn sie es sich nicht mehr länger gefallen lassen wollen, dann ist
+es nicht unsre Aufgabe, die Leute deshalb zu verhaften. Warum verträgt
+sich Senjor Doux nicht mit seinen Leuten? Dann hätte er gleich Ruhe.
+Aber diese Unordnung kann nicht weitergehen. Das kann ja zu
+Ruhestörungen führen. Ich werde sofort anordnen, daß das Café La Aurora
+für zwei Monate geschlossen wird. Dann ist da Ruhe.“
+
+Er wandte sich zum Schreiber: „Füllen Sie gleich das Schließungsdokument
+aus, für zwei Monate. Ich werde es unterzeichnen und beim Gouverneur
+verantworten. Und Sie, Senjor Lamas, betrachten sich als vorläufig Ihres
+Dienstes enthoben, bis ich vom Gouverneur unterrichtet bin, wohin Sie
+versetzt werden. Die Verhafteten sind entlassen. Außerdem irgendwelche
+Beschwerden?“
+
+„Nein“, erklärten die Leute.
+
+Der Direktor stand auf, gab dem Sekretär des Syndikats, der sich
+verabschiedete, die Hand und sagte zu ihm: „Wir haben ja nun in der
+Angelegenheit nichts mehr zu tun. Das Weitere liegt jetzt bei Ihnen. Es
+war gut, daß ich so schnell zu erreichen war. Es sind immer noch welche
+da, die nicht mitkönnen.“
+
+„Oder die nicht mitwollen, weil sie gebunden sind“, setzte der Sekretär
+fort.
+
+„Er wird einen Platz bekommen, wo er Ersparnisse machen kann, weil er
+keine Ausgaben hat. Ich habe schon einen Platz für ihn, eine
+Banditenregion. Wenn er etwas wert ist, da kann er es zeigen. Und wenn
+er nichts wert ist, werden wir ihn feuern. Er gehört immer noch zu dem
+alten Stock, die glauben, daß die Diktatur die einzig richtige Form des
+Regierens ist. Wir haben sie bald alle raus, und es ist ganz gut, wenn
+die Letzten, die wir drin haben, in alte Fehler verfallen und sich uns
+so zu erkennen geben.“
+
+„Ha!“ rief der Sekretär aus, „in den Staaten drüben sind diese alten
+Fehler urmoderne Einrichtungen.“
+
+„Weiß ich,“ erwiderte der Direktor, „aber wenn wir schon vieles
+nachmachen, so müssen wir doch nicht alles nachmachen, und besonders
+müssen wir nicht das nachmachen, was in unsre Zeit nicht mehr
+hineinpaßt. Diese Mittel waren einmal gut, vielleicht, heute sind sie
+die dümmsten Mittel, die man anwenden kann. Und sie werden auch drüben
+nur von Eseln angewandt; und Esel haben die da drüben ja viel mehr als
+wir, wenn es sich um zweibeinige handelt.“
+
+
+ 5
+
+Die beiden Beamten mit ihren grünen Schnüren am Rock kamen zu Senjor
+Doux und übergaben ihm das Dokument. Doux bekam einen heillosen
+Schreck und schrie zu seiner Frau: „Na ja, da haben wir ja die
+Bolschewistenregierung. Die haben mir einen netten Streich gespielt.“
+
+„Was ist denn los?“ sagte seine Frau näherkommend.
+
+„Die haben uns geschlossen.“
+
+„Ich habe es dir ja immer gesagt, laß uns nicht hierhergehen. Das ist
+ein ganz verrücktes Land, wo es weder Recht noch Gesetz gibt. Du kannst
+nur immer Steuer zahlen, und zwar tüchtig, aber zu sagen hast du
+nichts.“
+
+„Sie müssen gleich zumachen,“ sagte nun der Beamte, der das Protokoll
+überreicht hatte, „sonst gibt es ein Strafmandat über hundert Pesos.“
+
+„Die Gäste werden doch wohl noch ihre Getränke austrinken dürfen?“
+fragte Senjor Doux.
+
+Der Beamte sah nach der Uhr und sagte: „Eine halbe Stunde, dann ist
+Schluß. Sie kriegen einen Wachtmann her, der aufpaßt, daß Sie keine
+Gäste aufnehmen für das Lokal. Den Wachtmann müssen Sie bezahlen. Das
+ist ein Beamter.“
+
+„Ich auch noch den Wachtbeamten bezahlen?“
+
+„Sie glauben doch nicht etwa, daß wir ihn bezahlen? Wir haben kein Geld
+dafür, um umsonst aufzupassen, daß Sie das Protokoll auch einhalten.“
+
+Die beiden Beamten gingen raus und stellten sich vor die Tür, um die
+halbe Stunde Gnadenzeit abzuwarten. Als sie um war, riefen sie hinein,
+und Senjor Doux schloß wütend die Türen. Nur der Gang für das Hotel
+blieb offen, weil das Hotel ja die Ruhe und Sicherheit nicht gestört
+hatte. Im Lokal aber zog keine Ruhe ein, sondern es wurde lebhafter, als
+es je in den letzten Tagen gewesen war. Die Douxens gerieten sich in die
+Haare. Sie wurde wie eine Furie, jeder Centavo, der dem Geschäft
+verlorenging, fraß an ihrem Herzen. Sie watschelte in ihren Pantoffeln
+hin und her zwischen den Tischen und machte dem Manne das Dasein heiß.
+Sie trug nur Hänger, gerade so übergeworfen. Die dicken fleischigen
+Waden waren frei und steckten in hellgelben seidenen Strümpfen. Nacken
+und der Oberteil der Brust waren auch frei, fleischig und quabbelig. Nur
+ihre Jugend hielt diese ausgewachsenen Massen in einer Form, die nicht
+gerade häßlich wirkte, sondern mehr verlockend. Aber fünf Jahre mehr
+würden das Verlockende sicher auslöschen, und das Häßliche würde nicht
+nur bleiben, sondern verstärkt werden. Die Arme guckten ihrer ganzen
+Länge nach nackt aus den Ärmellöchern des Hängers. Sie hätte, nach dem
+Aussehen ihrer Arme zu urteilen, als Ringkämpferin auftreten können.
+Aber es war nur quabbeliges Fleisch, wie alles übrige ihres Körpers. Im
+Nacken hatte sie einen Fleischwulst, der vorläufig nur schüchtern sich
+hervorwagte, aber in einigen Jahren Landmarke sein würde. So wie sie
+jetzt herumlief, lief sie immer im Lokal herum. Wäre es ein andres Lokal
+gewesen, man hätte sie gut für eine Bordellmutter halten können, mit der
+nicht gut zu spaßen war. Die Hänger wechselte sie zuweilen. Sie hatte
+einen grauen, einen rosafarbenen, einen grünen, einen dunkelgelben und
+einen hellvioletten. Ob sie irgendein andres Kleid besaß, weiß ich
+nicht. Ich habe nie ein andres an ihr gesehen.
+
+Senjor Doux lief auch stets in Hemd und Hose umher. Nur wenn er zum
+Markt ging, setzte er einen Hut auf. Er trug immer eine schwarze Hose,
+die er mit einem schmalen Ledergürtel hielt, ein weißes Hemd mit Kragen
+und schwarzem Schlips. Sein Bauch stand spitz vor, als ob er am
+Aufblasen sei. Auch die Senjora schien einen ähnlichen spitzen Bauch zu
+haben. Man konnte das nur nicht so beurteilen, weil der Hänger das
+ausglich. Aber was sie vorn zuviel hatte, fehlte ihr hinten. Das heißt,
+hinten war schon allerlei vorhanden; aber das proportionale Verhältnis
+zum Bauch war doch nicht kräftig genug, um der ganzen Figur die mollige
+Form zu geben. Und weil vorn viel mehr war als hinten, so sah es in dem
+Hänger immer so aus, als ob sie hinten nur das Allernotwendigste habe,
+und als ob selbst dieses Allernotwendigste gerade am Überlegen sei, ob
+es nicht auch noch nach vorn rutschen solle. Jedenfalls brauchte Senjor
+Doux nicht verlegen sein, er konnte gut etwas in den Händen halten und
+brauchte nicht zu befürchten, sich an Knochen wund zu stoßen. „Du bist
+ja rein verrückt gewesen,“ schrie sie auf ihn ein, „hier in dieses
+wahnsinnige Land zu gehen.“
+
+„Ich?“ schrie er zurück. „Warst du es nicht, die jeden Tag mir die Ohren
+volljaulte, daß hier das Geld auf der Straße läge, und daß man es nur
+aufzuschaufeln brauche?“
+
+„Du gemeiner Lügner, du,“ brüllte sie los, „du dreckiger Marseiller
+Zuhälter, der du bist, hast du nicht mein ganzes Geld abgehoben und mir
+gesagt, daß es hier tausend Prozent bringe in zwei Jahren?“
+
+„Habe ich vielleicht nicht recht damit gehabt? Wir sind hierhergekommen
+mit nichts. Oder wieviel haben wir denn gehabt? Achthundert Pesos. Oder
+vielleicht mehr? Und jetzt haben sie mir schon achtundsechzig tausend
+Pesos für das Haus und Café geboten. Und ich verkaufe es nicht dafür,
+weil es viel mehr wert ist.“
+
+„Mehr wert? Mehr wert?“ erboste sie sich. „Nicht einen Dreck ist es
+wert. Wo denn? Es ist zu. Die werden dir kaum die Ziegelsteine bezahlen.
+Aber das habe ich dir ja schon damals gesagt, als die neue Regierung
+herankam. Wie heißt denn der Hund, der Obregon, der Spitzbube! Da war es
+vorbei.“
+
+„Wir haben doch erst seitdem angefangen, zu etwas zu kommen. Oder
+vielleicht vorher? Vorher vielleicht? Wo wir einhundert Pesos nach den
+andern schmieren mußten, um die Augen aufbehalten zu dürfen. Jeder hielt
+die offne Hand hin.“
+
+„Und jetzt,“ widersprach sie ihm, „ist es jetzt anders? Jetzt stehen die
+Leute immer mit der offnen Hand da. Erst die Küche, nun die Kellner, und
+du wirst sehen, die Bäckerei kommt auch noch hintennach. Dann können wir
+heimfahren, bettelarm.“
+
+„Laß mich jetzt in Ruhe, zum Donnerwetter nochmal“, schrie er in voller
+Wut. „Du verdirbst alles mit deiner Habgier und mit deinem verfluchten
+Geiz.“
+
+„Ich geizig? Geizig ich? Wo ich doch das ganze Geld zusammenhalten muß,
+weil du es sonst verhuren würdest mit den Weibsbildern. Und das nennst
+du geizig? Du freilich kümmerst dich nicht um die Kinder und was daraus
+wird. Du gehst huren, und ich habe die Kinder am Halse.“
+
+Da hörten wir ja feine Familiengeheimnisse. Ich glaube kaum, daß die
+Senjora recht hatte; denn ich wüßte nicht, wann er sich Zeit genommen
+hätte, Seitensprünge zu machen. Aber solche Auseinandersetzung war wohl
+das, was man „ein eheliches Zwiegespräch“ nennt. Denn die beiden lebten
+in durchaus glücklicher Ehe und Harmonie. Diese glückliche Ehe wurde nur
+eben dadurch gestört, daß Arbeiter anfingen, aufzuwachen und die Gewinne
+derer zu überrechnen, für die sie arbeiteten. Solches Überrechnen stört
+zuweilen Könige und ganze Staaten. Warum soll es nicht auch die Harmonie
+von Ehen stören?
+
+Diese ehelichen Zwiegespräche wurden in den nächsten Tagen nicht nur
+heftiger, sondern auch häufiger. Sie füllten das ganze Tagesleben der
+beiden Doux aus und zogen sich die ganze Nacht hin, während die beiden
+nebeneinander im Bett lagen. Dadurch lernten wir das ganze Leben der
+beiden kennen, von dem Tage an, wo sie geboren wurden, bis zu der
+Stunde, wo sie sich im Bett schlugen, Lampen und Waschschüsseln und
+Nachttöpfe zerhämmerten. Das alles hatte ihr Freund, der
+Polizeiinspektor verursacht. Sie aber behaupteten, die junge
+Organisation, das „Syndikat der Hotel- und Restaurantangestellten“ sei
+schuld. Nicht schuld an den ehelichen Liebesgesprächen, wohl aber an der
+allmählichen Verschiebung der Machtverhältnisse im Lande.
+
+Als sie beide jenes Stadium erreicht hatten, in dem sie mit der Absicht
+umging, ihm Rattengift in den Kaffee zu mischen, und er die ganze Nacht
+hindurch an das Rasiermesser dachte, mit dem er ihr die Kehle
+durchschneiden wolle, bewies er, daß der Mann der Frau überlegen ist.
+
+Er ging zum Polizeidirektor und fragte, was zu tun sei, um die
+zweimonatige Schließung des Lokals aufzuheben. Der Polizeidirektor sagte
+ihm, daß er da gar nichts tun könne; die Schließung sei für zwei Monate
+angeordnet, der Gouverneur habe es bestätigt, und ehe die zwei Monate
+nicht vorüber seien, könne er nicht wieder öffnen.
+
+„Dann bin ich bankrott“, sagte Senjor Doux. „Und dann haben die Kellner
+und Bäcker keine Arbeit mehr.“
+
+„Machen Sie sich nur darum keine Sorge, Senjor,“ erwiderte der Direktor,
+„solange Leute Brot essen wollen, so lange werden auch Leute, die Brot
+backen, Arbeit finden, und solange jemand im Café sitzen und Erdbeereis
+löffeln will, wird man auch Kellner verlangen, die es ihm auf den Tisch
+stellen. Das sehen Sie ja an der ‚La Moderna‘, die ist jetzt immer gut
+besucht. Alle Ihre Gäste sind da. Aber ich kann nichts tun. Das Lokal
+ist geschlossen, und es bleibt zwei Monate geschlossen.“
+
+Am Nachmittag dieses Tages traf Senjor Doux den Morales.
+
+„Hören Sie, Morales, ich will alles bewilligen,“ sagte ihm Doux in
+bescheidener Ansprache, „können Sie nicht dafür sorgen, daß mein Lokal
+wieder aufgemacht wird?“
+
+Morales sah ihn von oben bis unten an und gab ihm zur Antwort: „Wer sind
+Sie denn? Ach so, Sie sind ja der Doux vom Café La Aurora. Wir haben mit
+Ihnen nichts zu tun. Unsre Beziehungen sind nun gelöst. Wenn Sie was
+wollen, gehen Sie zum Syndikat. Aber uns geht das nichts an. Adios.“
+
+Senjor Doux schrieb einen Brief an das Syndikat, daß er den Herrn
+Sekretär sprechen wolle, er bitte ihn höflichst, zu ihm zu kommen, um
+die Angelegenheit in dem Kellnerstreik mit ihm zu besprechen. Am andern
+Tage erhielt Senjor Doux die Antwort vom Syndikat. Es waren keine
+Höflichkeitsfloskeln darin enthalten, sondern nur in einem kurzen klaren
+Satze war gesagt: „Wenn Sie etwas vom Syndikat wünschen, das Bureau ist:
+Calle Madero Nr. 18. Segundo Piso. Der Sekretär.“
+
+Er hielt es nicht einmal für nötig, der Sekretär, seinen Namen zu
+nennen. Was blieb Senjor Doux übrig, er mußte gehen; denn das
+Rasiermesser verfolgte ihn Tag und Nacht, und selbst wenn er aß, hatte
+er das Gefühl, daß sein Tischmesser ein Rasiermesser sei. „Setzen Sie
+sich da in den Vorraum“, sagte ein Arbeiter, der im Bureau aushalf. „Wir
+haben noch zu tun, eine Besprechung. Es wird nicht lange dauern.“ Es
+dauerte aber doch über eine halbe Stunde, und Senjor Doux hatte
+inzwischen Zeit, die Sinnsprüche, die an den Wänden hingen, auswendig zu
+lernen. Jeder dieser Sprüche erregte zuerst seine Wut. Je länger er sie
+aber studierte, desto mehr Angst bekam er vor den Dingen, die ihm hinter
+der Tür bevorstanden, wo er eine Schreibmaschine klappern hörte.
+
+Endlich kam der Arbeiter und sagte: „Senjor, der Sekretär will Sie
+sprechen.“
+
+
+ 6
+
+Senjor Doux schluckte, als er den kleinen Raum des Sekretärs betrat. Er
+hatte beabsichtigt, dem Sekretär gleich fest in die Augen zu sehen; aber
+er kam nicht dazu. Denn hinter dem Sekretär war über die ganze Wand eine
+Fahne, zur Hälfte rot, zur andern Hälfte schwarz, gespannt und darüber
+stand in dicken Lettern:
+
+¡Proletarios del mundo, unios! (Proletarier aller Länder, vereinigt
+euch!)
+
+Das machte Senjor Doux ganz verwirrt. Er hatte plötzlich den Eindruck,
+als ob da vor ihm nicht der Sekretär sitze, sondern alle Kellner der
+ganzen Welt ihn wütend anblickten. Seine Stimme, die so fest sein
+sollte, wurde ganz zaghaft, als er nun sagte: „Guten Tag, ich bin Senjor
+Doux vom Café La Aurora.“
+
+„Gut. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie?“ fragte der Sekretär.
+
+„Ich möchte gern wissen, ob Sie veranlassen können, daß mein Café wieder
+geöffnet wird.“
+
+„Das können wir veranlassen“, erwiderte der Sekretär. „Sie brauchen nur
+die Bedingungen zu erfüllen.“
+
+„Oh, ich bin bereit, alles zu bewilligen, was die Kellner fordern.“
+
+Der Sekretär nahm einen kleinen Zettel, warf einen Blick darauf und
+sagte: „Die Forderungen sind nicht mehr die gleichen, die gestellt
+wurden, als die Kellner Ihnen die Mitteilung machten.“
+
+„Nicht mehr die gleichen?“ schluckte Doux erschreckt.
+
+„Nein. Es sind fünfzehn Pesos die Woche“, sagte der Sekretär
+geschäftsmäßig.
+
+„Die forderten aber nur zwölf.“
+
+„Das ist leicht möglich. Aber dann wurde gestreikt. Und Sie verlangen
+doch nicht etwa, daß die Leute umsonst streiken. Jetzt macht es
+fünfzehn. Hätten Sie gleich bewilligt, wäre es bei zwölf geblieben.“
+
+„Gut,“ erwiderte Doux, sich aufrichtend, „ich bewillige die fünfzehn
+Pesos.“
+
+„Freitag ist Zahltag. Freitags für die ganze Woche. Diese unpünktlichen
+Zahlungen können wir nicht mehr zulassen“, sagte der Sekretär.
+
+„Aber das kann ich nicht so ohne weiteres machen. Wir haben das immer so
+gemacht, daß wir zahlten, wenn wir das Geld eben gerade dazu frei
+hatten.“
+
+Der Sekretär sah auf: „Was Sie immer getan haben, geht uns nichts an.
+Wir bestimmen, was Sie von nun an zu tun haben. Mit dieser alten
+Wirtschaft, wie sie Hunderte von Jahren bestanden hat, wollen wir nun
+endlich ein Ende machen. Da ist die Arbeit, hier ist der Lohn, Ebenso
+pünktlich wie Sie die Arbeit von den Leuten verlangen, haben Sie den
+Lohn zu zahlen!“
+
+„Das wird aber schwer gehen“, verteidigte Doux seine Position. „Dann
+fehlt mir oft das Geld für Einkäufe.“
+
+„Das kümmert uns nichts. Löhne gehen vor, sonst fehlen den Leuten die
+Pesos, um _ihre_ Einkäufe zu machen. Und wir denken, es ist besser, daß
+Ihnen das Geld für Einkäufe fehlt als den Arbeitern.“
+
+Senjor Doux atmete schwer. „Aber am Samstag ist doch erst die Woche um.
+Warum soll ich da Freitag schon den Lohn zahlen?“
+
+„Warum? Warum? Ist Ihnen denn das nicht klar?“ Der Sekretär tat ganz
+erstaunt. „Der Arbeiter borgt Ihnen ja sowieso schon fünf Tage Lohn. Er
+gibt Ihnen seine Arbeitskraft fünf volle Tage, während Sie mit dem
+Kapital Geschäfte machen. Wie kommt denn der Arbeiter überhaupt dazu,
+Ihnen fünf Tage Arbeit zu borgen? Eigentlich sollten Sie Montag früh im
+voraus für die ganze Woche bezahlen, das würde sich gehören. Aber so
+weit wollen wir nicht gehen.“
+
+„Gut, also damit bin ich auch einverstanden. Auch mit dem einen
+Vollessen und dem Kaffee mit Zugebäck. Dann ist ja wohl das alles in
+Ordnung?“ Senjor Doux stand auf.
+
+„Setzen Sie sich nur noch einen Augenblick“, lud ihn der Sekretär ein.
+„Da sind noch einige Nebenfragen zu erledigen. Die Streiktage müssen Sie
+bezahlen.“
+
+„Ich? Die Streiktage bezahlen?“ schrie Senjor Doux. „Ich soll auch noch
+die Faulenzerei bezahlen?“
+
+„Streik ist keine Faulenzerei. Und wenn bei Ihnen gestreikt wird, müssen
+Sie den vollen Lohn weiter zahlen. Streik ist auch Arbeit. Sonst könnten
+Sie alle, die ganzen Hotelbesitzer und Kaffeehausbesitzer, uns ja zu
+einem langen Streik treiben, um unsre Kassen zu zerstören, so daß wir
+nie wieder streiken könnten. Nein, Senjor, darauf lassen wir uns nicht
+ein. Der Streik wird von uns finanziert. Wir sind nur die Lehnsbank für
+die Arbeiter. Aber zu zahlen haben Sie den Streik. Sie haben ja Zeit,
+reichlich, sich zu überlegen, ob Sie es zum Streik kommen lassen wollen
+oder nicht. Die Kriegskosten muß der bezahlen, der den Frieden braucht,
+um wieder Geschäfte zu machen.“
+
+„Das ist die größte Ungerechtigkeit, die mir je vorgekommen ist“, rief
+Senjor Doux.
+
+„Ich will Ihnen nicht die Ungerechtigkeiten hier vorzählen, die Sie und
+Ihresgleichen jahrelang verübt haben“, sagte der Sekretär.
+
+„Es bleibt mir wohl nichts andres übrig, ich muß auch das bezahlen“,
+gestand Doux nun kleinlaut.
+
+„Am besten gleich heute,“ erklärte der Sekretär, „denn morgen kostet es
+bereits einen Tag mehr.“
+
+„Dann werde ich noch vor fünf Uhr herkommen und alles bezahlen“, sagte
+Senjor Doux und erhob sich abermals.
+
+„Bringen Sie aber etwas mehr mit“, warf der Sekretär ein, während er
+sich gleichfalls erhob.
+
+„Noch mehr?“ fragte Senjor Doux erschreckt.
+
+„Ja, ich denke, Sie wollen doch das Café jetzt schon geöffnet haben und
+nicht erst nach zwei Monaten.“
+
+„Ist denn das nicht damit verbunden, wenn ich alles bewillige?“ Senjor
+Doux wurde ganz nervös.
+
+„Keineswegs“, erwiderte der Sekretär. „Das Schließen des Lokals hatte
+andre Gründe als den Streik. Das wissen Sie wohl recht gut. Sie haben
+den Inspektor aufgefordert, den Streikposten einen Denkzettel zu geben.“
+
+„Das habe ich nicht getan“, wehrte sich Doux.
+
+„Wir sind darüber andrer Meinung. Es ist jedenfalls in Ihrem Lokal
+geschehen, und Sie sind für die Vorgänge in Ihrem Lokal verantwortlich.
+Sie konnten es leicht verhindern, daß so etwas vorkommen konnte.“
+
+„Dann sagen Sie doch schon, was ich noch zu tun habe“, drängte Senjor
+Doux.
+
+„Sie haben zehntausend Pesos in die Kasse unsres Syndikats zu zahlen als
+Sühnegeld. Sobald Sie die Summe eingezahlt haben, werden wir für Sie die
+Garantie übernehmen, und dann kann das Café geöffnet werden, und die
+Siegel werden abgelöst.“
+
+„Zehntausend Pesos soll ich zahlen?“ Senjor Doux war wieder in den Stuhl
+gefallen. Der Schweiß brach ihm aus.
+
+„Sie brauchen es nicht zu bezahlen. Wir zwingen Sie nicht. Dann bleibt
+das Café zwei Monate geschlossen.“ Der Sekretär wurde ganz trocken und
+kaufmännisch. „Natürlich haben Sie nach zwei Monaten die Löhne für die
+Kellner für die vollen zwei Monate nachzuzahlen. Die können doch nicht
+verhungern. Und wir können ihnen leider nicht erlauben, andre Arbeit
+anzunehmen, weil sie sich bereit halten müssen, bei Ihnen wieder
+anzufangen, sobald Sie öffnen. Wir können doch nicht zugeben, daß Sie
+eines Tages, wenn Sie öffnen wollen, keine Kellner haben und vielleicht
+geschäftlichen Schaden erleiden. Und damit Sie gleich im klaren sind,
+ein für allemal: Es ist nicht unsre Absicht, das Geschäftsleben zu
+vernichten oder auch nur zu stören. Durchaus nicht. Aber es ist unsre
+Absicht, dafür zu sorgen, daß der Arbeiter von dem, was er produziert,
+nicht nur einen angemessenen Anteil erhält, sondern den Anteil, der ihm
+zukommt bis zu der höchsten Grenze, die das Geschäft tragen kann. Und
+diese Grenze ist viel höher, als Sie glauben. Damit beschäftigen wir uns
+augenblicklich besonders eingehend, die Tragfähigkeit jedes
+Arbeitszweiges zu errechnen. Arbeitszweige, die dem Arbeiter nicht so
+viel eintragen, daß er ein Leben führen kann, wie es einem Menschen von
+heute zukommt, sollen zugrunde gehen. Dabei wollen wir helfen. Und wenn
+solche Arbeitszweige wichtig sind für die Allgemeinheit, dann werden wir
+dafür sorgen, daß die Allgemeinheit dem Arbeiter ein menschenwürdiges
+Dasein gewährleistet. Daß Ihr Café für die Allgemeinheit so sehr wichtig
+wäre, bestreite ich. Aber es ist nun einmal da. Und solange Sie es dazu
+benutzen, Ihr Vermögen zu vergrößern, bringt es auch genügend ein, um
+anständige Löhne zu zahlen. Wenn Sie nichts mehr verdienen können,
+werden Sie schon von selber zumachen. – So, das habe ich Ihnen gesagt,
+damit Sie nicht denken, wir sind Erpresser. Nein, wir wollen nur, daß
+die Leute, die Ihnen ein Vermögen produzieren, den Anteil bekommen, auf
+den sie ein Recht haben. Für Sie bleibt noch genug übrig.“
+
+Senjor Doux hatte das sicher nur zur Hälfte verstanden. Er saß ganz
+verdöst da. In seinem Kopfe surrten nur immer jene zehntausend Pesos
+herum, die er da auf den Tisch legen sollte. Er traute sich nicht ja zu
+sagen aus Angst vor seiner Senjora. Aber ebensowenig traute er sich ein
+glattes Nein hier hinzuwerfen, gleichfalls aus Angst vor der Senjora. Er
+wußte ja nicht, was sie vorziehen würde. Jeder Tag Zögerung kostete
+Geld. Schließlich kam es auf mehr heraus als auf diese zehntausend
+Pesos, wenn er zwei Monate geschlossen halten mußte und dann außerdem
+die Löhne nachzuzahlen hatte. So arbeitete er mit den Summen in seinem
+Kopfe, bis er halb verrückt wurde.
+
+Er stand auf und sagte: „Ich werde es mir überlegen.“
+
+Er verließ das Bureau, ging die Treppe hinunter und trat auf die Straße.
+Er wischte sich den Schweiß und schnappte nach Luft. Dann machte er sich
+auf den Heimweg. Dabei kühlte er ab und fing an, die Sache ruhig zu
+überlegen. Er rechnete auf einem Papierstückchen hin und her und kam
+endlich zu der Überzeugung, daß es billiger sei, sofort alles zu
+bezahlen.
+
+Nun aber Senjora Doux. Ging er erst heim, so gab es die furchtbarsten
+Kämpfe. Sagte er ein bündiges Nein, würde sie sagen: „Warum hast du
+nicht ja gesagt?“ Umgekehrt hätte sie gesagt: „Warum hast du nicht nein
+geantwortet.“ Er konnte in diesem Falle tun, was er wollte, er würde es
+ihr nie recht machen, denn es kostete Geld, und zwar reichlich Geld. Und
+in allen Dingen, die Geld kosteten und nicht das Doppelte einbrachten,
+gab es Krakeel. Endlich aber packte ihn ein stolzer Mannesmut, einmal
+seinen Willen ganz allein, und ohne seine Frau zu fragen, durchzusetzen.
+Und er dachte das am besten in der Weise zu tun, wenn er eine
+Entscheidung traf, die sie in die hellste Wut treiben müßte. Und das
+war, sofort zur Bank zu gehen, das ganze Geld, das nötig war, abzuheben
+und sofort wieder, ohne auch nur seine Frau zu sprechen, zum Bureau
+zurückzugehen und alles glatt zu bezahlen.
+
+Eine halbe Stunde später war er im Bureau, zahlte jeden Peso, der
+aufgesetzt war, und dann sagte ihm der Sekretär: „Abends um sieben
+dürfen Sie Ihr Café wieder aufmachen. Ich werde dafür sorgen, daß Ihnen
+bis dahin das Aufhebungsprotokoll zugestellt wird.“
+
+Senjor Doux faltete die Quittungen zusammen, nachdem die Marken
+draufgeklebt waren, und sagte dann: „Ich habe nur eine kleine Einwendung
+zu machen.“
+
+„Ja?“ fragte der Sekretär.
+
+„Ich soll doch jetzt die Löhne Freitags zahlen für die ganze Woche?“
+
+„Allerdings“, erwiderte der Sekretär.
+
+„Was dann aber, wenn der Mann am Samstag nicht wiederkommt? Dann hat er
+ja einen Tag Lohn, mit dem er fortgelaufen ist.“
+
+„Sehen Sie mal an,“ sagte der Sekretär lächelnd, „wie gut Sie rechnen
+können. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet. Sie sind ja bisher
+den Leuten manchmal sechs Wochen lang mit dem Lohn davongelaufen, nicht
+nur mit einem Tag, nein, mit sechs Wochen Lohn.“
+
+„Aber die Leute haben doch dann immer ihren Lohn bekommen, und ich bin
+ihnen doch sicher.“ Senjor Doux warf sich in die Brust.
+
+„Ob Sie so sicher sind, ist noch sehr die Frage. Sie können ja unter der
+Hand verkaufen und laufen davon mit den stehenden Löhnen. Aber das kommt
+vielleicht nicht vor. Was aber vorkommt, das ist, daß Sie immer einige
+Wochen lang die Löhne festhalten und mit diesem Gelde, das den Kellnern
+gehört, Geschäfte machen, ohne den Leuten Zinsen dafür zu zahlen. Wie
+kommen die Leute dazu, Ihnen Geld kostenlos vorzustrecken? Das wird nun
+aufhören. Sie können noch froh sein, daß wir nicht anordnen, die Löhne
+werden Mittwoch abend für die ganze Woche bezahlt, so daß also das
+Risiko auf halb und halb geht. Lassen wir es bei Freitag. Wenn Sie
+anständig zu den Leuten sind, läuft Ihnen schon keiner mit dem einen Tag
+Lohn davon. Und sollte es wirklich einmal einer tun, so werden Sie daran
+nicht zugrunde gehen. Also diese Frage ist nun geklärt. Besser, Sie
+beeilen sich, daß Sie bis um sieben mit allem fertig sind und Ihre Gäste
+zufriedenstellen können.“
+
+Senjor Doux verließ das Bureau und ging heim.
+
+
+ 7
+
+„Das ist ganz vernünftig, daß du das gemacht hast“, sagte seine Senjora
+wider Erwarten. „Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten wir das
+alles sparen können.“
+
+„Nach dir?“ fragte Senjor Doux erstaunt. „Es ist ja alles nach dir
+gegangen. Du hast mir ja geraten, ich sollte die Kellner alle
+rausfeuern, es wären genug auf der Straße, die froh seien, wenn sie
+dafür arbeiten könnten.“
+
+„Das ist doch auch richtig“, erwiderte Senjora Doux. „Sie laufen uns ja
+das Haus ein, um Arbeit zu kriegen. Daß mit einem Male niemand kommen
+würde außer diesen beiden Vagabunden, hatte ich nicht gedacht. Das war
+mein ganzer Fehler in der Rechnung. Laß nur gut sein, wir holen das Geld
+schon wieder herein; die Bäckerei und die Konditorei muß es bringen. Die
+sind ja anständiger als die Kellner, die sind ja keine Bolschewisten.“
+
+So war es. Die Bäckerei und die Konditorei mußten den Schaden gutmachen.
+Senjor Doux tat etwas für Reklame. Er ließ in den Kinos und in den
+Zeitungen inserieren, was für gute Brötchen er backe, wie gut seine
+Kuchen und Torten seien und wie vorzüglich das Kleingebäck.
+
+Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend nun um elf, Samstags um zehn
+anfangen mußten, und daß es dann durchging bis zum andern Tage
+nachmittags um vier oder fünf. Das wurde nun schon die Regel. Wem es
+nicht gefiel, der hörte auf. Das war Senjor Doux recht angenehm. Dann
+erklärte er, daß niemand wegen Arbeit nachfragen käme, und wir mußten
+eine Weile für den einen oder gar zwei, die aufgehört hatten, noch
+mitarbeiten.
+
+In Wahrheit aber war es so, daß Senjor Doux so lange wie nur irgend
+möglich den fehlenden Mann nicht ersetzte, um den Lohn für ihn zu
+sparen. Denn wir schickten ihm Leute zu, die er nicht annahm, und zu
+denen er sagte, es sei nichts frei. Das ging dann so lange, bis wir
+einfach Bestellungen liegen ließen. Wenn es sich um Bestellungen
+handelte, die für einen Geburtstag oder einen Namenstag sein sollten,
+dann gab es immer Unannehmlichkeiten für Senjora Doux. Er drückte sich,
+und sie hatte sich mit der Kundschaft herumzuschlagen. Endlich wurde es
+ihr zu bunt, und sie selbst nahm einen oder zwei neue Leute an, immer
+die billigsten, die nichts von der Bäckerei verstanden und auch nicht
+genügend Intelligenz besaßen, es rasch zu begreifen.
+
+Mit Senjor Doux hatte der Meister auch jeden Tag seine
+Auseinandersetzungen. Den einen Tag fehlte der Zucker. Der Meister ging
+zum Doux und sagte ihm, daß wir zweihundert Kilo Zucker benötigten.
+
+„Gut, gut,“ erwiderte Senjor Doux, „werde ich gleich bestellen.“
+
+Aber er bestellte nicht, nur um ein paar Tage länger das Geld in der
+Tasche behalten zu können. Dann kam eine Stunde, in der überhaupt kein
+Zucker da war und wir uns mit den Kellnern herumschlugen, die in die
+Backstube kamen, um auch noch den letzten Rest von Zucker für das Café
+herauszuholen, wo die Gäste vor leeren Zuckerdosen saßen. Dann sauste
+Senjor Doux los, um rasch den Zucker heranzuschaffen. Wir konnten mit
+unsrer Bäckerei dann stehen und warten, konnten nicht weiterarbeiten,
+bis der Zucker da war, konnten aber auch nicht zu Bett gehen, weil die
+Ware noch fertig werden mußte und wir auf den Zucker zu warten hatten.
+
+So ging es mit den Eiern. Da waren fünfhundert Kisten bestellt. Die
+kamen auch. Dann, wenn wir an den letzten fünfzig Kisten arbeiteten,
+sagte der Meister dem Senjor Doux: „Eier müssen bestellt werden.“
+
+„Hat es nicht Zeit bis morgen?“ fragte Doux.
+
+„Ja, bis morgen hat es Zeit, aber dann müssen sie bestellt werden.“
+
+„Gut denn“, sagte Doux, und er war recht zufrieden, daß er bis morgen
+warten durfte.
+
+Am folgenden Vormittag hatte der Meister dann wieder reinzulaufen. „Es
+wird aber höchste Zeit, übermorgen sind wir fertig mit den Eiern.“
+Diesmal fragte Doux nicht, ob es Zeit habe bis morgen, sondern er
+wartete selbst auf eignes Risiko bis morgen. Und dann kam richtig die
+Stunde, wo wir umherstanden und auf die Eier zu warten hatten.
+
+Und ebenso ging es mit dem Eis. Das Speiseeis sollte bis zwei Uhr fertig
+sein. Die Masse hatten wir längst fertig. Aber das Roheis kam nicht,
+weil Doux es zu spät bestellt hatte. Dann kam es statt um eins um drei
+oder um vier, und wir hatten zu warten und umherzustehen, weil wir nicht
+Schluß machen konnten, ehe das Eis fertig war für das Café.
+
+So wurde mit unsrer Zeit gewüstet. Es war nicht alles reine Arbeitszeit,
+nein, es war verwüstete Zeit, die wir nutzlos vergeuden mußten, nur weil
+Senjor Doux ein paar Stunden länger sein Geld behalten wollte, und weil
+unsre Arbeitszeit, unsre Lebenszeit ja nicht für Stunden, sondern für
+die ganze Woche von ihm gekauft wurde. Und jede Minute unsres Lebens
+gehörte ihm, nicht uns. Er bezahlte dafür.
+
+Wenn es uns nicht gefiel, gut, wir konnten ja gehen. Wir konnten gehen
+und verhungern. Arbeitsgelegenheit war rar. Und die Arbeit, die zu haben
+war, wurde von den Eingeborenen weggeschnappt, die es für einen Lohn
+taten, von dem man nicht leben kann, selbst wenn man Eingeborene davon
+mit ihren Familien leben sieht. Was blieb einem übrig? Verhungern oder
+tun, was dem Herrn beliebte. Mit den Kellnern konnte er nicht mehr tun,
+was ihm beliebte. Wir hatten jetzt alles das mit zu übernehmen, was er
+an ihnen nicht verüben konnte. Wir waren Gesindel. Wenn wir gingen,
+zwanzig andre warteten, überselig, in eine Bäckerei zu kommen, wo es
+nicht nur Brot reichlich zu essen gab und Kuchen, nein, wo es sogar
+Mahlzeiten gab, so gut, wie sie diejenigen, die als Arbeiter für die
+Bäckerei in Frage kamen, nie auf ihrem Tische gesehen hatten.
+
+Die Kellner waren Mexikaner oder Spanier, intelligente Burschen,
+aufgeweckt und rührig. Aber wir in der Bäckerei waren zusammengelesenes
+Gesindel, ohne Familie, ohne Wohnort. Einige konnten nicht einmal
+Spanisch sprechen. Die Arbeitsverhältnisse und Löhne boten auch nicht
+die geringste Anziehungskraft für Arbeiter, die Klassenstolz haben.
+Bürgerstolz hatten wir schon. Aber mit Bürgerstolz kann man die
+Lebensverhältnisse des Arbeiters nicht verbessern. Denn Bürgerstolz hat
+der Unternehmer selbst genug, und er weiß, wie er ihn zu seinen Gunsten
+zu gebrauchen hat. Das ist sein Schlachtfeld, wo er jeden Kniff kennt
+und jeden Angriff mit Erfolg zu parieren versteht. Wir strebten nur
+danach, etwas zu sparen und dann einen kleinen Handel anzufangen oder
+das Reisegeld zusammenzubekommen, um nach Colombia zu gehen. Wir
+versuchten aus dem Acker, den wir bebauten, soviel herauszuholen wie nur
+möglich. Ob die, die nach uns auf diesem Acker sich ansiedeln mußten,
+darauf verreckten, das war uns gleichgültig. Jeder ist sich selbst der
+Nächste. Ich grase einmal ab und ziehe auch noch die Wurzeln mit heraus,
+wenn das Gras nicht langt. Nach uns die Sündflut. Was gehen mich meine
+Mitsklaven an?
+
+Senjor Doux und alle seine Geschäftskollegen in der Stadt verstanden es
+schon, uns jede Möglichkeit zu nehmen, nachdenken zu lernen. Es ist ja
+hier Neuland. Jeder hat nur einen Gedanken: Reich zu werden, recht rasch
+reich zu werden; ohne Rücksicht darauf, was aus dem andern wird. So
+machen es die Ölleute, so die Minenleute, so die Kaufleute, so die
+Hotelbesitzer, so die Cafeterios, so jeder, der ein paar Kröten hat,
+etwas auszubeuten. Wenn er kein Ölfeld, keine Silbermine, keine
+Ladenkundschaft, keine Hotelgäste ausbeuten kann, so beutet er den
+Hunger der zerlumpten Arbeiter aus. Alles muß Geld bringen, und alles
+bringt Geld. In den Muskeln und Adern hungernder Arbeiter liegt das Gold
+genau so gut aufgespeichert wie in den Goldminen. Goldminen auszubeuten,
+erfordert oft große Kapitalien und ist häufig mit einem großen Risiko
+verknüpft. Die Goldminen, die hungernde Arbeiter in ihren Kadavern
+tragen, sind bequemer auszubeuten als unsichere Ölfelder, wo man zehnmal
+auf zweitausendfünfhundert Fuß bohren kann mit großen Kosten und nichts
+als tote Brunnen macht. Solange der Arbeiter seine Knochen rühren kann,
+ist er kein toter Brunnen. Da ist der Ungar Apfel. Er kam her mit
+einigen hundert Pesos und fand keine Arbeit. Dann mietete er sich eine
+kleine Baracke und kaufte sich bei einem Althändler Werkzeuge und bei
+einem andern Althändler altes Blech. Davon machte er Eimer und
+Wassertanks.
+
+Eines Tages kam ein Amerikaner vorbei und sagte: „Können Sie mir nicht
+einen Tank machen?“
+
+„Den kann ich machen, wenn Sie mir hundert Pesos Vorschuß geben“,
+erwiderte Apfel.
+
+Er konnte ihn aber nicht machen.
+
+Dann traf er in einer chinesischen Speisewirtschaft einen hungrigen und
+zerlumpten Landsmann aus Budapest, der vor der Blutgier des Herrn Horthy
+hatte fortrennen müssen. Der kam in die Wirtschaft und kam auch an den
+Tisch Apfels und fragte bescheiden mit einem paar Brocken Spanisch, ob
+er nicht das halbe Brötchen da haben könne, das Apfel noch auf dem
+Teller liegen habe, und das abgeräumt werden sollte.
+
+„Nehmen Sie es“, sagte Apfel. „Was sind Sie denn für ein Landsmann?“
+
+„Ungar“, antwortete der Mann.
+
+Und nun sprachen sie Ungarisch.
+
+„Suchen Sie Arbeit?“ fragte Apfel.
+
+„Ja, schon lange, aber es ist nichts zu kriegen.“
+
+„Nein, es ist nichts zu kriegen“, bestätigte Apfel. „Aber ich kann Ihnen
+Arbeit verschaffen.“
+
+„Wirklich?“ sagte der Mann erfreut. „Ich wäre Ihnen ja so dankbar
+dafür.“
+
+„Aber es ist vierzehnstündige Arbeitszeit.“
+
+„Das macht nichts,“ erwiderte der Mann, „wenn es nur Arbeit ist und ich
+zu essen habe.“
+
+„Der Lohn ist auch nicht hoch. Nur gerade zwei Pesos fünfzig.“
+
+„Damit wäre ich schon zufrieden.“
+
+„Dann kommen Sie nur morgen früh dort hin“, sagte Apfel und machte dem
+Manne klar, wo er seine Werkstatt habe. „Da arbeite ich auch, ich habe
+da einen kleinen Kontrakt übernommen.“
+
+„Da bin ich ja recht froh, daß ich mit einem Landsmann zusammenarbeiten
+kann.“
+
+„Das dürfen Sie auch,“ sagte Apfel, „denn irgend jemand anders stellt
+Sie nicht ein. Es ist durchaus keine Arbeit zu haben.“
+
+Der Mann kam und fing an zu arbeiten. Und er arbeitete tüchtig. Vierzehn
+Stunden am Tage. In tropischem Lande. In einer Holzbaracke unter einem
+Wellblechdach. Man kann eine solche Arbeit nicht beschreiben. Man kann
+nur dabei zusammenbrechen oder ein Skelett werden.
+
+Zwei Pesos fünfzig den Tag. Fünfzig Centavos für die Nacht in einem
+Bett, nein, kein Bett, ein Holzgestell, über das ein Stück Segeltuch
+gespannt ist. In einer Lumpenherberge, wo Wanzen und Tausende von
+Moskitos die Nacht zur Hölle machen. Fünfzig Centavos für Mittagessen
+beim Chinesen und fünfzig Centavos für Abendessen beim Chinesen. Zwanzig
+Centavos für ein Glas Kaffee und zehn Centavos für zwei trockene
+Brötchen. Ein paar Zigaretten den Tag. Ein Glas Eiswasser für fünf
+Centavos oder auch zwei oder drei im Laufe des Tages. Dann geht auch das
+Hemd in die Brüche, die Schuhe waren schon hinüber, ehe er anfing zu
+arbeiten, und ein Paar neue kosten einen vollen Wochenlohn, ein Hemd
+zwei Tage Lohn, vorausgesetzt, man ißt nichts. Das geht zwei Wochen, das
+geht drei Wochen, das geht vielleicht sogar vier Wochen. Dann muß er ins
+Hospital gebracht werden. Als Landarmer. Vielleicht kann man den Konsul
+zahlen machen, vielleicht nicht. Malaria, Fieber, wer weiß was. Zwei
+Tage darauf kommt er in eine Holzkiste und wird verscharrt.
+
+Apfel hat aber seinen Kontrakt erfüllt und drei neue Tanks in Auftrag
+bekommen. Er findet immer wieder hungernde Landsleute. Wenn es keine
+Ungarn sind, dann Österreicher, oder Deutsche, oder Polen oder Böhmen.
+Sie schwirren ja nur so herum. Alle sind ihm ja so dankbar dafür, daß er
+ihnen Arbeit gibt, jetzt nur noch zwölf Stunden den Tag, weil er modern
+wird und kein Ausbeuter ist. Aber zwei Pesos fünfzig und dem Antreiber
+drei Pesos fünfzig. Denn den Antreiber braucht er, weil er – es sind nur
+gerade vier Jahre, seit er den ersten Tank baute – im eignen Auto
+spazierenfährt und sich im amerikanischen Viertel ein schönes Haus bauen
+ließ.
+
+Auch die Knochen der Landsleute, denen man Wohltaten erweist, und die
+infolge der Wohltaten, infolge der Überarbeit, infolge der Schlafhöhlen,
+in denen sie ihre Nächte verbringen, infolge der schlechten Ernährung
+dutzendweise am Fieber verrecken und als Niemand verscharrt werden, kann
+man zu Gold machen.
+
+In Budapest schreiben die Zeitungen: „Unser Bürger Apfel hat durch
+Tatkraft und Unternehmungsgeist da drüben in wenigen Jahren ein
+Riesenvermögen gemacht.“ Möchten doch die Zeitungen immer so genau die
+Wahrheit drucken wie in diesem Falle. Reichtümer über Nacht werden hier
+gemacht! Das ist richtig. Man hat nichts weiter nötig, als die Goldminen
+auszubeuten.
+
+Und die Fremden können es am leichtesten. Wenn ihnen von den
+Nichtlandsleuten ein Strich durch die Rechnung gemacht werden soll, dann
+stehen sie unter dem Schutze ihrer Hohen Gesandtschaft, und das freie
+Amerika droht mit dem militärischen Einmarsch.
+
+
+ 8
+
+Wir schliefen nicht in einer Lumpenherberge, aber doch auch in einer
+Schlafhöhle. Haus konnte man es nicht gut nennen. Es war eine große
+Holzkiste mit einem Blechdach. Das Licht kam nur durch die Tür herein
+und durch die Fensterluken, die weder Glas noch Drahtgaze hatten. Es
+führte eine Holztreppe hinauf in den Raum, sechs Stufen. Unter dem Hause
+lagen alte Eierkisten und leere Schmalzdosen, alte Stricke und morsche
+Lumpen. In der Regenzeit war das alles ein wüster Schlamm und eine
+wundervoll ideale Brutstätte für Hunderttausende von Moskitos.
+
+Der Raum war gerade groß genug, daß man zwischen den Klappgestellen, die
+man Betten nennen muß, weil sie es vorstellen sollen, vorbeigehen und
+sich dazwischen ankleiden konnte. Der Raum diente nicht nur uns zum
+Aufenthalt, sondern auch großen Eidechsen und fingerlangen Spinnen.
+Außerdem trieben sich da noch immer drei Hunde herum. Einer von ihnen
+war immer krank und hatte die Räude oder so etwas Ähnliches. Er sah
+grauenerregend aus. Wenn er sich besserte, bekam der andre die
+Krankheit. Aber die Hunde liebten uns sehr, und darum jagten wir sie
+nicht fort. Sie waren oft unser einziges Vergnügen, wenn wir keine Zeit
+hatten, mal auf die Straße zu gucken, sondern nur gerade so auf die
+Segelleinwand fielen und vor Übermüdung nicht einschlafen konnten.
+
+Hin und wieder wurde der Raum von einem von uns ausgefegt. Gescheuert
+wurde er nie. Da aber das Dach leckte, so bekamen wir reichlich Wasser
+in die Bude, wenn ein tropischer Wolkenbruch losging, was im letzten
+Monat der Regenzeit alle halbe Stunde geschah. Wir wurden dann natürlich
+auch naß, und unser Schlafen bestand dann darin, daß wir immerfort
+aufstehen mußten, um das Schlafgestell unter eine Stelle des Daches zu
+schieben, wo wir glaubten, daß da kein Regen hindurch käme. Aber der
+Regen folgte uns mit beharrlicher Bosheit, wohin wir uns auch
+verkrochen.
+
+Wir hatten jeder ein Moskitonetz. Aber das klaffte an einem halben
+Dutzend Stellen auseinander. Und die Moskitos fanden nicht nur die
+klaffenden Stellen sehr leicht, sondern ebenso leicht und sicher jene
+Stellen, wo wir glaubten, da könne kein Loch sein. Wir nähten an den
+Netzen herum, so gut wir konnten. Aber am nächsten Tage war es neben dem
+alten Loch wieder aufgerissen. Man darf ruhig sagen, jedes Netz bestand
+nur aus großen Löchern, die durch morsche Stoffetzen zusammengehalten
+werden, damit die Löcher auch wissen, wo sie hingehören.
+
+Außerdem besaßen wir jeder ein sehr schmutziges Kopfkissen. Und jeder
+hatte eine zerlumpte Decke. An der Wand hing ein alter Spiegel in einem
+Weißblechrahmen und einige Photographien von nackten, ganz nackten
+Mädchen und andre Photographien von Vorgängen, die in vielen Ländern von
+dem Staatsanwalt beschützt werden. Diese Photographien hier hätte keine
+noch so moderne Kunstkommission verteidigen können, weil sie mit Kunst
+absolut nichts, dagegen mit Naturvorgängen alles zu tun hatten. Aber in
+einem Lande, wo man solche schönen Sachen in jedem anständigen Laden
+kaufen kann, und wo sie ein zehnjähriger Junge genau so leicht kaufen
+kann wie ein alter Seemann, macht niemand damit Geschäfte, weil sie
+niemand interessieren, und weil sie niemand kauft. Nur Verbotenes
+interessiert. Wir sahen auch nichts Besonderes daran, wir hatten keine
+Zeit dazu.
+
+Zwischen neun und zwei Uhr konnte man sich in dem Schlafraum nicht
+aufhalten, man wäre sofort Dörrfleisch geworden. Aber in dieser Zeit
+hatten wir ja darin nichts verloren, sondern da arbeiteten wir vor den
+Backöfen. Und gerade dann immer, wenn es so schön kühl zu werden begann,
+daß man herrlich schlafen konnte, mußte man raus.
+
+Die Arbeit an sich war nicht schwer, das könnte ich nicht sagen. Aber
+fünfzehn bis achtzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein,
+unausgesetzt hin und her rennen, sich bücken und strecken, Dinge da
+hinstellen und dort forttragen, macht viel mehr müde, als wenn man acht
+Stunden sehr schwer arbeitet und an eine Stelle gebunden ist. Dann ging
+es immerwährend: „Flink, flink, das Rundgebäck aus dem Ofen. Rasch,
+Teufel noch mal, die Bleche gefettet. Kreuzdonner, den Schläger in die
+Rührmaschine geschraubt, schnell, schnell, ich muß Schnee haben. Die
+Masse ist versalzen, fix, fix, weg damit, neue angesetzt. Ich brauche
+zwei Kilo Glasur, habe ich Ihnen doch vor einer Stunde schon gesagt. Ja,
+Himmelelement, haben Sie denn die Zuckerlöse nicht gestern eingekocht?
+Jetzt sind wir aufgeschmissen! Heiliger Nepomuk, nun rutscht auch noch
+der José mit der Eismasse aus, und die Suppe schwimmt auf dem Zement.
+Danke schön, José, das geht heute wieder bis sechs, wenn solche
+Schweinereien gemacht werden.“
+
+Das war ein immerwährendes Hetzen und Jagen und Kommandieren und Rennen.
+Ich bin sicher, daß ich täglich meine vierzig Kilometer da bin und her
+raste. Und dann der ewige Wechsel. Kaum war ein neuer angelernt, schon
+ging ein andrer wieder fort. Das Anlernen hielt am meisten auf. Senjor
+Doux sagte dann: „Nun habt ihr zwei neue Leute bekommen, die ich
+bezahlen muß, und ihr schafft doch nicht mehr. Was hat es da für Zweck,
+überhaupt neue einzustellen? Es kommt ja nichts heraus dabei.“
+
+Er hatte schon recht, aber es kam doch nie einer, der etwas vom Backen
+verstand. Man mußte ihnen jeden einzelnen Griff zeigen, sogar wie sie
+ein Blech oder den Mehllöffel anzufassen hatten. Und ehe man es ihnen
+zeigte, hatte man es zehnmal selbst gemacht. Manche begriffen es ja
+rasch. Manche aber standen ewig im Wege herum und hielten nur auf. Wir
+bekamen einen Konditor, der mit dem einfachsten Blätterteig nicht fertig
+wurde, und doch konnte er Zeugnisse vorzeigen, daß er in ersten
+Konditoreien gearbeitet hatte.
+
+Es waren nur die Fremden, die ausländischen Arbeiter, an denen Senjor
+Doux verdienen und die er ausbeuten konnte. Die mexikanischen Arbeiter
+ließen sich nicht so ausbeuten. Sie machten das zwei, drei, höchstens
+vier Wochen mit, dann sagten sie: „Das ist zu viel Arbeit“ und hörten
+auf. Dann hatten sie aber auch genügend Geld, daß sie einen kleinen
+Handel mit Zigaretten, Kaugummi, Ledergürteln, Revolvertaschen,
+Backwaren, Zuckerwaren, kandierten Früchten, frischem Obst oder
+ähnlichen Dingen anfangen konnten. Der Handel brachte ihnen vielleicht
+nur einen Peso durchschnittlich im Tag, aber sie richteten sich damit
+ein und waren freie Männer, die nicht andern Leuten ihre Knochen
+verkauften. Manche dieser kleinen Händler kamen immer höher rauf, bis
+sie sich in einer winkligen Nebengasse ein dunkles kleines Lokal mieten
+konnten, das sie zu einem Laden einrichteten. Wir dagegen blieben immer
+versklavt. Wir gaben uns mit dem Peso Reingewinn, den wir als freie
+Männer hätten machen können, nicht zufrieden. Wir verdienten ja auch
+viel mehr. Einen Peso und fünfzig Centavos den Tag und Essen und
+Wohnung. Und wir stellten höhere Ansprüche an das Leben. Jene Leute, die
+nur gerade so lange arbeiteten, bis sie genügend verdient hatten, um
+sich selbständig zu machen, gaben sich mit einer Zwirnhose für drei
+Pesos fünfzig Centavos zufrieden. Eine solche Hose war uns natürlich
+nicht gut genug. Unsre mußte sieben oder acht Pesos kosten. In einer
+andern glaubten wir uns nicht sehen lassen zu können, ohne unsre Würde
+als Weißer zu verlieren. Jene freien Leute kauften rohe Stiefel für
+sieben oder acht Pesos. In solchen Stiefeln konnten wir nicht über die
+Straße gehen. Wie hätte denn das ausgesehen? Schon der Mädchen wegen
+konnten wir das nicht tun. Unsre Stiefel kosteten nie unter sechzehn
+oder achtzehn Pesos. Wir waren ja auch Weiße. Und um das bleiben zu
+können in den Augen der übrigen Weißen, der Amerikaner, der Engländer,
+der Spanier, mußten wir Sklaven bleiben. Adel verpflichtet. Nirgends
+mehr als in tropischen Ländern, die eine eingeborene Bevölkerung haben
+so groß, daß die Weißen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen.
+
+Freilich, wenngleich wir uns auch die größte Mühe gaben, Kaste zu
+behalten, wir lebten dennoch in einer merkwürdigen Schwebestellung. Die
+Amerikaner, Engländer und Spanier zählten uns nicht zu ihresgleichen.
+Für die waren wir doch nur das dreckige Proletariat, und das blieben wir
+auch. Zu den Mischblütigen gehörten wir auch nicht. Für die waren wir
+die fremden Bettler, der Schlamm, der den wohlhabenden Weißen in der
+ganzen Welt nachfolgt und ihnen an den Fersen haftet, wohin sie auch
+immer gehen. Diese Großen machen natürlich den Schlamm, aber wenn sie
+ihn wegräumen sollen, dann gehen sie heim.
+
+Zu den reinblütigen Eingeborenen gehörten wir auch nicht. Auch diese
+wollten nichts mit uns zu tun haben. Alle diese und sieben Achtel der
+Halbblütigen waren Proleten wie wir, aber es trennte uns doch eine Welt
+voneinander, die nicht überbrückt werden konnte. Sprache,
+Volksvergangenheit, Sitten, Gebräuche, Anschauungen, Ideen waren so
+trennend, daß sich kein gemeinsames Band zeigen konnte.
+
+Laßt es gehen, wie es will. Laßt uns leben. Und das wollen wir.
+
+
+ 9
+
+Wir hatten wieder mal Lohn ausbezahlt bekommen. Osuna und ich gingen
+einkaufen. Er kaufte einen neuen Hut, Hemd und neue Stiefel; ich legte
+mir eine neue Hose und ein Paar schöne braune Schuhe zu. Wir gingen
+gleich nach Hause und zogen das an. Dann sagte Osuna: „Was tun wir denn
+mit dem Geld, das wir jetzt noch übrig haben?“
+
+„Das möchte ich wissen“, sagte ich. „Ich habe mir auch schon Gedanken
+darüber gemacht. Überflüssige Sachen zulegen, hat gar keinen Zweck.“
+
+„Nein, das hat gar keinen Zweck“, bestätigte Osuna.
+
+„Das Geld hier in der Tasche behalten, wäre eine Dummheit“, fuhr ich
+fort.
+
+„Das wäre gewiß eine sehr große Dummheit“, gab Osuna zu. „Es wird einem
+ja doch gleich gestohlen.“
+
+„Es auf die Bank zu tragen, halte ich auch nicht für gut“, erklärte ich.
+
+„Wir würden uns damit nur lächerlich machen, wenn wir mit unsern paar
+Pesos da angerückt kommen und sagen, daß man uns damit ein Konto
+eröffnen soll“, sagte Osuna, und er hatte recht.
+
+„Zweifellos würden wir uns damit unsterblich blamieren“, unterstrich ich
+die kluge Bemerkung Osunas. „Außerdem ist die Bank jetzt schon
+geschlossen. Während der Geschäftsstunden haben wir auch gar keine Zeit
+hinzugehen.“
+
+„Was sollen wir nur tun mit dem Geld? Auf Tequila habe ich gar keinen
+Appetit.“ Das sagte Osuna.
+
+„Ich kann ihn nicht riechen.“ Das sagte ich.
+
+„Wissen Sie, was wir tun könnten?“ fragte Osuna.
+
+„Ja?“
+
+„Wir könnten runtergehen zu den Senjoritas.“
+
+„Das Beste, was wir tun können“, antwortete ich. „Dann wissen wir
+wenigstens, wo unser Geld geblieben ist, und wir können es auch gar
+nicht besser anlegen.“
+
+„Richtig“, sagte Osuna. „Da sprechen Sie die Wahrheit. Wir sehen ja
+jetzt ganz anständig aus und können uns da sehen lassen. Immer die
+Backstube vor Augen oder die Kammer, da wird man noch ganz verrückt.“
+
+„Ja,“ sagte ich, „und die Photographien tun es auch nicht für immer. Ich
+glaube überhaupt, wir müssen uns mal nach einigen neuen Photographien
+umsehen. Ich kann diese Frauenzimmer nun bald nicht mehr angucken.“
+
+„Ich auch nicht“, gab Osuna zu. „Es ist beinahe so, als ob man mit ihnen
+verheiratet wäre. Sie mischen sich bereits in alles rein, und sie
+scheinen sich in der Tat um alles zu bekümmern, was wir tun. Ich bin es
+nun leid. Man kennt sie schon zu gut, und ich will mal andre Gesichter
+sehen.“
+
+Osuna stand auf von dem Rand des Bettgestells, ging zur Wand und riß die
+ganzen schönen nackten Frauen herunter. Dann legten wir jeder einen Peso
+beiseite, versteckten die beiden Pesos in einem alten Schuh und machten
+aus, daß wir morgen nachmittag neue Frauen und neue „Vorgänge“ kaufen
+würden, um unsre einsamen Kammerwände damit zu zieren und unsre
+Phantasie nicht verhungern zu lassen. Um auch die richtige Auswahl
+treffen zu können und zu wissen, was am eindrucksvollsten auf unsre
+Phantasie wirken könne, machten wir uns jetzt elegant und suchten nach
+den Wirklichkeiten des Lebens, wo es nicht nüchtern, sondern schön ist,
+ohne der Betäubung durch den Tequila zu bedürfen.
+
+Es war bereits Abend geworden. Wir hatten ziemlich weit zu gehen, denn
+die Senjoritas wohnten am Rande der Stadt. Sie bewohnten ein ganzes
+Viertel für sich allein. Das war ihnen ebenso lieb wie den Männern, die
+nach der Schönheit des Lebens suchten, ohne Verpflichtungen dafür
+übernehmen zu müssen, wenn sie die Schönheiten genießen dürfen.
+
+Es tönte uns gleich Musik entgegen und frohes Lachen. Mit jedem Schritt,
+den wir näher kamen, vergaßen wir mehr und mehr die Trockenheit und die
+Stumpfheit des Lebens. Die entsetzliche Nüchternheit des Lebens kann man
+auch im Tequila vergessen, aber doch nicht so. Es bleibt immer ein
+wüster Strudel im Kopf zurück und ein dickes dreckiges Gefühl im Munde.
+Nein, Schönheit ist, wo Musik ist und rotbemalte Mädchenlippen lachen.
+
+An den Häusern entlang waren zementierte Fußwege, kaum zwei Schritte
+breit. Die Straße lag einen Meter oder zuweilen noch viel mehr tiefer
+als die Fußsteige. Es führten keine Stufen hinunter, sondern wenn man
+auf die Straße wollte, mußte man einen gewagten Sprung machen. Diese
+Straßen waren lehmige Moraste, Schlamm und große Wasserlachen füllten
+das Straßenbett. Und dieser Morast und die Wasserlachen waren dick und
+stinkig. Große Steine und irgendwo abgebrochene Zementbrocken lagen
+wahllos umher. Tiefe Löcher machten die Straßen so gut wie unpassierbar.
+Trotzdem arbeiteten sich Autos und Droschken durch diese Straßen, um
+Gäste zu bringen, zu erwarten oder abzuholen. Zuweilen blieben die Autos
+in den morastigen Löchern stecken. Und mit furchtbarem Geknatter,
+Heulen, Schießen, Knallen, Keuchen und Stampfen arbeiteten sie sich
+wieder heraus und weiter. Aber die Autoführer und die Droschkenkutscher
+schimpften nicht. Sie lachten nur und nahmen das alles als einen Spaß,
+der mit dazu gehöre, und ohne den das Viertel hier nicht das sein
+könnte, was es wirklich ist.
+
+An Straßenecken standen kleine Musikkapellen, die sehr gut spielten,
+viel besser spielten als die Straßenkapellen in der Stadt, wo sie so
+dick herumwimmelten, daß sie sich die Füße gegenseitig abtraten. Jede
+dieser Kapellen hatte eine Geige, eine Baßgeige, eine Klarinette und
+eine Flöte. Manche hatten keine Flöte, sondern dafür eine Trompete.
+Andre wieder hatten nur Geige, Baßgeige und Gitarre. Die waren beinahe
+immer die besten. Wenn sie gespielt hatten, gingen sie einsammeln. Es
+gab selten jemand etwas. Meist gaben eigentlich nur die Senjoritas den
+Musikern etwas Geld.
+
+Aber dann gingen die Kapellen auch wieder in die Restaurants und
+spielten dort. Dort bekamen sie schon eher etwas, häufig aber auch
+nichts. Das Dasein der Künstler. Dem die Musik am besten gefiel, dem sie
+am meisten sagte und am meisten gab, hatte kein Geld, um sie zu
+bezahlen. Und die andern, die zahlen konnten und es auch manchmal taten,
+sagten, es seien Bettelmusikanten, und sie sollten doch lieber „It ain’t
+goin’ rain’ no’ mo’ –“ spielen, statt diese blöden Opern. Es waren aber
+keine Opern, sondern es waren altmexikanische Lieder und Gesänge, die so
+süß klangen und doch so voller Kraft waren.
+
+Eigentlich war die Musik ja überflüssig. Aber hier konnte nicht genug
+Musik sein. Schönheit und Liebe war doch überall herum. In jedem Lokal
+wurde getanzt. Jedes Lokal hatte seine Senjoritas, die mit den Herren
+lächeln und tanzen und trinken mußten, und deren Aufgabe es war, den
+Herrn zu veranlassen, daß er Geld ausgebe. Dafür bekamen die Senjoritas
+auch je einen Raum im Hinterhause des Restaurants, wo sie sich mit ihrem
+Herrn ungestört vergnügen konnten, und sie brauchten für den Raum keine
+Miete zu bezahlen, und die Wäsche wurde ihnen auch noch gestellt. Denn
+Wäsche wird viel gebraucht.
+
+Und überall wurde getanzt. Jeder durfte tanzen, wie er wollte. Und jedes
+Paar durfte tanzen, wie es wollte. Es war kein Tanzordner da, und die
+Leutchen durften sich im Tanz alles sagen, was sie auf dem Herzen
+hatten, ohne sich der Sprache zu bedienen. Niemand hinderte sie daran,
+so zu tanzen, daß eigentlich, wenn es gerecht zuginge, jeder von ihnen
+zwanzig Jahre Zuchthaus bekommen müßte. Aber es ging ja eben nicht
+gerecht zu, und darum tanzten alle so, daß ihnen die Engel im Himmel
+hätten zuschauen dürfen, ohne zu erröten.
+
+Zuweilen tanzte aber doch ein Paar in der Weise, daß des Satans
+Großmutter ihr Gesicht in der Schürze verbergen mußte, wenn sie es sah.
+Aber sie sah es ja nicht, und andre Leute kümmerten sich nicht darum,
+und die vorbeipatrouillierenden Polizisten steckten sich eine Zigarette
+an und sahen lächelnd zu oder gingen weiter, weil es sie langweilte. Das
+Paar langweilte es nach einer Runde selbst, und es tanzte wieder den
+Engeln zur Freude, weil es schöner war und das andre niemandem zum
+Ärgernis wurde.
+
+Eine Negerin aus Virginia trat auf in der Casa Roja, wo wir gerade
+vorbeikamen. Sie tanzte mitten im Lokal. Bauchtanz. Aber der wahre
+Bauchtanz, der echte und unverfälschte. Der Bauchtanz war es, den Eva
+erfand, als sie das Paradies los war und sich frei bewegen konnte. Nicht
+nur alle Herren, sondern auch alle Senjoritas, die im Lokal waren,
+standen auf, um dieses Kunstwerk zu sehen und Gesten zu lernen, die
+ihnen von Nutzen sein konnten, wenn sie nicht allein schliefen. Und in
+alle Türen drängten die Herren und die Senjoritas, die auf der Straße
+waren; denn die Türen waren offen. Kunst ist das, was unsre Seele jubeln
+macht. Und der Bauchtanz der Negerin aus Virginia war reife und
+vollendete Kunst. Auch sie war eine Senjorita und hatte ihr Haus hier,
+um darin mit Herren zu plaudern. Aber keiner der Herren, der sie eben
+tanzen gesehen hatte, wagte sie anzusprechen. Sie war himmelhoch über
+alle die Senjoritas hier emporgeflogen. Sie war gottbegnadete
+Künstlerin, und keiner der Herren glaubte so viele Pesos in seiner
+Tasche zu haben, daß er es wagen dürfe, mit ihr zu gehen. Ein tosender
+Beifall brach aus, als sie geendet hatte und niedergesunken war auf den
+Fußboden. Dort kniete sie, die Arme zurückgeworfen, den Leib mit den
+quellenden Brüsten drehend und schiebend wie in einem letzten
+aushauchenden Seufzer, der dem letzten müden Tropfen einer sterbenden
+Bergquelle folgt. Dann mit einem kurzen, schmerzhaften Ruck zog sie den
+Unterleib zurück und ließ den Kopf matt und müde sinken, bis die Stirn
+den Boden berührte. Nun sprang sie auf mit einem jubelnden Schrei
+gesunder und vollbefriedigter Freude, stand schlank und gerade im Saal,
+die linke Hand in die Hüfte gepreßt, den rechten Arm in runder weicher
+Geste hochgeworfen. Ihre Augen blitzten, und ihre weißen Zähne
+leuchteten zwischen den vollen Lippen hervor. Und sie lachte ein
+sieghaftes Lachen, streckte ihren Leib hervor mit einer Geste, als ob
+sie einen Kontinent einladen wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie
+rief: „El amor y la alegria, senjores mios!“
+
+Es folgte ein kurzes Schweigen, dann donnerte der Beifall aufs neue los,
+und die Musik setzte mit einem Schmettern ein, das einige Takte dauerte,
+während die Negerin, ihr dünnes Kleid zupfend und sich das Haar
+zurückstreichend, zu ihrem Platze ging, wo sie eine Flasche Bier und ein
+Glas stehen hatte. Alle Herren betrachteten sie mit einer scheuen
+Bewunderung, ohne sich ihr zu nähern und sie zu dem einsetzenden
+Foxtrott aufzufordern. Sie gingen zu den andern Senjoritas, die sich
+bescheidener benahmen und nicht Orkane erwarten ließen, die den
+gewandtesten Mann mit einer Fingerbewegung aus dem Sattel zu heben
+drohten. Die Senjoritas betrachteten die Negerin nicht als eine
+Nebenbuhlerin, die sich eines unlauteren Wettbewerbes bediente. Durchaus
+nicht. Sie gab dem Geschäft einen ganz ungeheuerlichen Schwung, der zehn
+Minuten vorher nicht zu spüren war. Die Herren hatten Feuer in den
+Augen, während sie bisher ziemlich gleichgültig und interesselos
+dreingeschaut hatten. Und die Senjoritas versuchten jetzt beim Tanzen
+einige der Bewegungen, die sie soeben gesehen hatten, nachzuahmen. Aber
+es sah häßlich aus und widerlich. Sie preßten sich hart an die Männer
+und spielten mit ihren hinteren Partien. Aber die Herren reagierten nur
+sehr schwach darauf und hielten sich auffallend steif zurück, bis die
+Senjoritas anfingen, die Gesten, die bei ihnen so aussahen, als ob ein
+kleiner Gemüsekrämer plötzlich die Reklame eines großen Warenhauses
+nachmachen möchte, aufzugeben und immer mehr zu lassen und in normaler
+Weise zu tanzen. Ja, nun benahmen sie sich wie die sogenannten
+anständigen Damen. Das gefiel den Herren viel besser und erinnerte sie
+sicher an ihre Bräute oder Frauen oder an begehrte Mädchen und brachte
+sie in die Stimmung, die allein für das Geschäft nutzbringend war.
+
+Sie luden ihre Tänzerinnen ein, sich mit ihnen zu einer Flasche Bier
+oder einem Whisky an einen Tisch zu setzen. Sekt trinkt man nur, wo den
+Kleinen alles verboten und den Großen mehr erlaubt ist, als sie in
+normaler Weise leisten und genießen können. Wo Sekt getrunken werden
+muß, um lachen zu dürfen und sich der Schönheiten des Lebens zu
+erfreuen, artet die Unterhaltung häufig zur Schweinerei aus. Und an
+diesen Ausartungen mißt der Zensor seine Normalmeterstäbe ab, mit denen
+er den Kleinen die Länge des Vergnügens zumißt, die er ihnen zubilligt.
+Immer nur da, wo die Röcke nicht hochgehoben werden dürfen, begeht man
+Verbrechen und tut den törichten Unsinn, nachzusehen, was unter den
+Röcken ist.
+
+
+ 10
+
+Die Straßen waren voll von Händlern. Da waren Tische, wo es heiße
+Enchiladas gab. An andern gab es Kaffee. Wieder an andern kaltes Huhn
+oder gebratenen Fisch oder Roastbeef mit Brötchen oder mit Tortillas.
+Man konnte Salat kaufen, oder Bananen, Papayas, Äpfel, Weintrauben,
+Apfelsinen. Kleine Buden verkauften Zigaretten, Zigarren und Tabak.
+Andre Zeitungen und Zeitschriften. An vielen Tischen gab es Eiswasser in
+fünf oder sechs verschiedenen Sorten, Lemones, Hochata, Jamaica,
+Tamarindo, Pinja, Naranja, Papaya und was nicht noch. Dazwischen liefen
+Jungen und Frauen herum mit Körben oder Zigarrenkistchen. Sie verkauften
+Kaugummi, Süßigkeiten, getrocknete Kalavasaskerne, Peanuts, Obst und
+Blumen. Andre liefen herum mit Eimern mit Eiswasser, das sie glasweise
+abgaben. Hundert Menschen, wenn nicht mehr, fanden hier ihren
+Lebensunterhalt. Frauen trugen ihre Säuglinge auf den Armen oder führten
+kleine Kinder an der Hand, während sie ihrem Handel nachgingen. Weder
+die Sittlichkeit der halbwüchsigen Jungen, die ihre Zeitungen oder
+Zigaretten ausriefen, noch die der ehrbaren Handelsfrauen oder deren
+Kinder wurde vernichtet in dieser Umgebung. Wer Sittlichkeit hat, der
+verliert sie nicht, wenn er etwas sieht, das als Unsittlichkeit
+anzusehen ihn niemand gelehrt hat.
+
+Hunderte von ehrbaren Frauen und Mädchen und Kindern und ganzen Familien
+hatten den ganzen Tag hindurch das Quartier der Senjoritas zu passieren,
+um zu ihren Wohnungen zu gelangen. Sie fühlten sich nicht gefährdet. Sie
+konnten einen andern Weg wählen, wenn sie wollten; aber der Weg durch
+das Quartier war kürzer. Und wenn man mit einer Frau, die etwas vom
+Leben verstand, darüber sprach, so sagte sie: „Einen Mann zu gewinnen
+und zu behalten, ist nicht so schwer; aber jeden Tag ein halbes Dutzend
+Männer zu gewinnen, ist eine Kunst. Warum soll ich mit Entrüstung auf
+die Senjoritas sehen? Ich glaube, die Entrüstung und das Ärgernis bei
+vielen ehrbaren Frauen kommt nur daher, weil es ihnen nicht gelänge,
+sich auf diese Art ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Die Herren wollen
+für ihr Geld etwas haben, und die Mehrzahl der ehrbaren Frauen ist zu
+langweilig, zu dumm, zu häßlich, um den Herren das geben zu können,
+wofür die Herren zahlen. Um ihre Nachteile zu verschleiern, nennen sie
+sich anständig, und sie haben große Mühe, ihrem eignen Manne zu
+gefallen.“ Und die Dame, die das sagte, war die ehrbar angetraute Frau
+eines wohlsituierten Kaufmannes in der Stadt, der einem vornehmen Klub
+als Mitglied angehörte. Und sie war eine schöne Frau, die sich gut und
+geschmackvoll zu kleiden verstand und sicher nie einem andern Manne als
+dem ihrigen auch nur die kleinste Gunstbezeigung erwiesen hatte. Aber
+sie war ja auch keine Puritanerin, sondern eine Tochter aus alter
+spanisch-mexikanischer Familie. In puritanischer Umgebung können solche
+Anschauungen nicht wachsen, und wenn sie auftauchen, sind sie
+widerwärtig.
+
+Es kam ein junger Amerikaner eines Tages hierher. Er hatte eine sehr
+hübsche junge Frau und drei niedliche Kinderchen. Ich wurde bei ihm zum
+Dinner eingeladen. Vor Tisch und nach Tisch betete er, und Sonntags
+vergaß er nicht, mit seiner Frau die amerikanische Kirche zu besuchen.
+Als er mich bat, ihm die Stadt zu zeigen, sagte er: „Ich habe gehört,
+hier in diesen Ländern gibt es das und das. Wo ist denn das?“ Ich zeigte
+es ihm, und er besuchte mehr als eine der Senjoritas. Als er dann wieder
+zurückreiste, sagte er mir: „Das ist doch ein schrecklich unsittliches
+Land. Dem Himmel sei Dank, daß so etwas bei uns nicht gestattet ist.“
+
+Da log er zum zweitenmal. Es war gestattet. Wie alles gestattet ist, was
+gegen die natürlichen Triebe des Menschen gerichtet ist. Es wurde
+gestattet durch Vergewaltigung von Frauen und Kindern, durch
+Verheiratung elfjähriger Mädchen an fünfzigjährige reiche Männer, die
+sich nach acht Wochen wieder scheiden ließen. Es wurde gestattet durch
+das Herumschleichen von Frauen und Mädchen in den Seitengassen zur
+Abend- und Nachtzeit. Es wurde gestattet dadurch, daß von hundert
+Männern wenigstens fünfzehn und von hundert Frauen und Mädchen achtzehn
+an üblen Krankheiten litten, die in den dunklen Seitengassen wucherten
+und wuchsen. Dann werden Millionen und aber Millionen von Dollar
+ausgegeben, um diesen Krankheiten, von denen zu sprechen schamlos ist,
+Einhalt zu gebieten, während hunderttausend Dollar genügten, sie auf das
+kleinste Maß zu beschränken, dadurch, daß man den Leutchen Gelegenheit
+gibt, sich innerhalb beleuchteter vier Wände guten Abend zu sagen,
+Wasser und Seife zur Hand zu haben und die ganze Sache ebenso als
+Geschäft zu betrachten wie die bezahlte Krankenpflege, das Dampfbad oder
+das Massieren. Aber wenn das von diesem natürlichen und gesunden
+Standpunkt aus betrachtet würde, hätten ja die alten Betschwestern, die
+kastrierten Traktätchenschreiber und die sabbernden Verkünder Goldner
+Regeln nichts mehr zu tun. Wohin mit ihnen so schnell? Man kann sie doch
+nicht eingraben. Sie würden ja nicht einmal Dung machen, weil sie zu
+trocken, zu ledern und zu saftlos sind.
+
+Die Senjoritas sprachen alle mehrere Sprachen. Die nur Spanisch sprechen
+konnten, hatten wenig Erfolg. Sie mußten sich mit den Peons begnügen,
+und diese armen Teufel konnten nur gerade den denkbar kleinsten Betrag
+in diesen Spekulationen anlegen. Diese ungebildeten Senjoritas wohnten
+in den abgelegensten Teilen des Quartiers, wo die Zimmer am billigsten
+waren, am einfachsten möbliert, und wo die Musikkapellen nur so
+gelegentlich hinkamen, wenn in den andern Sektionen die Konkurrenz zu
+groß war. Hier in dieser Sektion trugen die Senjoritas Kleider so
+einfach, daß sie mit ihnen sofort zur Stadt hätten gehen können, ohne
+aufzufallen. Die Einnahmen reichten kaum zur Schminke und zum Puder;
+aber Wasser, Seife, antiseptische Lösung, für jeden Besucher reine
+Tücher mußten sie haben. Denn der Gast, der da vorbeikam, konnte ganz
+gut der Inspektor der Gesundheitskommission sein, der plötzlich das
+Zimmer betrat, nach dem Gesundheitspaß fragte und sich die Materialien
+für die Sauberkeit ansehen wollte, Puder, Schminke und Parfüm brauchten
+nicht in Ordnung sein, aber die andern Materialien mußten in
+vorschriftsmäßiger Verfassung sein, sonst gab es Quarantäne, und die war
+kostspielig und war mehr gefürchtet als Geldstrafe oder Gefängnis.
+
+Es gab keine Sklaverei. Jede Senjorita war frei. Sie durfte morgen oder
+sofort das Haus verlassen. Keine alte Hökerin, kein Faulenzer hielt sie
+unter irgendeiner Form von Pfand für Mietschulden, Kostgeld oder
+Wäscherechnungen. Die Miete mußte eine Woche im voraus bezahlt werden.
+Wer nicht bezahlen konnte, mußte das Quartier verlassen. Wer auf der
+Straße zu Geschäftszwecken angetroffen wurde, kam in Quarantäne. Für
+Privatzwecke durfte sie aber auf den öffentlichen Straßen
+spazierengehen, soviel sie wollte, und wann sie wollte. In der Goldnen
+Sektion, die am Eingang des Quartiers war, wo alles im strahlenden
+Lichte der Tanzsalons lag, wohnten die Französinnen. Sie sprachen ein
+rasend schnelles Französisch, und sie alle schworen, daß sie aus Paris
+seien. Aber mehr als die Hälfte hatten Paris nie gesehen, sondern kamen
+aus London, aus Berlin, aus Warschau, aus Budapest, aus Petersburg oder
+aus Städten noch viel ferner von Paris. Keine von ihnen konnte die
+Erlaubnis erhalten, hier in dieses Land zu kommen, weil Damen, die sich
+diesem ehrenwerten Geschäft widmen oder widmen wollen, die Einreise
+nicht erlaubt ist. Aber sie waren alle hier und waren alle eingereist.
+Jede mit Hilfe eines andern Tricks.
+
+Die Pariserinnen waren die Elegantesten; das mußten sie schon sein, um
+in dieser Sektion bestehen zu können. Sobald die Einnahmen für die
+notwendige Aufmachung nicht mehr ausreichten, was sehr rasch geschehen
+konnte und sehr häufig vorkam, mußte die Senjorita der drückenden
+Konkurrenz wegen in die nächst billigere Sektion verziehen. Und so kam
+es vor, daß manch eine, die das Geschäft nicht verstand und die Kunst
+nicht lernte, um es mit den Meisterinnen aufzunehmen, immer weiter von
+der Goldnen Sektion abrücken mußte, bis sie in dem dunkelsten Teil
+endlich landete, wo nur die Peons hingingen, die um fünfzig Centavos
+handelten.
+
+Hier aber in der Goldnen Sektion erschienen die, die das Geld nicht
+ansehen, wenn sie herkommen. Die Ölleute, die sechs oder acht Monate im
+Busch oder im Dschungel gelebt hatten, wo sie nichts ausgeben konnten,
+und jetzt zweitausend Dollar in der Tasche hatten, von denen sie nur
+zwanzig auszugeben gedachten, von denen sie aber am Ende der Nacht nur
+noch so wenig hatten, daß sie sich einen Peso von einem Landsmann
+betteln mußten, um das Auto zu bezahlen, mit dem sie zum Hotel fahren
+wollten. Da kamen die Schiffskapitäne, die ein gutes Nebengeschäft am
+Tage gemacht hatten; die Spekulanten, die einigen Grünlingen Aktien für
+Ölfelder verkauft hatten, in denen man nur Öl sah, wenn man eine Kanne
+voll hinbrachte. Da waren die Riggers, die ihren Kontrakt gestern
+fertiggebracht und heute das Geld kassiert hatten. Diese Geldstrotzenden
+gingen von Haus zu Haus, von Senjorita zu Senjorita, augenscheinlich
+ausgestattet mit unverwüstlicher und unerschöpflicher Lebenskraft. Aber
+sie gingen ja zu Meisterinnen ihrer Kunst, die es wohl verstehen, aus
+dem trockensten Baumstamm eine muntere Quelle rieseln zu lassen,
+sicherer noch als der heiligste indische Fakir.
+
+Die Häuser waren meist aus Holz gebaut. Jedes Haus hatte nur einen Raum.
+Ein Haus sah genau so aus wie das andre, und jedes Haus war dicht an das
+Nachbarhaus geklebt. Der Raum hatte nur eine Tür, die unmittelbar von
+der Straße in das Zimmer führte. Und jeder Raum hatte nur ein Fenster,
+das keine Glasscheiben hatte, manchmal jedoch statt der Scheiben
+Moskitodrahtgaze.
+
+Auf der Fahrstraße konnte man nicht gehen, man mußte auf dem schmalen
+zementierten Wege gehen, der an der Häuserreihe entlang führte. Die
+Senjoritas saßen alle vor der offenen Tür auf einem Stuhl, oder sie
+standen herum, allein oder in kleinen Gruppen, schwatzend und lachend.
+An keiner Tür konnte man vorbeigehen, ohne daß man von der Senjorita,
+der diese Tür gehörte, festgehalten und mit den süßesten Worten
+eingeladen worden wäre, hineinzukommen und sich mit ihr zu unterhalten.
+Dabei machten sie so gewagte Versprechungen, daß die Versprechungen
+allein genügten, die eisernste Widerstandskraft und die teuersten
+Gelübde spielend über den Haufen zu werfen. Erreichte man das nächste
+Haus, ließ einen die Senjorita sofort los, denn das nächste Haus war das
+Bereich der Nachbarin, wo nur die das Recht besaß, Versprechungen zu
+machen, die noch um einige Grade weitergingen als die der eben
+verlassenen Dame.
+
+Man konnte sich nur durch eine einzige Ausrede vor diesen fortgesetzten
+Angriffen retten: „Ich habe kein Geld.“ Dann war man sofort frei,
+vorausgesetzt, daß die Senjorita es glaubte. Meist glaubte sie es nicht
+und fühlte einem dann die Taschen ab. Aber keine hätte den Versuch
+gemacht, einem auch nur fünfzig Centavos wegzunehmen.
+
+Ihre Menschenkenntnis bewiesen sie dadurch, daß sie ehrbare Bürger, die
+das Quartier zu passieren hatten, um zu ihren eignen Wohnungen zu
+gelangen, nie belästigten oder nur in ganz bescheidener,
+unaufdringlicher Weise. Viele suchten sich ihre Gesellschaft recht
+sorgfältig aus und berührten keineswegs jeden, der vorbeikam. Andre
+weigerten sich entschieden und liefen sich selbst durch überbotene
+Beträge nicht gewinnen, wenn ihnen der Herr aus irgendeinem Grunde nicht
+gefiel. Manche sahen keinen Chinesen an, andre keinen Neger, viele
+keinen Indianer. Und doch, wenn schlechte Geschäftstage kamen, wenn es
+zum Ende des Monats ging, zwang sich manche, jemand zuzulächeln, den sie
+zu Anfang des Monats oder noch drei Tage vorher entrüstet angesehen
+hätte, wenn er sie nur angetippt haben würde.
+
+Die Großen des Reiches sprachen nicht nur fließend Französisch, sondern
+auch sehr geläufig Englisch, Spanisch, Deutsch. Manche Unterhaltungen
+bereiten nur dann Vergnügen, wenn die Begleitmusik die Muttersprache
+ist. Und gewisse Empfindungen kommen nur dann voll zur Entfaltung, wenn
+sie mit Worten erweckt werden, die bestimmte Gefühlsnerven treffen, die
+eine angelernte Sprache niemals treffen kann. Denn solche Worte bringen
+die Erinnerung an das erste Schamgefühl, die Erinnerung an das erste
+Mädchen, das man begehrte, die Erinnerung an die mysteriösen Stunden des
+ersten Reifegefühls zurück. Die Meisterinnen der Kunst wissen das recht
+wohl. Darum kommen die Stümperinnen, die nur eine Sprache kennen, nicht
+voran; sie bleiben immer die Centavoskrämer in den dunklen Sektionen.
+
+Aber die Bajadere Goethes sucht man vergebens. Zeit ist Geld. Und zum
+süßen Tändeln, zum zarten Spielen, zum stundenlangen Heransehnen an die
+Erfüllung fehlt diesen Meisterinnen das, was man die Liebe einer
+angebeteten Frau nennt. Hier ist hohe und höchste Kunst, nichts mehr.
+Aber die bekommt man voll, und man wird für sein Geld nicht betrogen.
+Der Rest ist: Die süße heilige Sehnsucht nach der Geliebten. Hier wird
+der unbezahlbare Wert der geliebten Frau bestätigt. Das wissen die
+Künstlerinnen auch, und sie machen kein Hehl daraus. Darum verkaufen sie
+eben nur das, was die Herren wünschen. Mehr wird nicht verlangt für das
+Geld. Diese Künstlerinnen sind gute Kaufleute, die es verstehen,
+Kundschaft heranzuziehen und zu halten.
+
+
+ 11
+
+„Wenn Sie es gern hören, kann ich auch Deutsch sprechen“, sagte
+Jeannette. „Ich bin ja aus Charlottenburg.“
+
+„Ich habe geglaubt, aus Paris.“
+
+Darüber fühlte sie sich sehr geschmeichelt; denn die echten Französinnen
+riefen ihr „Boche“ entgegen, wenn sie sich zankten. Und die Senjoritas
+zankten sich gern und häufig. Wenn der Zank vorüber war – er war nicht
+immer wegen der Kundschaft, sondern häufiger wegen Preisdrückerei –,
+dann war Jeannette wieder „Meine Teure aus Straßburg“, für die sie ein
+Mitleid empfanden, das auf patriotischer Grundlage ruhte, ein Mitleid,
+das daheim in Frankreich bereits anfängt, andern Gefühlen Platz zu
+machen. Aber davon wußte man hier nichts; denn die Französinnen hatten
+Frankreich schon eine Reihe von Jahren nicht mehr gesehen.
+
+Jeannette, die in Charlottenburg vielleicht Olga hieß, in ihrem
+Gesundheitspaß aber Jeannette genannt wurde – und dieser Name war durch
+Photographie beglaubigt –, hatte sich während des Krieges in Buenos
+Aires aufgehalten. Auch dort war sie sehr tätig in ihrem Beruf gewesen
+und war zu einem Vermögen gekommen.
+
+„Ich bekam plötzlich Lust, einmal nach Hause zu fahren und zu sehen, wie
+es dort aussieht“, sagte sie.
+
+Sie fand Vater und Mutter in den elendesten Verhältnissen. Der Vater war
+in Friedenszeiten ein geachteter Bürger gewesen, Fabrikportier bei einer
+großen Berliner Firma. Nach dem Kriege war er entlassen worden, weil ein
+Kriegsinvalide, den das Vaterland nicht unterhalten wollte,
+untergebracht werden mußte.
+
+Die Leute hatten ihr ganzes Leben lang sich nichts gegönnt, immer nur
+gespart und gespart, um auf ihre alten Tage etwas zu haben. Sie hatten
+ihr Geld auf einer mündelsicheren Sparkasse. Als aber dann der Staat
+durch die Entwertung des Geldes die Mündel, die Dienstmädchen und die
+alten ehrbaren Leutchen um ihre kleinen Spargüter so gewissenlos betrog,
+wie es kein Privatmensch je hätte wagen dürfen, ohne daß die Menschen
+ihn in Stücke gerissen hätten, verwandelte sich das Goldgeld der Familie
+Bartels – Jeannette sagte mir, das sei ihr deutscher Name, aber ich
+glaube es nicht – in Papierschnitzel, die so wertlos waren, daß man sie
+nicht einmal auf verschwiegenem Ort mit Erfolg verwenden konnte.
+
+Die Bartels beschlossen, sich mit Gas zu vergiften; aber von irgendeiner
+Wohltätigkeits-Vereinigung bekamen sie für zwei Wochen Graupen, Reis,
+Trockengemüse und eine Büchse Corned Beef. Damit hielten sie sich vier
+weitere Wochen am Leben, und da fuhr eines schönen Nachmittags Jeannette
+vor, die soeben von Hamburg und von Buenos Aires gekommen war, ohne sich
+vorher anzukündigen. Sie brachte so viel Geld mit, daß sie eine ganze
+Straße in Charlottenburg hätte kaufen können; denn sie hatte Dollars.
+
+„Mädel, Mädel, wie kommst du nur zu so viel Geld?“ hatte die Mutter nur
+immer wieder gefragt.
+
+„Ich habe einen Viehherdenbesitzer in Argentinien geheiratet, der zwei
+Millionen Stück Rindvieh hatte. Der ist nun gestorben und hat mir sein
+ganzes Vermögen hinterlassen.“
+
+„Wer hätte das gedacht, Mädel, daß du einmal solches Glück im Leben
+haben würdest!“ sagte die Mutter, und Jeannette wurde in der Straße bald
+bekannt als die „Argentinische Millionenwitwe“. Das klang besser als zu
+sagen, die Olga Bartels, die in Argentinien einen Millionär geheiratet
+hat. Mit „Argentinischer Millionenwitwe“ konnte die Verwandtschaft, die
+Bekanntschaft und die Nachbarschaft besser prunken und mehr Geschwätz
+machen als mit Olga Bartels. Eine Olga Bartels in der Familie oder in
+der Nachbarschaft zu haben, das konnte jeder, eine argentinische
+Millionenwitwe zu kennen, das umgab einen mit einem Glorienschein.
+
+Mit einer Handvoll Dollar kaufte Jeannette ihren Eltern ein Etagenhaus,
+das im Frieden wenigstens dreihunderttausend Mark wert gewesen war. Sie
+ließ es auf ihren Namen schreiben – so geschäftstüchtig war sie, das
+lernt man draußen –, aber alle Einkünfte aus dem Hause ließ sie den
+Eltern. Dann kaufte sie ihnen noch eine gute Anzahl solider Aktien, die
+den Kurs immer mitmachen mußten, und hinterlegte sie bei einer guten
+Bank mit der Anordnung, daß die Dividenden gleichfalls ihren Eltern an
+den Fälligkeitstagen ausgezahlt werden sollten.
+
+Und dann machte sich Jeannette einige gute Wochen. Die hatte sie auch
+nach den anstrengenden Jahren ehrlich verdient.
+
+Zum richtigen Genuß dieser guten Wochen gehörte natürlich auch die
+Mitwirkung des andern Geschlechts. Das gehört immer dazu, sonst kann man
+schwerlich von einem guten Leben oder von Vergnügen sprechen. Aber
+Jeannette machte kein Geschäft daraus, und sie suchte sich die Herren
+aus, mit denen sie sich erfreuen wollte.
+
+Die Familie war in das große Haus gezogen und hatte, mit hoher
+obrigkeitlicher Genehmigung des Wohnungsamtes, die Mansardenwohnung
+einnehmen dürfen, die Jeannette auf ihre Kosten zuvor einbauen ließ.
+Eines Morgens, als der Vater zu ihr in das Schlafzimmer kam, das sie
+sich eingerichtet hatte, fand er einen Herrn in ihrem Bett. Die beiden
+Bettgäste hatten lange in einem Restaurant gesessen, reichlich Sekt
+getrunken, und so war es geschehen, daß der Herr nicht rechtzeitig
+erwacht war, um sich zu anständiger Stunde angemessen und schweigend zu
+empfehlen.
+
+Der Vater wollte den Herrn verprügeln oder erschießen oder sonst irgend
+etwas Grauenhaftes mit ihm angeben. Der Herr hatte Takt, war gut
+erzogen, und mit äußerster Geschicklichkeit gelang es ihm, sich trotz
+der Angriffe des Vaters anzukleiden und dann mit Hilfe Jeannettes die
+Tür und die Treppe zu erreichen.
+
+Damit war er in Sicherheit. Nicht so Jeannette, die nun allein den
+Angriffen ihres Vaters, der seine Kräfte nicht mehr nach zwei Fronten zu
+verausgaben brauchte, ausgesetzt war. Die Mutter sprang ihr bei.
+
+Die guten, wohlsituierten Familien, die dort im Hause wohnten, würden
+von den Ereignissen gar nichts gehört haben, wenn nicht der Vater in
+seiner gekränkten und schwer beleidigten Bürgerehre sich so blöde
+betragen hätte, daß die Leute es erfahren mußten, auch wenn sie
+vielleicht gar kein Interesse daran gehabt hätten, ob Jeannette lieber
+allein oder in Gesellschaft schlafe.
+
+„Bist du dazu hergekommen, du Hure, daß du uns solche Schande hier vor
+den Leuten antust?“ brüllte der alte Bartels auf Jeannette ein. „Da
+wollte ich doch lieber, daß ich mich hier anständig vergiftet hätte, als
+solche Schmach an meiner eignen Tochter zu erleben. Eine Hure bist du,
+nichts weiter. Ich verfluche dich, ich sage mich los von dir, ich
+verstoße dich aus meinem Hause.“
+
+Die Mutter wollte schlichten, aber der Alte wurde dadurch nur noch
+verrückter. Die Ehre des Fabrikportiers war für ewig in den Kot
+getreten. Mit Ehren war er grau geworden, wie er hundertmal versicherte,
+und nun, während er schon mit einem Fuße im Grabe stand, mußte er noch
+so etwas an seiner Tochter erleben, die er wie einen Engel im Paradiese
+angesehen hatte.
+
+Jeannette hörte sich das alles an, ohne zu antworten. Es kam ihr so fern
+vor, so fremd, so lächerlich und so unsagbar dumm zugleich. Es war ihr,
+als ob das irgendwo auf einer Theaterbühne geschehe, wo sie Zuschauerin
+sei, und sie fand das Stück herzlich abgeschmackt und unmodern.
+
+Erst als der Vater zum dritten Male wiederholte: „Ich verstoße dich aus
+meinem Hause. Du bist nicht mehr meine Tochter!“ da begriff sie, daß sie
+selbst gemeint sei. Und nun legte sie los, und sie sprach viel weniger
+aufgeregt als der Vater. Sie regte sich überhaupt nicht auf dabei,
+sondern sagte es in Form einer erregten Unterhaltung: „Deine Tochter?
+Das Leben hast du mir allerdings gegeben. Aber ich habe dich nicht darum
+ersucht, und ob ich gerade dich gewählt haben würde, wenn ich gefragt
+worden wäre, das glaube ich kaum. Denn mit deiner mickrigen Ehrlichkeit
+und Wohlanständigkeit ist es nicht weit her, wenn sie dir nicht einmal
+einen Lebensabend verbürgt, wo du wenigstens satt zu essen hast. Dann
+schon lieber Schneppe, das sage ich dir ganz frei ins Gesicht, oder
+Bandit oder Einbrecher. – Mit welchem Recht willst du mich denn
+überhaupt verstoßen? Vielleicht mit dem Rechte meines zufälligen Vaters?
+Ein schöner Vater bist du mir. Noch niemals in meinem Leben hat jemand
+Hure zu mir gesagt. Ich hätte ihm das Gesicht zerfleischt. Aber es hat
+auch nie jemand gewagt, das zu mir zu sagen. Das konntest du nur
+fertigbringen. Und damit wir nun gleich ganz klar miteinander sind: Du
+hast recht, ich bin was du sagst. Aber wovon lebst du denn? Womit habe
+ich dir das Leben gerettet? Mit Hurengeld.“
+
+Der Vater sagte nichts darauf. Er starrte sie nur an. Die Mutter hatte
+sich auf einen Stuhl gesetzt und weinte leise vor sich hin. Sie als Frau
+mit dem feineren Empfinden, das Männern meist versagt ist, hatte wohl
+schon ein wenig von der Wahrheit geahnt. Aber eine schlichte
+Lebensklugheit, gewonnen in einem mühseligen arbeitsreichen Leben, hatte
+sie geleitet, die Dinge nicht unnötig anzutasten, die umfallen können.
+Die bestimmte Wahrheit nicht zu kennen und nicht zu erforschen, hielt
+sie für weise und für zweckmäßig. Das Leben ließ sich dann leichter
+ertragen.
+
+Jeannette war im Zuge, ganze Arbeit zu machen und volle Klarheit zu
+verbreiten. Dieser Nimbus als Millionärswitwe hatte ihr von Anfang an
+nicht recht gefallen. Sie hatte es eigentlich auch nicht selbst
+erfunden, sondern es war so beim Ausfragen nach der Herkunft ihres
+Reichtums in sie hineingeredet worden. Und sie hatte es gehen lassen
+damit. Sie dachte sich, wozu große Trommeln rühren für die kurze Zeit,
+die sie hier auf Besuch war.
+
+„Jawohl, mit Hurengeld“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Jede zwei,
+drei, vier oder fünf Dollar bedeuten einen Mann, der bei mir war. Jetzt
+kannst du dir ja ausrechnen, wie viele ich hatte, und wie viele ich
+haben mußte, um dich vor der Gasvergiftung zu retten und deinen
+ehrlichen Namen zu schützen, damit du und Mutter nicht im
+Skandalanzeiger und in der Morgenpost als Selbstmörder erschienen. Das
+hätte dein langes, in Ehren verbrachtes Leben mit einem Schlage
+verdreckt, denn als Selbstmörder verrecken, ist keine große Ehre. Aber
+von allen den Männern, die mich besucht haben, hat keiner jemals Hure zu
+mir gesagt, weder Betrunkene, noch halb verrückte und halb tierische
+Seeleute, die von langer Fahrt kamen und wie die jungen Stiere sich
+benahmen. Alle sagten sie einen freundlichen und höflichen guten Abend
+zu mir, wenn sie mich verließen, und die meisten sagten sogar ein
+höfliches und ernstgemeintes ‚Herzlichen Dank, Senjorita!‘ Und warum?
+Weil ich nie jemand betrog. Das, was du vielleicht Ehre nennst, ist
+nicht meine Ehre. Meine Ehre und mein Stolz sind, daß jeder, der bei mir
+war, für sein gutes und oft sehr schwer verdientes Geld gute und echte
+Ware bekam. Ich war das Geld immer wert und bin es heute mit meiner
+reichen Erfahrung erst recht wert. Und das ist mein Stolz, und das ist
+meine Ehre, nie jemand zu betrügen.
+
+Na gut, ich bin eine Hure. Aber ich habe Geld, und du mit deinen Ehren
+hast keins. Heute aber gibt dir niemand etwas für deine Ehre, noch nicht
+einmal eine gutbezahlte Vertrauensstellung; selbst da mußt du noch
+Kaution stellen, und wenn ich die nicht vorstrecke, kannst du hier den
+ganzen Tag in der Bude hocken und Muttern das Leben zur Hölle machen mit
+deinem ewigen Herumlamentieren. Wenn es dir Vergnügen macht, kannst du
+ruhig auf die Straße gehen und allen Leuten erzählen, daß die
+argentinische Millionenwitwe eine Schneppe ist. Ich mache mir nicht so
+viel daraus, nicht so viel. Ich habe bereits mein Visum. Ich wollte erst
+in drei Wochen reisen, aber nun fahre ich in einer Stunde schon. Mache
+mir noch ein paar schöne Wochen in Scheveningen und Ostende – ich kann
+es mir ja erlauben –, und dann geht es wieder los. Um mein Ziel zu
+erreichen, brauche ich nämlich noch fünfzehntausend Dollar. Und nun
+bitte, laß mich allein, ich ziehe mich an und packe meine Koffer.“
+
+Der Vater verließ das Zimmer wie ein Automat; die Mutter blieb noch eine
+Weile. Aber als die Tochter ihr sagte: „Sieh nach dem Vater, laß ihn
+nicht allein. Er macht vielleicht Dummheiten. Er begreift ja so langsam,
+daß es in der Welt verschiedene Wege gibt, um sein Leben zu fristen“, da
+ging die Mutter auch, und Jeannette packte so rasch, daß sie in kaum
+einer halben Stunde angezogen und mit ihren beiden gepackten und
+verschlossenen Koffern in dem kleinen Korridor stand.
+
+Dann sprang sie rasch zur vierten Etage hinunter, wo sie bat, das
+Telephon benutzen zu dürfen, um ein Auto zu bestellen.
+
+Ehe die Alten überhaupt recht zur Besinnung kamen, was eigentlich los
+war, tutete unten das Auto, Jeannette rief den Chauffeur herauf, die
+Koffer zu holen, und als die Koffer heraus waren, öffnete sie ihre
+Handtasche, legte zweihundert Dollar auf den Tisch, umarmte und küßte
+ihre Mutter, dann nahm sie, ohne zu fragen, ihren Vater beim
+Schlafittchen, küßte ihn ab und sagte: „Na, lieber Vater, lebe wohl.
+Nimm es mir nicht so übel und sei nicht so tragisch. Ich wäre sonst am
+Typhus gestorben. Und um das Hospital bezahlen zu können und die
+Injektionen, brauchte ich Geld, und so fing es an. Und als ich raus kam,
+war ich zu schwach, um arbeiten zu können, und weil ich so abgezehrt
+aussah, gab mir auch niemand Arbeit, und so ging es dann weiter. Es hat
+mir das Leben gerettet und dir und Muttern. So, nun weißt du alles und
+kannst dir den Rest zusammenreimen. Na, lebe wohl. Wer weiß, ob ich dich
+noch einmal lebend wiedersehe.“
+
+Da fing der Alte an zu weinen, nahm sie in seine Arme, küßte sie und
+sagte: „Leb’ wohl, Kind. Ich bin halt alt. Das ist alles. Es ist schon
+gut. Du mußt das besser wissen. Schreibe manchmal. Mutter und ich, wir
+werden uns immer freuen, wenn wir etwas von dir hören.“
+
+Dann töffte sie ab. Die Alten haben sich mit der Zeit mit dem Hurengelde
+völlig abgefunden. Jeannette sendet vierteljährlich eine schöne Summer
+rüber, und die Annahme wird nie verweigert. Ehre entwickelt sich nur und
+erhält sich nur, wenn man nicht zu hungern braucht; denn das Ehrgefühl
+richtet sich nach den Mahlzeiten, die man hat, nach denen, die man sich
+wünscht, und nach denen, die man nicht hat. Darum gibt es drei
+Hauptklassen und drei verschiedene Ehrbegriffe.
+
+„Und dann“, erzählte mir Jeannette weiter, „bin ich nach Santiago
+gekommen, darauf nach Lima und endlich hierher. Man muß schon etwas
+können und muß schon gute Männerkenntnis haben, wenn man hier Geschäfte
+machen will. Die Konkurrenz ist groß.“
+
+„Das können Sie doch nicht für immer betreiben, dieses Geschäft“, sagte
+ich.
+
+„Natürlich nicht“, erwiderte Jeannette. „Das Traurigste unter diesem
+Himmel ist eine alte Dame, die hier vor der Tür sitzen oder auf und ab
+wandern muß und sich zu Dingen hergeben muß, die wir mit energischer
+Handbewegung ablehnen. Ich mache mit, bis ich sechsunddreißig bin, und
+dann wird Schluß gemacht. Ich habe gespart und habe nie gelumpt. Wollen
+Sie wissen, wie hoch mein Bankguthaben hier auf der amerikanischen Bank
+ist? Sie würden es ja doch nicht glauben, und es tut ja auch nichts zur
+Sache. Dann kaufe ich mir ein Gut in Deutschland oder eine Farm in
+Kanada, und dann wird geheiratet.“
+
+„Geheiratet?“ fragte ich.
+
+„Was dachten Sie denn? Natürlich. Mit sechsunddreißig. Dann fängt doch
+die Freude am Leben erst an. Und ich werde schon etwas aus meinem Leben
+und aus meiner Ehe machen. Ich habe ja die Erfahrung und die
+Männerkenntnis, ich verstehe schon, meinem Manne ein Leben und ein Bett
+zu bereiten, daß er den Wert seines Schatzes erkennt.“
+
+„Aber das ist doch etwas viel gewagt. Die Welt ist klein, sehr klein.
+Und es kann doch gelegentlich eine Begegnung mit einer, nun sagen wir es
+ruhig, mit einer Zwei- oder Fünf-Dollar-Bekanntschaft stattfinden, die
+das paradiesische Eheleben zerschmettert.“
+
+Jeannette lachte und sagte: „Nicht mit mir. Da kennen Sie mich nicht.
+Ein solches Höllenleben führe ich nicht. Das überlasse ich den dummen
+Frauenzimmern. Ich habe damals meinem Vater gesagt: Meine Ehre ist, daß
+ich niemals jemand betrogen habe, und daß ich niemals jemand betrügen
+werde. Also vor allen Dingen nicht meinen Mann. Bevor wir zu ernsten
+Abmachungen kommen, werde ich ihm ohne irgendeine Einschränkung sagen,
+wo ich mein Geld herhabe. Steht er über dieser Angelegenheit, dann werde
+ich ihm sagen: Gut, wir heiraten unter folgender Bedingung: Du wirfst
+mir niemals vor, wie ich zu meinem Vermögen kam, und ich werfe dir
+niemals vor, daß du von diesem Gelde ein angenehmes Leben führen darfst.
+Denn das Geld behalte ich in der Hand, und er kriegt genug, daß er mich
+nicht anzubetteln braucht. Ich werde ihn mir vorher schon gut genug
+ansehen, daß ich nicht in den falschen Hut greife, wenn ich mein Los
+ziehe.“
+
+Der Mann, der sie bekam, durfte dem Schicksal vielleicht dankbar sein.
+Denn wenn er kein Spaßverderber war, würde er nach einer Woche erfahren,
+daß Jeannette das Fünffache ihres Vermögens wert sei, weil sie die Ehe
+sicher nicht langweilig werden läßt. Sie gewißlich ließ keine Wünsche
+unerfüllt.
+
+
+ 12
+
+„Da sind Sie ja, Osuna“, rief ich ihm entgegen. „Ich habe Sie schon
+lange gesucht, glaubte, Sie seien bereits heimgegangen.“
+
+„Nein,“ sagte er, „an Heimgehen dachte ich gerade nicht. Aber wir
+könnten jetzt einmal ein wenig zusammenbleiben und in den Pacifico
+Saloon gehen.“
+
+„Gut, gehen wir, vamonos!“
+
+Es war ein sehr großer weiter Raum, weiß, mit Gold verziert. An der
+einen Seite waren Nischen. In jeder Nische ein kleiner Tisch und drei
+gepolsterte Bänke herum. An der andern Seite, den Eingangstüren
+gegenüber, waren gepolsterte Bänke die ganze Front entlang. An der
+Seite, die der Wand mit den Nischen gegenüberlag, war das Büfett mit
+hohen Sitzen für die Gäste. In der Ecke war eine Jazzkapelle, die auf
+einem Podium saß. Die Wände waren mit Gemälden geschmückt. Diese Gemälde
+waren recht gut gemalt. Es waren die Darstellungen nackter Frauen in
+Lebensgröße. Diese schönen Frauen gebrauchten keine Feigenblätter, um
+jemand daran zu erinnern, daß es etwas zu verbergen gäbe, dessen
+Vorhandensein jedem Menschen bekannt ist, und das nur darum auf Gemälden
+und Statuen heuchlerischerweise abgelogen und abgeleugnet wird, damit
+man nicht vergessen soll, daß es unanständig ist. Und immer nur dann,
+wenn es unter einem Feigenblatt verborgen wird, bückt man sich, um
+nachzusehen, was darunter ist, weil man bei seiner Schwester oder bei
+seinem Bruder, wenn man mit ihnen in der Badewanne saß, nie bemerkt
+hatte, daß da ein Blatt aus dem Bauche wächst. Hier freilich wäre es
+lächerlich gewesen, den Leuten, ob sie nun Männer oder Frauen waren,
+einzureden, daß die Menschen am untern Ende des Bauches eingewachsene
+oder festgewachsene Blätter hätten. Sie würden es nicht geglaubt haben.
+Woanders glaubt man es offenbar oder hält wenigstens die Menschen für
+dumm genug, daß sie es glauben. Denn wären die Blätter nicht, würden die
+Menschen nie wissen, daß sich dieser Teil des menschlichen Körpers von
+den übrigen Teilen in irgendeiner Weise unterscheidet. Das aber muß den
+Menschen gelehrt werden, damit sie wissen, was Sünde ist, und damit sie
+die bezahlen und in Ehren halten, die behaupten, daß sie das Recht
+hätten, die Sünden vergeben zu dürfen. Was würden wir armen Menschen
+tun, wenn wir nicht wüßten, was Sünde ist! Das so schön aufgebaute
+Gebäude würde zusammenbrechen. Denn es ist ja nur auf Suggestion
+aufgebaut.
+
+Auf der langen gepolsterten Bank saßen die Senjoritas und warteten auf
+ihre Tänzer. Die Herren saßen entweder an der Bar oder in den Nischen.
+Zwei oder drei der Herren hatten eine oder zwei der Senjoritas bei sich,
+mit denen sie sich sehr anständig unterhielten, ebenso geistvoll wie in
+einem Ballsaal der oberen Zweitausend von Neuyork. Es war nur
+interessanter, weil man, wenn man wollte, auch das sagen durfte, was man
+auf dem Herzen hatte, während man das bei jenen Zweitausend nur sagen
+darf, wenn angenommen wird, daß man die Landessprache nicht genügend
+versteht, um den wahren Sinn der Worte zu begreifen. Ein Onestep
+rasselte vom Podium herunter. Aber die Herren waren recht tranig. Nur
+da, wo alles verboten ist, weiß man immer, was man tun will, um sich zu
+amüsieren. Hier, wo alles erlaubt ist, was man sich nur denken kann,
+sind die Herren immer verlegen und schüchtern, und wenn die Senjoritas
+nicht gar so freundlich und aufmunternd herüberlächeln würden, kämen die
+Herren nicht zum Tanzen. Und trotz des schönen Lächelns: die Senjoritas
+müssen meist mit ihresgleichen tanzen, weil die Herren ihre Verlegenheit
+und Schüchternheit dadurch zu verbergen suchen, daß sie an der Bar
+sitzen und trinken und trinken, mehr trinken, als sie wollen. Durch das
+Trinken wollen sie den Senjoritas beweisen, daß sie Männer seien; es
+ihnen auf andere Weise zu zeigen, dazu fehlt ihnen in dieser
+ungezwungenen Umgebung der Mut. Und sie trinken, um hierbleiben zu
+können, in der Nähe der Senjoritas, deren Lächeln sie lieben, und deren
+schöne Gesichter sie gern sehen.
+
+Dann aber raffen sich doch einige auf und bitten die Senjoritas um einen
+Tanz. Es ist zum Lachen. Sie tanzen überformell, die Herren. Und die
+Senjoritas, um es den Herren zu erleichtern, schmiegen sich ihrer ganzen
+Länge nach an ihre schüchternen Tänzer. Es ist fruchtlos. Und die
+Senjoritas tanzen nun ebenso formell wie die braven Herren. Aber das
+gefällt nun den Herren nicht, und jetzt beginnen sie, etwas schmiegsamer
+zu werden. Die Senjoritas lächeln ihr schönstes Lächeln. Aber die Herren
+drucksen und wissen nicht, was sie zu den Damen sagen sollen. Es ist wie
+in einer Tanzschule.
+
+Die Senjoritas, die mit ihresgleichen tanzen, tanzen zuweilen in der
+überdeutlichsten Weise, um die Herren auf sich zu lenken. Aber
+merkwürdig, es zieht nicht. Sie erreichen ihre Absichten viel leichter,
+wenn sie elegant tanzen, ohne Wackelagen und Schmiegelagen. Die
+Künstlerinnen unter ihnen, die Weisen, wissen, daß sie die meisten
+Erfolge haben, wenn sie die Herren an deren Bräute oder deren
+Freundinnen aus der Gesellschaft erinnern können. Aus diesem Grunde
+sitzen auch viele der Senjoritas vor ihren Türen und häkeln feine
+Spitzen oder sticken feine Tücher. Es ist ein Trick, der seine Wirkung
+nicht verfehlt. Er erinnert die Herren, die hier in fremdem Lande sind,
+wochen- oder monatelang auf See, im Dschungel, im Busch waren, an traute
+Häuslichkeiten der heimatlichen Erde.
+
+Manchmal führen die Herren ihre Senjoritas wieder zurück zu ihren
+Plätzen, während sie selbst wieder an die Bar gehen oder sich einen
+Platz in den Nischen nehmen. Dann aber ladet auch ein Herr eine oder
+zwei oder – besonders wenn er sich nicht recht traut, mit einer allein
+zu sitzen – drei oder vier Senjoritas an seinen Tisch.
+
+„Was trinken Sie, Senjorita?“
+
+„Ich, einen Whisky und Soda. Ich, einen Jugo de Naranja, einen
+Apfelsinensaft. Ich, eine Flasche Bier. Ich möchte ein Paketchen
+Zigaretten.“ Keine bestellt Sekt oder einen teuren Wein. Sie neppen
+nicht. Wenn freilich der Herr protzen will, oder er will durchaus seine
+vier Monate Arbeitslohn in einer Nacht verhauen, dann bestellt er Sekt
+und wer weiß was sonst noch und ladet mit einemmal sämtliche Senjoritas,
+die anwesend sind, zwanzig oder fünfundzwanzig, ein, an dem großen
+Gelage, das nun beginnt, teilzunehmen. Dann wird es lustig. Es ist
+nichts verboten, und Polizeistunde gibt es nicht. Der Saloonbesitzer hat
+seinen Stempelbogen mit den Steuermarken im Lokal hängen und hat das
+Recht, sein Geschäft so zu betreiben, daß es keinen Schaden leidet. Wo
+geneppt wird, geht morgen niemand mehr hin, die ganze Stadt weiß es in
+zwölf Stunden. Der Besitzer muß zumachen. Um das Neppen zu verhüten, hat
+er große Plakate im Saloon hängen: „Jedes Getränk ein Peso“ oder: „Jedes
+Getränk fünfzig Centavos“. Sie brauchen keine Polizeivorschriften. Gäste
+und Restaurateure regeln das selbst durch die Freiheit von Angebot und
+Nachfrage, durch die Freiheit der Konkurrenz und durch das Fehlen von
+Konzessionsverpflichtungen. Wenn zu viele einen Saloon aufmachen,
+braucht keine Behörde einzugreifen, die überflüssigen gehen von selbst
+pleite. Nur die Nichtnepper, nur die, die für gutes Geld gute Ware
+liefern, überleben. Vier Polizisten und ein Inspektor halten in diesem
+großen Viertel die Wache, und sie haben so selten etwas zu tun, daß es
+auffällt, wenn sie einmal eingreifen müssen. Sie brauchen nur ganz
+selten einen Betrunkenen in Sicherheit zu bringen, weil selten ein
+Betrunkener zu sehen ist. Und wenn man doch einen sieht, so ist es ein
+indianischer Arbeiter oder ein heruntergekommenes Halbblut. Im
+Streitfalle mit den Senjoritas und den Herren sind sie auf seiten der
+Schwächeren, der Senjoritas. Und nur, wenn der Herr zweifelsfrei im
+Recht ist, dann wird ihm beigestanden.
+
+Zwei oder drei Detektive mischen sich unter die Leute. Sie suchen nach
+den Opium- und Kokainverkäufern, die hier in diesem Viertel ihre
+Kundschaft finden.
+
+Osuna und ich, wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Bier. Dann
+tanzten wir mit zwei Senjoritas und luden sie ein, sich zu uns zu
+setzen. Sie tranken ein Gläschen Whisky. Wir wußten nicht, was wir zu
+ihnen reden sollten. Und es tat mir leid um die Senjoritas, die sich die
+größte Mühe gaben, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich war immer
+froh, wenn wieder ein Tanz einsetzte, weil man mit den Füßen leichter
+fortkonnte als mit der Zunge.
+
+Um überhaupt zu reden, fragten wir die Senjoritas nach allen möglichen
+dummen Sachen. Ob sie jede Woche den Arzt sehen müßten oder nur alle
+zwei Wochen. Ob diejenigen, die nicht in den Saloons tanzten, für ihre
+Häuser hundertfünfzig oder zweihundert Pesos den Monat zu zahlen hätten.
+Wieviel sie durchschnittlich verdienten.
+
+Sie hielten uns sicher für außerordentlich stupid, daß wir so blöde
+geschäftliche Fragen an sie richteten, statt von den mehr interessanten
+Dingen des Lebens zu sprechen. Aber sie verloren ihre gute Laune nicht.
+Das konnten sie auch nicht gut, weil sie keine Launen hatten. Die
+durften sie nicht haben, weil es dem Geschäft hinderlich werden könnte.
+Und weil sie keine Launen hatten, fühlten sich viele Herren, die Familie
+hatten, hier wohler als in ihrem Hause; denn es gibt nur wenige Männer,
+die launische und zänkische Frauen lieben. Die Erholung hier war für
+solche Herren die Geldausgabe wert. Hier waren die Herren immer
+vergnügt. Und ich glaube sicher, wenn sie zu Hause stets ebenso vergnügt
+wären wie hier, würden manche keine zänkischen und launischen Frauen
+daheim vorfinden.
+
+Endlich sagte Osuna: „Es ist elf, ich glaube wir gehen.“
+
+„Gut,“ sagte ich, „gehen wir.“
+
+
+ 13
+
+Wir kamen heim um halb zwölf. Um zu der Kammer zu gelangen, wo wir unsre
+Arbeitshose anziehen wollten, mußten wir an der Backstube vorüber. Sie
+waren feste am Arbeiten da drin. Wir guckten durch die Tür, und der
+Meister sah uns.
+
+Er zog seine Uhr und sagte: „Es ist gleich zwölf.“
+
+„Das weiß ich,“ erwiderte ich, „wir haben es eben an der Kathedrale
+gesehen. Und überhaupt, ich höre auf.“
+
+„Wann?“ fragte der Meister.
+
+„Jetzt“, sagte ich.
+
+„Dann sagen Sie es dem Alten. Er ist vorn im Café.“
+
+„Das habe ich gesehen. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich bin ja
+durch das Café gekommen.“
+
+„Ich höre auch auf“, sagte nun Osuna.
+
+„Warum wollt ihr denn beide aufhören?“ fragte der Meister.
+
+„Wir sind doch keine Blödhammel, daß wir hier jeden Tag fünfzehn und
+achtzehn Stunden arbeiten“, sagte Osuna.
+
+„Ihr habt wohl getrunken?“ fragte der Meister.
+
+Osuna ging gleich auf ihn zu: „Was sagen Sie?“
+
+„Ich werde doch wohl noch sagen dürfen, daß es gleich zwölf ist,“
+rechtfertigte sich der Meister, „wenn wir hier schon seit zehn arbeiten
+und so viel zu tun ist.“
+
+„Sie können sagen, was Sie wollen,“ meinte ich, „aber nicht mehr zu uns.
+Sie sind nicht mehr unser Meister.“
+
+„Gut,“ sagte der Meister darauf, „dann geht aber auch gleich. Dann
+braucht ihr hier auch nicht mehr zu schlafen, und morgen früh noch das
+Frühstück mitnehmen, gibt es auch nicht.“
+
+„Darum haben wir Sie gar nicht gefragt,“ erwiderte Osuna, „und wenn wir
+das wollten, würden wir gerade Sie nicht darum anbetteln.“
+
+Wir gingen in die Kammer, packten unsre Arbeitslumpen jeder in einen
+leeren Zuckersack und gingen.
+
+Mit einmal sagte Osuna: „Wir haben ja unsre zwei Pesos in den alten
+Schuhen gelassen, nur gleich geholt. Wenn die Bilder haben wollen, dann
+mögen sie sich selber welche kaufen.“
+
+Wir nahmen unsre zwei Pesos und kamen wieder vorbei an der Backstube.
+
+„Wer hat denn die Bilder da zerrissen?“ fragte der Tscheche.
+
+„Wir“, antwortete Osuna. „Vielleicht was dagegen? Nur sagen. Wir sind
+gerade in der Stimmung. Ich denke doch, daß wir mit unsern Bildern
+machen können, was wir wollen.“
+
+„Das habe ich nicht gewußt, daß das eure Bilder waren. Die hättet ihr
+doch nicht zu zerreißen brauchen“, sagte ein andrer.
+
+„Solche unanständigen Bilder mag ich nicht leiden“, antwortete Osuna.
+„Wenn ihr so etwas vor Augen haben wollt, kauft sie euch. Wir brauchen
+keine Bilder, was Gale?“
+
+„Nein, wir haben solche Bilder nicht nötig, glücklicherweise nicht“,
+unterstützte ich Osuna. Und ich tat es mit voller Überzeugung.
+
+Dann gingen wir zu Senjor Doux und verlangten unser Geld, das wir noch
+zu kriegen hatten. Er gab es uns nicht und sagte, wir sollten morgen
+wiederkommen.
+
+„Ihr Morgen kennen wir reichlich“, gab ich ihm zur Antwort.
+
+Osuna stellte seinen Sack auf den Boden, lehnte sich ein wenig über das
+Büfett, hinter dem Senjor Doux stand, und sagte ziemlich laut:
+
+„Wollen Sie uns jetzt sofort unser Geld geben oder nicht? Oder soll ich
+erst die Polizei hereinholen, daß Sie uns unsern verdienten Lohn
+auszahlen?“
+
+„Schreien Sie doch nicht so, daß die Gäste aufmerksam werden“, sagte
+Senjor Doux leise und griff in die Hosentasche, um das Geld
+herauszunehmen. „Ich zahle Ihnen ja, ich bin Ihnen doch nie einen
+Centavos Lohn schuldig geblieben. Wollen Sie noch eine Flasche Bier
+trinken?“
+
+„Können wir machen“, erwiderte Osuna. „Wir sind nicht zu stolz dazu.“
+Wir setzten uns an einen Tisch, und ein Kellner brachte uns zwei
+Flaschen Bier.
+
+„Das Bier wollen wir ihm nicht schenken, diesem Geizkragen“, sagte ich.
+„Er hat sicher geglaubt, wir würden nein sagen, sonst hätte er es uns
+nicht angeboten.“
+
+„Sicher nicht,“ meinte Osuna, „deshalb habe ich ja auch ja gesagt. Ich
+habe gar keinen Appetit darauf.“
+
+Warum wir gingen, danach fragte Senjor Doux nicht. Solche plötzlichen
+Abschiede kamen bei ihm zu häufig vor, als daß er sich darüber aufgeregt
+hätte. Ebensowenig fragte er uns, ob wir nicht bleiben möchten. Er wußte
+wohl, daß es bei uns ebenso erfolglos gewesen wäre wie bei früheren
+Abschieden.
+
+Er ging zur Kasse, wo seine Frau stand, und holte das Geld für uns. Dann
+brachte er es an unsern Tisch, legte es hin und verschwand wieder hinter
+dem Büfett, ohne noch etwas zu sagen, und ohne nochmals zu uns
+rüberzusehen.
+
+Dann gingen wir zu einem indianischen Kaffeestand, wo wir ein Glas
+Kaffee tranken und die Frau fragten, ob wir nicht unsre Säcke hier bis
+zum Morgen unterstellen könnten. Dann würden wir wiederkommen, bei ihr
+frühstücken und die Säcke abholen.
+
+Danach gingen wir wieder zu den Senjoritas, wo es angenehmer war als in
+der Backstube.
+
+Am nächsten Tage, nachdem wir den Vormittag über uns auf den Bänken der
+Plaza herumgedrückt hatten, gingen wir zu einer Casa de Huespedes, wo
+wir jeder ein Bett belegten für fünfzig Centavos und unsre Säcke in dem
+Kofferraum abgaben.
+
+Bett ist ja nun auf keinen Fall richtig. Einzelne jener Betten waren von
+dem Muster unsrer Bäckerbetten, also Hängematten aus Segelleinen, die in
+einem Scherengestell aufgespannt waren. Wir aber bekamen bessere Betten.
+Das waren Drahtmatratzen, die durchgelegen waren, so daß man immer in
+einer Höhle lag, wo man so zusammengepreßt war, daß man kaum atmen
+konnte. Die Unterlage war so dünn und zerschlissen, daß man den Draht
+fühlte, und da man ja nicht viel Fleisch am Körper hatte, kerbte sich
+der Draht in die Knochen. Und das war ein recht angenehmes Gefühl. Diese
+Betten könnten in einer Folterkammer gute Dienste leisten.
+
+Da war ein weißüberzogenes Kopfkissen und ein weißes Leinenlaken in
+jedem Bett. Aber da diese weiße Leinenwäsche nur jede Woche oder alle
+drei Wochen gewechselt wurde, während der Bettgast jeden Tag wechselte,
+so waren die Sachen eigentlich nicht weiß, sondern fettig, fleckig und
+streifig. Außerdem gehörte zu jedem Bett eine Decke, die sicher nie
+gewaschen und nie geklopft wurde. Es wurde nicht gelaust, und niemand
+wurde untersucht, ob er krank sei. Wer sein Bett bezahlte, durfte darin
+schlafen, ob er von den Läusen bald aufgefressen wurde, ob er Syphilis,
+Tuberkulose, Malaria, Leprose, Krätze, schwarze Pocken oder sonst etwas
+hatte.
+
+Die Schlafräume lagen zu ebener Erde. Türen hatten sie nicht, oder es
+waren nur noch die Reste ehemaliger Türen vorhanden. Man trat vom Hofe
+unmittelbar in den Schlafraum. Jeder Schlafraum hatte sechs bis acht
+Betten. Die Betten standen kreuz und quer im Raum, gerade wie sie am
+besten Platz fanden. Ein Raum lag neben dem andern, so daß die Räume
+eine lange Reihe bildeten. Am Ende der Reihe schloß sich im rechten
+Winkel wieder eine Reihe an und an diese wieder eine Reihe, so daß also
+der ganze viereckige Hof mit Schlafräumen eingezäunt war. Die
+Vorderfront bildete ein großes zweistöckiges gemauertes Haus mit der
+stolzen Inschrift „Continental-Hotel. – Bäder zu jeder Tages- und
+Nachtzeit“. Hier in diesem Vordergebäude waren die Zimmer für einen
+Peso; in jedem Raume standen zwei Betten. Diese Betten hatten
+Moskitonetze, während die billigen keine hatten.
+
+Viel wert waren die Netze nicht, weil sie große Löcher hatten. Außerdem
+war in dem Gewebe der Atem von Tausenden von verschiedenen Menschen
+aufbewahrt.
+
+Bäder konnte man in der Tat zu jeder Nachtzeit bekommen. Es waren
+Brausebäder, und jedes Bad kostete fünfundzwanzig Centavos. Dafür bekam
+man Seife und Handtuch und einen Bastwisch zum Abreiben dazu geliefert.
+In diesen Baderäumen wimmelte es von riesengroßen Schaben. An der
+Wasserrohrleitung war kein Hahn, den man einstellen konnte, so daß das
+Wasser laufen konnte. Man hatte eine Kette zu ergreifen und an der zu
+ziehen. Beim Baden konnte man also nur immer eine Hand zum Waschen
+gebrauchen, während man mit der andern an der Kette ziehen mußte. Wusch
+und seifte man sich mit beiden, so mußte man die Kette loslassen und das
+Wasser hörte auf zu laufen. Das wurde getan, um Wasser zu sparen; denn
+Wasser ist hier ein kostbarer Artikel.
+
+In den billigen Schlafräumen gab es alles erdenkliche Ungeziefer und
+alle möglichen Insekten der Tropen, alles natürlich in tropischen
+Ausmaßen, nur die Moskitos waren klein. Die großen widerlichen Schaben
+liefen in den Betten umher und an den Wänden auf und ab, als ob ihnen
+die Räume gehörten.
+
+Die Reihen der billigen Schlafräume waren alle aus dünnen Brettern
+erbaut, die halb zerfault waren. Die Dächer waren aus Wellblech und bei
+manchen Räumen aus Pappe. Ob sie aber aus Blech oder aus Pappe waren,
+alle leckten, wenn es regnete, so fürchterlich, daß an ein Schlafen
+nicht zu denken war.
+
+Die Gäste alle rauchten. Und da es ja nicht ihr Haus war, so flogen die
+ganze Nacht hindurch die glühenden Zigarettenstummel und brennenden
+Zündhölzer in den Räumen herum. Die Zündhölzer hier sind aus Wachs und
+brennen schön weiter, wenn man sie weggeworfen hat. Aber trotzdem sind
+Feuer sehr selten. Wenn sie ausbrechen, brennt alles nieder, weil die
+Feuerwehr zwar die modernsten Löschmaschinen besitzt und sehr gut
+gedrillt ist, aber kein Wasser hat. Nur gerade so viel Wasser, wie in
+den fahrbaren Maschinen mitgeführt wird.
+
+Die Fußböden waren alle zertreten und morsch und faul. Ratten und Mäuse
+hatten ideale Heime und trugen die Beulenpest umher.
+
+Die billigen Schlafräume waren immer voll besetzt, die teuren für einen
+Peso standen zur Hälfte immer leer.
+
+Wir kamen, gaben einen Namen an, der eingeschrieben wurde, und erhielten
+unsre Raum- und unsre Bettnummer. Dann legten wir uns schlafen, nachdem
+wir ein Brausebad genommen hatten.
+
+Gegen acht Uhr abends standen wir auf und gingen wieder in die Stadt.
+Das Bett gehörte uns noch für die kommende Nacht, und wir brauchten
+nicht noch einmal dafür zu bezahlen.
+
+Bedürfnisanstalten gibt es hier nicht, dafür müssen alle Wirtschaften,
+die darauf eingerichtet sind, jedem, auch wenn er nichts verzehrt, die
+Benutzung gestatten. Aber manche Wirtschaften haben selbst keine
+Einrichtung dafür, weil sie keinen überflüssigen Raum haben. Dann muß
+sogar der Besitzer in ein Nachbarrestaurant gehen.
+
+Das war der Grund, daß ich in eine Bar kam. Ein Riese von einem Mann
+stand an dem Büfett und trank Tequila. Er hatte hohe Reitstiefel an mit
+Sporen. Sein Gesicht war sehr roh, und er trug einen mächtigen
+Hindenburgbart.
+
+„Hallo!“ rief er, als ich wieder hinausgehen wollte. „Suchen Sie
+Arbeit?“
+
+„Ja. Was für welche? Wo?“
+
+„Baumwolle pflücken. In Concordia. Mr. G. Mason. Zahlt den üblichen
+Pflückerlohn. Bahnstation. Kostet drei Pesos sechzig.“
+
+„Sind Sie beauftragt, Leute anzunehmen?“
+
+„Natürlich, sonst würde ich es Ihnen doch nicht sagen.“
+
+„Gut, geben Sie mir einen Zettel.“
+
+Er ließ sich ein Stück Papier von dem Wirt geben, nahm ein
+Bleistiftstümmelchen aus seiner Hemdtasche und schrieb den Zettel aus.
+
+Ich las den Zettel: Mr. G. Mason, Concordia. Dieser Mann kommt zum
+Pflücken. L. Wood.
+
+Als ich später Osuna traf und ihn fragte, sagte er mir, daß er nicht
+mitkäme. Am nächsten Morgen fuhr ich ab.
+
+Ich kam an und fand Mr. Mason. Auf dem Felde waren viele Pflücker tätig,
+und die Arbeit hatte schon tüchtig angefangen.
+
+Als Mr. Mason meinen Zettel sah, sagte er: „Mr. L. Wood? Kenne ich
+nicht. Hat keinen Auftrag von mir, Pflücker anzunehmen. Kann gar keine
+brauchen. Habe genug.“
+
+„Sie sind doch Mr. G. Mason?“ fragte ich.
+
+„Nein, ich bin W. Mason.“
+
+„Wohnt hier in der Nähe ein Mr. G. Mason?“ fragte ich.
+
+„Nein“, antwortete der Farmer.
+
+„Dann sind Sie doch damit gemeint“, sagte ich. „Das mit dem G. ist dann
+nur ein kleiner Irrtum. Sie pflücken doch. Wie kann denn Mr. Wood oder
+ganz gleich wie er heißt wissen, daß hier ein Mr. Mason wohnt, der
+Baumwolle baut und jetzt gerade mit dem Pflücken beginnt?“
+
+Der Farmer machte ein unbestimmtes Gesicht und sagte dann: „Das weiß ich
+auch nicht. Jedenfalls kenne ich keinen Mann namens Wood, und mein
+Vorname ist nicht G., sondern W.“
+
+„Schöne Sache,“ sagte ich, „einem so das Geld aus der Tasche zu lotsen
+für die Eisenbahnfahrt, wenn man schon so gut wie nichts hat. Ich will
+Ihnen etwas sagen, Mr. Mason, etwas stimmt hier nicht, und es ist an
+dieser Stelle hier schwer herauszukriegen, wer der verfluchte Gauner
+ist, der einen um seine Zeit und sein Geld betrügt.“
+
+„Wenn Sie wollen, können Sie ja hier anfangen zu pflücken,“ lenkte Mr.
+Mason nun ein, „aber Sie kommen nicht aufs Geld. Ich habe nur
+Eingeborene zum Pflücken, und die tun es billig. Sie können auch hier
+nirgends wohnen.“
+
+„Verstehe auch ohne Hörrohr, was los ist“, sagte ich.
+
+„Haben Sie schon einmal als Zimmermann gearbeitet?“ fragte nun Mr.
+Mason.
+
+„Ja, das habe ich, ich bin ein geübter Zimmermann.“
+
+Wenn man hier nicht verhungern will, muß man alles sein können, auch
+wenn man nie eine Axt oder ein Zieheisen in der Hand gehabt hat. Ich
+jedenfalls hatte keine blasse Ahnung von der Zimmerei. Aber ich dachte,
+wenn ich erst einmal vor der Arbeit stehe und mir eine Axt gegeben wird,
+dann geht das übrige schon von selbst. Es kann jemand in England oder in
+Frankreich oder in Deutschland vier oder fünf Jahre Buchbinder oder
+Gelbgießer oder sonst was gelernt haben und ein Meister in seinem Fache
+sein. Das ist hier gar nichts wert, weil selten oder nie ein Buchbinder
+oder Gelbgießer verlangt wird. Wer bei seinem Handwerk bleiben will wie
+der Schuster beim Leisten, der bekommt hier nicht einmal verschimmeltes
+Brot in den Magen. Heute ein Auto reparieren, morgen einen guten Maurer
+machen, übermorgen Stiefel besohlen, die folgende Woche ein Bohnenfeld
+pflügen, dann Tomaten in Blechbüchsen konservieren und verlöten, hierauf
+Werkzeuge schmieden und Drillmaschinen in Ordnung bringen in den
+Ölfeldern, dann ein Kanu, mit Papayas gefüllt bis zum Sinken, über
+Stromschnellen und Sandbänke, zwischen Alligatorenherden und durch
+undurchdringliches Dornengestrüpp tagereisenweit die Flüsse
+hinunterpaddeln, wenn man das nicht alles nebenbei kann, ist das so
+mühevoll gelernte Handwerk und das lange Studium des Ingenieurs oder des
+Arztes nicht so viel wert, daß man sich fünfzig Centavos für ein
+chinesisches Mittagessen verdienen kann.
+
+„Wenn Sie Zimmermann sind, kann ich Ihnen Arbeit besorgen“, erläuterte
+Mr. Mason. „Da baut ein Farmer ein neues Haus, und er wird nicht gut
+damit fertig, weil er nichts von Holzarbeit versteht. Ich gebe Ihnen
+einen Zettel mit. Es ist nur eine Stunde von der Bahnstation entfernt.“
+
+Ich bin alt genug und lange genug aus den Windeln, um zu wissen, daß
+niemand einen Zimmermann brauchte, und daß Mr. Mason nur nach einer
+Gelegenheit suchte, mich recht rasch loszuwerden, damit ich nicht etwa
+das Reisegeld von ihm verlange. Denn es war kein Zweifel, daß er den Mr.
+Wood beauftragt hatte, sich nach Pflückern umzusehen. Inzwischen aber
+hatte er indianische Pflücker angeworben, die es billiger machten, weil
+sie von Frijoles und Tortillas leben konnten. Das ist der Trick, den sie
+mit den Arbeitslosen spielen. Überall wird angeworben, weil sie nicht
+wissen, wer kommt und wer nicht kommt. Überallhin, wo sie einen
+Bekannten haben, schreiben sie Briefe, daß sie Pflücker brauchen, und
+von überallher finden sich immer wieder Gutgläubige und Verhungernde,
+die den letzten Peso für die Bahnfahrt wagen. Der Farmer hat dann die
+Auswahl, sich die billigsten auszusuchen und den Pflückerlohn zu
+pressen, weil der arme Teufel nicht mehr fort kann; er muß pflücken und
+wenn ihm nur drei Centavos für das Kilo geboten werden. Es war zwecklos,
+sich mit dem Manne lange herumzustreiten. Die einzige Abrechnung wäre
+gewesen, ihm ein paar in die Fresse zu hauen. Aber er hatte den Revolver
+in der hinteren Tasche, und Fausthiebe, auch wenn sie noch so gut
+gezielt sind, bleiben gegen Revolverkugeln zu sehr im Nachteil, als daß
+es sich lohnte, es mit der nackten Faust gegen nickelplattierte
+Bleikerne aufzunehmen.
+
+Zur Station mußte ich sowieso zurück. Da konnte ich ja gut bei jenem
+Farmer einmal vorsprechen. Es war aber schon so, wie ich vermutet hatte.
+Der Farmer brauchte keinen Zimmermann, er war selbst Zimmermann genug,
+um mit drei Peons sein Haus wunderschön und dauerhaft aufzubauen.
+Immerhin, die Nachfrage nach Arbeit brachte mir ein gutes Essen ein. Und
+der Farmer bestätigte mir auch, daß Mr. Mason ein ganz niederträchtiger
+Lump sei und jedes Jahr diesen Trick mit der Anwerbung von Pflückern
+vollführe, um durch die arbeitsuchenden weißen Arbeiter noch mehr auf
+die Pflückerlöhne der Indianer zu pressen. Denn diese armen Teufel, die
+kaum eine andre Einnahme an Geld das ganze Jahr hindurch haben, werden
+ganz klein und duldsam gegenüber den Lohnpressungen, wenn sie selbst
+Weiße um diese Arbeit betteln gehen sehen.
+
+
+ 14
+
+Als ich zur Stadt zurückkam, waren mir von meiner monatelangen Arbeit in
+der Bäckerei gerade zwei Pesos übriggeblieben.
+
+Was tun?
+
+Ich ging zum Casa, wo ich hoffte, Osuna zu finden. Aber er war nicht da.
+Vor zwölf ging er nicht zu Bett. Abends war ja das Leben am schönsten,
+wenn es kühl war und die hübschen Mädchen auf den Plazas promenierten,
+während die Musikbanden spielten.
+
+Auf keinem der Plazas sah ich Osuna. Also konnte er nur im Spielsaal
+sein. Der Spielsaal war im oberen Stockwerke eines großen Hauses, das zu
+ebener Erde eine Bar hatte. Im Spielsaal selbst wurden keine Getränke
+verabreicht. Es gab nur Eiswasser, das man umsonst erhielt.
+Gesellschaftskleidung war nicht vorgeschrieben. Ich ging hin, gerade wie
+ich war, ohne Jacke und ohne Weste. Den Leitern der Spielbank kam es
+nicht darauf an, was die Besucher auf dem Leibe hatten, sondern was sie
+in den Taschen hatten, und der, der ohne Jacke und Weste erschien,
+konnte drei oder sechs oder gar neun Monate Drillerlohn in der Tasche
+haben. Je verölter und verspritzter seine Hosen, sein Hemd und sein Hut,
+je verlehmter seine Stiefel waren, desto wahrscheinlicher war es, daß er
+zwei- oder dreitausend Pesos lose in der Hosentasche trug und zur
+Spielbank kam, um diese Summe zu verdoppeln.
+
+Auf dem Treppenabsatz war ein kleines Tischchen, wo zwei Männer saßen,
+die jeden, der hinaufging, beobachteten. Sie kannten jeden Besucher, und
+sie hatten eine feines Gedächtnis für die, denen der Besuch untersagt
+war, weil sie sich nicht zu benehmen verstanden. Es kam vor, daß jemand
+behauptete, der Bankhalter habe ihn übervorteilt. Ohne zu streiten,
+zahlte der Bankhalter die fünf, zehn oder zwanzig Pesos, um die der
+Streit ging, sofort aus, auch wenn die Bank durchaus im Recht war. Aber
+der Mann durfte nie wieder den Saal betreten. Die Bank betrog nicht. Es
+waren nur immer die Gäste, die zu betrügen versuchten. Die Bank wußte,
+daß sie bessere Geschäfte machte, wenn sie grundehrlich spielte, Karten
+und Würfel wechselte, sobald ein Spieler nur den leisesten Zweifel
+äußerte, als wenn sie versucht hätte, durch geschickte Manipulationen
+den Spielern das Geld aus der Tasche zu holen.
+
+Der Saal war gedrängt voll. Und wären nicht die vielen Ventilatoren
+gewesen, würde eine unerträgliche Hitze den Aufenthalt unmöglich gemacht
+haben. Es waren Tische da, an denen Roulette gespielt wurde, an andern
+wurde gepokert, wieder an andern gab es „Meine Tante – deine Tante“,
+oder man konnte sein Glück mit „Siebzehn und vier“ wagen. Eine Bank
+wurde von einem Chinesen gehalten, der Vorstandsmitglied des Jockeiklubs
+war. Die Spielbank arbeitete unter dem Namen Jockeiklub, und sie war nur
+Mitgliedern des Jockeiklubs zugänglich. Mitglied des Jockeiklubs war
+man, sobald man den Saal betrat. Die Regierung schrieb zwar vor, daß
+jeder Besucher eine ausgeschriebene, auf seinen Namen lautende
+Mitgliedskarte haben müsse. Aber nach dieser Karte wurde nie jemand
+gefragt, jedenfalls nie ein Weißer. Nur von den Indianern verlangte man
+Karten zu sehen, aber die hatten keine, und deshalb wurde ihnen der
+Zutritt nicht erlaubt. Die farbige Rasse war durch die Chinesen
+reichlich vertreten, und zwar so reichlich, daß an manchen Abenden die
+Chinesen die Hälfte der Gäste ausmachten.
+
+Ich hatte schon richtig vermutet. Osuna war anwesend. Er stand an der
+Würfelbank, wo ein Locker spielte, der von der Bank angestellt und
+bezahlt wird, um an den Banktischen zu spielen, wo augenblicklich keine
+Gäste sind. Durch sein Spielen, bei dem er nach jedem Wurf den Einsatz
+erhöht und endlich Einsätze von fünfundzwanzig Pesos macht, lenkt er die
+Aufmerksamkeit von Spielgästen, die sich an andern Tischen drängen, zu
+dieser Bank. Der hohe Einsatz macht die Leute aufgeregt, sie kommen
+näher, umdrängen den Tisch, um den waghalsigen Spieler zu beobachten.
+Natürlich gewinnt der Spieler und verliert, genau nach den Gesetzen des
+Spielerglücks. Aber es ist ja nicht sein Geld, es ist das Geld der Bank,
+das er setzt. Und die Gäste wissen nicht, daß er zur Bank gehört und nur
+Anreizspiele macht. Aber es dauert nur wenige Minuten und der Tisch ist
+von einem Dutzend erregter Männer belagert, die das Fallen der Würfel
+belauern und in ihrem Innern sofort die Kombinationen ausrechnen, in
+welchen Intervallen die Zahlen wiederkehren. Sobald sie glauben, die
+Kombination errechnet zu haben, fangen sie zu setzen an und spielen. Die
+Würfelbank, die vor kaum zehn Minuten nicht einen Spieler hatte, sondern
+müßig lag, nur mit dem Bankhalter hinter dem Tisch, ist jetzt der
+Mittelpunkt des Spielsaales. Jedes Feld ist drei- und viermal besetzt.
+
+Dadurch wurde die Bank mit „Meine Tante – deine Tante“ müßig, und der
+Bankhalter konnte abrechnen, die Chips auswechseln und die neuen
+Kartenpacks aufschichten. Wenn er fertig war und der Bankhalter bei den
+Würfeln vor den Strömen des Schweißes zu keuchen begann, setzten bei der
+Tanten-Bank zwei Locker ein. Und allmählich ging der Würfelkorb immer
+langsamer, weil immer langsamer und seltener hier gesetzt wurde, während
+bei der Tante das Gedränge unheimlich wurde.
+
+In einer Ecke wurde jetzt eine Bank versteigert. Sie wurde angeboten mit
+fünf Pesos, überboten mit zehn, und sie ging endlich fort mit sechzig
+Pesos. Ich sah rüber zu dem, der sie gekauft hatte.
+
+„Hölle noch mal, Leary, Mann, wo kommen Sie denn her?“ rief ich hinüber.
+Es war in der Tat Leary, mit dem ich in Campeche in einem Ölcamp
+gearbeitet hatte. „Ich drücke den Daumen für Sie, Leary, bis auf
+dreihundert gegen zwanzig. Einverstanden?“ rief ich ihm zu.
+
+„Einverstanden, Gale“, rief er zurück.
+
+Die Amerikaner, die anwesend waren und es gehört hatten, lachten und
+kamen alle zu dem Tisch, wo Leary sich jetzt niedersetzte, um die Bank
+zu übernehmen, die er ersteigert hatte.
+
+Es wurde losgespielt. Leary mußte bluten. Hundert, zweihundert,
+dreihundert. Er packte das Gold nur immer so raus und schob es fort.
+Seine Chips waren längst zu Ende.
+
+„Verflucht noch mal, Gale, drücken Sie denn auch, oder was ist?“
+
+„Nur keine Angst, Leary, hauen Sie nur drauf, alles was Sie haben.“
+
+„Gut, mache ich“, rief Leary herüber. „Aber ich schneide ihn ab, wenn
+Sie mich abflattern lassen.“
+
+„Gehen Sie drauf! Ich stehe Ihnen mit dreihundert gegen
+Gentleman-Agrément, drauf!“ Ich hatte zwei Pesos in der Tasche.
+
+Und Leary ging los. Vierhundert, fünfhundert, sechshundert,
+siebenhundert. Sein Gesicht wurde rot wie eine Tomate, und es sah aus,
+als ob es jeden Augenblick platzen wolle. Er zog ein Tuch aus der Tasche
+und wischte sich den Schweiß ab. Aufgeregt war er nicht. Es war nur die
+Emsigkeit der Arbeit, die ihn so stark mitnahm.
+
+Siebenhundertfünfzig.
+
+Die Karten fielen. Die Bank gewann.
+
+Die Karten fielen abermals. Die Bank gewann.
+
+Ich quetschte den Daumen. Die Bank gewann. Leary stand auf: „Ich gebe
+die Bank ab. Versteigere.“
+
+„Wieviel haben Sie gemacht, Leary?“ fragte ich ihn, als er zu mir kam,
+um mir die Hand zu geben. Denn wir hatten uns ja nur über den Tisch und
+über das Gedränge hinweg begrüßt.
+
+„Gemacht? Wieviel? Ich weiß nicht ganz genau. Aber da, nehmen Sie.
+Gehört Ihnen.“ Er gab mir zweihundert Pesos.
+
+Ich hatte sie ehrlich verdient. Aber er sagte mir nicht, wieviel er
+gemacht hatte. Für zwanzig hatte er sich verbürgt, falls er gewänne;
+wenn er mir nun zweihundert geben konnte, so hatte er einen hübschen
+Haufen in der Hosentasche.
+
+Man nimmt das Geld und fragt nicht, woher es kommt. Man kann doch nicht
+verhungern. Verhungern ist Selbstmord. Und Selbstmord ist eine Sünde.
+Aber Sünden soll man nicht begehen, das wird einen schon in der Jugend
+gelehrt.
+
+Leicht gewonnenes Geld ist rasch ausgegeben. Aber diese zweihundert
+Pesos waren keineswegs leicht verdient, und ich hielt sie gut zusammen.
+Ich borgte Osuna fünfzehn Pesos, und er mietete sich einen kleinen
+Zigarettenstand. Er zahlte für das Tischchen, das mit einem Stück
+gestreiftem Segeltuch überspannt war, um die Sonnenstrahlen abzuhalten,
+neun Pesos Miete den Monat.
+
+Jeden Tag einmal kam der städtische Steuereinnehmer vorbei, der den
+Standtribut einforderte, fünfzehn Centavos. Dafür bekam Osuna ein
+Zettelchen, das er vorzeigte, wenn der Beamte nachmittags wieder
+vorbeikam, um bei denen einzukassieren, die am Vormittage nicht bezahlt
+hatten. Diese Bezahlung des täglichen Tributs war alles, was man mit den
+Behörden zu tun hatte, wenn man ein Geschäft auf der Straße errichtete.
+
+Wenn das Geschäft mal an einem Tage sehr schlecht ging, dann sagte Osuna
+zu dem Beamten: „Ich habe heute kaum ein Mittagessen verdient“, dann
+schenkte ihm der Beamte für diesen Tag die Steuer. Es wird dem Händler
+geglaubt, wenn er sagt, daß er kein Geschäft gemacht hat; dafür glaubt
+er auch bei einer andern Gelegenheit wieder der Behörde, wenn die etwas
+sagt. Vertrauen gegen Vertrauen.
+
+Viel verdiente Osuna nicht. Manchen Tag einen Peso, manchen zwei Pesos.
+Über zwei Pesos kam er selten. Aber es war leichter als in der Bäckerei.
+Die Arbeitszeit war freilich die gleiche. Von frühmorgens um fünf bis
+nachts um zwölf oder eins stand er an seinem Tisch.
+
+Ich holte mir jeden Tag ein oder zwei Pakete Zigaretten bei ihm und
+verringerte so seine Schuldsumme. Es ging sehr langsam; denn jedes
+Paketchen kostete nur zehn Centavos, und in jedem Paketchen waren
+vierzehn Zigaretten. In manchen Paketen war sogar noch ein Gutschein für
+zehn, zwanzig oder fünfzig Centavos, die Osuna freilich von der Fabrik
+ersetzt bekam, die er aber doch erst einmal auszulegen hatte. Die Fabrik
+zahlte ihm für diese ausgeliehene Summe fünf Prozent.
+
+Eines Nachmittags, als ich bei ihm saß und auf der kleinen Kiste hockte,
+die sein Stuhl war, fragte ich ihn: „Warum sind Sie denn damals nicht
+mit zum Baumwollpflücken gekommen? Sie hatten doch das Reisegeld so gut
+wie ich.“
+
+„Eben darum, weil ich das Reisegeld hatte, bin ich nicht mitgekommen.
+Ich hatte Sie gewarnt, aber Sie wollten mir ja nicht glauben. So leicht
+werden Sie nun wohl nicht mehr darauf hineinfallen.“
+
+„Man kann nie im voraus wissen, ob es stimmt, oder ob es nicht stimmt.
+Im vorigen Jahre stimmte es“, erwiderte ich.
+
+„Natürlich kann es auch mal stimmen und wirklich Arbeit da sein und
+richtiger Pflückerlohn“, bestätigte er mir. „Aber ich habe reichlich
+Erfahrung. Vor drei Jahren war ich pflücken, bei einem Amerikaner.
+Wissen Sie, wie es mir ergangen ist?“
+
+„Nein, wie?“
+
+„Als die erste Woche herum war, wollten wir unsern Lohn haben. Da sagte
+der Farmer, er könne nur jedem einen Peso geben. Wenn wir Ware
+brauchten, so könnten wir das aus seinem Laden beziehen. Da nahmen wir
+auch Ware, weil wir sie brauchten. Von dem Tage an gab er uns überhaupt
+kein Geld mehr, sondern immer nur Bons für seinen Laden. Und da setzte
+er uns Preise an, doppelt so hoch als in der Stadt. Tabak, den wir in
+der Stadt für achtzig Centavos kauften, berechnete er uns mit einem Peso
+vierzig. Ein Hemd, das in der Stadt drei Pesos kostete, berechnete er
+mit fünf Pesos. So ging das mit Mehl, mit Bohnen, mit Kaffee, na, kurz
+mit allem. Als wir dann mit der Ernte fertig waren, wollten wir
+abrechnen und unser Geld haben. Da sagte er ganz trocken, er hätte
+selber kein Geld, wir könnten für das ganze Geld, das uns noch zustände,
+Ware haben. Was sollten wir aber mit der Ware machen? Geld brauchten wir
+vor allem, um wieder zur Stadt zurückkommen zu können.“
+
+„Und bekamt ihr das Geld?“
+
+„Nein, wir mußten laufen. Er blieb uns den ganzen Lohn schuldig. Er
+sagte, wir sollten unsre Adresse einschicken, dann wolle er uns das Geld
+im Oktober schicken. Er hat nie einen Centavo geschickt, ist den Lohn
+heute noch schuldig. Wir haben gerade für das lausige Essen die acht
+Wochen gepflückt. Und was für Essen? Sie wissen ja, was man sich da
+kocht, und was man ißt. Sie haben ja gepflückt.“
+
+„Da läßt sich auch gar nichts dagegen tun“, sagte ich.
+
+„Nein, die kriegen immer wieder Leute. Immer wieder andre. Immer wieder
+andre Dumme, immer wieder andre, die in der Stadt vor dem Verhungern
+stehen, und die ehrlich arbeiten wollen. Wir haben ja nun in einigen
+Staaten sehr tüchtige Gouverneure, die von den Arbeitern gewählt wurden,
+von den Sozialisten und von den Syndikaten. In San Luis Potosi und in
+Tamaulipas. Die Gouverneure haben nun vor kurzem in den
+Arbeiterversammlungen gesprochen und zugesagt, daß sie hier energisch
+eingreifen wollen. Der Gouverneur von Tamaulipas arbeitet ein Dekret
+aus, daß jeder Baumwollfarmer fünfundzwanzig Pesos hinterlegen muß für
+jeden Pflücker, und daß er für jeden Pflücker das Bahngeld für die Hin-
+und Rückreise bezahlen muß. Das ist wenigstens ein Anfang. Bis jetzt
+konnten die mit den armen Teufeln machen, was sie gerade wollten. Wenn
+sie dann keine Pflücker kriegen und überall herumschreien, daß ihnen die
+Ernte verfault, dann sagen sie, das Landarbeitersyndikat sei schuld und
+das müßte ausgerottet werden. Dann reden sie von den faulen Indianern
+und den Peons, die lieber als Banditen leben, als daß sie anständig
+arbeiten wollen. Mich fängt keiner mit dem Schwindel. Baumwollpflücken?
+Ich? Ich denke nicht, daß Sie mich für einen solchen Dummkopf halten.
+Lieber stehlen oder krepieren. Haben Sie schon einmal hier einen armen
+Farmer gesehen? Ich nicht. In den ersten drei Jahren vielleicht, da geht
+es ihm etwas hart. Aber wenn er das Land erst einmal durch hat, dann ist
+es sicherer als eine Goldmine. Dann aber wollen sie auch gleich noch
+Diamantminen daraus machen dadurch, daß sie die Arbeiter um den Lohn
+betrügen. Cabrones!“
+
+Ich denke, daß Osuna durchaus recht hatte. Und ich nahm mir vor, meine
+Laufbahn als Baumwollpflücker für immer abzuschließen. Es kam nichts
+dabei heraus. Und es war so zwecklos. Was kümmerte mich denn der
+Baumwollbedarf Europas? Wenn sie Baumwolle da drüben haben wollen, so
+mögen sie herüberkommen und sie sich selber abpflücken, damit sie einmal
+erfahren, was es heißt: Baumwolle pflücken. Mit dieser neuerkämpften
+Lebensweisheit belastet, verließ ich Osuna und ging rüber zu der
+Kaffeebar, um Kaffee zu trinken und zwei Hörnchen zu essen.
+
+Neben mir saß ein Amerikaner, ein älterer Mann, sicher Farmer.
+
+„Suchen Sie nach was?“ fragte er, als ich über die Bar hin und her
+guckte.
+
+„Ja, nach dem Zucker“, sagte ich. Er reichte mir die emaillierte
+Zuckerbüchse.
+
+„Das meinte ich eigentlich nicht, als ich fragte“, sagte der Mann
+lächelnd. „Ich meinte vielmehr, ob Sie etwas verdienen wollen?“
+
+„Das will ich immer“, erwiderte ich.
+
+„Haben Sie schon mal Rinderherden blockiert?“ fragte er jetzt.
+
+„Ich bin auf einer Viehfarm groß geworden.“
+
+„Dann habe ich Arbeit für Sie.“
+
+„Ja?“
+
+„Eine Herde von tausend Köpfen, achtzig Stiere darunter,
+dreihundertfünfzig Meilen über Land bringen. Abgemacht?“
+
+„Abgemacht!“ Ich schlug in seine Hand. „Wo sehe ich Sie?“
+
+„Hotel Palacio. Um fünf. In der Halle.“
+
+
+ 15
+
+Einfach mit der Bahn können Viehherden nicht befördert werden. Das Land
+ist groß, die Strecken sind so weit, daß die Frachten die Herden
+auffressen. Das Füttern und Tränken hat gleichfalls seine
+Schwierigkeiten. Es muß herangeschafft werden zu den Stationen,
+Futterleute müssen angenommen werden. Durch den langen Transport geht
+das Vieh auch herunter. Es kann am Ende so kommen, daß der Viehzüchter
+noch draufzahlen darf, wenn die Reste der Herde am Bestimmungsmarkte
+angelangt sind.
+
+So bleibt nichts andres übrig, als die Herden über Land zu treiben. In
+den europäischen Ländern ist das eine ziemlich einfache Sache. Aber hier
+gibt es keine Straßen. Es müssen Gebirge überstiegen werden, Sümpfe
+umgangen, Flüsse gekreuzt werden. Man muß stets Wasser zu finden
+verstehen, weil die Herden sonst zugrunde gehen, und man muß täglich
+Weidegründe erreichen.
+
+„Was, dreihundertfünfzig Meilen?“ fragte ich Mr. Pratt, als wir uns zur
+Verhandlung niedergesetzt hatten. „Luftlinie?“
+
+„Ja, Luftlinie.“
+
+„Verflucht. Das können dann sechshundert Meilen werden.“
+
+„Das glaube ich nicht“, erwiderte Mr. Pratt. „Soweit ich Erkundigungen
+einziehen konnte, läßt es sich nahe an der Luftlinie halten.“
+
+„Was mit der Bezahlung?“ fragte ich.
+
+„Sechs Pesos den Tag. Ich stelle Pferd und Sattelzeug. Beköstigen müssen
+sie sich selbst. Ich gebe Ihnen sechs von meinen Leuten mit, Indianer.
+Der Vormann, ein Halbblut, geht auch mit. Er ist ein ganz tüchtiger
+Mann. Verläßlich. Ich könnte ihm die Herde vielleicht anvertrauen. Aber
+besser nicht. Wenn er alles unterwegs verkauft und wegrennt, kann ich
+nichts machen. Seine Frau und seine Kinder wohnen bei mir auf dem
+Rancho. Aber das ist keine Sicherheit. Suchen Sie mal hier jemand im
+Lande. Und ich möchte ihm auch nicht soviel Geld mitgeben. Ohne Geld
+kann ich ihn nicht abschicken; da sind so viele Ausgaben unterwegs. Es
+ist nicht gut, die Leute zu verführen. Selber kann ich nicht so lange
+fortbleiben vom Rancho. Wenn man es weißt, dauert es nicht lange, und
+die Banditen sind herum. Nun hätte ich gern einen weißen Mann, der den
+Zug übernimmt.“
+
+„Ob ich so ehrlich bin, wie Sie denken, das weiß ich nicht. Noch nicht“,
+sagte ich lachend. „Ich verstehe es auch, mit einer Herde
+durchzubrennen. Sie haben mich doch gerade hier auf der Straße
+aufgegriffen.“
+
+„Ich sehe den Leuten ins Gesicht“, sagte Mr. Pratt. „Aber, um ganz
+ehrlich zu sein: So auf gut Glück gehe ich ja nun auch nicht. Ich kenne
+Sie.“
+
+„Sie mich? Ich wüßte nicht woher.“
+
+„Haben Sie denn nicht bei einem Farmer mit Namen Shine gearbeitet?“
+
+„Allerdings“, bestätigte ich.
+
+„Da habe ich Sie gesehen. Sie gingen dann zu den Ölleuten zur Ablösung
+eines Drillers. Na?“
+
+„Stimmt. Ich erinnere mich aber nicht, daß ich Sie gesehen hätte.“
+
+„Tut nichts. Aber Sie sehen, daß ich Sie kenne. Und Mr. Shines Wort, daß
+ich mich auf Sie verlassen kann, trotzdem Sie sich immer um Streiksachen
+kümmern –“
+
+„Ich? Fällt mir gar nicht ein. Was kann ich denn dafür, daß immer
+zufällig da, wo ich bin, die Hölle losgeht. Ich mische mich nie rein.“
+
+„Lassen wir das beiseite. Bei mir haben Sie keine Gelegenheit. Sie haben
+den Kontrakt und sind kein Arbeiter. Sie übernehmen es, die Herde zu
+transportieren, und ich übernehme es, Ihnen das Geld vorzustrecken und
+Ihnen Tagesdiäten zu zahlen.“
+
+„Kontrakt? Ganz gut. Aber was mit der Kontraktprämie?“ fragte ich.
+
+Mr. Pratt schwieg eine Weile, dann nahm er sein Notizbuch, rechnete und
+sagte: „Ich habe zwei Meilen vom Markt, wo ich sie zum Verkauf bringen
+will, eine Weide gepachtet. Sie ist aufgezäunt. Wenn ich die Herde in
+der Weide halten kann, brauche ich nicht die Preise zu nehmen, sondern
+kann meinen Vorteil wahrnehmen, bis man mir kommt. Wahrscheinlich kriege
+ich mehrere Schiffsladungen in Auftrag. Andernfalls verkaufe ich
+dutzendweise. Macht bessern Preis, als wenn ich die ganze Herde auf
+einmal losschlagen muß. Ich werde mal sehen. Ich habe einen guten
+Kommissionär da, der schon jahrelang mit mir arbeitet und immer gute
+Preise geholt hat.“
+
+„Das ist alles ganz gut,“ flocht ich ein, „aber das alles hat nichts mit
+meinem Kontrakt und meiner Prämie zu tun.“
+
+„Well, für jeden Kopf, den Sie gesund durchkriegen, bezahle ich Ihnen
+extra sechzig Centavos. Wenn Sie weniger als zwei Prozent Verlust haben,
+noch einmal hundert Pesos.“
+
+„Und das Risiko?“
+
+„Was Sie mehr verlieren als zwei Prozent, dafür ziehe ich Ihnen pro Kopf
+verlorenes Vieh fünfundzwanzig Pesos ab“, sagte Mr. Pratt.
+
+„Warten Sie einen Augenblick“, sagte ich. Ich rechnete rasch auf einem
+Zeitungsrand und antwortete dann: „Abgemacht. Einverstanden. Geben Sie
+mir den Kontraktzettel.“
+
+Er riß ein Blatt aus seinem Büchlein aus, schrieb mit Bleistift die
+soeben vereinbarten Bedingungen auf, unterschrieb den Zettel und gab ihn
+mir. „Ihre Adresse?“ fragte er.
+
+„Meine Adresse?“ sagte ich. „Ja, meine Adresse, das ist so eine Sache.
+Sagen wir hier, sagen wir: Hotel Palacio.“
+
+„Gut.“
+
+„Wie ist denn das? Ist der Transport schon ausblockiert?“ fragte ich.
+
+„Nein, es ist noch nicht ein Kopf ausblockiert. Wir nehmen einen kleinen
+Prozentsatz Einjährige und in der Masse Zwei- und Dreijährige.
+Vierjährige habe ich nicht viel. Ein paar können Sie mithaben. Beim
+Ausblockieren helfe ich Ihnen.“
+
+„Ist alles gebrannt mit Ihrem Zeichen?“
+
+„Alles, damit haben wir nichts zu tun.“
+
+„Was mit den Leitstieren?“
+
+„Das ist die Sache. Da müssen Sie zusehen, wie Sie die kriegen.“
+
+„Ist recht. Werden wir schon einangeln.“
+
+Mr. Pratt stand auf: „Nun wollen wir erst einen gießen, und dann lade
+ich Sie zum Abendessen ein. Nachher habe ich Privatgeschäfte.“ Diese
+Privatgeschäfte kümmerten mich nicht.
+
+Als wir uns nach dem Abendessen trennten, fragte Mr. Pratt, wieviel ich
+Vorschuß haben wolle. Ich sagte ihm, daß ich nichts brauche.
+
+„Was, Sie brauchen keinen Vorschuß?“ fragte er erstaunt. „Das kommt mir
+aber doch recht merkwürdig vor. Wo haben Sie denn das Geld gemacht?“
+
+„In der Spielbank.“
+
+„Da werde ich heute abend später auch mal hingehen, vielleicht gewinne
+ich Ihren Lohn und Ihre Prämie.“
+
+„Von mir aber nicht,“ sagte ich, „denn ich komme nicht. Ich halte, was
+ich habe.“
+
+„Von Ihnen wollte ich es auch nicht holen. Den andern will ich es
+abnehmen. Da sind immer so verrückte Kerle drin, die aus den Kamps
+hereinkommen, die können es nicht schnell genug hergeben. Ich mache
+Solotisch mit zweien oder dreien dieser Vögel. Wenn Sie lernen wollen,
+wie das gemacht wird, dann kommen Sie hin und sehen Sie zu“, riet er
+mir.
+
+„Ich habe kein Interesse“, sagte ich und ging meiner Wege.
+
+
+ 16
+
+Am nächsten Morgen früh um fünf reisten wir ab. Wir hatten sechzehn
+Stunden mit dem Schnellzug zu fahren. Die Züge haben nur erste und
+zweite Klasse, weil man hier nicht so viele Kastenunterschiede macht wie
+in vierklassigen Ländern. Die erste Klasse kostet wenig mehr als das
+Doppelte der zweiten. Man reist aber in der zweiten ebenso rasch wie in
+der ersten und keineswegs sehr unbequem. In der ersten Klasse sind die
+Sitze an den Längsseiten, aber man sitzt quer zur Zugrichtung. In der
+Mitte ist der Gang, der durch den ganzen Zug führt. In der zweiten
+Klasse, wo die eingeborene ärmere Bevölkerung reist, sind an beiden
+Längsseiten durchgehende Bänke, und man sitzt mit dem Rücken gegen die
+Wand des Abteils. In der Mitte sind Quersitze, und an jeder Seite
+zwischen den langen Bänken und den Quersitzen führt der Gang. Die
+Lokomotiven, gigantische Maschinen, werden nur mit Öl geheizt. Hinter
+dem Tender folgt der Expreßgutwagen und ferner der Gepäckwagen mit der
+Post. Dann folgen zwei lange Wagen zweiter Klasse, dann ein langer Wagen
+erster Klasse und endlich der Pullman-Wagen für die Schlafgäste.
+
+Im ersten Wagen zweiter Klasse sitzt in jedem Zuge eine Abteilung
+Soldaten von etwa zwölf bis achtzehn Mann mit geladenen Gewehren,
+geführt von einem Offizier. Wegen der Banditenüberfälle auf Züge sind
+die Soldaten notwendig. Es kommt trotzdem vor, daß die Züge von Banditen
+überfallen werden. Dann entwickelt sich zwischen den Soldaten und den
+Banditen eine Schlacht, die einige Stunden dauert und eine gute Anzahl
+Tote kostet. Bei diesen Überfällen werden die Reisenden ausgeraubt,
+jedoch nie getötet, es sei denn, daß sie bewaffneten Widerstand leisten.
+Abgesperrte Bahnübergänge, Bahnwärter und so etwas gibt es nicht. Die
+Züge sausen mit rasender Geschwindigkeit durch das unübersehbare Land,
+durch Dschungel und Busch, über Prärien und über Gebirge, die mit ewigem
+Schnee bedeckt sind. Über weite Schluchten sind Brücken gezogen,
+vierzig, fünfzig, sechzig Meter hoch, viele Kilometer lang. Und die
+Brücken sind nur aus Holz, und der Zug rast in schwindelnder Höhe
+darüber hinweg.
+
+Die Bahnstrecke ist nicht abgezäunt. Rinderherden, Pferde, Esel,
+Maultiere und Wild treiben sich in der Nähe der Bahnstrecke umher und
+weiden oder ruhen mitten auf dem Geleise. Dann heult der Zug
+schauerlich, um die Tiere zu verscheuchen. Manchmal stehen sie auf und
+rennen davon; manchmal rühren sie sich nicht, und der Zug muß halten,
+und ein Zugbeamter steinigt die Tiere hinweg. Dann wieder laufen die
+Tiere direkt in den rasenden Zug oder sie werden übersehen. An der
+ganzen langen Zugstrecke sieht man zu beiden Seiten der Geleise die
+Skelette der Tiere liegen. Verwundete, denen die Füße abgefahren sind
+oder der Leib aufgerissen wurde, liegen verdurstend, den Tod erwartend
+in der tropischen Sonnenglut. Niemand, der vorbeikommt, tötet sie und
+erlöst sie von ihren Qualen, weil der Besitzer vielleicht irgendwo
+lauert; denn wenn man das Tier tötet, muß man ihm das Tier bezahlen, als
+ob es lebend wäre, und er darf einen außerdem noch zum Gericht
+schleppen, wo man wegen unerlaubter Tötung eines Tieres mit fünfzig oder
+hundert Pesos oder gar mehr bestraft wird.
+
+Wenn man annimmt, daß man nicht beobachtet wird, hält man dem armen Tier
+den Revolver ans Ohr. Dann aber muß man laufen. Mitleid an Tieren üben
+ist kostspielig. Ich habe einmal einem Esel, der neben dem Bahngleise im
+Busch lag und dem der eine Huf abgefahren war, eine Schüssel mit Wasser
+gebracht, als die Sonne im Mittag stand. Die dankbaren Augen des Tieres
+sind mir unvergeßlich. Aber ob ich es ein zweites Mal tun werde, wenn
+Hütten nicht weit entfernt sind, weiß ich nicht. Am Abend, als die Sonne
+unterging, starb das Tier. Es hatte auch noch innere Verwundungen. Ich
+stand in der Tienda und trank eine Limonade. Da kam ein Halbblut rein
+und sagte zu mir: „Der Esel da drüben am Geleise gehört mir. Sie haben
+ihm heute mittag vergiftetes Wasser gegeben. Der Esel ist jetzt tot. Sie
+werden mir den Esel bezahlen. Sie haben ihn vergiftet. Sie haben ja hier
+den ganzen Nachmittag zu den Leuten herumerzählt, es sei eine Schmach,
+daß man dem Tier nicht einen Erlösungsschuß gebe.“
+
+Das Wasser war natürlich nicht vergiftet, denn ich hatte es aus dem
+Trinkwasser-Tank der Familie des Tienda-Besitzers genommen. Und der
+Besitzer der Tienda bestätigte das auch dem Halbblut. Dieser Bursche
+wußte natürlich recht gut, daß ich dem armen Tier kein Gift gegeben
+hatte. Schließlich einigten wir uns, daß ich ihm fünf Pesos für seinen
+Esel bezahlte und eine Flasche Bier und ein Päckchen Tabak. Wenn nicht
+der Tienda-Mann und einige Indianer, die in der Kantine waren, mir
+beigestanden hätten, wäre mein angewandtes Mitleid eine teure Sache
+geworden.
+
+Entlang der Geleise hocken die Geier in Schwärmen und warten auf die
+Beute. Sie begnügen sich auch mit Katzen, Hunden, Schweinen. Weite
+Strecken dient das Bett der Eisenbahn ganzen Maultier- und
+Eselskarawanen als Straße, weil die Straße, die nebenher führt, oft
+nicht mehr zu finden ist, denn der Dschungel oder der Busch hat sie
+verschlungen.
+
+Die Bahn hat nur ein Geleise. Etwa je fünfzig Kilometer voneinander
+entfernt sind große Wassertanks errichtet, wo die Lokomotiven wieder
+frisch aufgefüllt werden können. An vielen Stationen wird kaum gehalten,
+besonders wenn keine Reisenden aussteigen oder einsteigen. Dann fliegt
+nur der Postsack heraus, und der andre wird hineingepfeffert. Auch die
+Eisblöcke, die in Säcke eingenäht sind und festumpackt mit Hobelspänen
+und Sägespänen, um das Eis vor dem Zerschmelzen zu schützen, werden
+einfach hinausgefeuert. Der Empfänger wird sich schon darum kümmern.
+
+Die Fahrkarten kann man auf den Stationen kaufen oder im Zuge. Kauft man
+sie im Zuge, muß man fünfundzwanzig Prozent mehr zahlen. Diesen
+Aufschlag braucht man nicht zu zahlen, wenn die Station keinen
+Fahrkartenverkauf hat. Viele Stationen brauchen nach fünf Uhr abends
+keine Karten zu verkaufen, damit sie nach Eintreten der Dunkelheit kein
+Geld im Gebäude haben, was den Agenten das Leben kosten kann. Auch in
+diesem Falle wird im Zuge nur der Normalpreis erhoben. Die Karte wird
+einem nach einer Weile im Zuge wieder abgenommen, und der Schaffner
+steckt einem ein kleines Kärtchen in das Hutband, auf das er die
+Kilometerzahl geschrieben hat. So hat er seine Gäste alle unter schöner
+Kontrolle.
+
+Die Soldaten sitzen meist mit ihren Lesefibeln da, in denen sie
+buchstabieren. Sie sind ausschließlich Indianer und können nur in ganz
+seltenen Fällen lesen und schreiben. Aber sie haben einen brennenden
+Ehrgeiz, es zu lernen. Einer hilft dem andern, und wenn der eine nur
+gerade gelernt hat, wie man „eso“ schreibt, so ist er ganz aufgeregt, es
+seine Kameraden auch zu lehren.
+
+Um acht oder halb neun wird zum Frühstück gehalten auf einer Station,
+die schon eine belebte Stadt genannt werden darf. Wir stiegen aus und
+gingen in das Bahnhofslokal. Natürlich wieder ein Chinese. Wenn man doch
+endlich mal ein Restaurant finden möchte, das keinem Chinesen gehört.
+
+„Da wundern sich die Leute noch,“ sagte Mr. Pratt, während uns
+chinesische Kellner den Kaffee und die gebackenen Eier mit Schinken
+hinstellten, „daß die Anti-China-Bewegung hier in dem Lande, wo man
+sonst keinen Rassenhaß kennt, immer größeren Umfang annimmt. Aber jedes
+Restaurant, das sie nur ergattern können, erwerben sie, und gierig
+warten sie auf jeden Neuen, der Pleite machen muß, weil er sich gegen
+sie nicht halten kann. Sie nisten sich ein wie Ungeziefer. Sollen sich
+nicht wundern, wenn das mal eine blutige Nacht gibt.“
+
+„An der Pazifikküste habe ich eine erlebt“, erzählte ich ihm. „Kostete
+achtundzwanzig Chincs das Leben. Und niemand wußte, wer es getan hat.
+Aber sie sind nicht gegangen. Sie übernehmen das Risiko.“
+
+„Das ist es ja eben,“ erwiderte Mr. Pratt, „was ich mit Ungeziefer sagen
+wollte. Sie sind wie die Läuse.“
+
+Wir standen auf, zahlten und gingen ein wenig auf dem Bahnsteig
+spazieren. Dutzende von Händlern liefen herum und boten alles mögliche
+an, von dem man nicht glauben möchte, daß es auf Bahnsteigen angeboten
+werden könnte. Papageien, junge Tiger, Tigerfelle, lebende
+Rieseneidechsen, Blumen, Singvögel, Apfelsinen, Tomaten, Bananen,
+Mangos, Ananas, Zuckerrohr, kandierte Früchte, zerbröckelnde Schokolade,
+Tortillas, gebratene Hühnchen, geröstete Fische, gekochte Riesenkrebse,
+die in ihrer runden, spinnenähnlichen Gestalt grauenerregend aussehen,
+aber sehr gut schmecken, Flaschen mit Kaffee, mit Zitronenwasser, mit
+Pulque. Zerlumpte und barfüßige Indianermädchen liefen am Zuge entlang
+und boten sich als Dienstmädchen und Köchinnen an. Es ist für die
+zwanzig oder dreißig Minuten, während der Zug hier steht, ein Leben auf
+der Station wie auf dem tollsten Jahrmarkt. Der Gegenzug kommt meist am
+Abend hier vorbei, aber da warten die Gäste schon auf die nahe Großstadt
+und sind müde und abgespannt von der Fahrt. Während der übrigen Zeit des
+Tages ist eine solche Station, die augenblicklich sinnverwirrend
+erscheint, totenstill. Sie glüht müde in der Sonne. Nur die Güterzüge
+bringen ein wenig Bewegung unter die Beamten; aber alles ist träge und
+schläfrig. Das Leben ist konzentriert auf die zwanzig Minuten am Morgen.
+Wer in diesen zwanzig Minuten sein Geschäft nicht gemacht hat, muß
+diesen Tag aus seinem Leben als einen erfolglosen Tag streichen.
+
+Mittags kamen wir in eine größere Station, wo der Zug etwa vierzig
+Minuten zum Mittagessen hielt. In der Bahnhofswirtschaft – richtig
+wieder Chinesen – standen an mehreren großen Tischen schon dreißig
+Gedecke bereit. Die halbe Anzahl Teller war schon mit Suppe gefüllt. Mit
+einem raschen Blick hatte der Inhaber heraus, auf wieviel Gäste er
+rechnen könne. Manche aßen kein Dinner, sondern sie ließen sich nach der
+Karte bedienen. Sie kamen schlechter dabei weg. Die Portionen waren
+weder größer noch besser, aber teurer, als wenn sie im Dinner gingen.
+
+Dann kam der lange, der ermüdend lange Nachmittag der Fahrt. Der Zug
+sauste immer durch die gleiche Landschaft. Dschungel, Prärie, Busch. Der
+Gegenzug, der hier an der Mittagsstation kreuzte, hatte die
+Morgenzeitungen der entgegengesetzten Stadt mitgebracht. Sie wurden im
+Zuge verkauft. Man konnte sonst noch alles mögliche im Zuge haben: Bier,
+Wein, Limonade, Schokolade, Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten, Zigarren.
+Alle Getränke waren geeist, und wer kein Geld hatte, bekam gutes reines
+Eiswasser umsonst, das er sich selbst holte.
+
+Abends um neun stiegen wir auf einer kleinen Station aus. Es war die
+Heimatstation des Mr. Pratt. Wir gingen in die Kantina, die gleichzeitig
+das Hauptpostamt war. Mr. Pratt begrüßte den Kantina-Besitzer, einen
+Senjor Gomez, und stellte mich ihm vor.
+
+Na, zu essen, was man woanders essen nennen würde, gibt es in solchen
+Kantinas nicht. Aber man kann nicht verhungern. Man kann sich das
+schönste Essen zusammenstellen. Wir nahmen eine Büchse Vancouver Salm,
+einige Büchsen spanische Ölsardinen, einige Büchsen Wiener Würstchen
+(gemacht in Chikago), eine Büchse Kraftkäse (die Marke heißt Kraft, aber
+der Käse ist trotzdem gut und kräftig, wenn auch teuer wie ein Stück
+Gold), und endlich nahmen wir noch ein Paket Crackers, weil es Brot oder
+Brötchen nicht gibt. Was sollte man damit auch auf dem Lande anfangen?
+Den Tag darauf ist es wie Stein oder völlig verschimmelt oder innen und
+außen voll von kleinen roten Ameisen. Diese Crackers sind viereckige
+Biskuits, so groß wie eine Handfläche, und ich habe den Fabrikanten sehr
+stark im Verdacht, daß er mit diesen Crackers die Christen an den
+Geschmack der Matze gewöhnen will. Als mir mal jemand Matze zu kosten
+gab, sagte ich zu ihm: „Schwindeln Sie mich doch nicht an, das ist ja
+ein Klotz-Cracker.“ Ja, also so schmeckt das Zeug. Entsetzlich nüchtern
+und nichtssagend. Aber was andres gibt es nicht. Und wenn man nicht zu
+den indianischen Tortillas hält, sind diese Crackers wohl das gesündeste
+Brot in den Tropen; denn europäisches oder gar deutsches Brot würde
+einem hier den Magen umdrehen und in einer Woche auf den Cementerio
+bringen. Der Cementerio ist der Platz, wo man hier die Toten begräbt,
+ein Platz, den man woanders Friedhof nennt.
+
+Aber an Friedhof dachten wir nicht, denn wir machten uns mit dem Senjor
+Gomez über seinen Bier- und Tequila-Vorrat her. Wir waren zwar nach
+einer angemessenen Frist dann auch tot, jedoch nicht reif zum Begraben.
+Wir wickelten uns in unsre Decken und legten uns auf den Boden des
+Billardraumes in der Kantina. Senjor Gomez hatte es besser. Er ging zu
+seiner Frau und lag weicher als wir.
+
+
+ 17
+
+Mit diesem Gedanken an eine Frau oder an die Frau im allgemeinen – so
+genau weiß ich das nicht mehr – schlief ich ein, und mit dem Gedanken an
+eine bestimmte Frau wurde ich am nächsten Morgen geweckt. Diese Frau war
+Mrs. Pratt. Sie war vom Rancho mit dem Ford gekommen, um in der Kantina
+einiges einzukaufen. Bei dieser Gelegenheit fand sie ihren Ehegatten,
+den sie noch nicht erwartet hatte, und sie fand ihn in einer Verfassung,
+die sie am allerwenigsten erwartet hätte.
+
+Wie das immer so geht, solange die Welt aufgebaut ist, es ist stets der
+Unschuldige, der leiden muß. Ich war der Unschuldige, und ich mußte
+infolgedessen leiden. Mr. Pratt war das Muster eines Ehemannes, und ich,
+den er irgendwo im Schlamm aufgelesen hatte, war der nichtswürdige Bube,
+der ihn verlockt, verführt und ihn in den Sumpf geworfen hatte. Denn er,
+der brave Mr. Pratt, tat so etwas nie.
+
+Als wir gingen, gab Mr. Pratt Senjor Gomez einen Wink. Männer verstehen
+den Wink sofort, besonders wenn die beiden, zwischen denen der Wink
+ausgetauscht wird, Ehemänner sind, die mit ihren Frauen gern in Frieden
+leben.
+
+„Sie hatten also so viele Ölsardinen und dann noch das und das und –“
+
+Der Wink kam wieder.
+
+„– und Sie hatten zwei kleine Flaschen Bier, und hier der Mr. Gale hatte
+vier. Ja, das ist alles. Ich habe die Flaschen genau angekreuzt.“
+
+Mrs. Pratt war zufrieden mit ihrem Gatten. Er konnte ja später das
+Schock Flaschen bezahlen, das da leer in der Ecke lag. Er war dem Senjor
+Gomez ja gut. Aber ich kriegte einen Blick von Mrs. Pratt, der mich das
+Schlimmste befürchten ließ, und ich überlegte ernsthaft, ob es nicht
+besser sei, Mr. Pratt gleich hier zu sagen, daß ich auf den Kontrakt
+doch lieber verzichten wolle. Denn ich hatte ja etwa zwei Wochen, wenn
+nicht länger, im Hause der Mrs. Pratt zu leben. So lange konnte es
+dauern, bis der Transport ausblockiert war. Und was konnte mir diese
+Dame in jener langen Zeit alles antun! Man denke, ich hatte ihren
+nüchternen, braven Ehegatten in eine Verfassung gebracht, daß er selbst
+jetzt, nach einigen Stunden Schlaf, noch kaum auf den Füßen stehen
+konnte und mit verglasten Augen in die Welt guckte. Man soll sich mit
+verheirateten Männern nicht einlassen. Das tut nie gut. Das ist eine
+ganz andre Rasse. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich Senjora Gomez
+auch noch auf den Hals kriege. Dann aber laufe ich, das ist sicher; denn
+gegen Senjoras läßt es sich schwerer ankommen als gegen Missis. Deren
+Zungenbänder sind viel geläufiger als die anglosächsischen, und die
+Senjoras arbeiten viel intensiver und viel unvorsichtiger mit den
+Fingernägeln.
+
+Ich war deshalb recht froh, daß Mrs. Pratt ihren sonst so Nüchternen in
+den Ford bugsierte, sich an das Steuerrad setzte, einschaltete und
+abrasselte. Daß ich mit sollte und mit wollte, darum kümmerte sie sich
+nicht. Ich konnte ja laufen, die vierzehn Meilen, die der Rancho von der
+Station entfernt war. Aber der Gedanke daran gab mir eine ungeheuere
+Schwungkraft, und mit dieser Schwungkraft setzte ich dem Ford nach, als
+Mrs. Pratt die Kurve einbog, um auf den Weg zu kommen. Ich rasselte in
+die offene Klappe, Kopf zuerst. Die Schwungkraft hatte nicht
+ausgereicht, auch die Beine mit hineinzukriegen. Deshalb hingen die
+Beine lang heraus. Ich bin überzeugt, daß die Indianer, denen wir
+unterwegs begegneten, sicher glaubten, ich sei eine Anprobierpuppe, die
+Mrs. Pratt von der Bahn geholt habe. Vielleicht glaubten sie noch ganz
+andre Dinge, vielleicht, daß Mrs. Pratt mich überfahren habe und mich
+nun rasch nach dem Rancho schleppe, um mich dort einzuscharren.
+
+Wir kamen auf dem Rancho an. Aber niemand kümmerte sich um mich. Mrs.
+Pratt fuhr das Auto unter ein Strohdach und ließ es dort stehen. Ich
+hing noch immer in dieser unglücklichen Stellung in der Klappe. Endlich
+aber wurde mir diese Lage doch zu unbequem. Ich zerrte mich heraus und
+setzte mich in die Polster.
+
+Als ich erwachte, stand die Sonne tief. Ob sie aufgehend oder
+untergehend war, wußte ich nicht, weil ich ja hier fremd war und die
+Himmelsgegenden nicht kannte.
+
+„Hallo, Sie da unten, haben Sie jetzt Ihren Suff ausgeschlafen?“ rief da
+Mrs. Pratt von der Veranda des Rancho-Hauses herunter. „Sie scheinen mir
+ja gerade das richtige Hühnchen zu sein, das mein alter Esel da auf der
+Straße aufgelesen hat. Sie werden wohl mit der Herde am Panama-Kanal
+landen, Sie Trunkenbold. Dem Himmel sei Dank, daß da der Kanal ist,
+sonst könnten wir der Herde bis nach Brasilien nachlaufen. Wer weiß, wo
+Sie mit ihr hingeraten. Kommen Sie rein zum Essen.“
+
+Zum Essen. War das nun Frühstück oder Abendessen? Ich sah nach meiner
+Uhr. Stehengeblieben. Natürlich. Wenn man so ein verfluchtes Ding mal
+wirklich braucht, dann steht sie. Am liebsten möchte ich sie gleich
+gegen die Wand pfeffern. Was tu ich mit einer Uhr, die stehnbleibt, wenn
+man mal eine Flasche Bier trinkt und lustig ist und singt! Also rauf zum
+Essen. Nur um die gute Frau nicht noch mehr zu ärgern, aß ich von allem
+etwas. Mr. Pratt saß gleichfalls am Tisch und piekte in seinen Tellern
+herum. Er sah nicht auf, und er tat, als ob er mich gar nicht kenne.
+Wenn ich das Wort an ihn richtete, brummte er nur. Ich kannte den
+Schwindel schon. Er hatte seiner Frau erzählt, daß ich ihn verführt
+hätte, und daß er fertig mit mir sei, aber da er doch schon die Kosten
+der Fahrt für mich bezahlt habe, wolle er mich mit der Herde losschicken
+und dann nie wiedersehn.
+
+Als Mrs. Pratt einmal aufstand, um zur Küche zu gehen, sagte Mr. Pratt:
+„Hallo, Boy, machen Sie das Konzert ein wenig mit. Morgen ist es
+verraucht. Sie ist gar nicht so. Eine prächtige Seele. Nur mit dem
+Trinken kann sie sich nicht befreunden.“ Nun änderte er den Ton: „Es war
+unanständig von Ihnen, daß Sie mich immerfort aufforderten, auf die
+Gesundheit des Präsidenten, auf die Fahne, auf das Vieh zu trinken. Ich
+hatte Ihnen im voraus gesagt, daß ich trocken bin und nie trinke. Aber
+wenn Sie mit Gesundheittrinken kommen, das ist ein unfaires Spiel.“
+
+Nanu? Was war denn das mit einem Male? Ach so, Mrs. Pratt war wieder
+hereingekommen, und er hatte das Konzert zu machen. Er verstand es. Er
+hatte die letzten Sätze so hinausgedonnert, daß Mrs. Pratt sich ganz
+aufrecht auf ihren Stuhl setzte, als ob sie damit sagen wollte: Da
+können Sie sehen, was für einen anständigen Mann ich habe; er tut es nur
+aus Patriotismus, während Sie es aus Verkommenheit tun.
+
+Nach dem Essen wurden wir in Gnaden entlassen. Mir wurde meine Stube
+gezeigt, und ich legte mich schlafen.
+
+Am folgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, sattelten wir auf und
+ritten erst einmal nach der Pferdeprärie hinaus, damit ich mir ein Pferd
+aussuchen möge. Die Pferde werden draußen auf der Prärie gezeugt und
+geboren. Sie kommen nie in einen Stall und wachsen völlig wild auf.
+Ställe gibt es überhaupt nicht. Pferde und Vieh sind Sommer und Winter
+im Freien. Die Pferde werden durchaus menschenscheu und fliehen, wenn
+sie nur einen Menschen in der Nähe riechen.
+
+Zweimal oder dreimal im Jahr werden die Pferde, die man nicht gebraucht,
+eingefangen und in einen Korral, eine kleine Umzäunung in der Nähe des
+Hauses, gebracht. Hier werden sie gefüttert, damit sie sich des Menschen
+nicht ganz entwöhnen, werden angebunden, werden geduldig aufgezäumt,
+aufgesattelt, endlich wird aufgesessen, und dann werden sie wieder
+entlassen. Hier wird das alles mit großer Geduld getan, um den Charakter
+des Pferdes nicht zu brechen, seinen Stolz nicht zu verletzen, sein
+natürliches Feuer nicht auszulöschen.
+
+In Amerika geschieht das Brechen der wild aufgewachsenen Pferde
+mitleidloser. Sie werden in den Korral gebracht, sehr fest gezäumt, fest
+gesattelt, und gleich springt ein Mann rauf, den das Pferd nicht mehr
+abwerfen kann, weil der Mann in dem Stocksattel sehr fest sitzt. Dann
+wird das Tier gepeitscht, und es rast nun herum, bis es schäumend und in
+Schweiß gebadet, keuchend und völlig ermattet zusammenbricht. Dann
+zittert es tagelang nachher noch, wenn es nur den Sattel spürt. Aber es
+wehrt sich nicht mehr. Es ist zahm. Man kann es nun reiten. Aber es ist
+nicht mehr „das Pferd“, es ist nur „ein Pferd“. Ein Pferd unter tausend
+gleichen Pferden.
+
+Ich suchte mir ein Pferd aus, von dem ich glaubte, daß es die
+anstrengende Reise aushalten könne. Wir umzingelten es, lassoten es ein
+und brachten es zurück zum Rancho. Ich band es an einen Baum und ließ es
+ganz in Ruhe. Dann etwas später warf ich ihm Mais vor, den es nicht
+nahm. Dann Gras, das es auch nicht fraß. Hierauf ließ ich es den Rest
+des Tages und die Nacht hungern und dursten. Am Morgen gab ich ihm Gras.
+Es lief fort, soweit die Leine reichte. Dann stellte ich ihm Wasser hin,
+das es umschüttete, weil es nicht gewöhnt war, aus einem Eimer zu
+trinken. Es hatte immer nur am Teich getrunken.
+
+Mit der Zeit brachte ich es, oder richtiger: sein eigner Hunger brachte
+es zum Essen und Trinken. Und da es sein Essen und Trinken nur bekam,
+wenn ich dabeistand, verband es das Essen mit meiner Gegenwart, und nach
+zwei Tagen bereits kannte es mich, und ich durfte ihm nahe kommen und es
+ganz leicht auf den Nacken klopfen. Es zitterte zwar ein wenig, aber
+bald verschwand auch das Zittern.
+
+Natürlich konnte ich mich nicht die ganze Zeit über mit dem Pferde
+beschäftigen, sondern eben nur, wenn ich zum Essen zum Rancho kam, weil
+wir den ganzen Tag mit dem Blockieren zu tun hatten.
+
+Als es sich an mich noch besser gewöhnt hatte, zäumte ich es auf ohne
+Maulknebel, nur mit Riemenzaum, der außen um das Maul gelegt wird. Man
+kann die Pferde, wenn sie nicht durch falsche Behandlung verdorben sind,
+gut ohne eisernen Maulknebel reiten. Sie gehen wundervoll dabei; denn es
+ist eine irrige Annahme, daß man ein Pferd nur meistern könne, wenn man
+seine Mundwinkel aufreißt oder wundscheuert. Das ist lediglich die Folge
+falscher Behandlung. Kühen steckt man ja auch keine Eisenknebel ins
+Maul.
+
+Dann sattelte ich es, und jedesmal, wenn ich zum Essen hereinkam, zog
+ich die Gurten fester. Jedesmal drückte ich fest auf den Sattel, als ob
+ich mich aufschwingen wolle. Dann ließ ich die Steigbügel hängen und
+ließ sie baumeln, so daß sie gegen die Weichen schlugen. Erst leise,
+dann immer ein wenig mehr. Beim ersten Male schlug das Pferd aus. Aber
+auch an dieses Baumeln und Schlagen der Steigbügel gewöhnte es sich nach
+zwei Tagen völlig. Dann hüpfte ich halb auf den Sattel und ließ mich
+sofort wieder heruntergleiten.
+
+Während der ganzen Zeit war das Pferd angebunden. Bald sehr lang, bald
+sehr kurz. Endlich wagte ich das Aufsitzen. Ich verband ihm die Augen
+und sprang auf. Es stand und zitterte am ganzen Leibe. Sofort war ich
+wieder herunter. Ich klopfte es auf den Nacken, auf den Rücken und
+sprach unausgesetzt mit ihm. Wieder sprang ich auf. Es drehte sich und
+wendete sich, sprang aber nur wenig. Bald ließ es auch das Springen
+sein, nachdem es sich gegen den Baum gestoßen hatte. Nun blieb ich im
+Sattel sitzen und schlug mit den Füßen in den Bügeln gegen die Weichen.
+Nur beim ersten Male wurde es unruhig, dann wußte es, daß es davon nicht
+stürbe. Endlich band ich das Tuch los. Das Pferd gucke sich um. Ich,
+oben sitzend, sprach beruhigend auf das Tier ein, klopfte es, und wieder
+fühlte es, daß ihm nichts Böses geschehe. Dann kam der Prüfungstag, ob
+es überhaupt zum Reiten zu gebrauchen sei. Ich hatte schon immer mit der
+Gerte hinten ein wenig aufgeklopft, damit es sich auch an dieses Signal
+gewöhne. Nun saß ich wieder auf und ließ losbinden. Es stand ganz ruhig,
+denn es wußte ja nicht, was es tun solle. Ich gab ihm einen Klaps mit
+der Gerte, aber es reagierte nicht. Nun bekam es einen unerwarteten
+tüchtigen Hieb, und da setzte es los. Ich hatte es gut in der Hand, und
+es war Platz genug zum Auslaufen. Ich ließ es nun erst einmal rennen,
+hielt aber mehr und mehr zurück, bis es das Gefühl bekam, daß dies ein
+Signal sei zum Halten oder zum Fallen in eine andre Gangart. Es wurde
+ein gutes Pferd, sein kühner Stolz wurde nicht gebrochen. Ich nannte es
+Gitano.
+
+Zuerst blockierten wir die Stiere aus, weil ich mir einen Leitstier
+suchen mußte. Wir kreisten die ein, die wir haben wollten, und trieben
+sie in einen Korral. Dort ließ ich die, die ich für die geeignetsten
+hielt, hungern. Nebenher wurden unausgesetzt die zwei- und dreijährigen
+Kühe ausblockiert, die Ochsen und die übrigen Stiere. Ich sah mir jedes
+einzelne der Tiere an, ob es gesund sei, dann kamen alle in eine große
+umzäunte Weide, damit die, die den Transport mitzumachen hatten, wußten,
+daß sie zusammengehörten. Als wir etwa dreihundert blockiert hatten und
+sie in der Sperrweide waren, hielt ich die Stiere für reif.
+
+Ich jagte sie in die Sperrweide, und hier ging der Entscheidungskampf,
+wer der Leitstier sein würde, los. Die keinen Wert darauf legten,
+Herrscher zu sein, drückten sich so weit wie möglich. Fünf kämpften sich
+aus. Der Sieger raste, noch schwer blutend, gleich auf eine der
+schönsten Kühe, die sich schon erwartungsvoll herangedrängt hatten. Die
+übrigen Stiere mußten wir sofort doktern. Als der Sieger ausgetobt hatte
+und wieder Vernunft annahm, bekam er auch seine Medizin. Denn wenn man
+die Wunden nicht gleich behandelt, sind in ein paar Tagen dicke Würmer
+drin, und die wieder herauszukriegen, dauert lange. Inzwischen kann das
+Tier draufgehen.
+
+Fängt es an zu magern, setzt eine andre Gefahr ein. Dann wird es von den
+Zecken bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Zecken gehen hauptsächlich
+an magerndes Vieh, an gesundes gehen sie nur in kleiner Anzahl, die sich
+leicht bekämpfen läßt.
+
+
+ 18
+
+Als wir die tausend Köpfe ausblockiert hatten, gab mir Mr. Pratt fünf
+drauf als Krankgut, weil zwischen tausend Stück Vieh immer einiges sein
+mochte, das krank war, ohne daß man es gleich sah, und das den Transport
+nicht aushielt.
+
+Dann bekam ich hundert Pesos Wegegeld und einige Schecks, die ich
+unterwegs einlösen durfte, wenn mir Geld fehlte. Ferner erhielt ich den
+Lieferschein und endlich eine Karte, eine Land- und Wegkarte.
+
+Von dieser Karte, obgleich sie eine amtliche Karte war, will ich besser
+nicht sprechen; denn auf eine Karte aus Papier kann man alles mögliche
+zeichnen: Wege, Flußläufe, Dörfer, Städte, Grasflächen, Teiche,
+Gebirgspässe und was sonst nicht noch alles. Das Papier weigert sich
+nicht, das alles aufzunehmen.
+
+Aber was darauf gezeichnet ist, braucht noch lange nicht in Wirklichkeit
+auch da zu sein. Ich habe auf Reisen Karten gehabt, amtliche Karten, die
+als die besten galten. Da war eine Stadt mit Namen drauf gezeichnet. Als
+ich zu der Stelle kam, war noch nicht einmal eine Indianerhütte zu
+finden. Die Stadt war vor zwanzig Jahren geplant worden und wurde
+seitdem in jeder Karte geführt, obgleich nie jemand daran ging, sich
+dort niederzulassen. Das wäre auch nicht gut gegangen, weil da
+meilenweite Sümpfe und Moraste waren.
+
+Böser ist es schon mit solchen Sachen, die nicht auf die Karte gemalt
+sind, die aber in Wirklichkeit vorhanden sind, und, was das
+Allerschlimmste ist, ganz unerwartet vorhanden sind.
+
+Es ist unangenehm, wenn man denkt, man kommt in ein sandiges Gelände und
+verschwindet mit seiner ganzen Herde in einem Sumpf. Und es ist ebenso
+peinlich, wenn auf der Karte eine schön grün gemalte Prärie
+eingezeichnet ist, und in Wahrheit ist es eine weite Sandwüste oder ein
+unwegsames Felsengebirge, das man zu kreuzen hat. Reist man allein, so
+ist das schon widerwärtig genug. Reist man aber in Begleitung einer
+Rinderherde, für deren Wohl man verantwortlich ist, so fängt es an,
+tragisch zu werden. Die Herde will essen und trinken, sie soll kein
+Gewicht verlieren, sondern zunehmen. Und am zweiten Tage fängt das arme
+Vieh in seinen Durstqualen an zu brüllen, daß man nur gleich so
+mitbrüllen möchte aus Mitleid.
+
+Wären die Karten aber wieder gut, so gut wie sie in den alten
+dichtbesiedelten Ländern sind, dann könnte man solche großen Herden
+nicht züchten und nicht transportieren. Mr. Pratt hatte zwölftausend
+Stück Rindvieh, und er war nur ein kleiner Züchter. Denn wie sollen gute
+Karten gemacht werden, wenn weder das Geld dafür vorhanden ist noch die
+Bevölkerung, die ein Bedürfnis für solche Karten hat? Die großen Minen-
+und Ölkompanien machen sich ihre Karten selbst, aber nur gerade die
+Distrikte, wo sie interessiert sind, und in diese Karten zeichnen sie
+nur eben das ein, was für die Kompanie speziellen Wert hat. Im
+Verhältnis zur Größe des Landes sind diese Distrikte nur Pünktchen auf
+der Karte.
+
+Ein Kompaß war für meine Zwecke ohne Nutzen, weil er nicht das sagt, was
+man wissen will, und das ist: Wo sind die Weiden? Wo ist Wasser für
+tausend Köpfe Vieh? Wo sind die Pässe über die Gebirge? Wo sind die
+Furten durch die Ströme?
+
+Drei Packmulas nahm ich mir mit und Medizin, um krank werdendes Vieh zu
+doktern, Kreolin, Alkohol, Salbe und eine Eisensäge, falls Hörner
+gekappt werden müssen. Denn die Hörner des Viehes unterliegen hier
+denselben Krankheiten wie die Zähne der zivilisierten Menschen. Die
+Fäule frißt im Innern des Hornes, und das Tier magert ab, weil es vor
+Zahnschmerzen – richtiger Hornschmerzen – nicht mehr frißt.
+
+Mit Mrs. Pratt war ich in den Tagen, die wir für das Ausblockieren und
+Vorbereiten des Transportes brauchten, sehr gut Freund geworden. Sie war
+keineswegs ein solcher Hausdrachen, wie sie am ersten Tage erschienen
+war. Ganz im Gegenteil, sie war ein lustiger Bursche, immer vergnügt und
+guter Dinge. Sie hätte die Banditen bekämpft wie ein alter Rancher.
+Jetzt in den letzten drei Jahren kam es nur ganz selten vor, daß sich
+Banditen auf dem Rancho sehen ließen, aber vordem war beinahe jede Woche
+was los, und das Ranchohaus zeigte Dutzende von Kugellöchern.
+
+Fluchen konnte Mrs. Pratt, daß es eine wahre Freude war, ihr zuzuhören.
+Das ging bei jedem zweiten Wort „Son of a bitch“, „Bastard“, „F-ing
+Injun“, „F-yeself“ und was der schönen Dinge mehr sind. Auf einem
+solchen Rancho ist es ja nun verflucht einsam, und die Nächte sind lang.
+Selbst im Hochsommer ist es um sieben Uhr stockfinster, weil es
+Dämmerungen nicht gibt. Und man konnte es Mrs. Pratt nicht verdenken,
+daß sie das Leben so intensiv lebte, wie es das Dasein auf einem
+Viehrancho nur zuläßt. Wie soll so eine arme Frau die überschüssigen
+Kräfte, die ihr verbleiben, weil sie nicht im Dorfe oder in der Stadt
+den ganzen Tag mit den Nachbarn herumschwätzen und klatschen kann,
+verwenden? Sie flucht wie ein alter Steuermann eines Klippers. Und alles
+ist „Hurensohn“, ihr Mann, ich, die Indianer, die Fliege, die in die
+Kaffeetasse fällt, das Indianermädchen in der Küche, der Finger, in den
+sie sich geschnitten hat, die Henne, die auf den Tisch flattert und die
+Suppenschüssel umwirft, ihr Pferd, das zu langsam läuft, na, kurz: jedes
+lebende und leblose Ding zwischen Himmel und Erdmittelpunkt ist ein
+Hurensohn.
+
+Sie hatten ein Grammophon, und wir tanzten beinahe jeden Abend. Ich
+tanzte zwar lieber mit dem indianischen Küchenmädchen aus mancherlei
+Gründen, aber Mrs. Pratt tanzte bei weitem besser. Wir kamen zu so guten
+Verhältnissen miteinander, daß sie mir eines Abends in Gegenwart ihres
+Mannes ganz offen sagte, daß sie mich zu heiraten wünsche, falls ihr
+Mann stürbe oder sich scheiden ließe. Sie erklärte mir gleichfalls in
+Gegenwart ihres Mannes, daß sie mich recht gern habe, und daß mein
+einziger Fehler das Saufen sei. Aber das sei kein unausrottbarer Fehler,
+und sie würde mir diesen Fehler schon bald austreiben und mir den
+Tequila so lange mit Petroleum mischen, bis ich mich davor ekle. So habe
+sie ihrem Manne das Saufen auch abgewöhnt, dem Hurensohn.
+
+Mir war nicht bange davor. Das Resultat, das sie bei Mr. Pratt erzielt
+hatte, gab mir die Sicherheit, daß wenn ich Mrs. Pratt als nachgelassene
+Witwe eines Tages heiraten sollte, ich keine Sorge zu haben brauche, daß
+ich den Tequila oder sonst etwas abschwören müßte. Wenn Mr. Pratt die
+Wege fand und er den Petroleum nicht herausschmeckte, was bei dem
+Tequila überhaupt schwer ist, weil er an und für sich nach Petroleum
+schmeckt, so würde ich wohl auch zu der einem Manne zukommenden Ration
+gelangen. Schließlich mußte man ja auch Vieh verkaufen in der Stadt, und
+da konnte sie einem ja nicht immer nachlaufen, auch wenn sie mitreisen
+sollte. „Nur nicht von Weibern sich unterkriegen lassen, wenn man etwas
+für notwendig und vernünftig hält. Es führt zu nichts Gutem, und man
+gewöhnt sich nur Laster an, die man nicht wieder los wird. Entweder man
+säuft, oder man läuft mit andern Weibsbildern herum“, sagte mir Mr.
+Pratt. „Eine Erholung von der Ehe muß der Mensch doch haben, wenn er das
+Leben ertragen will.“
+
+Er hatte ganz recht. Am besten, man stellt der Frau vorher die Frage:
+
+„Soll ich zum Tequila halten oder lieber Mäuschen jagen?“ Jedenfalls,
+wenn es dazu kommen sollte, daß es mit Mrs. Pratt und mir ernst wird,
+werde ich ihr diese Frage stellen. Dann habe ich von vornherein die
+Offensive ergriffen, und sie kann sich entscheiden. Ich glaube dann
+nicht, daß sie mir den Tequila mit Petroleum mischen wird, sondern sie
+wird eine gute Sorte im Hause halten. Wenigstens für die Nachtkappe. Sie
+ist eine feine Frau, Mrs. Pratt. Ich lasse nichts auf sie kommen. Eine
+Frau, die mit dem wildesten Pferd fertig wird, die fluchen kann, daß
+sich ein Wachtmeister vor Scham in eine Erdhöhle verkriechen muß, die
+ihrem Manne alle Wünsche und jede Laune erfüllt – wie er mir einmal
+vertraulich erzählte, ohne dabei seine Frau zu beleidigen –, vor der die
+indianischen Cowboys zittern und die Banditen nicht wagen, die Veranda
+zu betreten, eine Frau, die mir in Gegenwart ihres Mannes, den sie
+liebt, ganz sachlich erklärt, daß sie mich zu heiraten wünscht, wenn er
+stirbt, oder wenn er ihr fortläuft – verflucht noch mal, eine solche
+Frau kann einen wohl bis in den tiefsten Busch und in die fernsten
+Gedanken verfolgen, auch wenn man sich sonst nicht gerade viel aus dem
+kreuzgottverfluchten Weibsvolk macht.
+
+„He, cantinero, una botella de tequila, eine ganze Flasche. Auf dein
+Wohl, Ethel Pratt. Ich besaufe mich jetzt auf deine Gesundheit. Der
+Petroleumgeschmack soll mich erinnern an – na – na ja, an dich, ganz wie
+du bist, an alles, was du hast. Salud, Ethel!“
+
+Sie stand auf der Veranda und winkte mit der Hand: „Viel Glück, Boy.
+Sind immer willkommen auf dem Rancho. Hey, Suarez, du Himmelhund, du
+verdreckter Sohn einer alten gottverfluchten alten Hure, siehst du denn
+nicht, daß der schwarze Jungstier ausbricht, er bockt, der Hurensohn von
+einem Stier. Wo hast du denn deine stinkenden verfi– Augen? Well boy,
+good-bye!“
+
+Ich schwenkte den Hut, und Gitano fegte ab mit mir.
+
+
+ 19
+
+Es ging los, das Geschrei und das Gejohle, das Zurufen, das Heulen und
+Schrillen der Indianer, das Pfeifen der kurzstieligen Peitschen, das
+Trampeln der Hufe, das Toben einer scheu werdenden Kolonne, die
+plötzlich losraste und einblockiert werden mußte, damit sie den Anschluß
+an den Haupttrupp nicht verliere. Den ersten Tag begleitet uns Mr.
+Pratt. Der erste Tag gehört mit zu den härtesten. Die Herde ist noch zu
+lose. Das Zusammengehörigkeitsgefühl stellt sich erst nach einigen Tagen
+des Transportes ein. Dann kennt die Herde die Leitstiere und bekommt den
+Geruch der Verwandtschaft zueinander. Dann bildet sich die Familie oder,
+eigentlich besser, das Volk. Nach einigen Tagen weiß jedes Tier, daß es
+hier zu diesem Trupp gehört, und sie bleiben zusammen.
+
+Freilich darf man nicht glauben, daß sie so schön zusammenbleiben wie
+eine Schafherde in Europa, die von einem Hirten und einem Hunde
+zusammengehalten wird. Solche Rinder, die ihr bisheriges Leben auf einer
+unermeßlichen Prärie verbracht haben, sind an Räumlichkeiten gewöhnt.
+Sie drängen nicht aufeinander, sie streuen fortgesetzt. Die paar Hunde,
+die wir mit hatten, konnten nicht viel schaffen. Sie ermüdeten und waren
+nur für Kleinarbeit zu gebrauchen. Immerfort mußte blockiert und
+eingekreist werden. Ein unausgesetztes Galoppieren und Schreien und
+Schrillen.
+
+Ich hatte eine Trillerpfeife als Signalpfeife für die Boys, und der
+Vormann hatte eine einfache Pfeife, damit man beide Signale
+unterscheiden konnte. Dem Vormann gab ich die Spitze, und ich nahm den
+Schwanz. In der Rückgarde übersieht man besser das ganze Feld des
+Transports. Es läßt sich besser dirigieren, während die Front natürlich
+auch wieder ihre besonderen Kniffe verlangt.
+
+Oh, was für einen schöneren Anblick gibt es, als so eine Riesenherde
+gesunder halbwilder Rinder! Dort vor einem trampt und stampft sie, die
+breiten Nacken, die runden Leiber, die mächtigen stolzen Hörner. Das ist
+ein wogendes Meer voll unsagbarer Schönheit. Gigantische Stärke
+lebendiger Natur gebändigt unter einem Willen. Und jedes Hörnerpaar ist
+ein Leben für sich, ein Leben mit eignem Willen, eignen Wünschen, eignen
+Gedanken, eignen Gefühlen.
+
+Von der Höhe seines Pferdes aus überblickt man das Gewoge der Hörner und
+Nacken. Man könnte so von einem Rücken zum andern Rücken über die ganze
+Herde wandern bis zu den läutenden Stieren an der Front.
+
+Die Tiere brüllten ab und zu, oder zankten sich und stießen sich. Es
+wurde geschrien und gerufen. Die Glocken läuteten. Die Sonne lachte und
+glühte. Alles war grün. Das Land des ewigen Sommers. O du schönes, o du
+wunderschönes, uraltes, sagen- und liederreiches Land Mexiko!
+Deinesgleichen gibt es nicht wieder auf dieser Erde.
+
+Ich mußte singen. Und ich sang, was immer mir einfiel, Choräle und süße
+Volkslieder, Liebeslieder und Gassenhauer, Opernarien, Sauflieder und
+Dirnenlieder. Was kümmerte mich der Inhalt der Lieder? Was ging mich die
+Melodie der Lieder an? Ich sang aus froher freier Herzensfreude.
+
+Und welch eine Zauberluft! Der heiße Odem des tropischen Busches, die
+warme, schwüle Ausdünstung dieser Masse von wandernden Rindern, die
+schweren Wellen eines fernen Sumpfes, die vom Winde getragen
+herüberwogten.
+
+Dicke Schwärme summender Beißfliegen und andrer Insekten kreisten über
+der trottenden Herde, und dicke Schwaden schillernder grüner Fliegen
+folgten uns nach, um sofort über den Dünger herzufallen. In ganzen
+Völkern begleiteten uns Schwarzvögel, die sich auf die Rücken der Tiere
+niedersetzten, um die Zecken aus der Haut zu picken. Millionen von
+Lebewesen fanden ihre Nahrung durch diese gewaltige Herde. Leben und
+Leben, und überall nichts als Leben.
+
+Unser Marsch führte nun einige Tage über Landwege. Zu beiden Seiten
+waren die Felder und Weiden eingezäunt mit Stacheldraht.
+
+Umzäunte Weiden dürfen ohne ausdrückliche Genehmigung des Besitzers
+nicht eingebrochen werden. Unsre Herde mußte auf den Wegen weiden. Sie
+hatte reichlich zu fressen, und wir trafen auch genügend Pfuhle an, die
+noch von der Regenzeit her mit Wasser gefüllt waren.
+
+Aber wenn Autos oder Fuhrwerke oder Karawanen die Wege passierten, gab
+es Arbeit. Wir mußten die Tiere zur Seite drängen. Dabei scheuten sie,
+brachen aus oder kehrten um und rasten einzeln oder in Trupps
+kilometerweit zurück, und wir hatten hinterherzujagen und sie wieder zum
+Anschluß zu bringen.
+
+Viel schwerer war die Arbeit, wenn wir auf offne Weiden kamen, wo andres
+Vieh in großen Herden bereits weidete, oft ohne Aufsicht. Nicht immer,
+aber doch zuweilen mischen sich die Herden, und man muß sie lösen. Wir
+hatten einmal dreiviertel Tag zu arbeiten, um die Mischung zu lösen.
+Denn von dem fremden Vieh darf man nicht ein einziges Stück aus Versehen
+mitführen. Das gibt heillosen Spektakel. Ich und an letzter Stelle Mr.
+Pratt waren verantwortlich für Vieh, das durch unsern Transport einer
+andern Herde verlorenging.
+
+Zuweilen wird man die fremden Tiere nicht los. Sie wollen durchaus
+folgen. Vielleicht, daß sie den Stier mögen, oder daß sie den Geruch
+unsrer Herde lieben. Ebenso kommt es vor, daß sich ein Stück unsrer
+Herde mit einer weidenden Herde mischt und dort nicht mehr heraus will,
+sondern bei jener fremden Herde bleiben möchte. Das soll man auch immer
+gleich wissen, daß man ein fremdes Stück in der eignen Herde
+transportiert, oder daß ein eignes Stück dort zurückgeblieben ist. Die
+Brandzeichen sind oft sehr ähnlich, oft sehr verwischt und unleserlich.
+
+Es ist dann gut, wenn man die eigne Herde gut erzogen hat, so daß sie
+sich nicht mit den andern mischt und die fremden Tiere ganz von selbst
+ausscheidet.
+
+Jagt man die fremde Herde beiseite, was der Vormann zu tun hatte mit
+Hilfe eines der Treiber, ehe unsre Herde nahe kam, so konnte es doch
+auch oft geschehen, daß einige Dutzend Köpfe der eignen Herde glaubten,
+sie seien gemeint, und mit der fremden Herde davonjagten. Dann wurde das
+Durcheinander beinahe unentwirrbar, und es kostete Schweiß und Kehlen,
+die von dem vielen Schreien rauh waren wie Sandpapier.
+
+Ein General braucht sich gar nichts auf seine Kunst einzubilden. Ein
+Armeekorps Soldaten über Land zu bringen, ist die reine Spielerei
+gegenüber der Arbeit, tausend Köpfe wild aufgewachsener Rinder durch
+unwegsames und halbzivilisiertes Land zu transportieren. Den Soldaten
+kann man sagen, was man von ihnen will. Rinderherden kann man nichts
+sagen, da hat man alles selbst zu tun. Man ist Kommandant und
+Kommandierter in derselben Person.
+
+Gegen fünf Uhr des Nachmittags machten wir in der Regel halt. Manchmal
+früher, manchmal später. Das hing davon ab, ob wir Weide hatten und
+Wasser. Einen Tag können es die Tiere ohne Wasser aushalten, wenn sie
+frisches Gras haben, im Notfalle auch zwei Tage. Aber am dritten Tage
+wird die Sache bedenklich. Hatte ich keinen Führer bekommen können, oder
+war kein Wasser zu sehen, dann ließ ich die Tiere laufen. In den meisten
+Fällen fanden sie selbst Wasser. Aber das Wasser lag dann oft so, daß
+wir einen, zwei oder gar drei Tage, wenn nicht mehr, in unsrer Weglinie
+verloren, weil wir ganz quer abwandern mußten.
+
+Wir bildeten zwei Lager des Nachts. Eines in Front, eines im Schwanz. Es
+wurde Feuer gemacht, Kaffee gekocht, Bohnen oder Reis gekocht, Brot
+gebacken und getrocknetes Fleisch dazu gegessen. Dann wickelten wir uns
+in unsre Decken und schliefen auf der glatten Erde, mit dem Kopf auf dem
+Sattel.
+
+Zwei Wachen mit Ablösung stellte ich aus, um Tiger zu verscheuchen, und
+um zu verhindern, daß einzelne Tiere abstreuen. Unter dem Vieh gibt es
+ebensogut Nachtbummler wie unter den Menschen.
+
+Die Tiere sind lange vor Sonnenaufgang auf und beginnen zu weiden. Wir
+ließen ihnen Zeit, und dann ging es weiter. Mittag rasteten wir
+abermals, damit die Tiere sich etwas suchen konnten, und damit sie
+verdauen und käuen können.
+
+Bis jetzt hatte ich nur einen Stier verloren. Er hatte gekämpft und war
+so schwer gespießt worden, daß wir ihn abstechen mußten. Wir schnitten
+das beste Fleisch aus, schnitten es in schmale Streifen und trockneten
+es. Für den Verlust aber hatte eine Kuh ein Kalb geworfen, eine Nacht
+vorher. Das gibt eine neue Schwierigkeit. Das kleine Kälbchen kann den
+Marsch nicht mitmachen. Aber töten möchte man es auch nicht. Man möchte
+ihm gern sein junges freudiges Leben lassen, und man fühlt auch mit der
+Mutter, die es so liebevoll beleckt und abschleckt. Was blieb übrig? Ich
+nahm das Kälbchen zu mir aufs Pferd, und wir wechselten ab: alle halbe
+Stunde nahm es ein andrer aufs Pferd.
+
+Das Kälbchen war unser Liebling. Es war eine Freude, rührend
+mitanzusehen, wenn wir haltmachten und die Mutter herbeikam, um ihr
+Kindchen in Empfang zu nehmen. Sobald wir es vom Pferde ließen, war die
+Mutter da. Sie wußte, daß das Kälbchen im Transport ist, und sie hielt
+sich immer in der Nähe des Reiters, der es vor sich im Sattel hatte. Das
+war eine Schleckerei und Leckerei, eine Blökerei und eine Brummerei,
+wenn wir das Kälbchen der Alten an den Euter setzten. Die Alte brachte
+sich bald um vor Freude.
+
+Als das Kleine schwerer wurde, mußten wir es auf eines der Packmulas
+verladen. Es dauert lange, ehe so ein Jungtier marschieren kann. Hätten
+zu viele Kühe geworfen, dann wäre es uns nicht möglich gewesen, den
+Müttern diesen kleinen Liebesdienst zu erweisen. Aber es kam doch noch
+dreimal vor, und ich brachte es nicht fertig, die Kleinen zu töten.
+
+
+ 20
+
+Undankbar zu sein, ist eine Charaktereigenschaft der Menschen, die den
+Menschen so sehr Natur ist, daß man es am besten dabei bewenden läßt und
+sich deswegen nicht kränkt. Die Natur aber ist dankbar für jede
+Kleinigkeit, die man ihr erweist. Kein Tier und keine Pflanze vergißt
+den Trunk Wasser, den man ihnen spendet, oder die Handvoll Futter oder
+die Mütze voll Dünger, die man ihnen gab. So dankbar zeigten sich auch
+die Kälbchen und die Mütter der Kälbchen für den Liebesdienst, den wir
+ihnen erwiesen hatten.
+
+Wir kamen an einen Fluß, und weder wir noch der Führer konnten eine Furt
+ausmachen. Weiter stromabwärts fanden wir eine Fähre. Aber der Fährmann
+forderte für jeden Kopf so viel, daß das Übersetzen eine beträchtliche
+Summe ausgemacht haben würde. Solange man die hohen Fähr- und
+Brückengelder sparen kann, tut man es; weil noch genügend Brücken und
+Fähren kommen können, die man unbedingt gebrauchen muß, wenn der Strom
+zu breit oder zu reißend ist, oder wenn man an den Fluß nicht heran
+kann.
+
+Während ich mit dem Fährmann verhandelte, rastete die Herde etwa sechs
+Kilometer stromauf. Wir hielten hier für zwei Tage, weil vortreffliche
+Weide war und wir die Tiere einmal gründlich vollsaufen und gründlich
+baden lassen wollten. Sie müssen zuweilen baden, des Ungeziefers wegen,
+das beim Baden abstirbt. Die Tiere bleiben zu diesem Zweck stundenlang
+im Flusse stehen, an Stellen, wo ihnen das Wasser bis zur Hälfte des
+Bauches reicht.
+
+Nun aber, nachdem die beiden Erholungstage vorüber waren, mußten wir den
+Fluß kreuzen. Die Herde mußte durch. Wir begannen zu treiben, aber
+sobald die Tiere den Boden verloren, kehrten sie zum Ufer zurück. Der
+Fluß war nicht sehr breit, hatte aber in der Mitte tiefe Rinnen.
+
+Endlich kam ich auf einen Gedanken. Wir hackten mit den Machetes Stämme
+ab, schälten Bast und bauten ein kleines leichtes Floß. Dann knüpften
+wir die Lassos zu einer langen Leine zusammen, und ein Indianer schwamm
+hinüber zum andern Ufer mit dem Ende der Leine. Wir knüpften die Leine
+am Floß fest und machten eine zweite Leine an. Dann packte ich eins der
+Kälbchen rauf, und drüben der Mann zog das Floß rüber und landete das
+Tierchen. Wir zogen mit unsrer Leine das Floß zurück und das zweite
+Kälbchen wanderte rüber. Nach wenigen Minuten hatten wir alle vier
+Kälber auf der andern Seite. Und als sie dort so ärmlich und wackelnd
+auf ihren mageren stöckigen hohen Beinen allein standen, fingen sie
+erbärmlich an zu blöken. Es hörte sich kläglich an. Und wenn uns schon
+das traurige Blöken dieser kleinen hilflosen Geschöpfe zu Herzen ging,
+um wieviel mehr den Müttern. Kaum hatten die Kleinen ein paarmal
+geblökt, da setzte eine der Mütter ins Wasser und schwamm rüber. Gleich
+darauf folgten die andern drei Mütter. Das Wiedersehen war herzlich.
+Aber wir hatten keine Zeit, uns lange darum zu bekümmern; denn hier
+kriegten wir jetzt tüchtig Arbeit. Die Kühe drüben blökten nun auch,
+weil sie von der Herde getrennt waren. Sie fürchteten sich allein, und
+sie sehnten sich zurück nach ihrem Volke. Die Stiere hörten das Blöken
+eine Weile, und dann machten sie den Übergang. Der Leitstier war nicht
+dabei. Es waren jüngere Stiere, die offenbar glaubten, sie könnten dort
+drüben auf diese Weise ein eignes neues Reich gründen, wo sie von den
+stärkeren Stieren nicht gestört würden. Nun aber erwachte hier die
+Eifersucht der größeren Stiere und auch des Leitstieres. Sie schnaubten
+und dann sausten sie los, um den naseweisen Grünlingen da drüben die
+Flötentöne beizubringen.
+
+Auf der Wasserfahrt aber kühlten sie ab, und als sie drüben waren,
+hatten sie die Lust zum Kämpfen verloren, trotzdem sie hier so wütend
+geschnauft hatten. Aber die Stiere waren drüben und brüllten, und die
+Kühe hier auf dieser Seite hatten keine Lust, ihr ferneres Leben ohne
+Stiere zu verbringen. Und da sie gewöhnt waren, den Stieren immer und
+überall zu folgen, so folgten sie auch jetzt, und bald war das Wasser
+angefüllt mit schnaubenden, plantschenden, prustenden Rindern, die sich
+bemühten, hinüberzukommen. Es war ein wildes Durcheinander von gehörnten
+Köpfen und schlagenden und peitschenden Ungetümen. Manche kehrten wieder
+um, wenn es ihnen zu gefährlich schien.
+
+Und das war der Augenblick, wo wir eingreifen mußten. Es durfte nicht
+zur Manie werden, dieses Umkehren, sonst konnte die halbe Herde
+umkehren, weil sie ja keine Richtung im Wasser halten können, sondern
+nur drauflos platschen und auf ein Ufer losgehen.
+
+Wir schrien und peitschten und setzten mit den Pferden rein und jagten
+die Tiere zusammen und immer rüber und rüber zur andern Seite.
+
+Einzelne kamen ins Schwimmen und ins Treiben. Die hatten wir abzufangen
+und sie zum Ufer zu dirigieren. Drei gingen mir verloren, die abtrieben
+und die wir nicht holen konnten. Das war der ganze Verlust, den ich bei
+diesem Übersetzen hatte. Er war billig. Oft wird es teurer. Die
+Verlorenen waren an sich nicht viel wert. Sie hatten uns schon auf dem
+Transport Schwierigkeiten gemacht. Sie gehörten zu den Schlappen. Und je
+kleiner man den Trupp der Marschhinker halten kann, um so besser. Wir
+ließen die Tiere drüben wieder rasten und machten gleich Lager für die
+Nacht. In derselben Nacht wurde mir eine schöne Zweijährige von einem
+Jaguar zerrissen. Es war so rasch und so lautlos zugegangen, daß niemand
+etwas gehört hatte. Wir sahen es am nächsten Morgen nur an dem Kadaver
+und an den Fährten, was sich in der Nacht abgespielt hatte.
+
+In jeder Hinsicht war ich billig davongekommen. Das Übersetzen mit der
+kleinen Fähre würde nach meiner Schätzung eine volle Woche gedauert
+haben. Auch dabei konnten Tiere verlorengehen, die abspringen, oder die
+man bei einem so langen Aufenthalt an einem Fluß durch Tiger und
+Alligatoren einbüßt. Man hat an tausend verschiedene Kleinigkeiten und
+Nebenumstände zu denken. Dazu kam noch das Fährgeld. Und was ich an
+Fährgeldern, Brückengeldern, Wegegeldern, Weide- und Wassergebühren
+sparte, ging in meine Tasche und gehörte mit zu meinem Verdienst.
+
+Was ich hier bei diesem Übergang über den Fluß gespart hatte, verdankte
+ich niemand sonst als meinen lieben kleinen Kälbern. Sie hatten die
+Liebe, die wir ihnen und ihren Müttern entgegengebracht hatten,
+reichlich vergolten.
+
+
+ 21
+
+Es wäre ja kein echter Transport gewesen, wenn er ohne die Mithilfe von
+Banditen zu Ende gegangen wäre. Man erwartet sie eigentlich immer, und
+man wundert sich nur dann, wenn wieder einmal ein Tag vorüber ist, ohne
+daß sich der eine oder der andre Trupp hat sehen lassen. Ein solcher
+großer Viehtransport geht ja nicht schweigend vor sich. Dutzende von
+Indianern sehen ihn, und es spricht sich herum. Und man weiß nie, wer
+den Kundschafter macht für eine Horde. Die Mehrzahl der Banditenhorden
+sind die Überbleibsel der Revolutionsarmeen, die gegen die
+Arbeiterarmeen kämpften. Es sind die Reste jener Truppen, die von den
+Diktaturanhängern, von den großen Landeigentümern, von einer Clique
+amerikanischer Kapitalisten geworben wurden, und die bei Beendigung der
+Revolution übrigblieben, weil sie das Freischärlertum vorzogen.
+
+Eines Morgens kamen sie. Genauer gesagt, eines Morgens trafen wir sie.
+Sie kamen ganz unschuldig angeritten. Sie konnten Peons sein, die
+irgendwohin zum Markte ritten oder auf der Arbeitsuche waren. Sie kamen
+aus der Flanke. Wir zogen auf einem breiten Buschwege, und plötzlich
+standen sie an der Seite des Weges, am Ausgange eines schmalen
+Buschpfades.
+
+„Hallo!“ rief der Führer. „Keinen Tequila?“
+
+„Nein“, sagte ich. „Haben keinen. Aber wir haben Tabak mit. Könnt
+hundert Gramm abbekommen.“
+
+„Gut. Nehmen wir. Habt Ihr Maisblätter?“
+
+„Zwei Dutzend können wir wohl abgeben.“
+
+„Nehmen wir auch.“
+
+„He, wie ist es denn mit Geld? Der Transport hat doch Geld für die
+Fähren und Brücken und so.“ Jetzt wurde es heiß. Das Geld.
+
+„Wir haben kein Geld mit“, sagte ich. „Wir haben nur Schecks.“
+
+„Schecks ist Dreck. Kann ich nicht lesen.“
+
+Die Leute sprachen etwas zueinander, und dann kam der Sprecher
+herangeritten und sagte: „Wegen des Geldes wollen wir doch einmal
+nachsehen.“
+
+Er durchsuchte meine Taschen und das Sattelzeug, aber ich hatte kein
+Geld. Er fand nur die Schecks, und er sah ein, daß ich recht hatte.
+
+„Kühe können wir auch gebrauchen“, rief er nun.
+
+„Die brauche ich selbst“, sagte ich. „Ich bin nicht der Besitzer, ich
+habe nur den Transport.“
+
+„Dann tut es Ihnen ja nicht weh, wenn ich mir ein paar aussuche.“
+
+„Bitte,“ sagte ich, „helfen Sie sich nur. Ich habe eine hufkranke Kuh.
+Die Kuh ist gut, sie milcht in drei Monaten. Den Huf können Sie
+kurieren. Ist frisch.“
+
+„Wo ist sie denn?“
+
+Ich ließ sie heraustreiben, und sie gefiel ihm. Während der ganzen Zeit
+wanderte der Transport natürlich weiter. Der läßt sich ja nicht so auf
+Kommando halten, besonders wenn keine Weide da ist, sondern nur so
+dünnes mageres Gras am Wege entlang steht. Die guten Leute ritten neben
+mir her.
+
+Der Führer sagte: „Schön, eine haben Sie mir gegeben, jetzt bin ich an
+der Reihe und darf mir eine aussuchen.“
+
+Er suchte sich eine aus, aber er verstand nichts von Vieh. Sie war nicht
+viel wert. Ich verschmerzte sie leicht.
+
+„Nun dürfen Sie mir wieder eine aussuchen.“
+
+Er bekam sie. Dann suchte er wieder eine aus. Diesmal nahm er eine der
+milchenden.
+
+„Jetzt sind Sie wieder an der Reihe, Senjor“, sagte er.
+
+Ich versuchte es mit einem Scherz. Ich rief einen meiner Leute heran,
+der das Kalb jener Kuh trug, die sich der Wegelagerer ausgesucht hatte.
+„Hier haben Sie das Jungtier dazu“, sagte ich und händigte ihm das
+Kälbchen ein. Mit dem Angebot war er sehr zufrieden, und er ließ das
+Kalb für ein Volltier gelten. Das tat er nicht aus Generosität. Nein,
+viele der Indianer können die Kühe nicht melken. Sie können nur melken,
+wenn das Kalb gleichzeitig saugt, sonst kriegen sie keinen Tropfen aus
+den Zitzen. Die Milch muß so halb von allein fließen, die Kuh muß
+glauben, daß sie die Milch dem Kalb gibt. Darum war ihm das zugehörige
+Kalb so willkommen, denn nun konnte er die Kuh melken, und sie hatten
+Milch daheim.
+
+Dann war er wieder an der Reihe. Als sie fortritten, zogen sie mit
+sieben Kühen und einem Kalb von dannen. Kostete mich, wenn ich das Kalb
+nicht rechnete, hundertfünfundziebzig Pesos. Denn auf welche Weise ich
+die Tiere verlor, das war gleichgültig. Was mir fehlte, wurde mir
+abgezogen. Mit den Banditen wurde gerechnet und mit den Zöllen, die man
+ihnen zu zahlen hatte. Es kam eben darauf an, wie man mit ihnen
+handelseinig wurde. Man mußte handeln mit ihnen wie mit Geschäftsleuten.
+Diplomatie spielte eine Rolle. Sie hätten ja auch mit fünfzehn abziehen
+können oder mit vierzig.
+
+Das alles sind Transportunkosten. Gehört zur Fracht. Kann überall
+geschehen. Woanders entgleist ein Zug, oder es verbrennt oder scheitert
+ein Schiff, und der Transport ist fertig. Zu all dem hat man die hohen
+Versicherungsprämien zu zahlen. Hier versichert niemand. Keine
+Versicherungsgesellschaft übernimmt das Risiko, oder sie übernimmt es
+nur zu Sätzen, die zu zahlen sich nicht lohnt. Woanders sind es die
+Verladekosten, die Fütterungskosten und wer weiß was sonst noch alles
+für Kosten. Hier sind es die Flußläufe, die Bergübergänge, die Pässe,
+die Schluchten, die Sandstrecken, die wasserlosen Strecken, die
+Banditen, die Jaguare, die Klapperschlangen, die Kupferschlangen, und
+wenn es ganz schief gehen soll, eine Seuche, die dem Vieh auf dem
+Marsche irgendwo von anderm Vieh, dem es begegnet, mitgegeben wird.
+
+Wenn man am Schlusse die Rechnungen vergleicht, sind die Unterschiede in
+den Transportunkosten nicht so groß, wie man vielleicht erwartet. Hier
+trägt es die Masse, die Masse der Aufzucht und die Masse des
+Transportes. Man kann sich natürlich mit den Banditen in einen Streit
+einlassen oder in eine Schießerei oder in Drohungen mit dem Militär.
+Warum nicht? Es gibt immer noch hin und wieder einen Narren, der es tut,
+und man sieht es manchmal so schön im Kino, wie die Banditen rennen,
+drei Dutzend vor einem smarten Kuhjungen. Ja, im Kino. In Wirklichkeit
+ist das alles ganz, aber ganz, ganz anders. Die Banditen rennen nicht so
+schnell. Und mit den Drohungen! Ach, du blauer Himmel! Das Militär ist
+weit, und das Land ist groß. Die Dörfer der Banditen sind unzugänglich,
+und die Offiziere der Regierungstruppen finden sie nicht auf den Karten.
+Die Familie des Banditen hat sechs Brüder, drei dienen beim regulären
+Militär, drei dienen bei den Banditen, die nur darauf warten, daß wieder
+ein Diktator, der von den amerikanischen Ölkompanien und Minenkompanien
+genügend unterstützt wird, irgendwo auftaucht. Und wie das so wechselt.
+Die drei Brüder, die bei den regulären Truppen dienen, fressen morgen
+vielleicht etwas aus und finden Unterschlupf bei den Banditen, während
+die drei Brüder bei den Banditen sich freiwillig der Gnade des
+Gouverneurs unterwerfen und sich in die reguläre Armee einreihen lassen,
+wo sie vortreffliche Banditenjäger werden, weil sie alle Pfade und
+Tricks kennen.
+
+Ausrottung der Banditen. Das läßt sich alles so schön in den Zeitungen
+empfehlen, und es läßt sich noch viel schöner von der amerikanischen
+Regierung, die das Land im Interesse der amerikanischen Großkapitalisten
+als Kolonie betrachten möchte, kommandieren, mit der Drohung, die
+diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Aber die Banditen lesen keine
+Zeitungen, und sie hassen die Amerikaner, und sie finden ihre Körbe am
+besten gefüllt, wenn es infolge der diplomatischen Auseinandersetzungen
+im Lande unruhig wird.
+
+Abgesehen von allem, es ist das gute Recht eines Banditen, sich zu
+nehmen, was er braucht. Dreihundert Jahre Sklaverei und Verluderung
+durch die spanischen Herren und Peitscher und Folterknechte, dann
+hundert Jahre Militärdiktatur und kapitalistische Cliquendiktatur von
+gewissenlosen Räubern und Banditen mit polierten Fingernägeln und
+Klubsesseln müssen das wundervollste und liebenswerteste Volk der Erde
+in Grund und Boden verlottern. In zivilisierten Ländern haben fünf Jahre
+Krieg die Völker so verludert, daß sie zwischen Recht und Unrecht nicht
+mehr durchfinden können, daß die Hälfte der Bevölkerung in jenen Ländern
+Verbrecher und die andere Hälfte Polizisten, Gefängniswärter und
+Staatsanwälte sind.
+
+Meine Banditen waren zufrieden, daß sie alles so leicht, so vergnügt und
+mit so angenehmer Unterhaltung bekommen hatten. Und ich war zufrieden,
+daß sie nicht mehr genommen hatten, und daß ich so billig loskam. Was
+hat sich da die Polizei hineinzumischen? Man wird ganz gut fertig, wenn
+man sich nicht um die Polizei kümmert. Ehe man nicht erschlagen ist,
+hilft einem die Polizei nicht. Und wenn sie endlich hilft, dann hilft
+sie nur dem Mörder und nicht dem Erschlagenen. Was hat der Erschlagene
+davon, wenn der Mörder oder der Bandit auf den Friedhof geführt und
+erschossen wird? Er wird davon nicht lebendig.
+
+Wir hatten jetzt einen weiten Umweg zu machen. Eine größere Stadt lag
+auf unserm Wege, und die mußten wir weitab liegen lassen, denn da gab es
+keine Weiden. Einen langen Flußlauf hatten wir hinauf zu wandern, und
+dann kam der Übergang über das Gebirge.
+
+Es wurde recht kühl. Reichlich Wasser war vorhanden, aber die Weiden
+wurden knapp. Die Tiere aßen das Laub der Bäume. Das Laub war ebenso
+sättigend wie Gras. Es schien dem Vieh eine angenehme Abwechslung zu
+sein, Laub zu weiden. Wenn ich die Rinder so geschickt das Laub
+abstreifen sah, so kam mir manchmal der Gedanke, daß die Rinder in einer
+fern zurückliegenden Zeit vielleicht gar keine Steppen- und Prärietiere
+gewesen sein mögen, sondern Waldtiere, in Wäldern, die Sträucher und
+niedrige, buschähnliche Bäume hatten. Wälder, die heute verschwunden
+sind, weil nur die hoch emporwachsenden Bäume überleben konnten.
+
+Der Paßübergang war mühevoll, und wir mußten alle unsre Aufmerksamkeit
+anwenden, um die Tiere gut zu leiten; denn sie waren Gebirge ja nicht
+gewohnt. Zwei rutschten ab. Darunter ein prächtiger Jungstier. Er
+rutschte mit seiner Kuh, während er gerade so lustig am Springen war.
+Liebestragödie. Wir konnten sie unten in der tiefen Schlucht liegen
+sehen, zerschmettert. Ich hatte auf mehr Abstürze gerechnet.
+
+Zwei Schlangenbisse erlebten wir auch. Wir sahen es am Morgen an den
+geschwollenen Füßen zweier Kühe. Wir untersuchten und fanden die
+Einhiebe der Fänge. Aber die Kühe hatten Glück gehabt. Die Schlangen
+hatten vorgebissen, auf Holz oder auf irgendein wildes Tier. So bekamen
+die Kühe nicht die volle Ladung eingespritzt. Wir behandelten sie mit
+Schneiden, Abknebeln und achtundneunzigem Alkohol. Da wir hier, nachdem
+wir den Übergang durch hatten, zwei Tage haltmachten, kamen die Kühe
+schön wieder hoch, und ich sparte sie.
+
+Am Abend fingen zwei Indianer an, sich gräßlich darüber zu streiten, was
+es für Schlangen gewesen seien. Der eine behauptete, es seien
+Klapperschlangen gewesen, während der andre darauf bestand, daß es
+Kupferschlangen gewesen seien.
+
+Ich schlichtete den Streit, der sehr ernst zu werden drohte, mit einem
+Vergleich. Ich sagte zu Castillo: „Wenn Sie geschossen oder gar
+erschossen sind, so ist es Ihnen doch sicher ganz gleichgültig, ob Sie
+mit einem Revolver oder mit einem Gewehr, ob mit einer Achter oder mit
+einer Siebener erschossen sind.“
+
+„Freilich, Senjor, ist das egal, wenn man schon geschossen ist, denn
+geschossen ist geschossen.“
+
+„Sehen Sie, Senjores, so ist es auch mit den Kühen. Sie sind von einer
+Giftschlange gebissen, und es ist ihnen ganz und gar gleichgültig, ob
+sie von einer Rattler oder einer Copper gebissen sind. Sie sind
+gebissen, und es tut ihnen weh. Um das übrige kümmern sie sich nicht
+einen Dreck.“
+
+„Sie haben recht, Senjor, es war eine Giftschlange, und was es für eine
+war, tut jetzt nichts mehr zur Sache.“
+
+Meinen Richterspruch fanden sie so klug, daß sie nicht mehr von den
+Schlangen sprachen, sondern nur von der Heilbarkeit der Schlangenbisse.
+Sie brachten alle möglichen indianischen Hausmittel zur Sprache, und
+dadurch endete der Streit der beiden.
+
+
+ 22
+
+Eines Morgens bei Sonnenaufgang, als wir den Aufbruch riefen und ich auf
+einen Hügel ritt, um von dort aus die Herde übersehen zu können und in
+die vorteilhafteste Richtung zu lenken, sah ich in der Ferne die Türme
+der Kathedrale liegen. Von leuchtendem Golde umflossen, stand das Ziel
+vor meinen Augen. Die Mühen waren zu Ende, und die Freude wartete in der
+Stadt, die im Glanze der Sonne badete. Ich ließ die Herde hier auf der
+Prärie und ritt zur Stadt. Ich sandte ein Telegramm an Mr. Pratt mit der
+Nachricht, daß ich hier sei. Dann ritt ich zurück zur Herde. Es war
+Abend, als ich zurückkam. Unsre Feuer loderten, und die beiden Männer,
+die Wache hatten, ritten gemächlich um die Herde und sangen die Tiere
+zur Ruhe.
+
+Die Nächte in den Tropen haben für den Menschen, der, solange wir ihn
+kennen, ein Taggeschöpf ist, etwas unsagbar Unheimliches an sich. Viel
+unheimlicher noch sind die tropischen Nächte für die Tagtiere. Kleine
+Herden kommen des Abends zum Ranchohaus, um in der Nähe der Menschen zu
+sein. Sie wissen es ganz genau, daß der Mensch sie beschützt. In den
+Wochen nach der Regenzeit, in denen die Moskitos und die Beißfliegen in
+der Luft schwirren, dick wie aufgewirbelter Staub, kommen die Rinder
+selbst am Tage von den Prärien heim und drängen sich um das Ranchohaus,
+wo sie auf Hilfe hoffen. Man kann ihnen keine Hilfe gewähren, weil man
+selbst Kopf, Gesicht und Hände mit Tüchern umwickelt hat, um sich gegen
+die Geister der tropischen Hölle zu schützen.
+
+Aber selbst die Riesenherden fangen an, unruhig zu werden, sobald die
+Sonne untergegangen ist. Sie umzirkeln die Hütten der Herdenaufseher und
+lagern sich rundherum. Die Wachleute umreiten die Herden während der
+ganzen Nacht. Abends, nach Sonnenuntergang, ziehen alle Männer herum und
+singen die Herde in den Schlaf. Dann erst beginnen die Tiere sich zu
+legen. Manche großen Viehzüchter überlassen es den Herdenmännern, den
+Cowboys, ob sie singen wollen oder nicht; sie halten es für überflüssig,
+für alten Kohl. Aber Vieh, das nicht eingesungen wird, ist nicht so gut
+wie andres, das in den Schlaf gesungen wird. Das Vieh bleibt die ganze
+Nacht hindurch unruhig, legt sich für zehn Minuten und springt wieder
+auf, um umherzuwandern und andres Vieh zu streifen und die Kameradschaft
+zu fühlen. Dieses Vieh ist am Morgen schläfrig, und weil es am andern
+Tage den verlorenen Schlaf nachholen muß, frißt es nicht so gut wie das
+gesungene. Es kommt infolgedessen viel langsamer in Form. Auf
+Transporten muß man erst recht singen; denn hier ist das Vieh viel
+unruhiger, weil es ja auf ungewohnten Prärien lagert. Würde man die
+Herde hier nicht in den Schlaf singen, hätte man es an der Marschzeit
+schwer zu büßen, weil die Herde dann am Tage mehr ruht, als es für den
+Marsch gut ist.
+
+Ich jedenfalls ließ jeden Abend singen, und die Männer taten es mit
+Vergnügen. Sie ritten langsam und gemütlich, steckten sich zuweilen eine
+Zigarette an, und dann sangen sie wieder. Und bei dem Singen legten sich
+die Rinder in dem Bewußtsein absoluter Geborgenheit hin und ruhten.
+Schläfrig sahen sie dem reitenden Manne nach, brummten und begannen zu
+schlafen. Wird auch des Nachts ab und zu gesungen, so ist das den Tieren
+nur um so lieber. Sie wissen, daß ihnen dann nichts geschehen kann, denn
+der Mensch ist in der Nähe und beschützt sie gegen die Schrecknisse der
+Nacht. In der Tat verscheucht das Singen der Männer die Jaguare und
+Berglöwen. Daß dieses Singen der Kuhmänner auch alle Menschen
+verscheucht, die sich unter Singen eben Singen vorstellen, erwähne ich
+nicht. Man braucht mich nur singen zu hören, dann weiß man die letzten
+Geheimnisse der Welt.
+
+Ich hatte die Kopfwache, die der Vormann hielt, auch hierher genommen,
+damit wir die letzten paar Abende noch alle zusammen sein konnten. Die
+Vorwache war überflüssig geworden, weil drüben der Fluß lag, der sich
+bis zur Stadt hinstreckte. Die Flanken konnten leicht gehalten werden
+von den beiden Wachen. Während die Leute rauchten und schwatzten,
+sattelte ich noch einmal auf und ritt die Herde ab, singend, pfeifend,
+summend und den Tieren zurufend.
+
+Klar wie nur der Nachthimmel in den Tropen sein kann, lag die
+schwarzblaue Wölbung über der singenden Prärie. Wie kleine goldne Sonnen
+standen die strahlenden Sterne in der satten Nacht. Und Sterne flogen
+umher, hunderte, tausende, als wären sie heruntergekommen von dem hohen
+Dom der Welt, um Liebe zu suchen und Liebe zu spenden und dann wieder
+zurückzukehren in die stille einsame Höhe, wo keine Brücke führt von dem
+einen zum andern. Die Glühkäferchen waren das einzige sichtbare Leben
+hier unten. Aber das unsichtbare sang mit Milliarden Stimmen und
+Stimmchen, musizierte mit Geigen und Flöten und Harfen, mit Zimbeln und
+Glöckchen. Und da lag meine Herde. Ein schwarzer, dunkler Brocken neben
+dem andern. Brummend, atmend und einen warmen, vollen, schwer lastenden
+Hauch erdischer Gesundheit verbreitend, der so reich war in sich, in
+seinem Unbewußtsein, der so wohl tat und so unendlich zufrieden machte.
+
+Mein Heer! Mein stolzes Heer, das ich über Flüsse führte und über
+Felsengebirge, das ich beschützte und behütete, dem ich Nahrung brachte
+und erfrischendes Wasser, dessen Streitigkeiten ich schlichtete und
+dessen Krankheiten ich heilte, und das ich Abend um Abend in den Schlaf
+sang, um das ich mich sorgte und härmte, um das ich zitterte, und das
+meinen Schlaf beunruhigte, um das ich weinte, wenn eines mir
+verlorenging, und das ich liebte und liebte, ach, so sehr liebte, als
+wäre es mein Fleisch und Blut! O du, der du ein Kriegerheer über die
+Alpen führtest, um in friedliche Länder den Mord und den Brand zu
+tragen, was weißt du von der vollkommenen Glückseligkeit, ein Heerführer
+zu sein!
+
+
+ 23
+
+Am nächsten Morgen kam der Salztransport heraus, und ich salzte die
+Tiere. Ich hatte ihnen nur einmal Salz gegeben während des ganzen
+Marsches. Man kann sich darauf nicht gut einlassen, wenn man nicht ganz
+genau weiß, daß man viel Wasser noch am selben Tag erreichen wird. Jetzt
+aber war das Salz von großem Wert. Sie konnten sich tüchtig danach
+volltrinken und kamen in Glanz und Pracht, als hätten sie neue Uniformen
+erhalten. Ihre Felle schimmerten, als wären sie mit Bronzelack
+übergossen worden. Ich konnte mich mit meinem Transport sehen lassen.
+Drei Tage später kam Mr. Pratt mit dem Kommissionär, der den Verkauf
+übernommen hatte.
+
+„Donnerwetter! Donnerwetter nochmal!“ sagte er immer wieder. „Das ist
+Vieh. Das geht wie warme Butter fort.“
+
+Mr. Pratt schüttelte mir die Hand und sagte: „Mensch, Gale, wie haben
+Sie denn das nur fertiggebracht? Ich habe Sie nicht vor Ende nächster
+Woche erwartet. Vierhundert habe ich schon verkauft. Dadurch, daß Sie so
+früh hier sind, rechne ich, daß wir innerhalb einer Woche das letzte
+Paar Hörner los sind. Es ist noch ein zweiter Transport von einem andern
+Züchter unterwegs. Und wenn Sie später gekommen wären, hätte das auf den
+Preis gedrückt; zweitausend Kopf in derselben Woche kann der Markt nicht
+tragen, ohne erheblich zu pressen. Kommen Sie nur mit zur Stadt
+gefahren, der Vormann kann den Rest jetzt allein schaffen.“
+
+Die beiden Herren waren mit dem Auto herausgekommen, und wir waren am
+frühen Nachmittag schon in die Stadt zurück. Wir rechneten ab, und ich
+bekam ein recht nettes Sümmchen. Zwei Kälbchen waren noch hinzugeboren
+worden, und so hatte ich im ganzen fünf, die mir als volle Köpfe
+angerechnet wurden, wodurch meine Verluste sich um diese fünf Köpfe
+verringerten.
+
+„Mache ich einen guten Preis,“ sagte Mr. Pratt, „dann gebe ich Ihnen
+noch einen Hunderter zur Belohnung. Sie haben ihn verdient. Mit den
+Banditen sind Sie ja billig losgekommen.“
+
+„Kein Wunder,“ sagte ich, „den einen kannte ich gut, ein gewisser
+Antonio. Ich habe einmal Baumwolle mit ihm gepflückt, und wir waren gute
+Freunde. Er sorgte dafür, daß es billig wurde.“
+
+„Ja, das ist es,“ meinte Mr. Pratt, „Glück muß man haben. Überall. Ob
+man Vieh züchtet, oder ob man sich eine Frau nimmt.“
+
+Er lachte laut auf und sagte: „Sie, hören Sie einmal, Junge. Was haben
+Sie denn mit meiner Frau gemacht?“
+
+„Ich? Mit Ihrer Frau?“ Mir blieb der Bissen im Munde stecken, und ich
+bin sicher, ich wurde etwas blaß. Frauen können so wundervoll
+unkontrollierbar sich benehmen. Sie kriegen zuweilen Einfälle und
+manchmal Anfälle. Fallen sogar ganz aus heiler Haut heraus in die
+Beichtwut. Die Frau wird ihm doch nicht etwa was geläutet haben? Sie sah
+mir gar nicht so aus, als ob sie alle ihre Geheimnisse an die Glocke
+hänge.
+
+„Als Ihr Telegramm ankam, da war sie wie toll und rief: Da siehst du
+wieder einmal, was du für ein Nichtstuer bist, und was du für ein
+überflüssiges Werkzeug bist. Da bringt dieser Junge die Herde rüber, als
+ob er sie in seiner Basttasche habe, und als ob sie ihm am Sattelknopf
+hinge. Das schaffst du in deinem ganzen Leben nicht. Das ist ein andrer
+Bursche, dieser F-ing son of a bitch.“
+
+„Um des Himmels willen, Mr. Pratt, Sie werden sich doch nicht etwa
+scheiden lassen.“
+
+„Scheiden lassen? Ich? Warum denn? Wegen so einer Kleinigkeit?“
+
+Er lächelte wieder so eigentümlich. Wenn ich doch nur wüßte, wie er das
+meint: „Kleinigkeit“? Das kann heißen, daß er alles weiß, und das kann
+auch ebensogut heißen, daß er überhaupt nichts weiß.
+
+„Nein“, fuhr er fort. „Warum soll ich mich denn scheiden lassen? Haben
+Sie Angst, daß ich mich scheiden lasse?“
+
+„Ja“, gestand ich.
+
+„Warum denn aber?“
+
+„Weil mich Ihre Frau dann doch heiraten würde. Sie hat es doch ganz
+offen erklärt.“
+
+„Ach so, ja. Ich erinnere mich, das hat sie gesagt. Wenn meine Frau so
+was sagt, dann tut sie es auch. Da kommen Sie nicht los davon, Junge.“
+
+Mir wurde ungemütlich zumute. Mr. Pratt merkte es, und er fragte:
+
+„Warum haben Sie denn da eine solche Angst? Gefällt Ihnen denn meine
+Frau nicht? Ich denke doch, daß –“
+
+Ich ließ ihn nicht zu Ende reden, denn vielleicht kam jetzt das heraus,
+was er wußte. Und ich hielt es für besser, diese Angelegenheit in der
+Schwebe und unentschieden zu lassen.
+
+„Freilich. Ihre Frau gefällt mir sogar sehr gut“, gestand ich.
+
+„Kann ich mir denken“, sagte Mr. Pratt.
+
+Das war nun wieder so, daß es alles und nichts bedeuten konnte.
+
+„Sehen Sie, Mr. Pratt,“ sagte ich nun, „es ist so eine dumme Sache. Ihre
+Frau gefällt mir sogar sehr. Aber, bitte, lassen Sie sich doch nicht
+scheiden. Sie vertragen sich doch so gut. Ich müßte sie ja dann
+heiraten. Es wäre ja vielleicht so übel nicht. Aber ich weiß doch gar
+nicht, was ich mit meiner Frau, entschuldigen Sie, bitte, was ich mit
+Ihrer Frau machen sollte.“
+
+„Na, was man mit jeder Frau macht. Ihr die Freude machen, die sie gern
+hat.“
+
+„Das ist es nicht. Es ist etwas andres. Ich weiß nicht, wie ich mit der
+Ehe fertig werde.“ Ich versuchte es ihm klarzulegen. „Ich weiß nicht,
+wie ich mich da benehmen soll. Ich halte das einfach nicht aus. Ich kann
+nicht stillhalten. Ich kann nicht stillsitzen auf dem Ursch, verstehen
+Sie. Ich muß vagabondieren. Da kann ich doch meine Frau nicht
+mitschleifen. Ich würde ausrücken, weil ich das nicht vertrage, den
+ganzen Tag und jeden Tag vor einem ordentlichen Tisch zu sitzen und
+jeden Tag ein richtiges Frühstück und Mittagessen zu bekommen. Das
+verträgt auch schon mein Magen nicht. Wenn Sie mir einen Gefallen tun
+wollen –“
+
+„Jeden. Schon erfüllt“, sagte Mr. Pratt gutgelaunt.
+
+„Lassen Sie sich nicht scheiden von Ihrer Frau. Sie ist eine so gute
+Frau, eine so schöne Frau, eine so kluge Frau, eine so tapfere Frau. So
+eine kriegen Sie nie wieder, Mr. Pratt.“
+
+„Das weiß ich. Deshalb lasse ich mich ja auch nicht scheiden. Ich habe
+nie daran gedacht. Ich weiß überhaupt gar nicht, wie Sie auf solchen
+Cabbage kommen. Hopp auf, wir gehen jetzt die Ablösung vom Kontrakt
+einweichen.“
+
+Wir zogen ab.
+
+Was ist denn da los? So viele Indianerweiber mit ihren Körben habe ich
+ja nie gesehen. So viele Tortillas zu verkaufen?
+
+„Was ist denn eigentlich los hier?“ fragte ich Mr. Pratt. „Man sieht ja
+nichts weiter als Tortillas und Tortillas und Tortillas.“
+
+„Die Bäcker streiken. Die Leute haben kein Brot und müssen alle
+Tortillas essen“, erklärte mir Mr. Pratt.
+
+„He, Mr. Pratt,“ rief ich da laut, mitten auf der Straße stehenbleibend,
+„da sehen sie gleich an diesem Beispiel, wie bitter Unrecht Sie und Mr.
+Shine mir getan haben.“
+
+„Mr. Shine und ich? Inwiefern?“
+
+„Sie haben doch beide behauptet, daß ich mich immer nur um Streiksachen
+kümmere, und daß überall, wo ich arbeite, ein Streik losgeht. Hier an
+dem Bäckerstreik bin ich doch ganz und gar unschuldig. Ich war doch
+wochenlang gar nicht hier. Wie kann ich denn da etwas mit dem
+Bäckerstreik zu tun haben?“
+
+„Das sagen Sie, Gale. Aber nun gehen Sie einmal in die
+La-Aurora-Bäckerei und hören Sie, was Senjor und Senjora Doux den Leuten
+erzählen.“
+
+„Was können denn die Leute von mir erzählen?“ fragte ich.
+
+„Die behaupten und erzählen es jedem Gast, daß Sie den Streik
+angezettelt haben.“
+
+„Das sind nichtswürdige Verleumder, diese Douxens. Ich habe mit dem
+Streik gar nichts zu tun. Ich habe für Sie einen Transport gebracht und
+weiß gar nichts von einem Bäckerstreik.“
+
+„Die Douxens aber behaupten, seit Sie dort gearbeitet haben, sind die
+Arbeiter in der Bäckerei mit nichts mehr zufrieden, nicht mehr mit dem
+Essen, nicht mehr mit dem Schlafen, nicht mehr mit dem Lohn und nicht
+mehr mit der langen Arbeitszeit. Und kaum waren Sie fort, ging es los.
+Zuerst in der La Aurora und dann am folgenden Tage in sämtlichen
+Bäckereien. Die wollen zwei Pesos Mindestlohn, luftige Schlafräume und
+achtstündige Arbeitszeit.“
+
+„Nun will ich Ihnen aber doch die Wahrheit sagen, Mr. Pratt“, sagte ich
+darauf. „Mit dem Streik habe ich wirklich nichts zu tun. Ich habe Ihnen
+ja schon damals gesagt, als wir uns zum ersten Male trafen und Sie mir
+das mitteilten, was Mr. Shine über mich erzählt hat, daß rein zufällig
+immer da, wo ich arbeite oder wo ich gearbeitet habe, gestreikt wird,
+sobald ich mich da auch nur umgesehen habe. Dafür kann ich doch aber
+nicht. Das ist doch nicht meine Schuld, wenn es den Leuten nicht mehr
+gefällt und sie es besser haben wollen. Ich sage nie etwas. Ich bin
+immer ganz ruhig und lasse immer die andern reden. Aber weiß der
+Kuckuck, überall, wohin ich komme, behaupten die Leute, ich sei ein
+Wobbly, und ich versichere Sie, Mr. Pratt, das ist –“
+
+„– die reine und unverfälschte Wahrheit“, beendete Mr. Pratt meinen
+Satz, den ich ganz anders zu beenden gedachte.
+
+Aber so geht das immer, wenn einem die Leute die Worte aus dem Munde
+nehmen und dann gar noch herumdrehen. Da braucht man sich wahrhaftig
+nicht zu verwundern, wenn sich die Menschen falsche Meinungen bilden.
+Sie sollen einen andern auch einmal reden lassen. Aber stets und immer
+müssen sie sich in die Ansichten, die andern Leuten gehören,
+hineinmischen. Kein Wunder, daß dann lauter Unsinn herauskommt.
+
+
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 17]: (mehrfache Fälle)
+ ... Da kam der Chink mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee
+ hervor. ...
+ ... Da kam der Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee
+ hervor. ...
+
+ [S. 40]:
+ ... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Gale
+ ein. „Nun ist der ...
+ ... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. Shine
+ ein. „Nun ist der ...
+
+ [S. 119]:
+ ... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y
+ la algeria, ...
+ ... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y
+ la alegria, ...
+
+ [S. 155]:
+ ... und der Schaffner steckt einem eine kleines Kärtchen in das
+ Hutband, ...
+ ... und der Schaffner steckt einem ein kleines Kärtchen in das
+ Hutband, ...
+
+ [S. 171]:
+ ... Stämme ab, schälten Bast und bauten eine kleines leichtes
+ Floß. Dann ...
+ ... Stämme ab, schälten Bast und bauten ein kleines leichtes
+ Floß. Dann ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***
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+<title>Der Wobbly | Project Gutenberg</title>
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+ <!-- TITLE="Der Wobbly" -->
+ <!-- AUTHOR="B. Traven" -->
+ <!-- LANGUAGE="de" -->
+ <!-- PUBLISHER="Buchmeister, Berlin, Leipzig" -->
+ <!-- DATE="1926" -->
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***</div>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="pub">
+BUCHMEISTER-VERLAG<br>
+GMBH, BERLIN, LEIPZIG<br>
+1926
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<h1 class="title">
+DER WOBBLY
+</h1>
+
+<p class="aut">
+VON<br>
+B. TRAVEN
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="cop">
+ENTWURF, SATZ UND DRUCK DER BUCHDRUCKWERKSTÄTTE, G. M. B. H., BERLIN
+BUCHBINDERARBEITEN DER FIRMA KREMPLER &amp; CO., LEIPZIG / NACHDRUCK
+VERBOTEN / ALLE RECHTE, INSBESONDERE DAS DER ÜBERSETZUNG IN
+ANDRE SPRACHEN SOWIE DAS RECHT DER VERFILMUNG VORBEHALTEN
+</p>
+
+<p class="cop2">
+COPYRIGHT, 1926, BY B. TRAVEN, TAMAULIPAS (MEXIKO)
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-1">
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+ERSTES BUCH.<br>
+DIE BAUMWOLLPFLÜCKER
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="epi" id="chapter-1-1">
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+GESANG<br>
+DER BAUMWOLLPFLÜCKER<br>
+IN MEXIKO
+</h3>
+
+</div>
+
+<div class="epi">
+ <div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Es trägt der König meine Gabe,</p>
+ <p class="verse">Der Millionär, der Präsident;</p>
+ <p class="verse">Doch ich, der lump’ge Pflücker, habe</p>
+ <p class="verse">In meiner Tasche keinen Cent.</p>
+ <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p>
+ <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p>
+ <p class="verse2">Häng um den Sack,</p>
+ <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p>
+ <p class="verse2">Hörst du die Wage kreischen?</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Nur schwarze Bohnen sind mein Essen,</p>
+ <p class="verse">Statt Fleisch ist roter Pfeffer drin;</p>
+ <p class="verse">Mein Hemde hat der Busch gefressen,</p>
+ <p class="verse">Seitdem ich Baumwollpflücker bin.</p>
+ <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p>
+ <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p>
+ <p class="verse2">Häng um den Sack,</p>
+ <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p>
+ <p class="verse2">Hörst du die Wage brüllen?</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+ <p class="verse">Die Baumwoll’ stehet hoch im Preise,</p>
+ <p class="verse">Ich habe keinen ganzen Schuh;</p>
+ <p class="verse">Die Hose hängt mir fetzenweise</p>
+ <p class="verse">Am Ursch, und ist auch vorn nicht zu.</p>
+ <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p>
+ <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p>
+ <p class="verse2">Häng um den Sack,</p>
+ <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p>
+ <p class="verse2">Hörst du die Wage wimmern?</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Und einen Hut hab ich, ’nen alten,</p>
+ <p class="verse">Kein Hälmchen Stroh ist heil daran;</p>
+ <p class="verse">Doch diesen Hut muß ich behalten,</p>
+ <p class="verse">Weil ich ja sonst nicht pflücken kann.</p>
+ <p class="verse2">Trab, trab, aufs Feld!</p>
+ <p class="verse2">Gleich geht die Sonne auf.</p>
+ <p class="verse2">Häng um den Sack,</p>
+ <p class="verse2">Zieh fest den Gurt!</p>
+ <p class="verse2">Siehst du die Wage zittern?</p>
+ </div>
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Ich bin verlaust, ein Vagabund,</p>
+ <p class="verse">Und das ist gut, das muß so sein;</p>
+ <p class="verse">Denn wär ich nicht so ’n armer Hund,</p>
+ <p class="verse">Käm keine Baumwoll’ ’rein.</p>
+ <p class="verse2">Im Schritt, im Schritt!</p>
+ <p class="verse2">Es geht die Sonne auf.</p>
+ <p class="verse2">Füll in den Sack</p>
+ <p class="verse2">Die Ernte dein!</p>
+ <p class="verse2">Die Wage schlag in Scherben!</p>
+ </div>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-2">
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+1
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> stand auf der Station und sah mich um, wen von den
+wenigen Eingeborenen, die dort herumlungerten oder auf
+dem nackten Erdboden hockten, ich hätte nach dem Wege
+fragen können.
+</p>
+
+<p>
+Da kam ein Mann auf mich zu, den ich schon im Zuge gesehen
+hatte. Braun verbrannt im Gesicht und am Körper. Vierzehn
+Tage nicht rasiert. Einen alten, breitrandigen Strohhut auf
+dem Kopfe. Einen roten Baumwollfetzen, der offenbar einmal
+ein richtiges Hemd gewesen war, am Leibe. Eine, an fünfzig Stellen
+durchlöcherte gelbe Leinenhose an den Beinen und an den Füßen die
+landesüblichen Sandalen.
+</p>
+
+<p>
+Er stellte sich vor mich hin und sah mich an. Sicher wußte er nicht, in
+welche Form und Reihenfolge er die Worte bringen sollte für den Satz,
+den er mir sagen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Was kann ich für Sie tun?“ fragte ich endlich, als es mir zu lange
+dauerte.
+</p>
+
+<p>
+„Buenos dias, Senjor!“ begann er. Dann gluckste er ein paarmal und
+kam endlich heraus: „Könnten Sie mir vielleicht sagen, auf welchem
+Wege ich nach Ixtilxochitchuatepec zu gehen habe?“
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie denn da?“ platzte ich heraus.
+</p>
+
+<p>
+Die Unhöflichkeit, ihn nach seinen persönlichen Angelegenheiten zu
+fragen in einem Lande, wo es taktlos, beinahe beleidigend ist, jemand
+nach Namen, Beruf, Woher und Wohin auszuforschen, kam mir gleichzeitig
+zum Bewußtsein. Deshalb fügte ich rasch hinzu:
+</p>
+
+<p>
+„Dort will ich nämlich auch hin.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann sind Sie wohl Mr. Shine?“ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich, „der bin ich nicht, aber ich will zu Mr. Shine, Baumwolle
+pflücken.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will auch Baumwolle pflücken bei Mr. Shine“, erklärte er nun und
+heiterte auf; zweifellos weil er einen Weggenossen gefunden hatte.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick kam ein langer und stark gebauter Neger auf
+uns zu und sagte: „Senjores, wissen Sie den Weg zu Mr. Shine?“
+</p>
+
+<p>
+„Cotton picking?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Yes, feller. Ich habe seine Adresse bekommen von einem andern
+schwarzen Burschen in Queretaro.“
+</p>
+
+<p>
+So weit waren wir, als ein kleiner Chinese auf uns zugetrippelt kam.
+Er lachte uns breit an und sagte: „Guten Molgen, Senjoles, Gentlemen!
+Ich will dolt hin und möchte Sie flagen, wo ist der Weg?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+Umständlich brachte er ein Notizblättchen heraus, las und sagte dann:
+„Mr. Shine in Ixtilxo...“
+</p>
+
+<p>
+„Stopp!“ unterbrach ich ihn laut lachend. „Wir wissen ja schon, wohin
+Sie wollen, verrenken Sie sich nur nicht die Zunge. Wir wollen auch
+dort hin.“
+</p>
+
+<p>
+„Auch cotton pickin’ dolt?“ fragte der Chinc.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ antwortete ich, „auch. Sechs Centavos für das Kilo.“
+</p>
+
+<p>
+Durch diese meine Äußerung war auch mit dem Chinc das kameradschaftliche
+Band hergestellt. Die proletarische Klasse bildete sich, und
+wir hätten gleich mit dem Aufklären und dem Organisieren anfangen
+können.
+</p>
+
+<p>
+Auf jeden Fall fühlten wir uns alle vier so wohl wie Brüder, die nach
+langer Trennung sich plötzlich unerwartet an irgendeinem fremden
+fernen Punkt der Erde getroffen haben.
+</p>
+
+<p>
+Ich könnte nun noch erzählen, in welcher Form ein zweiter Neger, nur
+halb so lang wie sein Rassenvetter, aber ebenso pechschwarz wie jener,
+auf uns zuschlenderte, und mit welcher Sorglosigkeit und mit welchem
+Reichtum an Zeit ein schokoladebrauner Indianer uns ansteuerte, beide
+mit dem gleichen Ziel der Reise: Mr. Shine in Ixtilxochitchuatepec,
+Baumwolle pflücken für sechs Centavos das Kilo.
+</p>
+
+<p>
+Keiner von uns wußte, wo Ixtil... lag.
+</p>
+
+<p>
+Die Station war inzwischen so leer geworden, lag so einsam und verträumt
+in der tropischen Glut, wie eben nur eine Station in Zentralamerika
+zehn Minuten nach Abfahrt des Zuges daliegen kann.
+</p>
+
+<p>
+Den Postsack, fünfmal mehr Quadratzoll Leinen als Quadratzoll Inhalt,
+selbst wenn man alle Briefe und Umschläge auseinanderfaltete,
+hatte irgendein jemand, den kein vernünftiger Mensch für einen Postbeamten
+gehalten hätte, mitgenommen.
+</p>
+
+<p>
+Das Frachtgut: eine Kiste Büchsenmilch – in einem Erdstrich, wo das
+ganze Jahr hindurch das Gras grünt und ein ganzer Erdteil mit Milch
+versorgt werden könnte –, zwei Kannen Gasolin, fünf Rollen Stacheldraht,
+ein Sack Zucker und zwei Kisten Bonbons lagen herrenlos auf
+dem glühenden Bahnsteig.
+</p>
+
+<p>
+Die Bretterbude, wo die Fahrkarten verkauft und das Gepäck abgewogen
+wurde, war mit einem Vorhängeschloß abgeschlossen. Der Mann,
+der alle diese Amtshandlungen vorzunehmen hatte, zu denen auf einer
+europäischen Bahnstation wenigstens zwölf gutgedrillte Leute notwendig
+sind, hatte die Station schon verlassen, als der letzte Wagen des
+Zuges noch auf dem Bahnsteig war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Selbst die alte kleine Indianerin, die zu jedem Zuge erschien mit zwei
+Bierflaschen voll kaltem Kaffee und in Zeitungspapier eingewickelten
+Maiskuchen, was sie alles in einem Schilfkorbe trug, schlich bereits
+durch das mannshohe Gras in ziemlicher Entfernung heimwärts. Sie
+hielt stets am längsten auf dem Bahnsteige aus. Obgleich sie nie etwas
+verkaufte, kam sie doch jeden Tag zum Zuge. Wahrscheinlich war es
+vier Wochen lang immer derselbe Kaffee, den sie zur Bahn brachte. Und
+das wußten offenbar auch die Reisenden. Andernfalls hätten sie in der
+Hitze wohl wenigstens hin und wieder einmal der Alten etwas zu verdienen
+gegeben. Aber das Eiswasser, das in den Zügen kostenlos gegeben
+wurde, war ein zu starker Konkurrent, gegen den ein so kleines
+Kaffeegeschäft nicht aufkommen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Meine fünf proletarischen Klassengenossen hatten sich gemütlich auf
+den Erdboden neben der Bretterbude gesetzt. In den Schatten.
+</p>
+
+<p>
+Freilich, da jetzt die Sonne senkrecht über uns stand wie mit dem Lot
+gerichtet, gehörte schon eine langausprobierte Übung dazu, herauszufinden,
+wo eigentlich der Schatten war.
+</p>
+
+<p>
+Zeit war ihnen ein ganz und gar unbekannter Begriff; und weil sie
+wußten, daß ich ja auch dort hin wollte, wo sie hin wollten, überließen
+sie es mir, den Weg auszukundschaften. Sie würden gehen, wann ich
+gehe, nicht früher; und sie würden mir folgen, und wenn ich sie bis
+nach Peru führte, immer in der Gewißheit lebend, daß ich ja zum gleichen
+Ort müsse wie sie.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-3">
+2
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">enn</span> ich nur wüßte, wo Ixtil... zu finden sei. In der
+Nähe der Station war kein Haus zu sehen. Die Stadt,
+zu der die Station gehörte, mußte irgendwo im Busch
+versteckt liegen. Ich machte nun den Vorschlag, daß
+wir erst einmal in diese Stadt gingen, wo sicher
+jemand zu finden sein würde, der den Weg wisse.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Stunde kamen wir in die Stadt. Zwei
+Häuser nur waren aus Brettern. In dem einen wohnte
+der Stationsvorsteher. Ich ging hinein und fragte ihn, wo Ixtil... liegt.
+Er wußte es nicht und erklärte mir höflich, daß er den Namen nie
+gehört habe.
+</p>
+
+<p>
+Fünfhundert Meter von diesem Holzhause entfernt war das andere
+„moderne“ Brettergebäude. Es war der Kaufladen. Er war gleichzeitig
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+Postamt, Billardsalon, Bierwirtschaft, Schnapsausschank und Agentur
+für alle möglichen Dinge und alle möglichen Unternehmungen. Ich
+fragte den Inhaber, aber er kannte den Ort auch nicht und sagte mir,
+innerhalb fünfzig Kilometer im Umkreis sei er sicher nicht, denn da
+kenne er jeden Platz und jeden Farmer.
+</p>
+
+<p>
+Da kam einer von den Billardspielern, die ebenso zerlumpt aussahen
+wie wir, an den Ladentisch, setzte sich darauf, drehte sich eine Zigarette,
+wobei er den Tabak in ein Maisblatt wickelte, und als er sie angezündet
+hatte, sagte er:
+</p>
+
+<p>
+„Den Ort kenn ich nicht. Aber die einzigen Baumwollfelder, die hier
+in dem ganzen Staate überhaupt sind, liegen in jener Richtung.“
+</p>
+
+<p>
+Dabei streckte er den Arm ziemlich unbestimmt nach jener Gegend
+hinaus, die er meinte.
+</p>
+
+<p>
+„Von dort her“, fügte er hinzu, „ist vor drei Jahren einmal ziemlich
+viel Baumwolle hier verladen worden. Die Farmer kamen mit Autos,
+also wird wohl noch etwas Weg übriggeblieben sein. Ob einer von den
+Farmern Mr. Shine hieß, weiß ich freilich nicht, ich habe nicht nach den
+Namen gefragt, ich habe nur beim Verladen mitgearbeitet.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie weit kann es denn sein?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Wenigstens achtzig Kilometer von hier, vielleicht neunzig. So genau
+weiß ich es nicht. Die kamen mittags an und sind sicher frühmorgens
+abgefahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann müssen wir also in jene Richtung gehen, wenn in einer andern
+Richtung keine Baumwolle gebaut wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube sicher,“ sagte er dann, „daß einer von den Farmern
+Mr. Shine heißen kann, alle sind Gringos.“
+</p>
+
+<p>
+„Gringo“ ist in Lateinamerika der Spottname für Amerikaner. Er hat
+ungefähr dieselbe mißachtende Bedeutung wie „Boche“ in Frankreich
+für Deutsche. Aber die Amerikaner, die viel zuviel unzerstörbaren
+Humor besitzen, um sich so lächerlich leicht beleidigt zu fühlen und dadurch
+das Leben schwer zu machen, haben diesem Spottnamen die
+ganze Schärfe genommen dadurch, daß sie, wenn in Lateinamerika gefragt,
+was für Landsleute sie seien, sie sich selbst „Gringo“ nennen.
+Und sie sagen das mit einem so heiteren Lächeln, als ob es der schönste
+Witz wäre.
+</p>
+
+<p>
+Die übrigen Gebäude der Stadt, etwa zehn oder zwölf, waren die
+üblichen Indianerhütten. Sechs rohe Stämme senkrecht auf den Erdboden
+gestellt und ein Dach aus trocknem Gras darüber. Die besseren
+hatten Wände aus dünnen Stämmchen, aber nicht dicht aneinandergefügt.
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+Keine Türen, keine Fenster. Alles, was in der Hütte vor sich ging,
+konnte man von außen sehen. Die einfacheren Hütten, wo ärmere oder
+bequemere Mexikaner wohnten, hatten nicht einmal diese angedeuteten
+Wände, sondern oben um das Dach herum hingen einige große
+Palmblätter, um die Strahlen der Sonne, wenn sie in den frühen Vormittagsstunden
+und am späten Nachmittag schräger einfielen, abzuschatten.
+</p>
+
+<p>
+Das Vieh und das Hühnervolk hatten keine Ställe. Die Schweine mußten
+sich draußen im Busch irgendwo und irgendwie das Futter zusammensuchen.
+Die Hühner saßen nachts in dem Baum, der der Hütte am
+nächsten stand. Eine alte Kiste oder ein durchlöcherter Schilfkorb hing
+an einem Ast, wo die Hühner brav ihre Eier hineinlegten.
+</p>
+
+<p>
+Rund um die Hütten standen Bananenstauden, die, ohne jemals gepflegt
+zu werden, ihre Früchte in reichen Mengen spendeten. Die kleinen
+Felder, wo nur gesäet und geerntet wird, sonst kaum etwas getan
+wird, lieferten Mais und Bohnen mehr als die Bewohner aufbrauchen
+konnten.
+</p>
+
+<p>
+In einer dieser Hütten nach dem Wege zu fragen, war zwecklos. Wenn
+eine Auskunft überhaupt zu erhalten war, so war sie sicher falsch.
+Nicht falsch gegeben mit der Absicht, uns irrezuführen, aber aus purer
+Höflichkeit, irgendeine beliebige Auskunft zu geben, um nicht „nein“
+sagen zu müssen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-4">
+3
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> wanderten wir denn frischweg los in jener Richtung,
+die uns im Postamt von dem Billardspieler genannt
+worden war, und die ich für die einzige glaubwürdige
+hielt.
+</p>
+
+<p>
+„Achtzig Kilometer“ war uns gesagt worden. Also
+werden es wohl hundertzwanzig oder hundertfünfzig
+Kilometer sein.
+</p>
+
+<p>
+Wir waren unser sechs.
+</p>
+
+<p>
+Da war der Mexikaner Antonio, spanischer Herkunft, der mich zuerst
+angesprochen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam der Mexikaner Gonzalo, indianischer Abstammung. Er war
+nicht ganz so zerlumpt wie Antonio und hatte ein Bündelchen, eingewickelt
+in eine alte Schilfmatte, und eine schöne, nach mexikanischer
+Art farbenfreudig gemusterte Decke, die er über der Schulter trug.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+Der Chinese Sam Woe war der eleganteste Bursche unter allen. Der
+einzige, der ein heiles und frisch gewaschenes Hemd trug, heile Hosen
+hatte, gute Straßenstiefel, seidene Strümpfe und einen runden
+städtischen Strohhut. Er hatte zwei Bündel, ziemlich reichlich gepackt.
+Sie schienen gar nicht so leicht zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte immer die praktischsten Ideen und Ratschläge, lächelte immer,
+konnte das „R“ nicht aussprechen und war scheinbar immer guten
+Mutes. Es wurde mit der Zeit unser größter Kummer, daß wir ihn mit
+nichts, was immer wir auch taten, wütend machen konnten. Er hatte
+in einem Ölfeld als Koch gearbeitet und gut verdient. Sein Geld hatte
+er vorsichtig auf einer chinesischen Bank in Guanajuato hinterlegt, was
+er uns gleich erzählte, nur damit wir nicht etwa denken sollten, er trüge
+es bei sich und könnte dafür geopfert werden.
+</p>
+
+<p>
+Baumwollepflücken war ja nicht gerade seine große Leidenschaft –
+meine noch viel weniger –, aber weil es nicht so sehr außerhalb seines
+Weges lag, wollte er die sechs bis sieben Wochen Verdienst noch mitnehmen.
+Er hoffte dann zum Herbst ein kleines Restaurant – „comida
+corrida 50“ – zu eröffnen. Er war der einzige unter uns, der wohldurchdachte
+Pläne für die Zukunft hatte.
+</p>
+
+<p>
+Sobald wir an den Busch gekommen waren, schnitt er sich ein dünnes
+Stämmchen, hing über jedes der beiden Enden eines seiner Bündel und
+legte sich das Stämmchen über die Schulter. Während er bisher mit
+uns im gleichen Schritt gegangen war, begann er nun mit kurzen,
+raschen Schrittchen zu trippeln. In diesem Trippelschritt hielt er den
+ganzen Marsch durch, ohne je langsamer oder schneller zu gehen und
+ohne jemals zu ermüden. Wenn wir uns zur Rast niedersetzten oder
+niederlegten, tat er es auch, war aber jedesmal erstaunt, daß wir „schon
+wieder“ ausruhen mußten. Wir schimpften ihn dann aus, daß wir richtige
+Christenmenschen seien, während er als verdammter Chinc von
+einem gelben, fratzenhaften Drachenungeheuer ausgebrütet worden
+wäre, und daß darin die übermenschliche Ausdauer seiner stinkigen
+und uns widerlichen Rasse zu suchen sei. Er erklärte darauf heiter
+lächelnd, daß er nichts dafür könne, und daß wir alle von demselben
+Gott geschaffen seien, aber daß dieser Gott gelb sei und nicht weiß.
+Da wir keine Missionare waren und auf dem Gebiete der Bekehrung
+auch keine Lorbeeren ernten wollten, ließen wir ihn in seinem finstern
+Unglauben.
+</p>
+
+<p>
+Der hünenhafte Neger, Charley, paßte mit seinen Lumpen und seinem
+in fettigem und zerrissenem Papier verschnürten Bündel, das unzählige
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+Male auf dem Marsche aufging, viel besser in unsre Gesellschaft
+als der elegante Chinc. Charley behauptete, aus Florida zu sein. Aber
+da er weder Englisch geläufig sprechen noch verstehen konnte, auch
+den amerikanischen Niggerdialekt sprach, konnte er mich von seiner
+Herkunft nicht überzeugen. Vielleicht war er von Honduras oder von
+St. Domingo. Aber er sprach auch nur sehr unbeholfen ein notdürftiges
+Spanisch. Ich habe nie erfahren können, wo er eigentlich hingehörte.
+Nach meiner Meinung war er entweder aus Brasilien heraufgekommen
+oder er hatte sich von Afrika herübergeschmuggelt. Er wollte sicher
+nach den States, und für ihn als Nigger mit etwas Englisch war es leichter,
+sich über die Grenze nach den States zu schmuggeln, als für einen
+Weißen, der gut Englisch sprechen konnte. Er war der einzige, der offen
+erklärte, daß er Baumwollepflücken als die schönste und einträglichste
+Arbeit betrachte.
+</p>
+
+<p>
+Dann war noch der kleine Nigger da, Abraham aus New-Orleans. Er
+hatte ein schwarzes Hemd an. Weil nun seine Hautfarbe ebenso schwarz
+war wie das Hemd, konnte man nicht so recht erkennen, wo die letzten
+Überreste des Hemdes waren, und wo die Haut war, die bedeckt werden
+sollte. Er als einziger hatte eine Mütze. Und zwar eine Mütze, wie sie
+von den Heizern und Maschinenschmierern auf den amerikanischen
+Schiffen getragen wird. Dann trug er eine weiß und rot gestreifte
+Leinenhose, Lackhalbschuhe und weiße Baumwollstrümpfe.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte kein Bündel, sondern trug einen Kaffeekessel und seine Bratpfanne
+an einem Bindfaden über der Schulter und in einem Säckchen
+seinen Bedarf an Lebensmitteln.
+</p>
+
+<p>
+Abraham war der echte, dummschlaue, gerissene, freche und immer
+lustige amerikanische Nigger der Südstaaten. Er hatte eine Mundharmonika,
+mit der er uns das blöde „Yes, we have no bananes“ so lange
+vorspielte, bis wir ihn am zweiten Tage weidlich verprügeln mußten,
+um damit vorläufig nur zu erreichen, daß er es wenigstens nur sang
+oder pfiff und dazu, während des Marsches, tanzte. Er stahl wie ein
+Rabe – der Vergleich war von Gonzalo, ich weiß nicht, ob er richtig
+ist – und log wie ein Dominikanermönch.
+</p>
+
+<p>
+Am dritten Abend des Marsches erwischten wir ihn, wie er einen dicken
+Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte, stahl. Wir nahmen
+ihm den Raub wieder ab, bevor er ihn in der Pfanne hatte, und
+wir erklärten ihm ganz ernsthaft, daß, wenn wir ihn noch einmal beim
+Stehlen ertappten, wir Buschrecht an ihm ausüben würden. Wir würden
+eine Gerichtssitzung abhalten und ihn dann, nach gefälltem Urteil,
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+mit der Schnur, die sein Couleurbruder Charley um sein Bündel geschnürt
+habe, am nächsten besten Mahagonibaum aufhängen, mit einem
+Zettel auf der Brust, wofür er gehängt sei.
+</p>
+
+<p>
+Da sagte er ganz frech, wir sollten ja nicht versuchen, ihn auch nur anzutasten,
+er sei amerikanischer Bürger, „native born“, und wenn wir
+ihm nur das allergeringste Leid täten, so würde er das an die Regierung
+nach Washington berichten, und die werde dann mit einem Kanonenboot
+und dem Sternenbanner kommen und ihn blutig rächen; er sei ein
+freier Bürger „of the States“, und das könne er durch „c’tificts“ beweisen,
+und als solcher habe er das Recht, vor ein ordentliches Gericht
+gestellt zu werden. Als wir ihm nun erklärten, daß wir ihm keine Zeit
+lassen und keine Gelegenheit geben würden, nach Washington einen
+Bericht zu schicken, und daß wir auch nicht glaubten, daß ein amerikanisches
+Kanonenboot mit dem Sternenbanner in den Busch fahren
+würde, sagte er: „Well, Gentlemen, Sirs, berühren Sie mich nur mit der
+Fingerspitze, dann werden Sie sofort erleben, was geschieht.“
+</p>
+
+<p>
+Wir erwischten ihn auch richtig einige Tage später, als er dem Chinc
+eine Büchse Milch stahl und frech erklärte, es sei seine eigne, er habe sie
+in Potosi im American Store gekauft. Er wurde daraufhin so windelweich
+gedroschen, daß er keinen Finger krumm machen konnte, um nach
+Washington zu schreiben. Bei uns hat er dann nicht mehr gestohlen,
+und was er bei umliegenden Farmern zusammenstahl, ging uns
+nichts an.
+</p>
+
+<p>
+Dann war ich noch, Gerard Gale, über den ich weniger zu berichten
+weiß, da ich mich in der Kleidung von den übrigen nicht unterschied
+und zum Baumwollepflücken, welche zeitraubende und schlechtbezahlte
+Arbeit ich kannte, auch nur ging, weil eben keine andre Beschäftigung
+zu haben war und ich bitter notwendig ein Hemd, ein Paar Schuhe und
+eine Hose brauchte. Vom Althändler! Denn vom Neuhändler sie zu
+kaufen, dazu hätte selbst die Arbeit von vierzehn Wochen auf einer
+Baumwollfarm nicht gelangt. Ich war der einzige, der keine Strümpfe
+trug, weil ich keine hatte.
+</p>
+
+<p>
+Eine Jacke besaßen nur der Chinc und Antonio. Warum Antonio den
+Fetzen eigentlich „seine Jacke“ nannte, ist mir nie klar geworden. Sie
+mag vielleicht einmal, in weit zurückliegenden Zeiten, lange vor der
+Entdeckung Amerikas, die Ähnlichkeit mit einer Jacke gehabt haben.
+Das will ich nicht bestreiten. Aber heute sie Jacke zu nennen, war nicht
+Übertreibung, sondern sündiger Hochmut, für den Antonio dereinst
+wird büßen müssen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-5">
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+4
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> wanderten lustig darauf los.
+</p>
+
+<p>
+Über uns die glühende Tropensonne, zu beiden Seiten
+neben uns der undurchdringliche und undurchsichtbare
+Busch. Der ewig jungfräuliche tropische Busch
+mit seiner unbeschreiblichen Mystik, mit seinen Geheimnissen
+an Tieren der phantastischsten Art, mit
+seinen traumhaften Formen und Farben der Pflanzen,
+mit seinen unerforschten Schätzen an wertvollen
+Steinen und kostbaren Metallen.
+</p>
+
+<p>
+Aber wir waren keine Forscher, und wir waren auch keine Gold- oder
+Diamantengräber. Wir waren Arbeiter und hatten mehr Wert auf den
+sichern Arbeitslohn zu legen als auf den unsichern Millionengewinn,
+der vielleicht links oder rechts von uns im Busch verborgen lag und auf
+den Entdecker wartete.
+</p>
+
+<p>
+Die Sonne stand schon sehr tief, und es mußte ungefähr fünf Uhr sein.
+Wir sahen uns deshalb nach einem Lagerplatz um.
+</p>
+
+<p>
+Bald fanden wir eine Stelle, wo seitlich in den Busch hinein hohes Gras
+stand. Wir rissen so viel von dem Gras aus, wie wir Platz zum Lagern
+brauchten. Dann zündeten wir ein Feuer an und brannten den Rest des
+Grases nieder, wodurch wir uns Ruhe vor Insekten und kriechendem
+Getier für die Nacht verschafften. Eine frischgebrannte Grasfläche ist
+der beste Schutz, den man haben kann, wenn man nicht mit den Ausrüstungsstücken
+eines Tropenreisenden wandert.
+</p>
+
+<p>
+Ein Campfeuer hatten wir, aber es gab nichts zum Kochen, denn wir
+hatten kein Wasser.
+</p>
+
+<p>
+Da kam der <a id="corr-0"></a>Chinc mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor.
+Wir wußten nichts davon, daß er einen so wertvollen Stoff mit sich
+führte. Er machte den Kaffee heiß und bereitwillig bot er uns allen zu
+trinken an. Aber was ist ein Liter Kaffee für sechs Mann, die, ohne einen
+Schluck Wasser zu haben, einen halben Tag in der Tropensonne gewandert
+sind, vor morgen früh um sieben oder acht Uhr ganz bestimmt auch
+nichts Trinkbares haben werden und vielleicht die nächsten sechsunddreißig
+Stunden genau so wenig Wasser finden werden, wie sie heute
+nachmittag gefunden haben. Der Busch ist das ganze Jahr hindurch
+grün, aber Wasser findet man dort nur in der Regenzeit an günstigen
+Stellen, wo sich Tümpel bilden können.
+</p>
+
+<p>
+Nur wer selbst im tropischen Busch gewandert ist, weiß, was für ein
+Opfer es war, das der Chinc uns bot. Aber keiner sagte „danke!“; jeder
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+betrachtete es als ganz selbstverständlich, daß der Kaffee in Teile ging.
+Wahrscheinlich hätten wir es genau so selbstverständlich gefunden, wenn
+der Chinc den Kaffee allein getrunken hätte. Nach einem halben Tag
+Wanderung in wasserlosem Landstrich raubt man noch nicht für einen
+Becher Kaffee; aber am dritten Tage beginnt man ernsthaft Mord zu
+sinnen im Busch für eine kleine rostige Konservenbüchse voll stinkender
+Flüssigkeit, die man Wasser nennt, obgleich sie keine andre Ähnlichkeit
+mit Wasser hat, als daß sie eben Flüssigkeit ist.
+</p>
+
+<p>
+Antonio und ich hatten etwas hartes Brot zu knabbern.
+</p>
+
+<p>
+Gonzalo hatte vier Mangos und der große Nigger einige Bananen. Der
+kleine Nigger aß irgendwas ganz verstohlen. Was es war, weiß ich nicht.
+Der Chinc hatte ein Stück Zelttuch, daß er über seinen Schlafplatz
+spannte. Dann wickelte er sich in ein großes Handtuch ein, auch den
+Kopf, und begann zu schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Gonzalo hatte seine schöne Decke, in die er sich einrollte, so daß er wie
+ein Baumstamm aussah.
+</p>
+
+<p>
+Ich wickelte mir den Kopf in einen zerlumpten Lappen ein, den ich
+stolz „mein Handtuch“ nannte und schlief los.
+</p>
+
+<p>
+Wie sich die übrigen einrichteten, weiß ich nicht, weil die noch lange um
+das Feuer herumsaßen und rauchten und schwatzten.
+</p>
+
+<p>
+Vor Sonnenaufgang waren wir schon wieder auf dem Marsche. Abzukochen
+gab es nichts, und waschen brauchte man sich auch nicht. Denn
+womit hätte man es tun sollen?
+</p>
+
+<p>
+Der Weg durch den Busch war weite Strecken hindurch schon wieder
+zugewachsen. Der Nachwuchs der jungen Bäume reichte uns oft bis über
+die Schultern und der Grund war mit Kaktusstauden so dicht bewachsen,
+daß diese stachligen Pflanzen zuweilen beinahe die ganze Breite des
+Weges einnahmen. Meine nackten Unterschenkel waren bald so zerschnitten,
+als wenn sie durch eine Hackmaschine gezogen worden wären.
+Gegen mittag kamen wir an eine Stelle, wo sich rechts des Weges ein
+Stacheldrahtzaun hinzog, der uns die Gewißheit gab, daß hier eine Farm
+liegen müsse.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem wir etwa zwei Stunden lang, immer den Stacheldrahtzaun
+zur rechten Hand, gewandert waren, kamen wir an eine weite offene
+Stelle im Busch, die mit hohem Gras bewachsen war. Als wir den Platz
+absuchten, fanden wir auch eine Zisterne. Aber sie war leer. Einige
+morsche Pfähle, alte Konservenbüchsen, verrostetes Wellblech und ähnliche
+Überbleibsel einer menschlichen Behausung, offenbarten uns eine
+verlassene Farm.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+Über eine solche Enttäuschung muß man rasch hinweg kommen. Farmen
+werden hier gegründet; zehn, auch zwanzig Jahre lang bewirtschaftet
+und dann aus irgendeinem Grunde plötzlich aufgegeben. Fünf Jahre
+später, oft schon früher, ist kein Zeichen mehr davon vorhanden, daß
+hier jemals Menschen gelebt und gearbeitet haben. Es erweckt den Anschein,
+als seien es hundert Jahre her, seit jemand hier gelebt hat. Der
+tropische Busch begräbt rascher als Menschen bauen können, er kennt
+keine Erinnerung, er kennt nur Gegenwart und Leben.
+</p>
+
+<p>
+Aber um vier Uhr kamen wir doch an eine lebende Farm. Hier wohnte
+eine amerikanische Familie.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde im Hause gut bewirtet und fand auch ein Lager innerhalb
+des Hauses. Die übrigen als Nichtweiße wurden auf der Veranda beköstigt
+und durften in einem Schuppen übernachten. Sie bekamen alle
+reichlich zu essen, aber ich war der eigentliche Gast. Mir wurde aufgetischt,
+wie eben nur in einem so menschenarmen Lande einem Weißen
+von weißen Gastgebern aufgetischt werden kann. Drei verschiedene
+Fleischgänge, fünf verschiedene Beigerichte, Kaffee, Pudding und abends
+heißen Kuchen.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen bekamen wir alle ein reichliches Frühstück; ich
+wieder am Tische des Farmers.
+</p>
+
+<p>
+Der Farmer hatte genügend leere Flaschen, und so bekam jeder einzelne
+von uns eine Literflasche kalten Tee mit auf den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Er kannte Mr. Shine und sagte uns, daß wir noch etwa sechzig Kilometer
+zu marschieren hätten. Kein Wasser am ganzen Weg; die Straße
+an verschiedenen Stellen kaum noch erkennbar, weil sie seit drei Jahren
+nicht mehr benutzt worden sei.
+</p>
+
+<p>
+Um neun Uhr hatte der kleine Nigger Abraham seinen Tee schon ausgetrunken
+und die Flasche fortgeworfen. Es war ihm zu lästig, sie zu
+tragen. Wir erklärten ihm, daß er unter diesen Umständen von uns
+nichts zu erwarten habe und falls er versuchen sollte, auch nur einen
+Schluck zu stehlen, würden wir ihn braun und blau schlagen.
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend im Lager war es, wo er zwar keinen Tee stahl, aber
+jenen Streifen getrocknetes Rindfleisch, das Antonio gehörte. Da sich
+unsre Drohung nur auf Tee bezog, ließen wir ihn laufen mit der Warnung,
+daß von nun an jeder Raub in unsre Drohung einbegriffen sei.
+Den folgenden Tag gegen mittag kamen wir bei Mr. Shine an.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-6">
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+5
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">r.</span> Shine empfing uns mit einer gewissen Freude,
+weil er nicht genügend Leute zum Baumwollepflücken
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Mich nahm er persönlich ins Gebet. Er rief mich
+ins Haus und sagte zu mir: „Was! Sie wollen auch
+Baumwolle pflücken?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte ich, „ich muß, ich bin vollständig
+‚broke‘, das sehen Sie ja, ich habe nur Fetzen am
+Leibe. Arbeit ist in den Städten keine zu haben. Alles ist überschwemmt
+mit Arbeitslosen aus den States, wo die Verhältnisse augenblicklich
+auch nicht rosig zu sein scheinen. Und wo man wirklich Arbeiter
+braucht, nimmt man lieber Eingeborene, weil man denen Löhne zahlt,
+die man einem Weißen nicht anzubieten wagt.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie denn schon mal gepickt?“ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ antwortete ich, „in den States.“
+</p>
+
+<p>
+„Ha!“ lachte er, „das ist ein ander Ding. Da können Sie etwas dabei
+werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe auch ganz gut dabei verdient.“
+</p>
+
+<p>
+„Das glaube ich Ihnen. Die zahlen viel besser. Die können’s auch. Die
+kriegen ganz andre Preise als wir. Könnten wir unsre Baumwolle nach
+den States verkaufen, dann würden wir noch bessere Löhne zahlen;
+aber die States lassen ja keine Baumwolle hinein, um die Preise hochzuhalten.
+Wir sind auf unsern eignen Markt angewiesen, und der ist
+immer gleich gepackt voll. Aber nun Sie! Ich kann Sie weder beköstigen,
+noch in meinem Hause unterbringen. Aber ich brauche jede Hand,
+die kommt. Ich will Ihnen etwas sagen; ich zahle sechs Centavos für
+das Kilo, Ihnen will ich acht zahlen, sonst kommen Sie auf keinen Fall
+auf das, was die Nigger machen. Selbstverständlich brauchen Sie das den
+andern nicht zu erzählen. Schlafen könnt ihr da drüben in dem alten
+Hause. Das habe ich gebaut und mit meiner Familie zuerst darin gewohnt,
+bis ich mir das neue hier leisten konnte. Well, das ist dann abgemacht.“
+</p>
+
+<p>
+Das Haus, von dem der Farmer gesprochen hatte, lag etwa fünf Minuten
+entfernt. Wir machten uns dort häuslich, so gut wir es konnten. Das
+Haus, aus Brettern leicht gebaut, hatte nur einen Raum. Jede der vier
+Wände hatte je eine Tür, die gleichzeitig als Fenster diente. Der Raum
+war vollständig leer. Wir schliefen auf dem bloßen Fußboden. Ein paar
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+alte Kisten, die vor dem Hause herumlagen, im ganzen vier, benutzten
+wir als Stühle.
+</p>
+
+<p>
+Dicht bei dem Hause war eine Zisterne, die Regenwasser enthielt, das
+ungefähr sieben Monat alt war und von Kaulquappen wimmelte. Ich
+berechnete, daß etwa hundertzwanzig Liter Wasser in der Zisterne
+seien, mit denen wir sechs Mann sechs bis acht Wochen auskommen
+mußten. Der Farmer hatte uns schon gesagt, daß wir von ihm kein
+Wasser bekommen könnten, er wäre selbst sehr kurz mit Wasser dran
+und habe noch sechs Pferde und vier Maultiere zu tränken. Waschen
+konnten wir uns einmal in der Woche und hatten dann noch zu je drei
+Mann dasselbe Waschwasser zu gebrauchen. Es sei aber immerhin möglich,
+fügte er hinzu, daß es in dieser Jahreszeit alle vierzehn Tage
+wenigstens einmal zwei bis vier Stunden regnen könne, und wenn wir
+die Auffangrinnen reparierten, könnten wir tüchtig Wasser ansammeln.
+Außerdem sei ein Fluß nur etwa drei Stunden entfernt, wo wir
+baden gehen könnten, falls wir Lust dazu hätten.
+</p>
+
+<p>
+Vor dem Hause richteten wir ein Lagerfeuer ein, zu dem uns der nahe
+Busch das Holz in reicher Menge hergab.
+</p>
+
+<p>
+Auf die recht nebelhafte Möglichkeit hin, daß es vielleicht innerhalb
+der nächsten drei Wochen regnen könnte, wuschen wir uns zunächst
+einmal, in einer alten Gasolinbüchse. Seit drei Tagen hatten wir uns
+nicht gewaschen.
+</p>
+
+<p>
+Ich rasierte mich. Es mag mir noch so dreckig gehen, ein Rasiermesser,
+einen Kamm und eine Zahnbürste habe ich immer bei mir.
+</p>
+
+<p>
+Auch der Chinc rasierte sich.
+</p>
+
+<p>
+Da kam Antonio auf mich zu und bat mich um mein Rasiermesser. Er
+hatte sich seit beinahe drei Wochen nicht rasiert und sah aus wie ein
+fürchterlicher Seeräuber.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, lieber Antonio,“ sagte ich, „Rasierzeug, Kamm und Zahnbürste
+verpumpe ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Und der Chinc, mutig gemacht durch meine Weigerung, sagte lächelnd,
+daß sein schwaches Messer bei diesem starken Bart sofort stumpf
+würde, und er hier keine Gelegenheit habe, es schleifen zu lassen. Er
+selbst hatte nur dünne Stoppeln.
+</p>
+
+<p>
+Antonio gab sich mit diesen beiden Weigerungen zufrieden.
+</p>
+
+<p>
+Wir kochten unser Abendessen, ich Reis mit spanischem Pfeffer, der
+andre schwarze Bohnen mit Pfeffer, der nächste Bohnen mit getrocknetem
+Rindfleisch, ein vierter briet einige Kartoffeln mit etwas Speck.
+Da wir am nächsten Morgen schon um vier Uhr zur Arbeit gingen, bereiteten
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+wir auch noch unser Brot für den nächsten Tag, das wir in
+unsern Pfannen buken.
+</p>
+
+<p>
+Als wir gegessen hatten, hängten wir unsre armseligen Lebensmittel an
+Bindfaden an den Querbalken im Hause auf, weil uns die Ameisen und
+Mäuse über Nacht sonst alles fortgeholt hätten, wenn wir diese Vorsorge
+nicht getroffen hätten.
+</p>
+
+<p>
+Etwas nach sechs Uhr ging die Sonne unter. Eine halbe Stunde später
+war rabenschwarze Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Glühwürmchen, mit Lichtern, so groß wie Haselnüsse, flogen um uns her.
+Wir krochen in unser Haus, um zu schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Der Chinc war der einzige, der ein Moskitonetz hatte. Wir andern wurden
+von dem Viehzeug gräßlich geplagt und schimpften und wüteten,
+als ob sich diese Gesandten einer Hölle etwas daraus machen würden.
+Die beiden Nigger, die Seite an Seite schliefen, sich vor dem Einschlafen
+entsetzlich zankten und sich handfeste Backpfeifen anboten, schienen
+von den Biestern nicht gestört zu werden.
+</p>
+
+<p>
+Ich entschloß mich, diese Qual für die Nacht zu erdulden, aber morgen
+für irgendeine Abhilfe zu sorgen.
+</p>
+
+<p>
+Noch vor Sonnenaufgang waren wir auf den Beinen. Jeder kochte sich
+etwas Kaffee, aß ein Stückchen Brot dazu, und fort ging es im halben Trab.
+Das Baumwollfeld war eine halbe Stunde entfernt.
+</p>
+
+<p>
+Der Farmer und seine zwei Söhne waren schon dort. Wir bekamen
+jeder einen alten Sack, den wir uns umhängten, dann wurde der Gürtel
+festgezogen, damit wir die Fetzen nicht verloren, und dann ging es an
+die Arbeit. Jeder nahm eine Reihe.
+</p>
+
+<p>
+Wenn die Baumwolle schön reif ist und man den Griff erst weg hat,
+bekommt man jede Frucht mit einem einzigen Griff. Da aber die Knollen,
+die ähnlich aussehen wie die Hülsen der Kastanien, nicht alle die
+gleiche Reife haben, muß man doch bei der Hälfte einige Male gut
+zupfen, ehe man die zarte Frucht aus der Hülse gerissen hat und sie
+in den Sack tun kann. Bei guter Reife, und wenn die Stauden gut
+stehen, kann man, sobald man die Übung hat, gleichzeitig mit beiden
+Händen an verschiedenen Stellen rupfen. Aber bei Mittelernte und bei
+schlechten Stauden darf man dafür auch oft beide Hände brauchen, um
+eine Frucht zu kriegen. Obendrein muß man sich auch noch unaufhörlich
+bücken, weil die Früchte nicht alle in bequemer Höhe am Strauch
+hängen, sondern oft bis dicht über dem Boden wachsen und, wenn unerwartet
+starker Regen kam, sind die Früchte auch noch in den Boden
+gehauen, wo man sie ’rausklauben muß.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+Je weiter es gegen mittag geht, desto höher steht die Sonne und desto
+mühseliger wird die Arbeit. Man trägt nichts weiter am Leibe als Hut,
+Hemd, Hose und Schuhe, aber der Schweiß rinnt in Strömen an einem
+herab. Sehr kleine lästige Fliegen, die einem unausgesetzt in die Ohren
+kriechen, und Moskitos machen einem das Leben recht schwer. Kommt
+ein leichter Wind auf, der die Moskitos verscheucht, geht es noch; aber
+bei völliger Windstille wird die Qual mit jeder Stunde größer. Gegen
+elf Uhr, nach beinahe siebenstündiger ununterbrochener Arbeit, kann
+man nicht mehr.
+</p>
+
+<p>
+Wir suchten den Schatten einiger Bäume auf, die mehr als zehn Minuten
+entfernt waren. Wir aßen unser trockenes Pfannenbrot, das, bei mir
+wenigstens, ganz verbrannt war, und legten uns dann hin, um zwei
+Stunden zu schlafen, bis die Sonne anfängt, wieder abwärts zu wandern.
+Wir bekamen furchtbaren Durst, und ich ging zum Farmer, um ihn um
+Wasser zu ersuchen.
+</p>
+
+<p>
+„Es tut mir leid, ich habe keins. Ich sagte Ihnen doch schon gestern, daß
+ich selber sehr kurz mit Wasser bin. Gut, heute will ich euch noch etwas
+geben, von morgen ab müßt ihr euch euer Wasser selbst mitbringen.“
+</p>
+
+<p>
+Er schickte einen seiner Söhne mit dem Pferde nach Hause, der dann
+bald mit einer Kanne Regenwasser zurückkam.
+</p>
+
+<p>
+Baumwolle ist teuer. Das lernt jeder bald, wenn er sich einen Anzug,
+ein Hemd, ein Handtuch, ein Paar Strümpfe oder nur ein Taschentuch
+kauft. Aber der Baumwollpflücker, der wohl die härteste und qualvollste
+Arbeit für die Stoffe leistet, die ein König oder ein Milliardär
+oder ein einfacher Landmann trägt, hat an dem hohen Preis des Anzuges
+den allergeringsten Anteil.
+</p>
+
+<p>
+Für ein Kilogramm Baumwolle pflücken bekamen wir sechs Centavos,
+ich ausnahmsweise acht. Und ein Kilogramm Baumwolle ist beinahe ein
+kleiner Berg, den zu schaffen, man unter ständigem Bücken in der mitleidlosen
+Tropensonne zweihundert bis fünfhundert Knollen auszupfen
+muß. Dazu eine Nahrung, die als die allerbescheidenste angesehen
+werden darf, von der Menschen irgendwo auf Erden leben. Den
+einen Tag schwarze Bohnen mit Pfeffer, den nächsten Tag Reis mit
+Pfeffer, den übernächsten wieder Bohnen, dann wieder Reis; dazu Brot,
+selbstgebacken aus Weizen- oder Maismehl, entweder kleistrig oder zu
+Kohle verbrannt, Monate altes, abgestandenes Regenwasser, Kaffee
+gekocht aus selbstgebrannten Kaffeebohnen, auf einem Stein zerrieben,
+und den Kaffee gesüßt mit einem billigen, übelriechenden, schwarzbraunen
+Rohzucker in kleinen Kegeln. Das Salz, das man verwendet,
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+ist Seesalz, das man sich selbst vor dem Gebrauch erst reinigen muß.
+Ein paar Kilogramm Zwiebeln in der Woche hinzugekauft ist bereits
+Delikatesse und ab und zu ein Streifen getrocknetes Fleisch ist schon
+ein Luxus, der, wenn man ihn sich zu oft leistet, vom Lohn nicht einmal
+das Reisegeld bis zur nächsten größern Stadt, wo man neue Arbeit finden
+könnte, übrigläßt. Bei sehr fleißiger Arbeit verdient man in einer
+Woche gerade so viel, daß man sich, wenn man keinen Centavos für
+Essen ausgibt, das billigste Paar Schuhe kaufen kann, das man im Laden
+vorfindet.
+</p>
+
+<p>
+Der Baumwollfarmer verursacht auch nicht immer die hohen Preise der
+Fertigware. Er ist oft tief verschuldet und kann in vielen Fällen die
+Pflückerlöhne nur auszahlen, wenn er auf die Ernte einen Vorschuß
+nimmt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-7">
+6
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">m</span> vier Uhr nachmittags machten wir Schluß, um
+noch bei Tageslicht „nach Hause“ zu kommen und
+unser Essen zu kochen.
+</p>
+
+<p>
+Ich quartierte aus.
+</p>
+
+<p>
+In der Nähe des Hauses, nur etwa zweihundert
+Meter entfernt, hatte ich eine Art Unterstand entdeckt.
+Welchen Zwecken er diente oder gedient haben
+mochte, wußte ich nicht. Er hatte ein Dach aus Wellblech,
+aber keine Wände, es wäre denn, daß man einige Baumstämme,
+die an der einen Seite gegen das Dach gelehnt waren, als Wand bezeichnen
+will.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Unterstand war eine Art Tisch. Es waren vier Pfähle in die
+Erde gerammt und auf den Pfählen lagen ein paar Platten Wellblech.
+Diesen Unterstand wählte ich als Behausung und den Tisch als Bett.
+Der große Nigger wollte den Unterstand mit mir teilen. Er kam hin,
+sah sich die Sache an, und es gefiel ihm.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich rief er: „A snake! A snake!“
+</p>
+
+<p>
+„Wo?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Da, dicht vor Ihren Füßen.“
+</p>
+
+<p>
+Richtig, da wand sich eine Schlange auf dem Boden hin, eine feuerrote,
+etwa einen Meter lang.
+</p>
+
+<p>
+„Macht nichts,“ sagte ich, „die wird mich nicht gleich auffressen, die
+Moskitos sind schlimmer.“
+</p>
+
+<p>
+Der Nigger zog wieder ab.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+Nach einer Weile kam Gonzalo. Die rote Schlange war inzwischen verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+Es gefiel ihm sehr, und er fragte mich, ob ich etwas dagegen habe, wenn
+er auch hier schliefe.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich, „schlafen Sie ruhig hier, mir ist das ganz egal.“
+</p>
+
+<p>
+Da starrte er auf den Boden.
+</p>
+
+<p>
+Ich folgte seinem Blick.
+</p>
+
+<p>
+Es war wieder eine Schlange. Diesmal eine schöne grüne.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will doch lieber im Hause schlafen,“ sagte nun Gonzalo, „ich mag
+Schlangen nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Ich mache mir nichts aus Schlangen. So leicht werden sie ja wohl kaum
+auf den Tisch kommen; und wenn sie sich wirklich hinaufringeln sollten,
+was sie zuweilen tun, so werden sie ja nicht gleich beißen, und wenn
+sie beißen sollten, so werden sie wohl nicht gleich giftig sein. Wären
+sie alle giftig und würden sie alle einen schlafenden Menschen, der
+ihnen nichts zuleide tut, beißen, wäre ich längst nicht mehr am Leben.
+Da dieser Unterstand höher lag als das Haus, keine Wände hatte,
+jedem kleinen Windzug freieren Durchgang ließ, in der Nähe auch
+kein Strauchwerk war und er weit genug von der Zisterne und dem
+ausgetrockneten Tränkepfuhl entfernt war, hatte ich hier in der Tat
+beinahe gar nicht unter den Moskitos zu leiden.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen kamen noch etwa zwölf Eingeborene zur Mitarbeit.
+Die wohnten ziemlich weit entfernt in einem Dorfe, das irgendwo
+im Busch liegen mochte. Sie kamen auf Maultieren geritten; manche
+hatten weder Sattel noch Steigbügel. Andre hatten wohl einen Holzsattel,
+aber keinen Zaum; an Stelle des Zaumes war den Tieren ein
+Strick um das Maul gebunden.
+</p>
+
+<p>
+Diese Leute waren an die Feldarbeit in den Tropen besser gewöhnt als
+wir, die wir, mit Ausnahme des großen Niggers alle Städter waren.
+Aber sie schafften viel weniger als wir und mußten eine viel längere
+Mittagspause machen. Jedoch das ging uns nichts an, und darüber nachzudenken,
+lohnte sich auch nicht recht.
+</p>
+
+<p>
+Am Samstag kriegten wir ausbezahlt. Wir ließen uns von den paar
+Kröten, die wir in so mühseliger Arbeit verdient hatten, gerade so viel
+geben, wie wir brauchten, um Lebensmittel für die nächste Woche einzukaufen.
+Den Rest ließen wir beim Farmer stehen, denn auch nur
+einen Nickel in der Tasche zu haben, ist nichts als Versuchung für andre.
+Selbstverständlich arbeiteten wir Sonntags auch. Der brachte dann
+knapp ein Kilo Speck ein, oder fünf Kilo Kartoffeln; weil wir an dem
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+Tage schon um drei Uhr Schluß machten, um uns wenigstens einmal
+in der Woche waschen zu können, und um das verschwitzte Zeug, das
+man Tag und Nacht auf dem Leibe hatte, durchs Wasser zu ziehen.
+</p>
+
+<p>
+Der Chinc und Antonio waren in den nächsten Laden gegangen, der
+etwa dreiundeinehalbe Stunde entfernt lag, um für uns alle das einzukaufen,
+was jeder ihnen auf ein Maisblatt aufgeschrieben hatte. Die
+Hieroglyphen, die auf jenen Maisblättern standen, waren nur von den
+Einkäufern zu entziffern, denen wir mündlich die Bedeutung der
+phantastischen Zeichen ausführlich hatten erklären müssen.
+</p>
+
+<p>
+Den nächsten Sonntag hatten dann ich und Charley einkaufen zu
+gehen.
+</p>
+
+<p>
+An diesem Sonntag war Charley schon um zwei Uhr von der Plantage
+verschwunden. Er war mit seinem Sack Baumwolle zur Wage gegangen
+und nicht zurückgekommen.
+</p>
+
+<p>
+Als wir zum Hause kamen, waren Sam und Antonio schon mit den
+Gütern angelangt.
+</p>
+
+<p>
+„Eine elende, nichtswürdige Schlepperei“, sagte Antonio.
+</p>
+
+<p>
+„Ach das war nicht so schlimm!“ begütigte Sam.
+</p>
+
+<p>
+„Ruhig, du gelber Heidensohn, du natürlich, mit deiner Lastträgervergangenheit,
+was verstehst du von Schleppen?“ rief Antonio, während
+er sich auf eine Kiste hinsetzte, die auch noch unter ihm zusammenbrach
+und seine Laune durchaus nicht besserte.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Antonio, warum haben Sie denn nicht Mr. Shine um ein
+Mula oder einen Esel gebeten?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Aber das habe ich ja getan. Er hat es abgelehnt. Er sagte zu mir und
+Sam: Wie kann ich euch denn ein Mula geben? Ich kenne euch ja gar
+nicht. Ihr habt ein paar Tage bei mir gearbeitet, Sachen habt ihr keine,
+Papiere habt ihr auch keine, und wenn ihr welche hättet, kann ich mir
+für eure Papiere, die vielleicht noch nicht einmal euch gehören, kein
+andres Mula kaufen, wenn ihr es im nächsten Ort verschachert und
+euch dann hier nicht mehr sehen laßt.“
+</p>
+
+<p>
+„Von seinem Standpunkt aus hat er recht“, erwiderte ich; „doch von
+unserm Standpunkt aus gesehen, ist es eine große Niedertracht. Aber
+was können wir machen?“
+</p>
+
+<p>
+Und gerade jetzt, wo wir so schön im Zuge waren, das Lieblingsthema
+aller Arbeiter der Erde anzuschlagen und uns den ungerechten Zustand
+in der Welt, der die Menschen in Ausbeuter und Ausgebeutete, in
+Drohnen und Enterbte teilt, mit mehr Lungenkraft als Weisheit klarzumachen,
+kam Abraham an mit sechs Hennen und einem Hahn, die
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+er an den Füßen zusammengebunden hatte und, ihre Köpfe nach unten
+hängen lassend, an einem Bindfaden über der Schulter trug.
+</p>
+
+<p>
+Er warf das Bündel auf die Erde, wo die Vögel sich vergeblich mühten,
+aufzustehen oder von den Fesseln los zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+„So, fellers,“ grinste er, „jetzt könnt ihr Eier von mir haben. Ich lasse
+euch das Stück für neun Centavos, billig, weil ihr ja meine Arbeitskollegen
+seid. In der Stadt kosten die Eier zehn, sogar elf.“
+</p>
+
+<p>
+Wir starrten bald das Bündel Hühner, bald den grinsenden Abraham
+an. An ein solches Geschäft hatte keiner von uns gedacht, und es lag
+doch so nahe, war so einfach, verlangte absolut keine besondere Intelligenz;
+jeder von uns hätte das ebensogut machen können. Sam Woe
+empfand keinen Neid, keine Eifersucht, nur Bewunderung für den
+unternehmungslustigen Geflügelzüchter; jedoch er schämte sich, daß
+er sich von einem Nigger beim Ausdenken einer ehrlichen Nebeneinnahme
+hatte schlagen lassen.
+</p>
+
+<p>
+Vor unsern Augen, nicht einmal über Nacht, sondern über drei Nachmittagsstunden
+war aus einem Enterbten und Ausgebeuteten ein Produzent,
+ein Unternehmer geworden. Er hatte sich von seinem Lohn die
+Hühner gekauft, wir Lebensmittel. Er hatte keine Lebensmittel mitbringen
+lassen, und wir hatten uns schon vorbereitet, wie wir ihm das
+Stehlen, auf das er unter diesen Umständen angewiesen war, unmöglich
+machen wollten. Aber er hatte uns übertrumpft. Er lieferte Eier
+und tauschte dafür an Reis und Bohnen ein, was er brauchte. Trat nun
+der Fall ein, daß wir seine Produkte boykottierten, so konnte er ja den
+Hahn schlachten, vielleicht noch ein Huhn, bis er wieder Lohn bekam.
+Am nächsten Morgen hatte Abraham vier Eier. Das Geschäft konnte
+beginnen.
+</p>
+
+<p>
+Eier betrachteten wir noch als einen größeren Luxus denn Speck oder
+Fleisch. Aber jetzt, wo die Eier so verlockend nahe zur Hand waren,
+viel schneller zubereitet werden konnten als irgendeine andre Speise
+und uns dadurch eine Möglichkeit gegeben war, zum Frühstück etwas
+andres und Kräftigeres in den Magen zu bekommen als den dünnen
+Kaffee und ein schmales Stückchen verbranntes Brot, da wollten und
+konnten wir auf Eier nicht mehr verzichten. Wir sahen plötzlich ein,
+daß wir ohne Eier noch vor Beendigung der Ernte an Unterernährung
+zugrunde gehen würden, und wenn wir je wirklich die Ernte überlebten,
+so würden wir doch so entkräftet sein, daß uns niemand in Arbeit
+nehmen würde. Die Sklaven wurden immer, so erzählte uns Abraham,
+der es von seinem Großvater wußte, in gutem Ernährungszustande gehalten,
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+wie Pferde; um den Ernährungszustand der freien Arbeiter
+kümmerte sich kein Mensch. Wenn sie zu schlecht ernährt waren, weil
+der Lohn für eine bessere Ernährung nicht reichte, flogen sie ’raus.
+</p>
+
+<p>
+Solche merkwürdigen Ansichten, die natürlich keine wissenschaftliche
+Grundlage hatten und auch ganz und gar unrichtig waren, brachte
+Abraham vor, nur um seinen Eiern einen regen und dauernden Absatz
+zu sichern. Uns leuchtete eine solche Betrachtung menschlicher Verhältnisse
+um so mehr ein, als es gerade Abraham gewesen war, der uns
+gestern mitten in jener regen Auseinandersetzung unterbrochen hatte,
+die uns ohne Zweifel, wenn auch nicht auf dem Wege über Eier, zu
+genau derselben Schlußbetrachtung der Welt geführt haben würde.
+</p>
+
+<p>
+Außerdem stundete uns Abraham gutmütig den Betrag für gelieferte
+Eier bis zum nächsten Lohntage. Er tat es nur aus Gutmütigkeit, und
+weil er nicht wollte, daß wir, seine lieben Arbeitskameraden, im
+spätern Leben, also nach der Ernte, wegen Unterernährung Schiffbruch
+erleiden sollten.
+</p>
+
+<p>
+Nach drei Tagen konnten wir nicht mehr verstehen, wie wir es überhaupt
+jemals fertiggebracht hatten, ohne Eier auszukommen. Es gab
+Eier zum Frühstück, es wurden Eier zum Mittagessen mitgenommen
+und abends gab es erst recht Eier, wir backten Eier sogar ins Brot, nur
+um die nötige Arbeitskraft für unser ferneres Leben zu erhalten.
+</p>
+
+<p>
+Abraham verstand die Geflügelzucht, das mußte man ihm lassen.
+</p>
+
+<p>
+Er fütterte seine Hühner reichlich mit Mais. Jeden zweiten Abend
+mit Dunkelwerden machte er sich auf den Weg mit einem Sack, um
+bei den Farmern Mais einzukaufen. Manchmal ging er schon um drei
+Uhr vom Felde heim, um seine Hühner auch gut zu versorgen. Vom
+Mais einkaufen kam er aber immer erst zurück, wenn wir schon längst
+schliefen.
+</p>
+
+<p>
+Die sechs Hühner und der eine Hahn, als ob sie unsern Bedarf schon im
+voraus kannten, taten das menschenmögliche, nein, hühnermögliche, um
+uns vor der drohenden Unterernährung zu schützen. Und für den reichlich
+gelieferten Mais lieferten sie als gerechte Gegenleistung mehr, als
+sonst eine Henne zu liefern sich verpflichtet fühlt.
+</p>
+
+<p>
+Am ersten Morgen hätten die Hühner, wie schon berichtet, vier Eier
+gelegt, am zweiten Morgen sieben, und als wir bezweifelten, daß dies
+möglich sei, führte uns Abraham am darauffolgenden Morgen zu den
+drei alten Schilfkörben, die er für den Zweck aufgehängt hatte, und
+gestattete uns, selbst nachzuzählen. Wir zählten an diesem dritten Morgen
+siebzehn Eier, die von den Hühnern über Nacht gelegt waren.
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+Da wir die Eier persönlich bei Sonnenaufgang gesehen und persönlich
+gezählt hatten, zweifelten wir von dem Tage an nicht mehr an der Zahl
+der von Abrahams Hühnern gelegten Eier, obgleich er uns eines Morgens
+freudestrahlend, als hätte er in der Lotterie gewonnen, mitteilen
+konnte, daß die Hühner achtundzwanzig Eier über Nacht gelegt hätten.
+Uns war es ja gleichgültig, wie Abraham seine Hühner behandelte, um
+solche Resultate zu erzielen. Als Sam Woe eines Tages erklärte, bei
+ihm zu Hause wisse man auch aus einer Krume Erde oder aus einer
+Henne herauszuholen, was nur überhaupt ein Gott sonst noch herausquetschen
+könne, aber das hätten sie daheim doch noch nicht geschafft,
+da fuhr ihm der Nigger gleich übers Maul: „Ihr seid eben Esel, ihr versteht
+die rationelle Geflügelzucht ebensowenig wie hier herum die
+ganzen Farmer, die noch größere Esel sind, als ihr seid. Aber wir in
+Louisiana, wir verstehen Hühner zu behandeln. Ich habe es von meiner
+Großmutter gelernt. Es hat viel Prügel gesetzt, ehe ich es begriffen
+habe; aber jetzt kommt auch kein noch so tüchtiger Farmer gegen mich
+mehr auf, wenn ich in der Nähe eine Geflügelzucht betreibe und einmal
+zeige, wie man Hühner rentabel macht.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-8">
+7
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> aßen die Eier nur. Aber die Eier rächten sich: sie
+fraßen. Sie fraßen an unserm Lohn so gierig, daß
+niemand sein gestecktes Ziel erreichen konnte, sei es
+ein neues Hemd, eine neue Hose oder eine Fahrkarte
+nach einer Stadt mit besserer Arbeitsgelegenheit.
+</p>
+
+<p>
+Auch Sam Woe, dessen Landsleuten sehr zu Unrecht
+nachgesagt wird, daß sie sich lieber den Finger abbeißen
+als Geld für etwas Überflüssiges auszugeben,
+hatte ein ganz nettes Schuldsümmchen für Eier bei Abraham stehen.
+Ich glaube aber doch, daß er bei jedem Ei, das er aß, immer bedauerte,
+daß er nicht der Lieferant sei.
+</p>
+
+<p>
+So vergingen zwei weitere Wochen. Verglichen mit der ersten Woche
+lebten wir jetzt in Saus und Braus. Das taten die Eier, und das tat eine
+Nacht mit fünfstündigem Wolkenbruch, der uns so gut mit Wasser versorgte,
+daß wir hierin fürstlich schwelgen konnten.
+</p>
+
+<p>
+Freilich bedeutete dieser Regen einen halben Tag Verlust an Arbeitslohn.
+Das Feld war am Morgen so lehmig und schlammig, daß wir die
+Füße kaum herausziehen konnten. Erst gegen Mittag, als die Sonne die
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+übliche Kruste gebrannt hatte, konnten wir wieder an die Arbeit gehen.
+Am dritten Lohntag sehen wir ein, daß wir mit dem Geld, das wir verdienten,
+nicht auskommen konnten. Wenn die Ernte vorüber sein wird,
+werden wir knapp zwei Wochen Lohn in der Hand haben. Ehe wir
+bis zur nächsten Stadt kommen und dort irgendeine Arbeitsgelegenheit
+finden würden, hätten wir genau soviel oder richtiger sowenig übrig,
+als wenn wir nicht sechs Wochen, jede Woche zu sieben Tagen, in
+tropischer Sonnenglut von Sonnenaufgang bis beinahe Sonnenuntergang
+bei, trotz der Eier, allerbescheidenster Nahrung hart gearbeitet
+hätten. Denn außer für Essen und etwas Tabak gaben wir nichts aus.
+Es war auch keine Gelegenheit dazu. Der nächste Saloon, wo es Bier
+und Schnaps gab, und wo man spielen konnte, war über drei Stunden
+entfernt.
+</p>
+
+<p>
+„Daran sind die verfluchten Eier schuld, daß wir für nichts geschuftet
+haben sollen!“ sagte Antonio am Abendfeuer, als wir unsre Lage überdachten.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wir hätten sie doch nicht kaufen brauchen,“ warf ich ein,
+„Abraham hat sie uns doch nicht aufgedrängt. Er hätte sie doch sammeln
+und Sonntags zum Laden bringen können.“
+</p>
+
+<p>
+„Da hätte er aber mehr Arbeit davon gehabt“, sagte Gonzalo.
+</p>
+
+<p>
+In dem Augenblick kam Abraham gerade von seinem abendlichen
+Maiseinkauf zurück. Er warf den Sack auf die Erde und sagte: „Wovon
+ist denn die Rede? Vielleicht etwa gar von den Eiern? Ich habe sie
+doch ehrlich an euch abgeliefert, und frisch gelegt war jedes einzelne
+auch, da kann ich doch auch wohl ehrlich mein Geld verlangen, nicht
+wahr, fellers? That so?“
+</p>
+
+<p>
+„Von Nichtbezahlen hat niemand gesprochen, wenn Sie nicht wissen,
+wovon und worüber geredet worden ist, dann halten Sie lieber ihre
+Gosche“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte Antonio, „die Rede ist davon, daß, wenn wir nicht den
+Luxus mit den Eiern einstellen, wir hier die vielen Wochen umsonst
+gearbeitet haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Luxus nennt ihr das?“ rief Abraham entrüstet aus. „Ja, wollt ihr denn
+als Skelette ’rumlaufen, wenn die Ernte vorüber ist? Meinetwegen, ich
+kann meine Eier auch anderswo verkaufen. Also, jetzt kassiere ich.
+Antonio, Sie haben – –“
+</p>
+
+<p>
+Das interessierte mich nun gar nicht, wieviel jeder hatte und was jeder
+zu bezahlen haben mochte. Ich bezahlte meine Rechnung bei Abraham
+und ging dann nach meiner Behausung schlafen. Als ich unterwegs war,
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+hörte ich, wie Charley und Abraham in Wortwechsel gerieten. Der
+große Nigger behauptete, Abraham habe ihm drei Eier zuviel angerechnet.
+Abraham bestritt es und drängte auf richtige Bezahlung. Nach
+einer Weile Hin- und Herredens mußte Charley zugeben, daß er sich
+geirrt habe, und daß Abraham im Recht sei. In diesen Dingen, die das
+Geschäft unmittelbar betrafen, also Lieferung und Bezahlung, war
+Abraham unbedingt ehrlich.
+</p>
+
+<p>
+Des Abends vor dem Einschlafen nahm ich mir vor, diese Woche einmal
+ohne Eier auszukommen.
+</p>
+
+<p>
+Am Morgen, als ich zum Feuer ging, hörte ich Antonio schon rufen:
+„Wo sind denn heute morgen die Eier, du rabenschwarzer Yank? Ich
+will fünf haben.“
+</p>
+
+<p>
+Abraham zählte seine Eier, die er in den Körben gesammelt hatte, mit
+einem Ernst und mit einer Sorgfalt, als ob er sie wirklich zum ersten
+Male in der Hand habe und nicht schon gestern abend genau gewußt
+hätte, wieviel Eier die Hühner über Nacht legen würden. Er tat, als
+habe er den Geschäftsauftrag Antonios nicht gehört.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Mensch, Nigger, hast du denn nicht gehört, fünf Eier will ich haben,
+oder soll ich sie mir vielleicht selber nehmen?“ wütete jetzt Antonio.
+</p>
+
+<p>
+„Was denn!“ sagte Abraham ganz unschuldig. „Ich will euch doch nicht
+meine Eier aufdrängen und euch den sauer verdienten Wochenlohn aus
+der Tasche rauben. Spart das Geld lieber! Ihr könnt auch ganz gut ohne
+Eier auskommen. Ihr seid ja die ersten Tage auch ohne Eier fertig geworden.“
+</p>
+
+<p>
+Das war ein ganz neuer Ton, den wir von Abraham bisher nie vernommen
+hatten.
+</p>
+
+<p>
+Wir empörten uns gegen eine solche Bevormundung unsrer Lebensweise
+wie ein Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Was fällt denn dir schwarzem Karnickel ein, mir vorzuschreiben, was
+ich essen und was ich nicht essen soll, ob ich mein Geld spare, oder ob
+ich es da in die Zisterne werfe, hä!“ mischte sich Gonzalo jetzt ein.
+„Sofort gibst du mir sechs Eier, oder ich schlage dir deinen Wollschädel
+in Scherben.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte Abraham resigniert, „da ihr es nicht anders haben wollt
+und mir sogar mit Schlägen droht, will ich euch die Eier wie bisher
+liefern.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was hast du dir denn gedacht?“ sagte Sam Woe ganz ruhig und
+schulmeisterlich. „Erst verführst du uns, Eier zu essen, und wenn wir
+dalan gewöhnt sind, willst du sie uns verweigern. Gib mir dlei Eier!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+Der Chinc hatte ein bestimmtes Gefühl bei mir ausgelöst: Jetzt auf einmal,
+wo wir uns an die Eier, an die Bequemlichkeit ihrer Zubereitung,
+an die Nachhaltigkeit ihres Nährstoffes und an ihre mühelose Beschaffung
+so sehr gewöhnt hatten, sollten wir plötzlich einer Laune des
+Niggers wegen darauf verzichten! Das war ja nicht anders, als wenn
+wir aus dem Zeitalter der drahtlosen Abendunterhaltung in das der
+Steinaxt zurückgeschleudert werden sollten. Gestern abend, den Magen
+übervoll gefüllt mit einem dicken, prächtigen vollwertigen Eierpfannkuchen,
+hatte ich allerdings den Entschluß gefaßt, diese Woche einmal
+keine Eier zu beziehen. Aber am Morgen, als der Magen leer war wie ein
+vertrockneter Autoreifen, hielt ich den Entschluß für kindisch. Warum
+sollte ich mich denn kasteien und meinen mir lieben Körper qualvoll
+peinigen beim Anblick der schönen frischen Eier, die bereits lustig in
+den Pfannen der andern brutzelten?
+</p>
+
+<p>
+„Gib mir sechs!“ kommandierte ich Abraham.
+</p>
+
+<p>
+Freilich, als ich drei Spiegeleier gegessen und zwei zum Mitnehmen für
+das Mittagessen gekocht hatte, fiel mich wieder die reuige Wehmut an.
+Also es blieb bei den Eiern.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-9">
+8
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">uf</span> dem Nachhauseweg rief mich Mr. Shine an:
+„Hören Sie, Mr. Gale, können Sie auf eine Viertelstunde
+herein? Meine Frau hat einen guten Kuchen
+gebacken, Sie können eine Tasse Kaffee mit uns
+trinken.“
+</p>
+
+<p>
+Dann, als wir bei Tische saßen, erzählte mir Mr. Shine,
+wie er mit 260 Dollar, die er sich sauer erspart hatte,
+hier angefangen habe, wie er mit eigner Hand die
+Farm aus dem rohen Busch herausgearbeitet habe, wie die Straße, die
+mehr als drei Stunden zur nächsten Ortschaft führt, bei seiner Ankunft
+nur ein schmaler, verwachsener Weg war, gerade breit genug, um mit
+dem Maultier durchzukommen, wie er auch diese Straße verbreitert
+habe, so daß er sie jetzt mit eignem Ford befahren könne.
+</p>
+
+<p>
+„Vierundzwanzig Jahre harter, sehr harter Arbeit waren notwendig,
+um etwas zu werden. Und wir Gringos hier, die wir dem Lande erst
+Wert geben, sind trotzdem immer wie auf dem Sprunge, plötzlich
+fliehen und alles verlassen zu müssen. Wir werden gehaßt wie der Tod,
+weil man um die Freiheit und Unabhängigkeit, die den Leuten hier über
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+alles gilt, bangt.“ Er war nicht der erste Amerikaner, der mir diese Nöte
+schilderte.
+</p>
+
+<p>
+„Manches Jahr ist sehr gut. Ich habe schon häufig vier Ernten im Jahr
+an Mais gehabt. Das erreichen wir drüben in den States nicht. Aber dieses
+Jahr ist schlecht. Die Baumwolle hat, was seit fünfzehn Jahren nicht
+vorgekommen ist, Frost abbekommen; deshalb ist sie nur halb wie sie
+sein soll. Und ich weiß auch gar nicht, was mit dem Hühnervolk los ist.
+Wir haben nie so wenig Eier gehabt, wie in den letzten Wochen. Auch
+Mr. Fringell und Mr. Shape klagen über ihre Hühner.“
+</p>
+
+<p>
+Am Abend erzählte ich Abraham, was mir Mr. Shine über die Hühner
+gesagt hatte. Aber mein Kamerad geriet nicht in die geringste Verlegenheit.
+</p>
+
+<p>
+„Na, da seht ihr es ja, fellers,“ sagte Abraham eifrig, „das sind die
+richtigen amerikanischen Farmer wie drüben. Vor Geiz möchten sie am
+liebsten ihre Fingernägel aufessen. Da gönnen sie den armen Hühnern
+kaum eine Handvoll Mais. Wie können denn die Hühner richtig legen,
+wenn sie nicht gut gefüttert werden? Da seht meine Hühner an! Ich
+spare nicht mit dem Mais. Aber dafür geben die Tierchen auch etwas
+her. Man muß sie nur gut und reichlich füttern und sachgemäß behandeln,
+dann tun sie auch ihre Pflicht. Das hat mich meine gute Großmutter
+Susanne gelehrt, und die war eine sehr kluge Frau, das könnt
+ihr mir glauben, fellers. That’s a fact!“
+</p>
+
+<p>
+Na, wir glaubten es ihm. Die Beweise lagen ja vor.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-10">
+9
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> selben Abend nach dem Essen setzte wieder die
+Unterhaltung über die Frage ein, wieviel uns an Geld
+übrigbliebe, wenn die Ernte vorüber sei. Diesmal
+aber wurden weder die Eier noch Abraham, der
+dabeisaß, in dem Gespräche erwähnt.
+</p>
+
+<p>
+An diesem Abend kamen wir alle einmütig zu dem
+Ergebnis, daß wir ordentlich essen müßten, um uns
+arbeitsfähig zu erhalten, daß wir eine bestimmte
+Summe am Ende der Ernte übrighaben müßten, um nicht umsonst
+gearbeitet zu haben oder wie Sklaven nur für das Essen, und daß also,
+kurz und bündig, der Lohn zu niedrig sei. Wenn wir statt sechs acht
+Centavos für das Kilogramm bekämen, könnten wir gerade zurechtkommen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+Mit diesem Gedanken gingen wir schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen, sobald die andern Arbeiter auf das Feld gekommen
+waren, gingen Antonio und Gonzalo gleich zu ihnen und erklärten ihnen,
+daß wir die Absicht hätten, acht Centavos zu verlangen und zwei Centavos
+Nachbezahlung für die bisher schon gepflückten Kilos. Diese
+Leute, alle unabhängiger als wir, weil sie alle ihr Stückchen Land hatten,
+waren ohne weiteres damit einverstanden.
+</p>
+
+<p>
+Nun gingen Antonio und Gonzalo sowie zwei von den andern Leuten
+zur Wage und sagten Mr. Shine, was los sei.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ antwortete Mr. Shine, „das bezahle ich nicht, ich bin doch nicht
+verrückt! Das habe ich noch nie bezahlt! Das kommt ja gar nicht rein!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte Antonio, „dann machen wir Schluß. Wir wandern dann
+noch heute ab.“
+</p>
+
+<p>
+Da mischte sich einer von den ansässigen Arbeitern ein: „Hören Sie,
+Senjor, wir warten zwei Stunden. Überlegen Sie es sich. Wenn Sie dann
+noch Nein! sagen, satteln wir unsre Mulas. Wir wollen schon dafür
+sorgen, daß Sie keine Leute kriegen.“
+</p>
+
+<p>
+Damit war die ganze Konferenz erledigt. Die vier Abgesandten gingen
+ins Feld zurück, berichteten die abschlägige Antwort, und alle Leute
+verließen ihre Reihen, gingen zu den Bäumen und legten sich schlafen.
+Als ich auch auf dem Wege zu den Bäumen war, rief Mr. Shine herüber:
+„He, Mr. Gale! Kommen Sie auf einen Augenblick her!“
+</p>
+
+<p>
+Ich ging hinüber. „Na,“ sagte ich gleich beim Näherkommen, „wenn Sie
+etwa glauben, daß ich hier die Mittelsperson mache, dann sind Sie im
+Irrtum, Mr. Shine. Wäre ich Farmer, stünde ich auf Ihrer Seite, und ich
+ginge mit Ihnen durch dick und dünn. Da ich aber kein Farmer, sondern
+Farm-Hand bin, stehe ich zu meinen Arbeitskollegen. Das verstehen
+Sie doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Gar kein Zweifel, Mr. Gale,“ erwiderte er, „es ist auch gar nicht meine
+Absicht, Sie herüberzuziehen; denn Sie allein könnten die Baumwolle
+ja doch nicht hereinholen. Aber wir wollen das einmal in Ruhe überrechnen.“
+</p>
+
+<p>
+Mr. Shine zündete sich eine Pfeife an und gab mir Tabak. Sein ältester
+Sohn, der etwa sechsundzwanzig Jahre alt war, steckte sich eine Zigarre
+an, und der zweite Sohn, der jüngste in der Familie, ungefähr zweiundzwanzig
+Jahre alt, pellte ein Stück Kaugummi aus einem Stück verschweißtem
+Papier heraus und schob es in den Mund.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind der einzige Weiße hier unter den Pflückern, und da ich Ihnen
+ja schon acht bezahle, sind Sie eigentlich parteilos und können hier mitsprechen.
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+Sie haben doch nicht etwa den andern Burschen gesagt, daß
+Sie acht bekommen?“ fügte Mr. Shine, die Pfeife aus dem Munde
+nehmend, hinzu.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich, „dazu hatte ich nicht die geringste Ursache.“
+</p>
+
+<p>
+Dick, der älteste Junge, kletterte in das Lastauto, lehnte sich gegen einen
+Ballen Baumwolle und ließ die Beine über die Reling baumeln.
+</p>
+
+<p>
+Pet, der jüngere, setzte sich zum Steuerrad und druselte, unausgesetzt
+seinen Gummi knatschend, vor sich hin.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte lehnte sich gegen den Wagen und fummelte, unaufhörlich
+fluchend, an seiner Pfeife herum, die bald ausging, bald verstopft war,
+bald neuen Tabak brauchte, obgleich der Rest noch gar nicht ganz aufgebrannt
+war.
+</p>
+
+<p>
+Die ganze Erregung, die den Farmer durchtobte, äußerte sich nur in der
+Behandlung seiner Pfeife.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem etwa fünf Minuten lang niemand etwas gesagt hatte, platzte
+plötzlich Pet heraus: „Weißt du was, Daddy, ich an deiner Stelle würde
+bezahlen, ohne viele Worte zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, du,“ rief Mr. Shine wütend, „du würdest bezahlen. Es geht ja nicht
+aus deiner Tasche, da ist das ‚Bezahlen würden‘ sehr leicht. Aber dann
+ziehe ich dir’s von deinem Taschengelde ab.“
+</p>
+
+<p>
+„Das wirst du nicht tun, Daddy, oder du mußt mir das Geld für die verkaufte
+Baumwolle auch geben, sonst wäre es ungerecht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ha! Daß ich nicht platze vor Lachen. Das Geld für die verkaufte Baumwolle!?
+Habe ich denn überhaupt schon für einen Dime verkauft?
+Ich sage Ihnen, Mr. Gale, noch nicht einen blanken Tinker hat man mir
+geboten. Und was für eine Baumwolle in diesem Jahr! Die weißeste
+Schneeflocke von Alaska muß sich dagegen schämen. Und sehen Sie einmal
+hier, Mr. Gale,“ dabei rupfte er eine Knolle, die dicht neben ihm
+stand, ab und quetschte sie, sie mir dicht vor die Nase haltend, in seinen
+Fingern, „die weichsten Daunen sind dagegen der purste Stacheldraht.
+– Ja, Gosch, sagen Sie doch auch einmal ein Wort! Stehen Sie doch
+nicht so da, als ob Sie die Sprache verloren hätten!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bin doch unparteiisch“, sagte ich darauf.
+</p>
+
+<p>
+„Ja richtig, Sie sind unparteiisch. Aber Sie können doch wenigstens den
+Mund mal aufmachen!“
+</p>
+
+<p>
+Es kam ihm nur darauf an, jemand zu finden, dem er widersprechen
+konnte.
+</p>
+
+<p>
+Da räkelte sich Dick ein wenig bequemer in seine Stellung ein und
+sagte ganz langsam und bedächtig mit breit gezogenen Worten:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+„Da will ich dir mal was sagen, Dad –“
+</p>
+
+<p>
+„Du? Ja du bist mir gerade der Rechte.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann eben nicht. Ich habe Zeit. Es ist ja nicht meine Baumwolle, es ist
+ja deine.“
+</p>
+
+<p>
+Und als Dick nun wieder in seine bulkige Schweigsamkeit zurückfiel,
+sagte der Alte plötzlich ganz erbost: „Ja, verflucht noch mal, dann rede
+doch schon! Oder soll ich hier vielleicht stehen, bis die ganze Baumwolle
+verfault und verwurmt ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du, Dad, das meine ich gerade: verfault. Wenn die Leute gehen,
+andre kriegen wir nicht. Und wenn wir die Leute herschippen lassen
+von den Städten, müssen wir mehr Reisegeld bezahlen, als die Sache
+wert ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Rede doch schon einen Strich schneller!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich muß mir doch erst ausdenken, was ich sagen will. Sieh mal,
+Dad, einmal hat es schon geregnet. Und es sieht ganz so aus, als ob wir
+eine sehr frühe Regenzeit kriegen oder eine volle Woche Stripregen.
+Dann ist die ganze Baumwolle hinüber, dann ist sie in den Dreck gehauen,
+und du kannst lange suchen, bis du einen findest, der dir anstatt
+der Baumwolle den Sand abkauft. Je eher wir die Baumwolle ‚ginned‘
+und auf den Markt gebracht haben, desto besser ist der Preis. Wenn der
+Markt erst mal voll ist, müssen wir froh sein, wenn wir sie mit zwanzig
+oder fünfundzwanzig Centavos Verlust losschlagen, wenn wir sie dann
+überhaupt unterbringen und sie uns nicht auf dem Halse liegen bleibt. Bis
+jetzt sind wir sehr früh dran und sind mit die ersten auf dem Markt.“
+</p>
+
+<p>
+„Verflucht noch mal, Junge, du hast verteufelt recht! Vor vier Jahren
+habe ich sie mit dreißig Centavos das Kilo unter dem Anfangspreis verkaufen
+müssen und habe noch dagestanden wie ein armseliger Bettler,
+der um ein Stück Brot boomen muß. Aber ich bin doch nicht ganz und
+gar wahnsinnig geworden, daß ich acht Centavos bezahle! Früher habe
+ich sogar bloß drei, wenn sie schlecht stand, vier bezahlt. Nein, das ist
+abgemacht, da lasse ich sie, by Gosh!, zehnmal lieber verfaulen und verschimmeln,
+just wie sie dasteht, ehe ich nachgebe.“
+</p>
+
+<p>
+Dabei schlug er mit der Hand nach einer Staude, als ob er mit dieser
+einen Handbewegung das ganze Feld abrasieren wollte.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam ihm in seinem Zorn ein andrer Gedanke:
+</p>
+
+<p>
+„Aber an der ganzen Geschichte sind bloß die Fremden schuld, die Auswärtigen.
+Die hetzen uns hier die Leute auf. Die können nie den Rachen
+vollkriegen. Unsre Leute hier herum sind immer zufrieden. Ja, Sie auch,
+Mr. Gale, Sie sind auch einer von den Aufwieglern und von den Bolsches,
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+die alles auf den Kopf stellen und uns das Land wegnehmen und
+das Bett unter dem Hintern fortziehen wollen. Bei mir kommt ihr aber
+an die falsche Nummer. Das habe ich selber mitgemacht. Das kenne ich,
+weiß, wie es gemacht wird. Aber wir haben keine I. W. W.<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> und alles
+solchen Stoff gehabt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie mich meinen, Mr. Shine, tun Sie sich keinen Zwang an.
+Nebenbei bemerkt, habe ich Ihnen gar keinen Grund gegeben, festzustellen,
+ob ich ein Wobbly<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> bin oder nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Mischen Sie sich doch nicht ’rein, von Ihnen ist ja gar nicht die Rede.
+Ich habe Sie ja gar nicht gemeint. Aber bezahlen tu ich nicht, basta!“
+</p>
+
+<p>
+„Na hör’ mal, Daddy“, sagte jetzt Pet, ohne sich seinem Vater zuzuwenden,
+„in bezug auf die Fremden hat du unrecht, durchaus. Die sechs
+Fremden schaffen mehr herein als die zwölf oder vierzehn Indianer.
+Die tun doch überhaupt bloß etwas, weil sie sehen, wie die Fremden
+arbeiten und was verdient werden kann. Wenn unsre Hiesigen einen
+Peso machen, dann sind sie zufrieden und halten lieber fünf Stunden
+Mittagschlaf, weil ihnen das wichtiger ist. Ohne die Fremden bekämen
+wir die Baumwolle vor Weihnachten nicht herein, da wette ich mein
+Leben darauf.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bezahle keine acht, und damit Schluß!“
+</p>
+
+<p>
+„Dann kann ich ja ankurbeln, und wir können heimfahren“, sagte Dick
+trocken und kletterte gemächlich von dem Wagen herunter.
+</p>
+
+<p>
+Es waren noch lange keine zwei Stunden vergangen, aber die „Hiesigen“
+wurden jetzt beweglich. Sie fingen ihre Maultiere ein und begannen
+aufzusatteln.
+</p>
+
+<p>
+Als einige der Peons schon soweit waren, aufzusitzen, sprangen Antonio
+und Gonzalo plötzlich auf, warfen ihre großen Hüte hoch in die Luft
+und begannen mit schrillen Stimmen zu singen:
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Es trägt der König meine Gabe,</p>
+ <p class="verse">Der Millionär, der Präsident –</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Die Leute hörten sofort auf, an ihren Tieren zu arbeiten, und standen
+stille wie Soldaten nach einem Kommando. Sie hatten das Lied nie gehört,
+fühlten jedoch sofort mit dem Instinkt des Mühseligen, daß es ihr
+Lied sei, daß dieses Lied mit dem Streik, mit dem ersten Streik, den sie
+erlebten, ebenso innig zusammenhing wie ein Kirchenchoral mit der
+Religion. Sie wußten nicht, was I. W. W. war, was eine Organisation
+bedeutet, was eine Klasse sei. Aber der Gesang hämmerte auf sie ein,
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+die Worte trafen den Atem ihres Daseins. Und das Lied schmiedete sie
+zusammen zu einem ehernen Block. Das erste leise Bewußtsein der ungeheuren
+Macht und Stärke der zu einem gemeinsamen Wollen vereinigten
+Proleten erwachte in ihnen.
+</p>
+
+<p>
+Als der erste Refrain wiederholt wurde, sang bereits das ganze Feld.
+Was vielleicht geschehen könnte, wenn der letzte Refrain begann, ohne
+inzwischen die gewünschte Antwort erhalten zu haben, wußte ich. Ich
+habe es erlebt.
+</p>
+
+<p>
+Der Gesang, so eintönig und so schlicht in seiner Melodie, aber so federnd
+wie feinster Stahl in seinem klingenden Rhythmus, steckte mich an. Ich
+konnte nicht anders, ich begann, das Lied mitzusummen.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich! Sie auch!“ sagte Mr. Shine, halb ironisch, halb selbstverständlich
+zu mir. „Ich hab’s ja gewußt!“
+</p>
+
+<p>
+Als der zweite Refrain erklang, wendeten sich die Leute, die bisher
+zwanglos in einer losen Gruppe bei ihren Maultieren gestanden hatten,
+alle wie ein Mann zu uns herüber, wodurch der Gesang herausfordernd
+und persönlich wurde.
+</p>
+
+<p>
+Mr. Shine faßte nervös nach hinten und knöpfte die lederne Revolvertasche
+auf, machte sie aber gleich wieder zu mit einer Geste der Verlegenheit,
+die ebensogut auch eine der Scham oder gar der Wurschtigkeit
+sein konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Teufel noch mal,“ rief er dann, „that means business, die scheinen
+Ernst zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das machen sie,“ sagte Pet knatschend, „und wenn sie einmal fort sind,
+haben wir unsre liebe Mühe und Not, sie wieder heranzuholen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte Mr. Shine, „ich bezahle acht, aber erst von heute an. Was
+bezahlt ist, bleibt bezahlt, da wird nichts nachgegeben. Mr. Gale, seien
+Sie doch so gut, bitte, und rufen Sie die Leute heran!“
+</p>
+
+<p>
+Ich lief ’rüber und brachte die ganze Horde zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Na, was ist?“ fragten die Leute, als sie nahe genug der Wage waren.
+</p>
+
+<p>
+„Also es ist abgemacht,“ sagte Mr. Shine halb erbost, halb von oben
+herab, „ich zahle acht für das Kilo, aber –“
+</p>
+
+<p>
+Antonio ließ ihn nicht ausreden:
+</p>
+
+<p>
+„Und für die schon gepflückten Kilos?“
+</p>
+
+<p>
+„– zahle ich die zwei Centavos nach. Aber nun auch tüchtig ran an die
+Arbeit, daß wir den ganzen Bettel noch trocken hereinkriegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hurra für Mr. Shine!“ schrie Abraham.
+</p>
+
+<p>
+„Halt’s Maul, damned Nigger, du bist nicht gefragt!“ schrie der Farmer
+wütend.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+„Aber was mache ich denn nun mit Ihnen, Mr. Gale?“ sagte er zu mir.
+„Sie bekommen doch schon acht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte ich, „da gehe ich halt leer aus, Mr. Shine.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sollen Sie nicht. Bei einem Mann kommt es mir auch nicht darauf
+an. Und weil Sie Weißer sind, der einzige Weiße, Sie sollen zehn
+haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Nachzahlung?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Nachzahlung! Ich bin ein fair businessman. Was stehen Sie denn
+noch ’rum? Machen Sie, daß Sie an die Arbeit kommen! Wir haben, weiß
+Gott, beinahe eine Stunde total verquatscht. Gerade um diese Stunde
+kann uns der Regen zu früh kommen. Das ziehe ich euch beiden Rangen
+ab, da könnt ihr Gift drauf nehmen“, so wandte er sich seinen Söhnen
+zu, die gerade dabei waren, die Wage wieder aufzuhängen.
+</p>
+
+<hr class="footnote">
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> I. W. W. = Industrial Workers of the World; eine sehr radikale Arbeiter-Organisation.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Wobbly = Mitglied der I. W. W.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-11">
+10
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">o</span> lief der Trott nun weiter die nächsten zwei, drei
+Wochen. Ohne besondere Ereignisse. Ein Tag wie der
+andre. Rennen im Trab, Arbeit, Rennen, Essen kochen,
+Schlafen, Rennen im Trab, Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags, als ich vom Feld heimkam, ging
+ich zu Mrs. Shine und fragte sie, ob sie mir ein Kilo
+Speck verkaufen oder bis Sonntag leihen wolle, da
+ich vergessen hätte, welchen mitbringen zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+„Können Sie haben, Mr. Gale, gegen Bezahlung oder Rückgabe, ganz
+wie Sie wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte ich, „dann gegen Bezahlung. Mr. Shine kann es mir ja am
+Samstag anrechnen.“
+</p>
+
+<p>
+Während sie eben dabei war, den Speck abzuwiegen, kam Mr. Shine
+von der Stadt zurück, wo er seine Post abgeholt und einige Bedarfsmittel
+eingekauft hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Da sind Sie ja gerade wie gerufen, Mr. Gale“, sagte er zu mir, als er
+ins Zimmer trat. „Ich habe eine Neuigkeit für Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Für mich? Woher soll die wohl kommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Direkt aus der Stadt. Im Store traf ich den Manager von Camp 97.
+Er saß da und trank gerade eine Flasche Bier nach der andern. Er war
+in großen Nöten. Da haben sie im Camp ein kleines Malheurchen gehabt.
+Beim Auswechseln von Achter-Rohren gegen Zehner hat ein Rohr ausgeschlagen
+und dem einen Driller den rechten Arm böse gequetscht, weil
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+einer von den Indianern wieder mal nicht aufgepaßt und rechtzeitig
+zugepackt hat. Der Driller ist ein tüchtiger, erfahrener und verläßlicher
+Bursche, den sie nicht gehen lassen wollen. Nun suchen sie einen guten
+Ersatzmann für drei bis vier Wochen. So lange wird es wohl dauern,
+bis der Mann wieder arbeiten kann. Aber sie sind jetzt gerade an einem
+heiklen Punkt. Sie sind auf siebenhundert Fuß und sind auf Lehm, und
+wenn sie jetzt keinen guten Driller bekommen, dann können sie vielleicht
+eine Knickung in der Bohrung erleben. Na, und was das bedeutet,
+was das für Scherereien, Zeitverlust und Kosten verursacht, das wissen
+Sie ja selbst, Sie haben ja in den Fields gearbeitet. Das gibt allemal den
+Sack für die Driller und Tooldresser, manchmal für das ganze Camp.“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich,“ erwiderte ich, „kann dem besten Mann passieren, wenn man
+noch so sehr aufpaßt. Ein Stein, den der Satan gerade dort hingefeuert
+hat, wo man ihn am allerwenigsten vermutet, kann zwanzigtausend
+Dollar kosten.“
+</p>
+
+<p>
+„Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <a id="corr-11"></a>Shine ein. „Nun ist der
+Manager in Sorge, was er machen soll. Er hat schon eine Schicht selber
+gearbeitet, aber auf die Dauer geht es nicht. Telegraphiert er nun zur
+Kompagnie, dauert es immerhin drei bis vier Tage, bis er den Mann
+hier hat. Und ob er einen Mann kriegt, wie er ihn braucht, weiß er auch
+nicht. Denn ein tüchtiger Mann nimmt für drei Wochen nichts an, weil
+er dadurch vielleicht eine andre Stellung, wo er sechs Monate in Sicherheit
+hat, verpassen kann. Ich habe nun zu dem Manager gesagt: Well,
+habe ich gesagt, Sie sind just der Mann, auf den ich gewartet habe,
+Mr. Beales.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich weiß noch immer nicht, was ich eigentlich damit zu tun habe“,
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja warten Sie doch ab, Gale, was kommt. In drei, höchstens vier Tagen
+haben wir die Baumwolle drin. Was wollen Sie denn dann machen?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weißt ich jetzt noch nicht. Ich lasse den Tag erst einmal herankommen.
+Ich kann ebensogut nach Norden wie nach Süden, ebenso
+leicht nach Ost wie nach West gehen. Eigentlich habe ich vor, nach Guatemala,
+Costa Rica und Panama ’runter zu tippeln. Vielleicht nach
+Kolumbien. Da soll allerhand Öl ausgemacht worden sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Top!“ sagte Mr. Shine. „Das habe ich auch gedacht, daß es Ihnen ganz
+egal ist; und nach Guatemala und allen den übrigen Landschaften
+kommen Sie immer noch rechtzeitig genug. Da habe ich nun zu dem
+Manager gesagt: Well, habe ich gesagt, auf Sie habe ich gerade gewartet.
+Ich habe da einen Fellow, einen Picker, einen weißen Mann, weiß im
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+Gesicht und weiß unter dem Brustlatz ebensogut, einen Burschen, der
+Ihnen die verteufeltste Bohrung aus dem elendesten Dreck herausholt.
+Man muß doch ein wenig trumpfen, Gale, wenn man was erreichen
+will. Also, habe ich gesagt, Mr. Beales, ich schicke Ihnen den Mann
+’runter. Na, was sagen Sie nun, Gale, Junge, hä? Das habe ich doch fein
+gemacht. Da gehen Sie noch morgen früh ’runter zum Store. Der Storekeeper
+kennt den Weg zum Camp und kann Ihnen Bescheid sagen. Um
+fünf Uhr nachmittags sind Sie schon im Camp und können sich gleich
+zum Essen hinsetzen.“
+</p>
+
+<p>
+Das mit dem Essen war allerdings verführerisch.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie dann nicht mit der Arbeit zurechtkommen, ist der Verlust
+auch nicht allzu groß. Einen Tag kriegen Sie auf alle Fälle ausbezahlt,
+und außerdem haben Sie einen Tag wieder mal menschenwürdig gegessen“,
+setzte Mr. Shine hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Zu überlegen gab es da eigentlich nichts. Hier war noch für drei oder
+vier Tage Arbeit, harte und schlechtbezahlte Arbeit. Im Ölfeld mußte
+man zwar auch zwölf Stunden arbeiten, weil nur zwei Schichten waren,
+aber man arbeitete wenigstens unter dem Derrick, wo die Sonne nicht
+ganz so unmittelbar auf einen losbrennen konnte. Dazu hatte man
+sterilisiertes Eiswasser, soviel man nur trinken wollte. Vor allen Dingen
+aber hatte man, wie schon Mr. Shine richtig gesagt hatte, ein menschenwürdiges
+Essen, mit Teller, Messer, Gabel, Eßlöffel, Teelöffel, Tasse
+und Glas an einem Tisch, der zwar von einem Zimmermann ziemlich
+roh gemacht war, aber es war doch ein Tisch und eine richtige Bank.
+Man brauchte nicht aus der Pfanne von der Erde zu essen und sich beim
+Essen von einer wackligen Kiste, auf der man saß, herunterzubücken.
+Man brauchte nicht mit demselben Löffel, den man aus den fettigen
+Bratkartoffeln zog, den Kaffee umzurühren. Das Brot, das man aß, war
+weder zu Kohle verbrannt, noch war es klebrig wie Kleister. Die schwarzen
+Bohnen, immer hart wie Kieselsteine, hörten auf, ein wichtiger Bestandteil
+der Mahlzeiten zu sein. Man schlief nicht ohne jede Unterlage auf
+einer Tafel Wellblech, sondern man schlief in gut ventilierten Baracken,
+in sauberen Feldbetten, auf weicher Matratze und gut geborgen unter
+einem schleierdünnen Moskitonetz. Man hatte jeden Tag ein Brausebad
+und hatte ein W.-C. Daß es solche Dinge auf Erden gibt, hatte ich
+ganz vergessen. Romantik ist schön, sehr schön! – von ferne gesehen.
+Wenigstens in der Entfernung, gerechnet von einem bequemen Sitz im
+Kino bis zur Silberwand. Auf dieser Silberwand sind die Helden des
+Busches und des Urwaldes der Traum der Mädchen, und sie erregen
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+Ehescheidungsgedanken bei Frauen; in Wahrheit bohren sie sich beim
+Essen in der Nase herum und schmieren dies und das an ihren Sitz oder
+an die nächste erreichbare Tischplatte. Und das kann man gerade noch
+erzählen. Würde man einiges mehr erzählen, noch nicht einmal alles und
+noch nicht einmal das Schlimmste, so würde sich der bunte Schmetterling
+in die widerwärtigste Raupe rückverwandeln. Aber trotz alledem,
+Romantik ist auch im Ölfeld, das auf den ersten Blick so trostlos prosaisch
+und so nüchtern aussieht wie eine Kohlenzeche in Herne. Man muß die
+Romantik nur zu sehen und nur zu finden wissen.
+</p>
+
+<p>
+Bei meinem Abschied von den bisherigen Arbeitskollegen war mir nichts
+so wichtig, als meine Eierrechnung bei Abraham auf den Cent genau
+zu begleichen. Er wäre mir sonst in meinen Träumen erschienen und
+nachgelaufen bis nach Paraguay, wenn ich ihm nur zehn Centavos
+schuldig geblieben wäre. –
+</p>
+
+<p>
+Als ich zum Öl-Camp kam und mit dem Manager sprach, machte er
+nicht im geringsten ein erstauntes Gesicht, seinen neuen Driller so in
+Lumpen und Fetzen zu sehen, wie kein Mensch in Europa, selbst nicht
+in Odessa herumlaufen könnte. Daran ist man hier gewöhnt.
+</p>
+
+<p>
+Die weißen Arbeiter, ebenfalls alle Gringos, waren froh, daß Dick, der
+Driller, einen Ersatzmann hatte und das Camp also nicht zu verlassen
+brauchte; denn er war ein beliebter und lustiger Bursche, der im Camp
+war, seit der erste Pfeiler für das Derrick gestellt wurde. Sie fixten
+mich auf, der eine brachte mir ein Hemd, der andre eine Hose, jener
+Strümpfe, ein andrer Arbeitshandschuhe. Ja Handschuhe, denn ein
+amerikanischer Arbeiter macht sich beim Arbeiten die Hände nicht
+schmutziger, als unbedingt notwendig ist. Keiner von ihnen hatte irgendein
+Handwerk gelernt, wie das in Europa üblich ist, aber jeder konnte
+ein Auto fahren, Pannen beseitigen, Dampfmaschinen reparieren oder
+Werkzeuge schmieden. Vielleicht nicht ganz so sauber und geschickt wie
+ein englischer, deutscher oder französischer Arbeiter, aber was er
+machte, war brauchbar, und darauf kam es ihm und denen, die ihn dafür
+bezahlten, ja nur an.
+</p>
+
+<p>
+Als ich meine Schicht beendigt hatte, sagte Mr. Beales zu mir: „Sie
+können bleiben, Junge, vollen Drillerlohn.“ –
+</p>
+
+<p>
+Dick war schneller hergestellt, als wir alle gedacht hatten, und so mußte
+ich wieder gehen. Beim Abschied gab mir Dick zwanzig Dollar extra
+aus seiner Tasche, für Reisegeld und daß ich mir einen guten Tag
+machen sollte, wie er sagte.
+</p>
+
+<p>
+Als ich dann beim Manager meinen Lohn ausbezahlt bekam, sagte er:
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+„Hören Sie mal, Gale, können Sie nicht hier irgendwo eine Woche oder
+so herumhängen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ erwiderte ich, „das kann ich leicht. Ich gehe ’rauf zu Mr. Shine,
+da kann ich gut für eine Weile hausen. Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Auf einem unsrer Nachbarfelder da ist ein Bursche, der möchte auf
+vierzehn Tage in Urlaub gehen, ’rauf in die States. Da können Sie für
+die zwei Wochen als Ersatzmann eintreten. Anfang nächsten Monats.“
+</p>
+
+<p>
+„Mache ich“, sagte ich. „Sie können ja im Store eine Mitteilung für mich
+an Mr. Shine hinterlegen, wenn es soweit ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, abgemacht!“ sagte Mr. Beales.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-12">
+11
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_i.jpg" alt="I"><span class="hidden">I</span></span><span class="postfirstchar">ch</span> wanderte also am nächsten Morgen wieder ’rauf zu
+Mr. Shine und fragte ihn, ob ich in dem Unterstande, in dem
+ich seinerzeit gehaust hätte, ein paar Tage wohnen dürfe.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, Mr. Gale,“ sagte der Farmer, „solange Sie wollen.“
+Ich erklärte ihm, warum, und fragte ihn dann nach den
+Leuten, mit denen ich da gewohnt hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Ach,“ antwortete er, „der lange Nigger ist gleich den Tag
+nach Ihnen gegangen, ich glaube ’rauf nach Florida. Das geht
+mich nichts an. Der kleine Nigger, Abraham heißt er, scheint ein ganz
+geriebener Schlingel zu sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat mir da Hühner verkauft, gute Leghühner, wie er mir versicherte.
+Er hatte sie bei Indianern für einen Peso das Stück gekauft, wie
+ich inzwischen erfahren habe. Mir hat er anderthalb Pesos dafür abverlangt.
+Ich habe sie ihm auch bezahlt dafür, denn die Hühner waren gut
+genährt. Aber mit den guten Leghühnern hat er mich ’reingelegt, der
+schwarze Teufel. Mit dem Legen ist nicht viel los bei ihnen. Aber na,
+das Fleisch ist es ja wert.“
+</p>
+
+<p>
+„Und was ist mit dem Chinc und den beiden Mexikanern?“
+</p>
+
+<p>
+„Die sind am Montag sehr früh hier vorbeigekommen. Ich habe sie vom
+Fenster aus gehen sehen. Soviel ich weiß, sind sie nach Pozos gegangen.
+Diese Station ist nicht ganz so weit wie die, von der Ihr gekommen seid.
+Der Weg ist auch besser, weil wir jetzt diese Station selbst benutzen,
+während wir in frühern Jahren immer zu der andern gingen. Aber
+Pozos liegt bequemer für uns, früher hatten wir nur keinen Weg. Seitdem
+aber die Ölleute gekommen sind, haben die einen Weg geschaffen.
+Ich empfehle Ihnen, wenn Sie wieder zurückgehen, auch diesen Weg,
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+da können Sie ab und zu schon einmal ein Auto antreffen, wo Sie
+jumpen können. Nebenbei bemerkt, warum wollen Sie denn in dem
+Unterstand hausen, Sie können doch in dem Hause wohnen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich lachte. „Nein, Mr. Shine, das Haus kenne ich zur Genüge. Ich betrete
+es nicht mit einer Zehenspitze. Das ist die reine Moskito-Hölle.“
+</p>
+
+<p>
+„Na, wie Sie wollen. Ich habe mit meiner Familie fünfzehn Jahre drin
+gewohnt. Wir sind von den Moskitos nicht merklich geplagt worden.
+Aber Sie können schon recht haben. Wenn so ein Haus lange nicht bewohnt
+wird, nicht genügend Luft ’reinkommt, sammelt sich schon allerlei
+von diesem Zeug an. Ich bin übrigens seit einem Vierteljahr nicht
+oben gewesen, weiß gar nicht, wie es da herum augenblicklich aussieht.
+Und wahrscheinlich komme ich im ganzen nächsten Vierteljahr auch
+nicht ’rauf. Ich habe ja da oben nichts verloren. Ab und zu lasse ich mal
+die Pferde und die Mulas ’rauftreiben, weil sie da herum genügend
+Gras finden und ein Tränkepfuhl oben ist. Aber, wie gesagt, es ist mir
+gleichgültig, wo Sie Ihre Wohnung aufmachen. Mich stören Sie nicht,
+und Sonntags können Sie schon mal ’runterkommen und eine Tasse
+Kaffee mit uns trinken und ein Stück Kuchen essen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich richtete mich oben in meinem Unterstande wieder ein. Mein Feuer
+machte ich mir jetzt gleich vor dem Unterstand, weil dort in der Nähe
+des Hauses, wo sonst unser gemeinschaftliches Feuer gewesen war, ja
+doch keine Unterhaltung gepflogen werden konnte, denn es war ja
+niemand da.
+</p>
+
+<p>
+Ich lebte nun in schönster Einsamkeit. Als einzige Gefährten hatte ich
+nur Eidechsen, von denen zwei sich in drei Tagen so an mich gewöhnt
+hatten, daß sie all ihre angeborene Scheuheit vergaßen und mir an und
+auf meinen Füßen die Fliegen wegfingen, die dort nach Krümelchen von
+meinen Mahlzeiten suchten.
+</p>
+
+<p>
+Tagsüber kroch ich in dem nahen Busch herum oder beobachtete die
+Tiere bei ihren Handlungen oder las in den Zeitschriften, die ich vom
+Camp mitgebracht hatte.
+</p>
+
+<p>
+In Wasser konnte ich schwelgen, so reichlich hatte ich es, weil es inzwischen
+einige Male gut geregnet hatte und die Zisterne beim Hause
+zu einem Drittel gefüllt war. Wir hatten ja derzeit die Auffänge in
+Ordnung gebracht.
+</p>
+
+<p>
+Ich konnte mich waschen und mir sogar den Luxus leisten, mich zweimal
+des Tages zu waschen. Kaffee kochte ich in Riesenmengen, teils um
+mir die Zeit zu vertreiben, teils um so viel Vorrat in mich hineinzutrinken,
+daß ich gut wieder einmal einen Tramp von einigen Tagen durch
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+wasserlosen Busch aushalten konnte. Da ich im Store tüchtig hatte einkaufen
+können, denn Geld hatte ich jetzt reichlich, so lebte ich wirklich
+einen guten Tag. Sorgenfrei, weder durstig noch hungrig, ein freier
+Mann im freien tropischen Busch, Siesta haltend nach Belieben, und
+herumstreifend, wo und wann und solange ich wollte. Es ging mir gut.
+Und dieses Gefühl lebte ich auch voll bewußt.
+</p>
+
+<p>
+Die Zisterne, aus der ich mein Wasser holte, war dicht an dem alten
+Hause. Und zu diesem Hause hatte ich jedesmal etwa zweihundertfünfzig
+Schritte von meinem Unterstand aus zu gehen.
+</p>
+
+<p>
+Das Wasser holte und schöpfte ich mit einer von jenen Konservenbüchsen,
+die zwanzig Liter Inhalt haben. Mit Konserven in kleinen
+Büchsen gibt man sich hier nicht viel ab, höchstens wenn es sich um
+schnell verderbliche Ware handelt.
+</p>
+
+<p>
+Das Haus, das man überall, nur nicht in Zentralamerika, eine ganz
+elende Bretterbude nennen würde, kaum gut genug, um auf einem Bauplatz
+als Lagerschuppen zu dienen, stand auf Pfählen. Die meisten
+Häuser hier, besonders außerhalb der größeren Städte, werden auf
+Pfählen errichtet. Stünden sie auf flacher Erde, wären sie vielleicht gar
+noch unterkellert, so würden sie in der Regenzeit jeden Tag überflutet.
+Das ist aber nicht der einzige Grund. Bei einem auf Pfählen ruhenden
+Haus kann der Wind von allen Seiten unter dem Fußboden hin und her
+fegen und so das Innere des Hauses kühl halten. Außerdem bekommt
+ein Haus, das in dieser Art gebaut ist, nicht soviel unerwünschte Gäste,
+wie Schlangen, Eidechsen, Skorpione, Spinnen, Grashopper, Grillen,
+Milliarden von Ameisen und tausende andre unangenehme Überläufer
+aus dem nahen Busch. Alle diese mehr oder weniger erfreulichen Bewohner
+des tropischen Busches klettern natürlich auch an den Pfählen
+hoch, können aber doch nicht in solchen Mengen und so leicht ins Haus
+gelangen, wie wenn das Haus auf ebener Erde errichtet wäre.
+</p>
+
+<p>
+Alle die Gründe, die den Menschen hier veranlassen, sein Haus in dieser
+Form zu erbauen, sind die gleichen geblieben, die unsre Urvorväter
+zwangen, sich eine Behausung in den Wipfeln der Bäume zu bauen.
+</p>
+
+<p>
+Ein Holzhaus, so errichtet, erzittert und schwankt oft beim Sturm so,
+daß man glauben könnte, es sei in der Tat auf einem Baume errichtet.
+Die Indianer freilich haben ihre Hütten zu ebener Erde. So zu ebener
+Erde war ja auch mein Unterstand, wo das Busch-Getier aus und ein
+ging, als wäre es sein gutes Recht.
+</p>
+
+<p>
+An jeder Seite des Hauses war eine Tür, um Licht und Wind hineinzulassen.
+Beim Verlassen des Hauses hatten meine damaligen Arbeitskollegen
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+die Türen geschlossen, wie üblich mit einem drehbaren Stückchen
+Holz. Damals war immer Leben im Hause und vor dem Hause,
+Streit um das Feuer, Zank wegen einer Prise Salz, die jemand genommen
+hatte, ohne den Besitzer zu fragen, lange und fruchtlose Diskussionen
+darüber, wer das Holz heute zu holen habe. An diese lebhaften
+Bilder zurückdenkend, erschien jetzt das Haus geisterhaft einsam und
+still. Jedesmal, wenn ich Wasser holte, quälte es mich, doch mal einen
+Blick hineinzuwerfen, ob jemand etwas zurückgelassen habe. Aber
+dann wieder gefiel mir diese gespensterhafte Stille, die über dem Hause
+lagerte. Sie fügte sich zu der Einsamkeit der Umgebung nicht weniger
+als zu der Einsamkeit und Abgeschiedenheit, in der ich augenblicklich
+lebte. So unterdrückte ich jedesmal, wenn ich an das Haus kam, den
+Wunsch, eine Tür aufzumachen und hineinzulugen. Ich wußte genau,
+die Hütte war leer, vollkommen leer, niemand hatte etwas, sei es auch
+nur der Fetzen eines alten Hemdes, zurückgelassen, denn bei uns hatte
+alles seinen Wert. Die Ungewißheit, die mysteriöse Stimmung, die um
+das Haus lagerte, wollte ich mir nicht zerstören. So, wie es wirkte,
+mochte ich träumen, daß vielleicht der Geist eines der alten aztekischen
+Priester, der wegen der Dutzende von Menschen, die er auf dem Altar
+seines Gottes geschlachtet und ihnen das Herz aus dem lebendigen
+Leibe gerissen hatte, um es seinem unersättlichen Gotte vor die goldenen
+Füße zu werfen, nun keine Ruhe finden konnte und deshalb aus dem
+Busch in das gefeite Haus eines Christen geflüchtet sei, um wenigstens
+ein paar Wochen von seinem rastlosen Herumirren auszuruhen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-13">
+12
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">ines</span> Tages, als ich wieder Wasser holte, sah ich eine
+schwarzblaue Spinne mit glänzend grünem Kopf,
+die an der Wand des Hauses nach Beute jagte. Sie
+lief blitzschnell ein paar Zoll weit, saß still, lauerte
+eine Weile und lief dann wieder ein ganz kurzes
+Streckchen, um wieder zu lauern. So überholte sie
+einen Meter eines Brettes im Zickzackkurs, kein
+Fleckchen auslassend, dabei oft, nicht immer, einen
+ganz feinen Faden zurücklassend, um Insekten, die an dem Brette
+hinaufklettern würden, nicht gerade festzuhalten und zu verstricken,
+sondern deren Lauf nur zu verlangsamen, damit die Spinne, wenn sie
+inzwischen das Nachbarbrett abgesucht hatte und hier wieder zurückkam,
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+ihre Beute mit einem mächtigen Satz anspringen konnte. Diese
+Spinne nimmt ihre Beute nur im Sprunge, wobei sie das Insekt von
+hinten anspringt und sofort im Nacken packt, so daß dieses Insekt von
+seinen Waffen, seien es nun ein Stachel oder Zangen oder Scheren, gar
+keinen Gebrauch machen kann.
+</p>
+
+<p>
+Diese Spinne nun, die zu beobachten ich Tage und Wochen in den
+häufigen Perioden von Arbeitslosigkeit verwandt hatte, war es, die sofort
+wieder meine Aufmerksamkeit fesselte. Ich wollte ihr Gesichtsfeld
+prüfen und lernen, wie sie sich verhält, wenn sie selbst angegriffen und
+verfolgt wird. Ich stellte meine Konservenbüchse mit Wasser auf den
+Boden und vergaß, daß ich mir doch meinen Reis kochen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Ich bewegte meine Hand in ziemlicher Entfernung über der Spinne hin
+und her, und sofort reagierte sie darauf. Sie wurde unruhig, ihre Zickzackläufe
+wurden unregelmäßig, und sie suchte diesem großen Etwas,
+das ein Vogel sein mochte, zu entwischen. Aber die glatte Wand bot
+keinen Schlupfwinkel. Sie wartete eine Weile, duckte sich ganz langsam
+und behutsam und machte plötzlich, ganz unerwartet, einen Sprung
+in halber Armeslänge auf eines der benachbarten Bretter, natürlich an
+senkrechter Wand. Und so sicher war der Sprung, als wäre er auf ebener
+Erde vollführt. Dieses Brett nun hatte eine Leiste, die gespalten war
+und sich auch ein wenig verzogen hatte, so daß sie einen Unterschlupf
+bieten konnte.
+</p>
+
+<p>
+Jedoch ich ließ der Spinne keine Zeit, sich den besten Platz auszusuchen.
+Ich nahm einen dünnen Zweig auf, der gerade zu meinen Füßen lag, und
+berührte damit die Spinne leicht, sie so zwingend, einen andern Weg
+zu wählen. Sie lief nun in rasender Schnelligkeit davon, aber wohin sie
+auch fliehen mochte, immer fand sie den angreifenden Zweig, entweder
+ihren Kopf berührend oder ihren Rücken. So lief sie kreuz und quer,
+immer verfolgt von dem Zweig, der ihr keine Gelegenheit ließ, zu einem
+Sprunge anzusetzen. Plötzlich aber, als ich sie gerade im Rücken berührte,
+machte sie blitzschnell kehrt, und in rasender Wut und mit unvergleichlicher
+Tapferkeit griff sie den sie belästigenden Zweig an, der
+gegenüber ihren bescheidenen Ausmaßen, etwa vier Zentimeter, für sie
+gigantische Formen und übernatürliche Kräfte haben mußte. Und
+immer, wenn ich den Zweig zurückzog, so daß sie glauben mußte, sie
+habe den Feind abgeschlagen oder wenigstens eingeschüchtert, lief sie
+auf die schützende Leiste zu. Schließlich besiegte sie mich doch und fand
+dort Unterschlupf, aber nicht genügend, um sich ganz zu verbergen,
+denn sie konnte sich nur zur Hälfte darin verkriechen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+Nun schlug ich mit der flachen Hand an die Wand. Die Spinne kam sofort
+wieder hervor, lief eilends weiter nach oben, wo sie eine günstigere
+Höhle fand, in der sie sofort verschwand, ohne daß man noch viel von
+ihr sehen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Um sie nun auch dort wieder hinauszujagen und zu sehen, was sie
+zu guter Letzt tun würde, schlug ich mit voller Gewalt mit der flachen
+Hand so fest gegen die Wand, daß das ganze Haus erzitterte.
+</p>
+
+<p>
+Die Spinne kam nicht hervor. Ich wartete einige Sekunden. Und als
+ich gerade zum zweiten Male kräftig gegen die Wand schlagen will,
+fällt innerhalb des Hauses etwas um.
+</p>
+
+<p>
+Was konnte das sein? Ich kannte das Innere des Hauses. Es war nichts,
+absolut gar nichts darin, was mit so einem merkwürdigen Geräusch umfallen
+konnte. Eine Stange, ein Stück Holz, das einzige, was es vielleicht
+hätte sein können, war es nicht, nach dem Geräusch zu urteilen. Es war
+schon eher wie ein mit Mais gefüllter Sack. Aber wenn ich mir das
+Geräusch vergegenwärtigte, so war etwas sonderbar Hartes dabei. Es
+konnte also kein Sack mit Mais sein.
+</p>
+
+<p>
+Es wäre nun doch so einfach gewesen, sofort die paar Sprossen der
+Leiter hinaufzuklettern, die Tür aufzustoßen und hineinzusehen. Aber
+irgendein unerklärbares Empfinden hielt mich davon ab. Es war wie
+Furcht, als könnte ich drinnen etwas unsagbar Grauenhaftes sehen.
+</p>
+
+<p>
+Ich nahm das Wasser auf und ging zu meinem Unterstand. Ich redete
+mir ein, daß es nicht Furcht vor dem Anblick von etwas ganz Gräßlichem
+sei, was mich veranlaßte, das Haus nicht zu betreten, sondern
+ich sagte mir: Du hast ja in dem Hause durchaus nichts zu suchen, du
+hast überhaupt gar kein Recht, es zu betreten, und vor allen Dingen, es
+geht dich ja gar nichts an, was da drin ist. So entschuldigte ich mein
+Gebaren.
+</p>
+
+<p>
+Als ich dann aber beim Feuer saß und darüber immer wieder nachdachte,
+was für ein Gegenstand das Geräusch verursacht haben könnte,
+kam mir plötzlich ein seltsamer Gedanke: In dem Hause hat sich
+jemand erhängt, und zwar schon vor einiger Zeit; die Schnur ist morsch
+geworden oder der Hals durchgefault, und nun beim Schlagen an die
+Wand ist der Körper erschüttert worden, die Schnur gerissen und der
+Leichnam umgefallen. So ähnlich war auch das Geräusch, als ob ein
+menschlicher Körper umfiele und der Kopf auf den Boden schlüge.
+</p>
+
+<p>
+Aber diese Idee war ja lächerlich. Sie schien zu zeigen, wohin die Phantasie
+einen führt, wenn man sich nicht von der Tatsache überzeugt. So
+verwandelt sich ein Baumstamm in der Dunkelheit in einen Räuber,
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+der auf der Lauer steht. In den Tropen erhängt sich so leicht niemand,
+ich wenigstens habe nie davon gehört. Hier sind die Tage nicht trübe
+genug dazu. Und wenn es wirklich einer täte, so würde er in den Busch
+gehen, wo man drei Tage später bestenfalls nur noch an der Schnalle
+seines Gürtels erkennen würde, daß es sich um einen Mann handelt.
+</p>
+
+<p>
+Sooft ich auch noch Wasser holte, ich ging nicht in das Haus und vermied
+es sogar, irgendeine Spalte zu suchen und durchzulugen. Das Unbestimmte,
+das Geheimnisvolle sagte mir mehr zu als eine vielleicht
+sehr prosaische Gewißheit.
+</p>
+
+<p>
+Jedoch abends, wenn ich am Feuer saß oder wenn ich nachts wach lag,
+beschäftigten sich meine Gedanken mit nichts anderm als mit der Frage,
+was in dem Hause wohl sein könne.
+</p>
+
+<p>
+Am Freitag ging ich zu Mr. Shine und fragte ihn, ob er irgendwelchen
+Bescheid vom Manager habe. Aber Mr. Shine war die ganze Woche
+nicht im Store unten gewesen und würde auch die nächste Woche nicht
+hinunter kommen. Weil nun Montag der letzte Termin war, der für
+den Urlaubsantritt jenes Drillers, für den ich Ersatzmann sein sollte,
+in Betracht kam, so beschloß ich, Samstag früh, reisefertig mit meinem
+Bündel, selbst zum Store zu gehen und nachzufragen. War Bescheid da,
+dann konnte ich Sonntag mittag, also rechtzeitig genug, im Camp sein.
+War kein Bescheid da, so wußte ich, daß der Driller entweder nicht in
+Urlaub ging oder daß er die Sache anders zu regeln gedachte. In diesem
+Falle würde ich gleich zur Station gehen und meinen Plan, nach Guatemala
+zu wandern, ohne weiteres durchführen.
+</p>
+
+<p>
+Samstag früh holte ich mir Wasser für den Kaffee. Als ich mit dem
+Wasser an dem Hause schon ein Stück vorüber war, dachte ich, nun will
+ich aber doch noch zu guter Letzt nachsehen, was da drin los ist, denn
+wenn ich das nicht tu, so kann es sein, daß mich der Gedanke an das
+Haus die nächsten fünf bis sechs Monate nicht los läßt. Es konnte ja die
+bekannte Gelegenheit sein, die, einmal verpaßt, nie im Leben wiederkehrt.
+</p>
+
+<p>
+Ich kletterte die paar Sprossen der Leiter hinauf, stieß die Tür, die hier
+nur eingeklemmt war, auf und ging in den Raum, den einzigen Raum,
+den das Haus hatte.
+</p>
+
+<p>
+An der Wand zur Rechten sah ich etwas liegen, ein großes Bündel. Ich
+konnte aber nicht sofort erkennen, was es sein mochte, denn die Sonne
+war noch vor dem Aufgehen.
+</p>
+
+<p>
+Ich trat näher hinzu: Es war ein Mann. Tot!
+</p>
+
+<p>
+Es war Gonzalo.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+Gonzalo war getötet worden.
+</p>
+
+<p>
+Ermordet!
+</p>
+
+<p>
+Sein zerfetztes Hemd war schwarz von Blut. Ein Ball Baumwolle, den
+er zerknüllt in der rechten Hand hielt, war gleichfalls vollgesogen von
+Blut.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte einen Stich in der Lunge und noch einige Stiche auf der Brust,
+an der rechten Schulter und am linken Oberarm.
+</p>
+
+<p>
+Der Körper war nicht verwest, sondern vertrocknet.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte auf dem Boden gesessen, gegen die Wand gelehnt, und als ich
+gegen die Wand geschlagen hatte, war der Körper auf die Seite gefallen,
+und der Kopf war auf den Erdboden geschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Ich suchte seine Taschen durch. Er hatte fünf Pesos und 85 Centavos
+darin. Er hätte haben müssen: wenigstens fünfundzwanzig bis dreißig
+Pesos.
+</p>
+
+<p>
+Also des Geldes wegen.
+</p>
+
+<p>
+Dann hatte er noch ein kleines Leinensäckchen mit Tabak neben sich
+liegen, auch einige geschnittene Maisblätter lagen verstreut herum.
+</p>
+
+<p>
+Während er sich eine Zigarette drehen wollte, war er überfallen worden,
+an derselben Stelle, wo er sich jetzt befand.
+</p>
+
+<p>
+Der Chinc und Antonio waren die letzten, die das Haus verlassen
+hatten. Der Chinc war nicht der Mörder. Wegen zwanzig Pesos jemand
+auch nur zu berühren, dazu war er viel zu klug. Diese zwanzig Pesos
+waren zu teuer für ihn.
+</p>
+
+<p>
+Also Antonio.
+</p>
+
+<p>
+Das hätte ich von ihm nie gedacht.
+</p>
+
+<p>
+Ich steckte Gonzalo das Geld wieder in die Tasche, ließ ihn jedoch
+liegen wie er lag.
+</p>
+
+<p>
+Dann klemmte ich die Tür wieder ein, wie ich sie gefunden hatte, und
+verließ das Haus.
+</p>
+
+<p>
+Kaffee kochte ich nun nicht mehr, sondern ich machte mich sofort auf
+den Weg.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging zu Mr. Shine und sagte ihm, daß ich nun selber zum Camp
+gehen wolle und, falls nichts los sei, gleich weiter marschieren werde.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie sich da oben in Ihrem luftigen Wohnhause nicht einsam
+gefühlt, Mr. Gale?“ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte ich, „ich habe immer so viel zu sehen und so viel zu
+beobachten, daß der Tag herum ist, ehe ich es merke.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich dachte, Sie würden vielleicht doch in das Haus übersiedeln, weil es
+eben ein Haus ist.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+„Daran war nicht zu denken. Ich sagte Ihnen ja schon, als ich zurückkam,
+daß es darin vor Moskitos nicht auszuhalten sei.“
+</p>
+
+<p>
+„Um die Jahreswende wollen meine beiden Neffen auf Besuch kommen
+und hier ein wenig herumstreifen und jagen. Die stecke ich dann da
+hinein, da können sie hausen nach Belieben. Die werden die Moskitos
+schon ausräuchern. Na, dann also ‚Viel Glück!‘ Mr. Gale, für Ihre
+Zukunft.“
+</p>
+
+<p>
+Wir schüttelten uns die Hände, und ich ging.
+</p>
+
+<p>
+Warum hätte ich denn etwas sagen sollen? Daß ich der Mörder sein
+könnte, diesen Gedanken würde niemand haben; denn ich war ja vor
+allen den übrigen Leuten fortgegangen und hatte die ganze Zeit im
+Camp gearbeitet.
+</p>
+
+<p>
+Und hätte ich etwas von meinem Fund gesagt, so hätte das eine Unmenge
+Fragen verursacht, Hin- und Herlaufen und wer weiß was noch.
+Dabei wäre ich gar nicht mehr zur rechten Zeit zum Camp gekommen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-14">
+13
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">achdem</span> der Driller von seinem Urlaub zurückgekehrt
+war, wurde ich ausbezahlt und fuhr mit
+einem Lastwagen, der Öl zu holen hatte, zur Station,
+von der ich nach Dolores Hidalgo reiste. Von dort aus
+fuhr ich ohne viel Aufenthalt glatt durch bis zur
+nächsten größeren Stadt, so daß ich schon in wenigen
+Tagen in Guatemala sein konnte, vorausgesetzt, daß
+ich meinen Plan nicht wieder einmal änderte.
+</p>
+
+<p>
+In der Stadt wollte ich erst einmal herumhören, was im Süden los sei,
+was hinter den Gerüchten von den neuen Ölfeldern und den Arbeitsmöglichkeiten
+überhaupt zu suchen sei, und ob ich nicht besser vielleicht
+einen windigen Segelkasten ergattern und auf Argentinien los gehen
+sollte. Aber von dort kamen mir auch wieder zu viele herauf, die wahre
+Schauergeschichten von der furchtbaren Epidemie Arbeitslosigkeit berichteten.
+Achtzigtausend lagen in Buenos Aires auf der Straße und
+suchten eine Gelegenheit, fortzukommen. Aber schlimmer als in Mexiko
+konnte es ja dort auf keinen Fall sein.
+</p>
+
+<p>
+Ich setzte mich auf eine Bank im Park. Ich ließ mir die Stiefel putzen,
+trank ein Glas Eiswasser, und als ich mich von diesen Beschäftigungen
+gerade so recht ungestört, zufrieden mit mir und der Welt, ausruhen will,
+sehe ich, daß auf der Bank, der meinen gegenüber, ein Bekannter sitzt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+Es ist Antonio.
+</p>
+
+<p>
+Ich gehe ’rüber zu ihm und sage: „Hallo, Antonio, guten Tag, was
+machen Sie denn hier?“
+</p>
+
+<p>
+Wir gaben uns die Hand. Er war sehr erfreut, mich zu sehen. Ich setzte
+mich neben ihn und sagte ihm, daß ich auf der Suche nach Arbeit sei.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut“, sagte er. „Ich arbeite seit zwei Wochen in einer Bäckerei,
+Brot- und Kuchenbäckerei. Da können Sie gleich heute anfangen als
+Bäcker. Wir suchen gerade einen Gehilfen. Sie haben doch schon als
+Bäcker gearbeitet, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ erwiderte ich, „ich habe zwar schon in hundert verschiedenen
+Berufen gearbeitet, sogar schon als Kameltreiber – und das ist eine
+gottverfluchte Beschäftigung –, aber bis zu einem Bäcker habe ich es
+noch nicht gebracht.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ausgezeichnet, dann können Sie anfangen,“ sagte Antonio
+darauf. „Wenn Sie nämlich Bäcker wirklich wären oder etwas vom
+Backen verstünden, dann wäre nichts zu machen. Der Inhaber ist ein
+Franzose, er hat keine Ahnung vom Backen; wenn Sie ihm erzählen, in
+ein Brot gehöre Pfeffer hinein, das glaubt er Ihnen. Der wird Sie natürlich
+fragen, ob Sie Bäcker seien. Da müssen Sie ganz dreist sagen, das
+sei Ihr Beruf, seitdem Sie nicht mehr in die Schule gingen. Der Meister
+ist ein Däne, ein entlaufener Schiffskoch. Er versteht auch nichts vom
+Backen. Seine größte Sorge ist nun, daß ein richtiger Bäcker dort anfangen
+könnte, einer, der das Backen wirklich versteht. Dann wäre es
+natürlich mit der Meisterherrlichkeit des Dänen gleich aus, denn ein
+richtiger Bäcker würde doch nach zehn Minuten sehen, was los ist. Wenn
+Sie nun der Meister fragt, müssen Sie gerade das Gegenteil sagen von
+dem, was Sie zu dem Inhaber sagen. Zum Meister müssen Sie sagen, es
+sei das erstemal in Ihrem Leben, daß Sie in einer Backstube stehen.
+Dann nimmt er Sie sofort an, und Sie sind sein Freund.“
+</p>
+
+<p>
+„Das kann ich ja gut machen. Als Bäcker wollte ich schon immer mal
+arbeiten,“ sagte ich, „man kann dann, wenn man mal in der Verlegenheit
+ist, die Bäcker alle so schön mitnehmen und stoßen. Dann hört die
+Sorge um das tägliche Brot auf, und man hält es leichter aus. Also, wird
+gemacht. Was ist denn der Lohn?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Peso und fünfundzwanzig Centavos.“
+</p>
+
+<p>
+„Nackt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach wo, mit Essen und Schlafen. Seife haben wir auch frei. Sie
+kommen weiter damit als beim Baumwollpflücken, das kann ich Ihnen
+ganz gewiß sagen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+„Wie ist denn das Essen? Gut?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, es ist nicht gerade schlecht, es ist –“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß schon Bescheid.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber man wird immer satt.“
+</p>
+
+<p>
+„Kenne die Magenkneter zur Genüge.“
+</p>
+
+<p>
+Antonio lachte und nickte. Er drehte sich eine Zigarette, bot mir Tabak
+und Maisblatt an und sagte nach einer Weile: „Unter uns gesagt, das
+mit dem Essen ist auszuhalten. Hier wird in den Bäckereien und
+Konditoreien mit Eiern und Zucker gewirtschaftet, daß es eine wahre
+Freude ist. Na und sehen Sie, da kommt es auf so ein Dutzend Eier auf
+den Mann nicht an. Da sind rasch drei Eier in die Tasse geschlagen, mit
+Zucker verrührt, und da hilft man der Kost nach. Das macht man in der
+Nacht und am Vormittag so vier- oder fünfmal, dann können Sie schon
+gut zurechtkommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie lange arbeitet ihr denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist verschieden, manchmal fangen wir schon um zehn Uhr abends
+an und arbeiten dann durch bis eins, zwei oder drei Uhr nachmittags.
+Manchmal wird es auch fünf.“
+</p>
+
+<p>
+„Das wären dann also fünfzehn bis neunzehn Stunden täglich?“
+</p>
+
+<p>
+„So ungefähr. Aber nicht immer, manchmal, besonders Dienstags und
+Donnerstags, fangen wir auch erst um zwölf an.“
+</p>
+
+<p>
+„Verlockend ist es ja nun gerade nicht“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Aber man kann ja so lange dort arbeiten, bis man etwas Besseres
+findet.“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich! Wenn der Tag sechsunddreißig Stunden hätte, würde man
+ja auch Zeit finden, sich nach andrer Arbeit umsehen zu können. Aber
+so! Immerhin, ich werde anfangen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Gedanke, daß ich von nun an mit einem Raubmörder Tag und
+Nacht zusammenarbeiten, mit ihm aus derselben Schüssel essen, mit
+ihm vielleicht gar im selben Bett schlafen sollte, der Gedanke kam mir
+gar nicht. Entweder war ich moralisch schon so tief gesunken, daß ich
+für solche Feinheiten der Zivilisation das Empfinden verloren hatte,
+oder aber ich war so weit über meine Zeit hinausgewachsen und über
+die herrschende Sitte erhaben, daß ich jede menschliche Handlung verstand,
+daß ich mir weder das Recht anmaßte, jemand zu verurteilen,
+noch mir die billige Sentimentalität einflößte, jemand zu bemitleiden.
+Denn Mitleid ist auch eine Verurteilung, wenn auch eine uneingestandene,
+wenn auch eine unbewußte. Und vielleicht ein Gefühl des Schauderns
+vor Antonio, Abscheu, seine Hand zu schütteln? Es laufen so viele
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+Raubmörder herum, wirkliche und moralische, mit Brillanten an den
+Fingern und einer dicken Perle in der Halsbinde oder goldenen Sternen
+auf den Achseln, denen jeder Ehrenmann die Hand drückt und sich
+dabei noch geehrt fühlt. Jede Klasse hat ihre Raubmörder. Die der
+meinen werden gehenkt; diejenigen, die nicht meiner Klasse angehören,
+werden bei Mr. Präsident zum Ball eingeladen und dürfen auf die
+Sittenlosigkeit und Roheit, die in meiner Klasse herrscht, schimpfen.
+</p>
+
+<p>
+Zu solchen Gedanken verwildert man und sinkt man hinab in den
+Morast und zwischen den Abschaum der Menschheit, wenn man um
+Brotrinden kämpfen muß.
+</p>
+
+<p>
+Aber aus diesem Strudel törichter und verrückter Gedanken, die mir
+das Blut zu Kopfe jagten, riß mich plötzlich Antonio mit der Frage:
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, Gale, wer noch hier in der Stadt ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein! Wie kann ich das auch wissen, ich bin ja gestern abend erst
+angekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sam Woe, der Chinese.“
+</p>
+
+<p>
+„Was tut denn der hier? Hat der hier auch Arbeit gefunden?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber nein! Er hat uns doch damals schon immer erzählt von seiner
+Speisewirtschaft, die er aufmachen wollte.“
+</p>
+
+<p>
+„Und hat er eine aufgemacht?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich! Das können Sie sich doch denken. Was sich so ein Chinc
+einmal vornimmt, das tut er auch. Er hat das Geschäft mit einem Landsmann
+in Kompanie.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, lieber Antonio, wir haben halt nicht die geschäftliche Ader, die zu
+solchen Dingen notwendig ist. Ich glaube sicher, wenn ich ein solches
+Geschäft gründete, würden sofort alle Leute ohne Magen geboren, nur
+damit ich ja nicht etwa auf einen grünen Zweig komme.“
+</p>
+
+<p>
+„Das kann schon möglich sein“, lachte Antonio. „Geht mir gerade
+ebenso. Ich habe schon einen Zigarettenstand gehabt, schon einen
+Zuckerwarentisch, habe schon Eiswasser herumgeschleppt und wer weiß
+was nicht sonst noch alles versucht. Mir hat selten jemand etwas abgekauft.
+Ich habe immer elendiglich Pleite gemacht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, die Ursache ist eben,“ erwiderte ich, „wir können die Leute
+nicht genügend anschwindeln. Und schwindeln muß man können, wenn
+man Geschäfte machen will. Aber gründlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir könnten eigentlich mal hingehen zu Sam. Der wird sich auch
+freuen, Sie zu sehen. Ich esse ab und zu ganz gern mal draußen
+irgendwo. Zur Abwechslung, sehen Sie. Jeden Tag denselben langweiligen
+Fraß, das wird einem auch über.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-15">
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+14
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> machten uns also auf den Weg in das Gelbe
+Viertel, wo die Chinesen alle wohnten, wo sie ihre
+Geschäfte und ihre Restaurants haben. Nur wenige
+hatten ihre Läden in andern Stadtvierteln. Sie hocken
+am liebsten immer zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Sam war wirklich hoch erfreut, mich zu sehen. Er
+drückte mir immer wieder die Hand, lachte und
+schwatzte drauflos, lud uns zum Niedersetzen ein,
+und wir bestellten unser Essen.
+</p>
+
+<p>
+Die chinesischen Speisewirtschaften sind alle über einen Kamm geschoren.
+Einfache viereckige Holztische, manchmal nur drei, an jedem
+Tisch drei oder vier Stühle. Wegen der Menge der Speisen, die man
+erhält, können bestenfalls drei sehr verträgliche Gäste gleichzeitig an
+einem Tisch sitzen. Was in der Küche vor sich geht, kann man in den
+meisten Fällen von seinem Tische aus mit ansehen.
+</p>
+
+<p>
+Die Art und die Menge der Speisen ist in allen chinesischen Speisewirtschaften
+der Stadt die gleiche. So schließen die Chinesen unter sich
+jede unreelle Konkurrenz aus.
+</p>
+
+<p>
+Sam hatte fünf Tische. Auf jedem Tische stand eine braunrote, tönerne,
+weitbauchige Wasserflasche, von der Art und Form, wie sie schon bei
+den Azteken im Gebrauch war. Dann eine Flasche mit Öl und eine mit
+Essig. Ferner eine Büchse mit Salz, eine mit Pfeffer, eine große Schale
+mit Zucker und ein Glas mit Chile. Chile ist eine dicke aufgekochte
+Suppe von roten und grünen Pfefferschoten. Ein halber Teelöffel in
+die Suppe getan, genügt, um einen normalen Europäer zu veranlassen,
+die Suppe als total verpfeffert und durchaus ungenießbar zu erklären,
+weil sie ihm Zunge und Gaumen verbrennen würde.
+</p>
+
+<p>
+Sam bediente die Gäste, während sein Geschäftsteilhaber mit Hilfe
+eines indianischen Mädchens die Küche besorgte.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst bekamen wir einen großen Klumpen Eis in einem Glase, das
+wir mit Wasser füllten. Kein Wirt hier berechnet den Wert seines
+Geschäftes nach dem Bierverbrauch, man erhält Bier nur auf ausdrückliches
+Verlangen; und kein Wirt verdirbt einem den Genuß beim Essen
+durch sein ewiges Lamentieren, daß er am Essen nichts verdienen könne.
+Dann bekamen wir ein großes Brötchen, es folgte die Suppe. Es ist
+immer Nudelsuppe. Antonio schüttete sich einen Eßlöffel voll Chile in
+die Suppe, ich zwei, zwei gehäufte. Ich habe ja bereits erwähnt, daß
+ein halber Teelöffel die Suppe für einen normalen Europäer ungenießbar
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+macht. Aber man wird auch bereits bemerkt haben, daß ich weder
+normal bin, noch daß ich mich zu den Europäern zähle. Die Europäer
+haben mir das abgewöhnt, nicht die Indianer in der Sierra de Madre.
+Während wir noch in der Suppe herumfischten, kamen ein Beefsteak,
+geröstete Kartoffeln, ein Teller mit Reis, ein Teller mit butterweichen
+Bohnen und eine Schüssel mit Gulasch. Das gibt es hier nicht, daß man
+sich nach jedem Gang die Galle anärgern muß, weil der Kellner sich
+eine halbe Stunde lang erst überlegt, ob er einem nun den folgenden
+Gang eigentlich bringen soll oder nicht. Hier werden alle Gänge gleichzeitig
+auf den Tisch gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Nun ging das Tauschen vor sich. Antonio tauschte seine Bohnen ein
+gegen Tomatensalat, den man sich selbst am Tische zubereitet, und ich
+tauschte meinen Gulasch ein gegen ein Omelett.
+</p>
+
+<p>
+Antonio schüttete seinen Reis gleich in die Suppe; hätte er seine Bohnen
+behalten, würde er sie auch noch dazugeschüttet haben. Aber Bohnen
+schien es genug in der Bäckerei zu geben, dagegen wohl seltener
+Tomatensalat.
+</p>
+
+<p>
+Ich schüttete mir eine Lage schwarzen Pfeffer auf das Beefsteak und
+eine Lage auf die gerösteten Kartoffeln. Dann würzte ich den Reis mit
+zwei Eßlöffel Chile und die Bohnen mit vier Eßlöffel Zucker.
+</p>
+
+<p>
+Darauf kam für jeden ein Stück Torte. Antonio bestellte Eistee mit
+Zitrone, ich Café con leche, wofür man auch ebensogut sagen kann:
+Kaffee mit Milch. Kaffee trinkt man mit einem Drittel des Tasseninhaltes
+Zucker darin. Diese Sitte halte ich für sehr gut und für sehr
+vernünftig.
+</p>
+
+<p>
+Beim Bezahlen an der Kasse bekommt man dann noch einige Zahnstocher.
+Deshalb sieht man auch nie, daß ein Mexikaner mit der Gabel
+in den Zähnen herumfuhrwerkt, wie ich das in Lyons Cornerhouse am
+Trafalgar Square und an andern Plätzen, leider auch in Mitteleuropa,
+häufig zu beobachten Gelegenheit hatte. Daß man mit dem Messer recht
+gut essen kann, ohne sich gleich die Lippen oder die Mundwinkel aufzuschlitzen,
+wie so oft von ungeschickten und furchtsamen Leuten behauptet
+wird, weiß ich aus eigner Erfahrung. Etwas unbequem sind die
+starken Seemannsmesser, wie ich eines habe, weil die am Ende spitz
+sind und nicht breit, deshalb kriegt man die Tunke nicht so gut aus der
+Pfanne, und man muß mit dem Finger nachhelfen. Ob man hier den
+Fisch mit dem Messer ißt oder mit dem Eßlöffelstiel, weiß ich nicht. Sooft
+ich Mexikaner habe Fisch essen sehen, an den offenen Garküchen,
+auf den Märkten und an andern Orten, aßen sie ihn immer mit dem
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+Zeigefinger und dem Daumen. Das heißt, sie aßen ihn natürlich, wie
+jeder erwachsene und vernünftige Mensch es tut, mit dem Munde, aber
+ich meine, sie packen ihre Beute mit den Fingern. Die Verkäufer haben
+auch meist gar kein Messer, das sie dem Gast geben könnten, sondern
+eben auch nur die natürlichen Werkzeuge, die sie nicht erst zu kaufen
+brauchen.
+</p>
+
+<p>
+In diesen Gedankengängen bewegte sich unser Tischgespräch, weil wir,
+der besseren Verdauung wegen, während des Essens nichts Gedankenschweres
+in unserm Hirn herumwälzen wollten, und weil man beim
+Essen nur vom Essen sprechen soll.
+</p>
+
+<p>
+Ich führe dieses Gespräch hier auch nur an, um zu zeigen, daß wir keine
+ungebildeten Leute oder, was viel schlimmer ist, etwa gar revolutionäre
+Arbeiter waren. Denn das kann man so sehr leicht werden, wenn man
+sich gehen läßt und nachgibt, besonders wenn man augenblicklich keine
+andre Zukunftsmöglichkeit vor Augen sieht als eine fünfzehn- bis siebzehnstündige
+Arbeitszeit für einen Peso fünfundzwanzig.
+</p>
+
+<p>
+Für diese Mahlzeit zahlten wir jeder fünfzig Centavos, alles einbegriffen.
+Es war der übliche Preis in einer chinesischen Speisewirtschaft.
+Antonio goß sich noch ein Glas Wasser ein, spülte sich gründlich Mund
+und Zähne und spuckte das Wasser auf den Fußboden. Saubern Mund
+und saubre Zähne zu haben, ist dem Mexikaner wichtiger als ein
+trockner Fußboden. Die nimmermüde tropische Sonne trocknet ja den
+Fußboden, ehe sich der nächste Gast an unsern Tisch setzt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-16">
+15
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">un</span> segelten wir zuerst einmal zu der Bäckerei. Ich
+ging in den Laden und fragte den Verkäufer nach
+dem Prinzipal.
+</p>
+
+<p>
+„Sind Sie Bäcker?“ fragte der Inhaber.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, Brot- und Kuchenbäcker“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Wo haben Sie denn zuletzt gearbeitet?“
+</p>
+
+<p>
+„In Monterrey.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, dann können Sie heute abend anfangen. Freie
+Kost, Wohnung, Wäsche und einen Peso fünfundzwanzig für den Tag.“
+</p>
+
+<p>
+„Halt!“ sagte er plötzlich. „Sind Sie sicher auf Torten, auf Torten mit
+Gußornamenten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe in meiner letzten Stellung in Monterrey nur Torten mit Gußornamenten
+gebacken.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+„Das ist fein! Da will ich aber doch erst mal mit meinem Meister
+sprechen, was der dazu sagt. Ein sehr tüchtiger Meister, von dem können
+Sie viel lernen.“
+</p>
+
+<p>
+Er ging mit mir in die Kammer, wo der Meister sich gerade die Stiefel
+anzog, um auszugehen.
+</p>
+
+<p>
+„Hier ist ein Bäcker aus Monterrey, der Arbeit sucht. Hören Sie mal, ob
+Sie ihn brauchen können.“
+</p>
+
+<p>
+Der Inhaber ging wieder in sein Zimmer und ließ uns beide allein.
+</p>
+
+<p>
+Der Meister, ein kleiner dicker Bursche mit Sommersprossen, zog sich
+ruhig erst die Stiefel an, dann setzte er sich auf den Bettrand und
+zündete sich eine Zigarre an.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem er ein paar Züge getan hatte, betrachtete er mich mißtrauisch
+von oben bis unten und sagte endlich:
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind Bäcker?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich habe keine blasse Ahnung vom Backen.“
+</p>
+
+<p>
+„So!?“ sagte er darauf, immer noch mißtrauisch. „Verstehen Sie was von
+Torten?“
+</p>
+
+<p>
+„Gegessen habe ich schon welche,“ sagte ich, „aber wie sie gemacht
+werden, davon habe ich keinen Begriff. Ich wollte das gerade lernen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hier haben Sie eine Zigarre. Sie können anfangen, heute abend um
+zehn Uhr. Aber pünktlich! Wollen Sie was essen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, danke! Nicht jetzt.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, ich werde mit dem Alten sprechen. Ich will Ihnen nun Ihr Bett
+zeigen.“
+</p>
+
+<p>
+Sein Mißtrauen war geschwunden, und er war sehr freundlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde einen tüchtigen Bäcker und Konditor aus Ihnen machen,
+wenn Sie gut aufpassen und willig sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Dafür würde ich Ihnen sehr dankbar sein, Senjor. Bäcker und Konditor
+wollte ich schon immer werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie nun wollen, können Sie schlafen gehen oder sich die Stadt
+ansehen. Ganz, wie Sie wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut!“ sagte ich, „dann will ich in die Stadt gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Also um zehn Uhr, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+Ich traf, wie verabredet, Antonio im Park auf der Bank.
+</p>
+
+<p>
+„Na?“ begrüßte er mich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich fange heute abend an.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut“, sagte er. „Vielleicht gehe ich später mit Ihnen ’runter nach
+Kolumbien.“
+</p>
+
+<p>
+Ich setzte mich zu ihm.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+Weil ich nicht recht wußte, was ich mit ihm reden sollte, und um ein
+Gesprächsthema zu haben, dachte ich, jetzt ist der gegebene Zeitpunkt,
+nach Gonzalo zu fragen. Es war mir eigentlich nicht so sehr darum zu
+tun, nur zu schwätzen, als vielmehr zu beobachten, wie er sich benehmen
+würde, wie sich ein Mensch beträgt, der einen Raubmord auf dem Gewissen
+hat und den man damit überrascht, daß man ihm sagt, man
+wisse es.
+</p>
+
+<p>
+Eine Gefahr war freilich damit verknüpft. War Antonio in Wahrheit
+ein echter Mörder, dann würde er bei erster Gelegenheit mich auf die
+Seite schaffen als Mitwisser. Aber darauf wollte ich es ankommen
+lassen. Diese Gefahr kitzelte mich erst recht, auf den Busch zu klopfen.
+Ich war ja vorbereitet und konnte mich meiner Haut wehren. Mit ihm
+allein durch den Busch, vielleicht gar nach Kolumbien zu trampen,
+würde ich dann schon wohlweislich vermeiden.
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, Antonio,“ sagte ich plötzlich aus heiler Haut heraus, „daß
+Sie von der Polizei gesucht werden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich?“ erwiderte er ganz erstaunt. – „Ja, Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Weswegen denn? Ich weiß nicht, daß ich etwas verbrochen habe.“
+</p>
+
+<p>
+Es klang sehr aufrichtig; mir schien, zu aufrichtig, um echt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Wegen Mordes! Wegen Raubmordes!“ setzte ich hinzu.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind wohl verrückt, Gale. Ich wegen Raubmordes? Da sind Sie
+aber böse im Irrtum. Vielleicht eine Namensähnlichkeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, daß Gonzalo tot ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“ Er schrie es beinahe.
+</p>
+
+<p>
+„Ja“, sagte ich ruhig, ihn im Auge behaltend. „Gonzalo ist tot. Ermordet
+und beraubt.“
+</p>
+
+<p>
+„Der arme Kerl! Er war ein guter Bursche“, sagte Antonio bedauernd.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ bestätigte ich, „er war ein braver Kerl! Und es ist schade um ihn.
+Wo haben Sie ihn denn zuletzt gesehen, Antonio?“
+</p>
+
+<p>
+„In dem Hause, wo wir alle wohnten.“
+</p>
+
+<p>
+„Mr. Shine erzählte mir, daß ihr drei, Sie, Gonzalo und Sam, zusammen
+am Montag morgen fortgegangen seid.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Mr. Shine das sagt, dann irrt er. Gonzalo ist zurückgeblieben.
+Wir zwei nur, Sam und ich, sind zur Station gegangen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das verstehe ich nicht“, sagte ich nun. „Mr. Shine hat am Fenster oder
+in der Tür gestanden, ich weiß nicht wo, und hat euch drei bestimmt
+gesehen.“
+</p>
+
+<p>
+Da lachte Antonio leicht auf und sagte: „Mr. Shine hat recht und ich
+habe auch recht. Aber der dritte, der bei uns war, war nicht Gonzalo,
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+sondern einer dort aus der Gegend, einer von den Eingeborenen, der
+die Hühner von Abraham kaufen wollte, weil er dachte, er könne sie
+billig haben. Abraham war aber schon zwei Tage fort und hatte die
+Hühner bereits verkauft, ich glaube an Mr. Shine.“
+</p>
+
+<p>
+„In dem Hause, wo Sie Gonzalo zuletzt gesehen haben,“ sagte ich nun
+langsam, „habe ich ihn auch gefunden, ermordet und beraubt. Das heißt,
+es ist ihm nicht alles geraubt worden, fünf Pesos und etwas darüber hat
+ihm der Mörder gelassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich möchte ernst bleiben bei der tragischen Geschichte,“ sagte Antonio,
+leicht vor sich hingrinsend, „aber da muß ich doch lachen. Das übrige
+Geld von Gonzalo habe ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Na also!“ rief ich. „Davon rede ich ja die ganze Zeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Davon reden Sie allerdings, Gale“, erwiderte Antonio. „Aber das Geld
+habe ich ihm doch abgewonnen. Sam weiß das gut, der war doch dabei.
+Sam hat selber fünf Pesos dabei verloren. Er hat sich ja mit in die
+Wette hineingedrängt.“
+</p>
+
+<p>
+Das wurde jetzt eine merkwürdige Geschichte.
+</p>
+
+<p>
+„Sam, ich und der Indianer, wir sind zusammen vom Hause fortgegangen.
+Gonzalo wollte zurückbleiben und sich gut ausschlafen. Ich
+bin mit Sam bis Celaya gefahren. Sam ist dann weitergefahren, und
+ich bin teils gelaufen, teils habe ich ein paar Strecken mit den Zügen
+blind gemacht.“
+</p>
+
+<p>
+Was Antonio sagte, klang wahr. Außerdem hatte er Sam als Zeugen.
+Und daß Antonio diese weite Strecke von Celaya zurückgereist sein
+sollte, um Gonzalo zu ermorden, war ganz und gar unwahrscheinlich.
+Sein Geld hatte er ihm ja abgewonnen, ehrlich, Sam war Zeuge. Irgendeinen
+Wertgegenstand besaß Gonzalo nicht. Wir kannten jeder den
+ganzen Tascheninhalt des andern; und auf dem Leibe konnte auch
+niemand etwas verbergen, wir liefen ja immer dreiviertel nackt herum.
+Da war nichts Verdächtiges übrig, Antonio war unschuldig.
+</p>
+
+<p>
+„Na, lieber Antonio,“ sagte ich, „da bitte ich Sie herzlich um Verzeihung,
+weil ich geglaubt habe, Sie könnten am Morde oder Tode des Gonzalo
+schuldig sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Macht nichts, Gale,“ antwortete er gemütlich, „nehme ich Ihnen nicht
+übel; aber ich hätte doch gedacht, Sie würden nicht gleich das Böseste
+von mir denken. Ich habe doch nie jemand irgendeine Ursache hierfür
+gegeben.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist wahr. Das haben Sie nicht“, sagte ich darauf. „Aber sehen Sie,
+die Umstände waren so merkwürdig auf Sie gerichtet. Sie und Sam
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+waren die letzten mit Gonzalo im Hause. Gonzalo hat, wenn er, wie
+Sie sagen, nicht mit Ihnen gegangen ist, das Haus nicht mehr verlassen.
+Er ist darin ermordet worden. Mr. Shine sagte mir, daß, seit Sie fortgegangen
+seien, niemand sonst dort herum war. Es gibt ja nichts zu
+stehlen da, und ein Weg, der jemand zufällig dahin bringen könnte,
+führt auch nicht vorbei. Ich bin noch mal oben gewesen, weil ich dort
+auf Bescheid von einem Öl-Camp warten mußte. Rein aus Neugierde
+geriet ich in das Haus und fand Gonzalo tot. Er hatte mehrere Wunden
+von Messerstichen, die gefährlichste war ein Lungenstich in der linken
+Brust, an dem Stich ist er offenbar verblutet.“
+</p>
+
+<p>
+Als ich das von den Wunden so langsam erzählte, ging in Antonio eine
+erschütternde Veränderung vor sich. Er wurde leichenblaß, starrte mich
+mit entsetzten Augen an, bewegte die Lippen und schluckte und
+schluckte, konnte aber kein Wort hervorbringen. Mit der linken Hand
+arbeitete er an seinem Gesicht und an seinem Halse, als ob er sich das
+Fleisch herunterreißen wollte, während er mit der rechten Hand wie
+im Traum nach meiner Schulter und nach meiner Brust tastete, als ob
+er sich vergewissern müsse, ob da jemand sitze oder ob das nur eine
+Wahnvorstellung sei.
+</p>
+
+<p>
+Ich wußte nicht, was ich aus all dem machen sollte. Ich konnte mir jetzt
+überhaupt nichts mehr erklären. In Antonio zeigte sich plötzlich das
+ganze Schuldbewußtsein eines Menschen, dem seine Tat mit allen ihren
+Folgen klar zu werden beginnt. Und eben noch hatte er gelacht, als ich
+ihn des Mordes an Gonzalo verdächtigte. Wie sollte ich mir ein solches
+Verhalten zurechtlegen, um darüber nicht selbst meine Gedanken zu
+verschlingern und mir vielleicht gar noch einzuträumen, daß ich selbst
+Gonzalo erschlagen habe!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-17">
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+16
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Lampen im Park flammten auf.
+</p>
+
+<p>
+Die Nacht war blitzschnell über uns hereingebrochen
+in der kurzen Zeitspanne, wo der
+Kampf in Antonio begann. Denn es war im hellen
+Tageslicht gewesen, daß ich sein Gesicht offen
+und unbefangen zuletzt gesehen hatte. Und nun
+deckte die Nacht das in seinem Gesicht zu, was
+für mich der nackte, der natürliche, der wahre,
+der unverschleierte Mensch Antonio war. Das, was für mich ein unvergeßliches
+Ereignis hatte werden sollen, die Züge und Gesten eines
+Menschen zu studieren, den die finstersten Mächte überfallen haben,
+den sie schütteln und rütteln und dem sie jedes Härchen und jede Pore
+an seinem Körper in Aufruhr versetzen, wurde mir nun zerstört durch
+die grellen Lampen, die in das Gesicht Antonios Schatten und Linien
+hineinlogen, die in Wahrheit nicht darinnen waren.
+</p>
+
+<p>
+Wahrheit allein war sein heißes Atmen, und Wahrheit allein waren
+seine tastenden und krallenden Finger. Alles andre wurde Rampenlicht.
+Auf der Nebenbank saß ein indianischer Arbeiter, zerlumpt wie zehntausende
+unsrer Klasse, weil der Lohn kaum für das Essen reicht, häufig
+nichts übrigbleibt für eine Dreißig-Centavos-Pritsche in einem der
+vielen Schlafhäuser, wo sich morgens fünfzig oder achtzig oder hundert
+Schlafgenossen aller Rassen und aller Völker der Erde, behaftet mit
+vielleicht ebenso vielen oder mehr Krankheiten, die von den Ärzten
+gekannt und nicht gekannt oder nicht einmal erahnt sind, alle in demselben
+Wascheimer waschen, alle an demselben Handtuch abtrocknen,
+alle mit demselben Kamm kämmen.
+</p>
+
+<p>
+Der indianische Prolet war auf der Bank eingeschlafen. Seine Glieder
+entspannten sich, und der ganze ermüdete und abgearbeitete Körper
+sank zu einem Häuflein Lumpen mehr und mehr zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Da schlich sich ein indianischer Polizist heran. Er umkreiste die Bank
+wie ein Raubvogel seine Beute, die er aus seiner Höhe auf dem Erdboden
+kriechen sieht. Dann, als er wieder an der Rückseite der Bank
+war, zog er seine Lederpeitsche durch die Hand und hieb, mit bestialischer
+Brutalität und mit einem tückischen Grinsen auf dem Gesicht, dem
+Arbeiter die Peitsche über den Rücken. Ein furchtbarer Hieb. Mit einem
+unterdrückten ächzenden Schrei fiel der Oberkörper des Indianers kurz
+nach vorn über, als hätte man ihm den Rücken mit einem Schwert durchschnitten.
+Dann aber schnellte der Körper rasch nach hinten, und sich
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+mit einem Gestöhn windend, griff er langsam mit der Hand nach dem
+gemarterten Rücken. Der Polizist trat jetzt nach vorn und grinste den
+Arbeiter mit einer teuflischen Grimasse an. Dem Gepeinigten liefen
+vor Schmerzen dicke Tränen über das Gesicht. Aber er sagte nichts. Er
+stand nicht auf. Er blieb ruhig auf der Bank sitzen. Denn das war sein
+Recht. Sitzen durfte er auf der Bank, er mochte noch so zerlumpt sein,
+es mochten noch so viele elegante Caballeros und Senjoras herumirren,
+um die Kühle des Abends auf einer der bequemen Bänke zu genießen
+und dem Konzert zuzuhören, das bald beginnen würde. Der Indianer
+wußte, er war der Bewohner und der Bürger eines freien Landes, wo
+der Millionär nicht mehr Recht hat, auf dieser Bank zu sitzen, und wäre
+es vierundzwanzig Stunden lang, als der arme Indianer. Aber schlafen
+durfte er nicht auf der Bank. So weit ging die Freiheit nicht, obgleich
+die Bank auf dem „Platze der Freiheit“ stand. Es war die Freiheit, wo
+derjenige, der die Autorität besitzt, den peitschen darf, der die Autorität
+nicht hat. Der uralte Gegensatz zweier Welten. Uralt wie die Geschichte
+von der Herauspeitschung aus dem Paradiese. Der uralte Gegensatz
+zwischen der Polizei und den Mühseligen und Beladenen und
+Hungernden und Schlafbedürftigen. Der Indianer war im Unrecht, das
+wußte er wohl, deshalb sagte er nichts, sondern stöhnte nur. Satan oder
+Gabriel – dieser hier hielt sich für das zweite – war im Recht.
+</p>
+
+<p>
+Nein! Er war nicht im Recht! Nein! Nein! Mir stieg das Blut zu Kopfe.
+In allen Ländern der hohen Zivilisation, in England, in Deutschland,
+in Amerika und erst recht in den andern Ländern, ist es die Polizei, die
+peitscht, und ist es der Arbeiter, der gepeitscht wird. Und da wundert
+sich dann der, der zufrieden an der Futterkrippe sitzt, wenn plötzlich
+an der Krippe gerüttelt wird, wenn die Krippe plötzlich umgeschleudert
+wird und alles in Scherben geht. Aber ich wundere mich nicht. Eine
+Schußwunde vernarbt. Ein Peitschenhieb vernarbt nie. Er frißt sich
+immer tiefer in das Fleisch, trifft das Herz und endlich das Hirn und
+löst den Schrei aus, der die Erde erbeben läßt. Den Schrei: „Rache!“
+Warum ist Rußland in den Händen der Bolsches? Weil dort vor dieser
+Zeit am meisten gepeitscht wurde. Die Peitsche der Polizisten ebnet den
+Weg für die Heranstürmenden, deren Schritte Welten erdröhnen und
+Systeme explodieren macht.
+</p>
+
+<p>
+Wehe den Zufriedenen, wenn die Gepeitschten „Rache“ schreien! Wehe
+den Satten, wenn die Peitschenstriemen das Herz der Hungernden zerfressen
+und das Hirn der Geduldigen auseinanderreißen! Man zwang
+mich, Rebell zu sein und Revolutionär. Revolutionär aus Liebe zur
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+Gerechtigkeit, aus Hilfsbereitschaft für die Beladenen und Zerlumpten.
+Ungerechtigkeit und Unbarmherzigkeit sehen zu müssen, macht ebenso
+viele Revolutionäre wie Unzufriedenheit oder Hunger.
+</p>
+
+<p>
+Ich sprang auf und ging zu der Bank, wo immer noch der Polizist stand,
+die Peitsche durch die Hand ziehend, sie ab und zu durch die Luft
+pfeifen lassend und mit funkelnden Augen auf sein sich windendes
+Opfer grinsend. Er nahm keine Notiz von mir, weil er glaubte, ich
+wolle mich auf die Bank setzen.
+</p>
+
+<p>
+Ich ging aber dicht auf ihn zu und sagte: „Führen Sie mich sofort zur
+Wache. Ich werde Sie zur Meldung bringen. Sie wissen, daß Ihre
+Instruktion Ihnen nur das Recht gibt, sich der Peitsche zu bedienen,
+falls Sie angegriffen werden oder bei Straßenaufläufen nach wiederholtem
+Aufruf. Das wissen Sie doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber der Hund hat hier auf der Bank geschlafen“, verteidigte sich
+der kleine braune Teufel, der kaum höher war als fünf Fuß.
+</p>
+
+<p>
+„Dann durften Sie ihn wecken und ihm sagen, daß er hier zu dieser Zeit
+nicht schlafen dürfe, und wenn er wieder einschlafen sollte, durften Sie
+ihn von der Bank verweisen, aber auf keinen Fall durften Sie ihn
+schlagen. Also kommen Sie mit zur Wache. Von morgen ab werden Sie
+keine Möglichkeit mehr haben, jemand zu peitschen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Bursche sah mich eine Weile an, sah, daß ich ein Weißer war, und
+sah, daß ich es im Ernst sagte. Er hing die Peitsche an den Haken in
+seinem Gürtel, und mit einem schnellen Satz war er verschwunden, als
+habe ihn die Erde verschluckt.
+</p>
+
+<p>
+Der Indianer stand auf und ging langsam seiner Wege.
+</p>
+
+<p>
+Ich schlenderte zurück zu Antonio.
+</p>
+
+<p>
+Mörder hin, Mörder her! dachte ich. Es ist ja alles egal. Alles ist Busch.
+Überall ist Busch. Friß! oder du wirst gefressen! Die Fliege von der
+Spinne, die Spinne vom Vogel, der Vogel von der Schlange, die Schlange
+vom Coyote, der Coyote von der Tarantel, die Tarantel vom Vogel, der
+Vogel von –. Immer im Kreise herum. Bis eine Erdkatastrophe kommt
+oder eine Revolution und der Kreis von neuem beginnt, nur anders
+herum.
+</p>
+
+<p>
+Antonio, du hast ganz recht gehabt! Du bist im Recht! Der Lebende
+hat immer recht! Du bist im Recht! Der Tote ist schuld. Hättest du nicht
+Gonzalo ermordet, hätte er dich ermordet. Vielleicht. Nein sicher. Es
+ist der Kreis im Busch. Man lernt es so schnell im Busch. Das Beispiel
+ist zu häufig, und die ganze Zivilisation ist ja nichts andres als die
+natürliche Folge seiner bewundernswerten Nachahmungsfähigkeit.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-18">
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+17
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_n.jpg" alt="N"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">N</span></span><span class="postfirstchar">ein!“</span> sagte Antonio, ruhiger geworden, „es war
+ganz bestimmt nicht meine Absicht, Gonzalo zu töten.
+Es hätte mich genau so gut treffen können. Glauben
+Sie mir doch, oh, amigo, mio! Ich bin nicht schuld an
+seinem Tode.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, Antonio. Es konnte auch Sie treffen. Es kann
+Sie heute abend noch treffen. Es ist der Busch, der uns
+alle am Kragen hat und mit uns macht, was er will.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“ sagte er, „Sie haben recht, Gale, es ist der Busch. Hier in der
+Stadt wären wir auf so eine verrückte Idee gar nicht verfallen. Aber
+da singt der Busch die ganze Nacht, da schreit ein Fasan seinen Todesschrei,
+wenn er gepackt wird, da heult der Cougar auf seinem Mordwege.
+Alles ist Blut, alles ist Kampf. Im Busch sind es die Zähne, bei uns
+sind es die Messer. Aber es war doch nur Scherz, nur der reine Spaß.
+Wirklich nur Spaß. Nichts weiter.
+</p>
+
+<p>
+Ob es nun die Würfel sind, oder die Karten, oder das Rädchen, oder
+die Messer! Wir hatten nach siebenwöchiger Arbeit keiner soviel Geld
+übrig, wie wir brauchten, um aus dieser verlassenen Gegend fortzukommen
+und was andres aufzusuchen.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten ziemlich gleich viel Geld. Gonzalo hatte etwas über zwanzig
+Pesos, ich hatte fünfundzwanzig.
+</p>
+
+<p>
+Es war am Sonntag abend. Montag früh wollten wir gehen.
+</p>
+
+<p>
+Abraham war schon ein paar Tage fort, auch Charley war gegangen,
+Sie waren auch nicht mehr da. Wir waren nur noch drei, Gonzalo, Sam
+und ich.
+</p>
+
+<p>
+Wir zählten unser Geld auf dem Erdboden. Wir hatten jeder Goldstücke,
+das kleine in Silber.
+</p>
+
+<p>
+Und als das Geld nun da vor uns auf dem Erdboden lag, kaum zu sehen
+bei dem Schein unsres Feuers, da fing Gonzalo an zu fluchen.
+</p>
+
+<p>
+Er sagte: „Was tu ich mit den paar lausigen Kröten? Da hat man nun
+sieben Wochen geschuftet wie ein verrückter Negersklave, in der Glut,
+von früh um vier bis Sonnenuntergang, dann heim. Und dann abgerackert,
+daß man kaum noch einen Knochen rühren kann, noch den
+elenden Fraß zu kochen und ’runterzuwürgen. Keinen Sonntag gehabt,
+kein Vergnügen, keine Musik, keinen Tanz, kein Mädchen, keinen
+Schnaps und den schlechtesten Tabak. Was soll ich mit dem Lausedreck
+da anfangen?“
+</p>
+
+<p>
+Dabei schob er mit dem Fuß das Geld fort.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+„Mein Hemd ist in Fetzen,“ schimpfte er weiter, „meine Hose ein
+Lumpen, meine Stiefel, guck’ sie dir an, Antonio, keine Sohle, kein
+Oberleder, kein Nischt, sogar die Riemen sind zwanzigmal geknotet.
+Und nischt bleibt übrig, und geschuftet wie ein Pferd. Ja, wären es
+wenigstens vierzig Pesos!“
+</p>
+
+<p>
+Als er das sagte, heiterte sich sein Gesicht auf.
+</p>
+
+<p>
+„Mit vierzig Pesos“, sagte er, „käme ich zurecht. Könnte nach Mexico
+Capitale fahren, mir neue Lumpen kaufen, damit man auch anständig
+aussieht, wenn man zu einem Mädchen ‚Buenos tardes!‘ sagen will. Und
+man hat noch ein paar Pesos übrig, um es ein paar Tage auszuhalten.“
+</p>
+
+<p>
+„Du hast recht, Gonzalo,“ sagte ich nun, „vierzig Pesos sind es auch
+gerade, die ich haben müßte, um wenigstens das Notdürftigste zu
+kaufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du was?“ sagte darauf Gonzalo, „laß uns um das Geld spielen.
+Keiner von uns kann mit den paar Dreckgroschen etwas Rechtes anfangen.
+Wenn du mein Geld noch dazu bekommst oder ich das deine,
+dann kann doch einer von uns wenigstens etwas werden, denn so, wie
+es jetzt ist, ist jeder ein Bettler. Diese paar Groschen versäuft man
+doch gleich auf den ersten Sitz aus lauter Wut, daß man umsonst
+geschuftet hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Idee von Gonzalo war nicht schlecht“, erzählte Antonio weiter.
+„Ich hätte mein Geld auch gleich versoffen. Wenn man mit dem gottverfluchten
+Tequila erst einmal anfängt, hört man nicht eher auf, bis
+der letzte Centavos verwichst ist. Das geht dann durch, besoffen,
+nüchtern, besoffen, nüchtern, besoffen immerfort, bis alles hin ist. Und
+was man nicht selber durch die Gurgel rasselt, das helfen dann die Mitsäufer
+davon, und der Wirt beschwindelt einen ums Dreifache, und der
+schäbige Rest wird einem aus der Tasche gestohlen. Das kennen Sie
+doch, Gale?“
+</p>
+
+<p>
+Und ob ich das kannte! Ob ich den Tequila kannte, der einem die Kehle
+so zerreißt, daß man sich nach jedem Glase schütteln muß und schnell
+ein paar eingemachte Bohnen, die einem der kluge Wirt mit einem
+spitzen Hölzchen zum Aufspießen hinstellt, hinterher schlucken muß,
+um den Petroleumgeschmack los zu werden. Aber man trinkt in einem
+fort wie besessen, als ob man behext wäre oder als ob dieser Rachenzerreißer
+ein Zaubertrank wäre, den man aus irgendeinem mysteriösen
+Grunde durch die Kehle jagen muß, ohne ihn mit der Zunge zu
+betasten. Und wenn man dann endlich glaubt, genug zu haben, hat
+man weder Hirn noch Körper, noch Blut. Man hört auf, zu existieren.
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+Das Daseinsbewußtsein erlischt vollständig. Alles ist fortgewischt.
+Sorgen, Leid, Ärger, Zorn. Übrigbleibt nur das absolute Nichts. Welt
+und ich sind verweht. Nicht einmal Nebel bleibt.
+</p>
+
+<p>
+Antonio brütete eine Weile vor sich hin wie in der Erinnerung suchend.
+Dann fuhr er in seiner Erzählung fort: „Wir hatten keine Karten und
+keine Würfel. Wir zogen Hölzchen. Aber der gesetzte Peso ging immer
+hin und zurück. Es wurden nie mehr als fünf Pesos, die überwechselten.
+Dann spielten wir Kopf und Wappen. Merkwürdig, es wurden nie
+mehr als ein paar Pesos, die aus der einen Tasche zur andern gingen.
+Sam spielte auch mit, und auch sein Geld wechselte nicht von Haus
+zu Haus.
+</p>
+
+<p>
+Es war nun schon ziemlich spät in der Nacht geworden. Vielleicht zehn
+oder elf Uhr.
+</p>
+
+<p>
+Da wurde Gonzalo wütend und fluchte wie ein Wilder, jetzt habe er
+genug von diesem Kinderspiel, jetzt wolle er endlich wissen, woran er
+morgen früh sei.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, weißt du denn einen andern Vorschlag?“ sagte ich zu ihm.
+</p>
+
+<p>
+„Nein!“ erwiderte er, „das ist es ja gerade, was mich so wütend macht.
+Wir albern hier herum wie die kleinen Kinder, ohne zu einem Ende
+zu kommen. Immer hin und her. Es ist zum Verrücktwerden!“
+</p>
+
+<p>
+Dann, als er eine Weile beim Feuer gehockt hatte, in die Glut starrend,
+sich eine Zigarette nach der andern drehend, die er, kaum angeraucht,
+ins Feuer warf, sagte er, plötzlich aufspringend: „Jetzt weiß ich, was
+wir tun. Wir machen ein Azteken-Duell um die ganze Summe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Azteken-Duell?“ fragte ich. „Was ist denn das?“
+</p>
+
+<p>
+Gonzalo war aztekischer Abstammung. Er war aus Huehuetoca, und
+seine Vorfahren waren einst Caciques gewesen. Das ist so etwas wie
+Heerführer und Statthalter. Die Erinnerung an solche Adelsfamilien
+wird auf dem Lande durch Tradition festgehalten, so gut festgehalten,
+daß sehr selten ein Irrtum unterläuft.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, weißt du denn das nicht, was das ist, ein Azteken-Duell?“ sagte
+Gonzalo erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ gab ich zur Antwort, „wie sollte ich denn? Wir sind doch
+spanischer Abkunft, wenn wir auch schon mehr als hundert Jahre hier
+sind, Vaters und Mutters Seite. Aber von einem Azteken-Duell habe
+ich nie gehört.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist ganz einfach“, sagte Gonzalo. „Wir nehmen zwei junge,
+gerade gewachsene Bäumchen, binden oben unsre Messer fest daran
+und werfen sie dann gegenseitig aufeinander los, bis der eine aus Ermattung
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+nachgeben muß. Einer von beiden muß ja zuerst ermüden.
+Und wer stehenbleibt, hat gewonnen, der kriegt dann das ganze Geld.
+Dann kommen wir doch wenigstens zu einem Ende.“
+</p>
+
+<p>
+Ich überlegte mir das eine Weile, denn es schien mir eine ganz verrückte
+Idee zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Du hast doch nicht Angst, Spanier?“ lachte Gonzalo.
+</p>
+
+<p>
+Und weil in seinen Worten so ein merkwürdiger Ton von Verhöhnung
+lag, brauste ich auf:
+</p>
+
+<p>
+„Angst vor dir? Vor einem Indianer? Ein Spanier hat nie Angst! Das
+will ich dir gleich beweisen. Los zum Azteken-Duell!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-19">
+18
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> nahmen ein flammendes Holzscheit vom Feuer
+und krochen im Busch herum, bis wir zwei passende
+Stämmchen gefunden hatten.
+</p>
+
+<p>
+Sam wurde beauftragt, genügend Holz heranzuschleppen,
+damit wir ein tüchtiges Feuer bekämen,
+um beim Kampfe auch Ziellicht zu haben. Wir befreiten
+die Stämmchen von den Ästen und banden oben
+unsre aufgeklappten spitzen Taschenmesser fest an.
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich lassen wir nicht die ganze Messerklinge überstehen“,
+sagte Gonzalo. „Denn wir wollen uns ja nicht ermorden. Es
+ist ja nur um das Spiel. Das Messer braucht nicht weiter überstehen,
+als ein Fingerglied. So, das ist gut!“ fügte er hinzu, meinen Speer betrachtend.
+„Jetzt binden wir unten noch ein Stück Holz an, um dem
+Speer ein richtiges Schaftgewicht zu geben, damit er nicht flattert.“
+</p>
+
+<p>
+Dann umwickelten wir unsern linken Arm mit Gras und einem Sack,
+um ein Abwehrschild zu haben. „Denn,“ erklärte Gonzalo, „der Schild
+ist wichtig. Das ist ja eben gerade das Vergnügen, aufzufangen und
+abzuwehren.“
+</p>
+
+<p>
+Als wir mit allem fertig waren, sagte Sam: „Ja, und ich? soll ich
+vielleicht nur zugucken? Ich will auch mitspielen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Chinc hatte recht. Für seine Mühewaltung als Verwahrer der
+Spielsumme und als Zeuge mußte er seinen Lohn haben. Sie wissen ja,
+Gale, was für Spielratten die Chincs sind. Die würden die Frachtkosten
+für ihren Leichnam verspielen, wenn ihnen das nicht gegen alle
+Moral ginge.
+</p>
+
+<p>
+„Ho!“ sagte Gonzalo zu Sam, „du kannst ja auf einen von uns wetten.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+„Fein!“ erwiderte Sam, „dann wette ich auf dich, Gonzalo. Fünf Pesos.
+Wenn du gewinnst, bekomme ich von dir fünf Pesos, und wenn du verlierst,
+kliegst du von mir fünf Pesos. Du hast ja kein Intelesse zu verlielen,
+weil du dann deine zwanzig Pesos los würdest.“
+</p>
+
+<p>
+Wir deponierten jeder unsre zwanzig Pesos, die Sam vor sich auf einen
+Stein legte, und dann tat er selbst seine fünf Pesos Wetteinsatz hinzu.
+Sam schritt fünfundzwanzig Schritte ab, und wir legten jeder ein
+langes Stück Holz an die Marken, die keiner der Kämpfer überschreiten
+durfte, wenn er nicht sofort fünf Pesos an den andern verlieren wollte.
+Dann warfen wir die Speere aufeinander los. Zum Rückwerfen benutzte
+jeder den Speer des andern.
+</p>
+
+<p>
+Bei dem flackernden, ab und zu qualmenden Feuer konnte ich Gonzalo
+nur in Umrissen sehen, und den Speer, wenn er auf einen zugeflogen
+kam, konnte man beinahe gar nicht sehen, denn rundherum war ja
+stockdunkle Nacht.
+</p>
+
+<p>
+Gleich beim zweiten Gang bekam ich einen Stich in die rechte Schulter.
+Sie können hier die Wunde noch sehen, Gale.“
+</p>
+
+<p>
+Dabei zog er sein Hemd von der Schulter, und ich sah den Stich, noch
+unvernarbt.
+</p>
+
+<p>
+„Nach und nach kamen wir in Bewegung oder eigentlich in Aufregung.
+Ich bekam nach einigen weiteren Gängen noch einen Stich, der mir
+durch die Hose ins Bein ging.
+</p>
+
+<p>
+Aber ich konnte ganz gut aushalten.
+</p>
+
+<p>
+Wie lange wir warfen, weiß ich nicht. Aber weil keiner nachgeben
+wollte, wurde das Tempo immer rascher.
+</p>
+
+<p>
+Es kam so mittlerweile ein gutes Stück Wildheit in die Sache, und
+jemand, der uns jetzt beobachtet hätte, würde niemals geglaubt haben,
+daß es nur ein Spiel sei.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht warfen wir eine Viertelstunde, vielleicht eine halbe. Ich weiß
+es nicht. Ich wußte auch nicht, ob ich Gonzalo überhaupt schon einmal
+ernsthaft getroffen hatte oder nicht. Aber ich fing dann doch an, müde
+zu werden. Der Speer wurde mir bald so schwer, als ob er zwanzig Kilo
+wiege, und das Werfen wurde langsamer bei mir. Ich konnte mich bald
+kaum noch bücken, um den Speer aufzuheben, und einmal wäre ich
+beim Niederbücken beinahe zusammengesunken. Aber ich hatte doch
+das Gefühl, ich darf nicht niedersinken, sonst kann ich bestimmt nicht
+mehr aufstehen.
+</p>
+
+<p>
+Gonzalo konnte ich nicht mehr sehen. Ich konnte überhaupt nichts mehr
+sehen. Ich warf den Speer immer nur in der Richtung, in der ich ihn bisher
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+geworfen hatte und wo Gonzalo stehen mußte. Es wurde mir ganz
+gleichgültig, ob ich ihn traf oder nicht. Ich wollte nur nicht zuerst aufhören.
+Und weil von drüben immer wieder der Speer kam, warf ich ihn
+eben immer wieder zurück.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich, als das Feuer einmal hell aufflammte, sah ich, daß Gonzalo
+sich umdrehte, um den Speer zu suchen, der offenbar weit an ihm vorbeigeflogen
+war. Er ging ein paar Schritte zurück, fand den Speer, hob
+ihn auf und, als er sich mir zuwandte, um ihn zu werfen, sank er auf
+einmal so heftig in die Knie, als habe ihn jemand mit großer Wucht
+niedergeschlagen.
+</p>
+
+<p>
+Ich warf meinen Speer, den ich in der Hand hatte, nicht, weil ich froh
+war, ihn zu stellen und mich darauf zu stützen, sonst wäre ich umgefallen.
+</p>
+
+<p>
+Wenn Gonzalo jetzt aufgestanden wäre und geworfen hätte, ich hätte
+meinen Arm nicht mehr heben können, um zu erwidern.
+</p>
+
+<p>
+Aber Gonzalo blieb in die Knie gesunken.
+</p>
+
+<p>
+Sam lief hin zu ihm und rief dann:
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt habe ich meine fünf Pesos verloren. Antonio, Sie haben gewonnen.
+Gonzalo gibt auf.“
+</p>
+
+<p>
+Ich schleppte mich zu einer Kiste am Feuer, hatte aber nicht mehr die
+Kraft, mich drauf zu setzen. Ich sank neben der Kiste auf den Boden.
+Sam führte Gonzalo schleifend zum Feuer und gab ihm Wasser, daß er
+gierig hinuntergoß.
+</p>
+
+<p>
+Ich sah jetzt, daß seine nackte Brust blutig war.
+</p>
+
+<p>
+Aber ich hatte für nichts mehr Interesse. Mir fiel der Kopf schläfrig auf
+die Brust, und als ich gleichgültig die Augen aufschlug, bemerkte ich,
+daß mein Hemd und meine Brust ebenso voll Blut waren, wie die Gonzalos.
+Aber ich legte keinen Wert darauf. Es war mir alles egal.
+</p>
+
+<p>
+Sam brachte mir die vierzig Pesos und schob sie mir in die Hosentasche.
+Ich hatte das Empfinden, als ob das alles irgendwo in ganz weiter Ferne
+geschähe. Wie durch einen Schleier sah ich, daß Sam dem Gonzalo die
+fünf Pesos ebenfalls in die Tasche steckte.
+</p>
+
+<p>
+So hockten wir wohl eine halbe oder eine ganze Stunde. Das Feuer
+wurde kleiner und kleiner.
+</p>
+
+<p>
+Da sagte Sam: „Jetzt lege ich mich schlafen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich wiederholte diese Worte, als wären sie meine eignen gewesen: „Ja,
+jetzt lege ich mich schlafen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah, wie sich auch Gonzalo erhob und ebenso schwankend und sich
+festkrallend wie ich die Leiter zum Hause raufkletterte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Und als ich mich dort hingeworfen hatte und eben eindämmerte, hörte
+ich, wie Gonzalo sagte: „Wenn ihr morgen zeitig geht und ich bin noch
+nicht auf, braucht ihr mich nicht wecken. Ich will lange durchschlafen,
+ich bin furchtbar müde. Ich fahre ja doch nicht mit euch, ich habe ja kein
+Fahrgeld.“
+</p>
+
+<p>
+Lange vor Sonnenaufgang stieß mich Sam an. Es war Zeit. Um acht Uhr
+abends mußten wir auf der Station sein, sonst verloren wir zwei Tage.
+Es war noch stockfinster. Ich konnte nichts in der Hütte sehen. Sah auch
+Gonzalo nicht, der noch fest in seiner Ecke schlief.
+</p>
+
+<p>
+Wir weckten ihn nicht, sondern ließen ihn ruhig weiterschlafen.
+</p>
+
+<p>
+Wir packten rasch unsre Bündel zusammen, und als gerade der Tag zu
+grauen anfing, gingen wir.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Schritte weiter trafen wir den Indianer, der die Hühner
+kaufen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Ja, sehen Sie, Gale, das ist die Geschichte, die wahre Geschichte.“
+</p>
+
+<p>
+„Ihr hättet Gonzalo an diesem Morgen auch gar nicht wach gekriegt“,
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn nicht?“ fragte Antonio, die Wahrheit schon halb ahnend.
+</p>
+
+<p>
+„Weil er bereits tot war!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist die Wahrheit, Gale. Wir können noch gleich jetzt zu Sam
+gehen, der weiß es auch.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist nicht nötig, Antonio. Lassen Sie nur sein. Ich glaube es. Es ist die
+Wahrheit!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-1-20">
+19
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Musik im Park hatte angefangen zu spielen.
+„Die Ehre der Bauern in Sizilien.“ Was ging mich
+deren Ehre an!
+</p>
+
+<p>
+Ich schloß die Augen, um die starren elektrischen
+Lampen nicht sehen zu müssen.
+</p>
+
+<p>
+Aber ich sah Gonzalo auf dem Boden liegen. Vertrocknet.
+Ausgelöscht aus den Lebenden und
+Hoffenden. Seine Hand mit einem Knäuel roher,
+schwarz verfärbter Baumwolle auf die Brust gepreßt.
+</p>
+
+<p>
+Die Baumwolle.
+</p>
+
+<p>
+Antonio hatte mich offenbar eine Zeitlang schon angesehen, ohne daß
+ich es bemerkte.
+</p>
+
+<p>
+„Warum weinen Sie denn, Gale?“ sagte er.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+„Halten Sie’s Maul!“ rief ich wütend. „Ich glaube, Sie sehen Gespenster.
+Bilden Sie sich doch keine Dummheiten ein.“
+</p>
+
+<p>
+Er schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Diese himmelgottverfluchte Begräbnismusik!“ sagte ich ärgerlich.
+„Sollen lieber spielen ‚Lustige Witwe‘ oder ‚Kratz mir den Affen mal
+am Hintern‘. Es ist ja alles so lustig, die Witwen tanzen, und die
+Bananen, yes, die haben wir nicht. Das ganze Leben ist so lustig. Begräbnismusik
+für die Verreckten und dudelige Operetten für die Lebenden.
+Kommen Sie, Antonio. Es geht auf zehn. Was hat der Hundesohn
+gesagt? Seien Sie pünktlich, hat er gesagt. Für einen Peso fünfundzwanzig.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-2">
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+ZWEITES BUCH.<br>
+DER WOBBLY
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-1">
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+1
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">er</span> Inhaber der Bäckerei La Aurora, Senjor
+Doux, sah aus, als ob er die Ewige Malaria hätte.
+Er war auch immer kränklich und lief herum
+wie ein Todkranker. Aber essen konnte er für
+zwölf Lebende. Frühmorgens um vier Uhr stand
+er auf, trank einen Liter Milch und aß sechs Eier
+mit geröstetem Schinken. Dann trank er einen
+Kognak, und hierauf ging er auf den Markt, um
+für den Tagesverbrauch einzukaufen. Neben der Bäckerei und Konditorei
+hatte er noch ein gutgehendes Café-Restaurant, wo man außer
+den üblichen Eisgetränken, Sahne-Eis, Frucht-Eis, geeiste Früchte, Weine,
+Bier, auch Frühstück, Mittagessen und Abendessen bekommen konnte.
+Das Café war zu ebener Erde. In dem Stockwerk darüber befand sich
+ein Hotel, das Senjor Doux aber nicht selbst leitete, sondern verpachtet
+hatte. Mit dem Pächter hatte er täglich eine erfrischende Unterhaltung.
+Wenn man dieser Unterhaltung einmal beigewohnt hatte, dann konnte
+man begreifen, warum Senjor Doux nie gesund werden konnte, und
+warum er so elend, so gelbgrünweiß im Gesicht aussah.
+</p>
+
+<p>
+Der Streit ging meist um das Wasser. Wasser ist ja nun in den Tropen
+nicht nur eines der kostbarsten Dinge, sondern auch eines der Objekte,
+um die ewig gekämpft wird. Die Natur kämpft um das Wasser auf
+Leben und Tod; die Tiere zerfleischen sich um das Wasser oder vertragen
+sich um seinetwillen so sehr, daß der durstige Jaguar dem
+kleinen Zicklein am Wasser kein Leid antut, sondern es in ehrfurchtsvoller
+Entfernung vom Wasser auf dem Rückwege erwartet.
+</p>
+
+<p>
+Wehmütig zuweilen ist der Kampf der Pflanzen und Bäume um das
+Wasser. Aber wenn sich die Menschen um das Wasser streiten, so sind
+sie allen andern irdischen Geschöpfen in den Kampfesmitteln überlegen.
+Die Menschen führen den Kampf am erbarmungslosesten gegen Tiere,
+Pflanzen und Nachbarn.
+</p>
+
+<p>
+Das Gebäude hatte nur zwei Stockwerke, unten das Café, oben das
+Hotel. Nach Art der meisten Gebäude in Latein-Amerika war das Haus
+eigentlich ein Hausblock, herumgebaut um einen Hof, in dem tropische
+Pflanzen standen, die bis über den obersten Stock hinauswuchsen. Die
+Vorderfront nahm das Café ein; die rechte Seitenwand die Restaurationsküche,
+Toiletten, Waschräume und Vorratskammern; die linke
+Seite bildete Bäckerei und Konditorei und den Schlafraum der Bäckereiarbeiter.
+In der Hinterfront waren die Wohnräume des Inhabers.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+Das Hotel erstreckte sich gleichfalls in einem Viereck um den Hof
+herum, alle Türen und Fenster lagen nach dem Hofe hin, nur die Fenster
+der Vorderfront gingen auf die Straße. Dort befand sich ein Balkon,
+der die ganze Länge des Hotelstocks einnahm.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Dache standen zwei große Wassertanks. Der eine war für den
+unteren Stock, der andre für den oberen. Jeder Tank hatte seine eigne
+Pumpe, die das Wasser mit motorischer Kraft in die Tanks pumpte.
+Wenn die trockene Jahreszeit kam, lief der Brunnen, der zur Bäckerei
+und zum Café gehörte, leer, während der Brunnen für das Hotel reichlich
+Wasser hatte. Das Café und die Bäckerei konnten ohne Wasser
+nicht durchkommen, und nun begann der Kampf. Senjor Doux wollte
+jetzt das Wasser aus dem Hotelbrunnen in seinen Tank pumpen unter
+der wahren Behauptung, daß er ja der Besitzer beider Brunnen sei. Der
+Hotelpächter aber gestattete das nicht; er hatte es in seinem Kontrakt,
+daß ihm der Hotelbrunnen allein zustehe. Er befürchtete, wenn er dem
+Café erlaubte, Wasser aus seinem Brunnen zu entnehmen, daß er dann
+eines Tages selbst kein Wasser haben würde und den Gästen keine
+Bäder geben könne. Ohne Bäder ist ein Hotel in den Tropen wertlos.
+</p>
+
+<p>
+Beide Brunnen waren abgeschlossen. Der Pächter hatte einen Schlüssel
+für seinen und Senjor Doux hatte einen Schlüssel für den Cafébrunnen.
+Es blieb also Senjor Doux nichts andres übrig, als in der Nacht den
+Brunnen seines Pächters aufzubrechen, die Rohre zu koppeln und die
+Pumpe laufen zu lassen. Wenn der Pächter die Pumpe hörte, wachte
+er natürlich auf, und es gab einen Mordsspektakel mitten in der Nacht.
+Die Hotelgäste mischten sich ein, die Cafégäste, manchmal in angeheiterter
+oder in kampffreudiger Laune, nahmen Partei, es flogen
+Flaschen, Stühle, Brote, Eisbrocken und entsetzliche Flüche und Verwünschungen
+durch die Luft. Die Pumpe, parteilos und absolut gleichgültig
+gegen das Getobe, arbeitete allein und pumpte den Tank inzwischen
+voll. Dann koppelte Senjor Doux die Rohre ab, und der nächtliche
+Frieden begann und wurde am nächsten Morgen aufs neue gestört.
+Es begann damit, daß der Hotelpächter einen Handwerker kommen
+ließ, der den Brunnen besonders schwer verrammeln mußte. Dann lief
+Senjor Doux zur Polizei, weil nach dem Gesetze niemandem das Wasser
+abgesperrt werden darf. Dann zeigte der Hotelpächter seinen Kontrakt,
+den Senjor Doux eigenhändig unterschrieben hatte, und der auch die
+vorgeschriebenen Steuermarken trug, und die Polizei zog wieder ab.
+In der Nacht wurde der Brunnen wieder aufgebrochen, weil Senjor
+Doux ja Wasser haben mußte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+Es hatte also wohl seine guten Gründe, daß Senjor Doux wie ein Sterbender
+aussah und trotzdem gut essen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Wenn Senjor Doux vom Markt heimkam, gegen sechs Uhr etwa, frühstückte
+er erst einmal. Fisch und Braten und eine halbe Flasche Wein,
+hinterher Kaffee mit drei oder vier Stücken Kuchen.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen kamen schon Frühgäste. Dann mußte mit den Lieferanten
+verhandelt und abgerechnet werden; es lief die Post ein; nun kamen
+Bestellungen auf Brot, Brötchen, Kuchen, Torten, Backwaren und kandierte
+Früchte.
+</p>
+
+<p>
+Um halb neun machte Senjor Doux zweites Frühstück, an dem seine
+Frau teilnahm. Diesmal gab es neben einem Eiergericht noch zwei
+Fleischgerichte und großen Nachtisch mit Bier.
+</p>
+
+<p>
+Senjora Doux war eine hübsche Frau, aber sehr behäbig. Im Widerspruch
+mit der Auffassung, daß alle Wohlgenährten immer guter Laune
+seien, war Senjora Doux ewig mißgelaunt. Nur wenn sehr viele Bestellungen
+auf Backwaren einliefen, verzog sie das Gesicht zu einem
+kurzen Lächeln, das jedoch nur ein paar Sekunden währte. Das Café
+konnte zum Brechen voll sein, die Leute mochten sich um die Sitze
+schlagen, Senjora Doux machte trotzdem ein saures Gesicht und guckte
+jeden Gast an, als ob er ihr persönlich schweres Leid zugefügt und
+die Absicht habe, sie für ihr ferneres Leben unglücklich zu machen. Sie
+trug nie Schuhe oder Stiefel, sondern immer nur weiche Pantoffel. Ich
+glaube nicht, daß sie jemals ausging; gesehen habe ich es nie. Sie
+fürchtete, daß während ihrer Abwesenheit ein Kellner sie betrügen
+könnte. Sie hatte ihre Augen überall; es geschah nichts im ganzen
+Hause, was sie nicht wußte, oder worüber sie keine Kontrolle hatte.
+Was sie am meisten bedauerte (eigentlich bedauerte sie alles), das war,
+daß der Mensch, wenigstens sie, auch schlafen müsse. Denn während
+sie schlief, konnte ja irgend etwas geschehen, was sie nicht sah. Aus
+diesem Grunde betrachtete sie niemanden mit größerem Mißtrauen
+als die Arbeiter in der Bäckerei und Konditorei. Die arbeiteten nachts,
+zu der Zeit, wo Senjora Doux schlafen mußte, um den ganzen Tag über,
+bis spät in die Nacht hinein, das Café zu überwachen. Obgleich sie schon
+alles am Halse hängen hatte, übernahm sie auch noch die Kasse. Eine
+Kassiererin würde es bei ihr auch nicht ausgehalten haben. Die Senjorita
+hätte ehrlich sein können und unbestechlich wie der Erzengel mit
+dem Schwert, Senjora Doux würde sie trotzdem täglich ein paarmal
+angeschuldigt haben, daß sie wieder zehn Pesos unterschlagen habe.
+Diese Geschichte mit der Kasse war eine schwere Arbeit. Senjora Doux
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+traute keinem Kellner. Sie saß an der Kasse oder wanderte im Lokal
+umher und beobachtete die Gäste, was sie verzehrten. Wenn der Gast
+ging und bezahlt hatte, so mußte der Kellner das Geld sofort zur Kasse
+bringen und abliefern. Denn hätte man ihm das Geld, das er während
+seiner Arbeitszeit eingenommen hatte, und das manchmal einige hundert
+Pesos betrug, in der Tasche gelassen, damit er erst dann mit der
+Kasse abrechne, wenn er abgelöst wurde, so hätte er ja eine Viertelstunde
+vorher mit der ganzen Einnahme und unter Zurücklassung
+seines Hutes und seiner Jacke verschwinden können auf Nimmerwiedersehen.
+Es muß freilich zugestanden werden, daß solche Dinge
+vorkamen, sogar wenn der Kellner manchmal nur sechzig oder siebzig
+Pesos in der Tasche hatte. Aber in dem Café La Aurora des Senjor
+Doux war das nicht durchführbar.
+</p>
+
+<p>
+Wenn wenig Bestellungen für die Bäckerei einkamen, hatten die Bäcker
+und Konditoren nichts zu lachen. Dann fegte Senjora Doux mit ihnen
+herum, daß meist einer oder der andre seinen Lohn verlangte und
+ging. Denn an solchen Tagen betrachtete sie die Ausgabe für die Bäckerei
+als verschwendetes Geld. Kamen am nächsten Tage die Bestellungen
+doppelt oder dreifach ein, so mußten die Leute drei, vier oder fünf
+Stunden mehr arbeiten, weil inzwischen natürlich kein neuer Bäcker
+oder Hilfsarbeiter eingestellt worden war.
+</p>
+
+<p>
+Die Musiker im Café hatten es nicht besser, sondern noch viel schlechter.
+Die Bäcker schafften ja noch etwas wenigstens, aber die Musik war die
+unsinnigste Verschwendung, die Senjor und Senjora Doux sich nur
+denken konnten. Die Musik produzierte nicht, sie fraß nur und wollte
+immer Geld haben. Da aber andre Cafés Musik hatten, mußte Doux
+schon mitmachen, um auf der Höhe zu bleiben. Er hatte jeden Tag
+Krach mit der Musik. Waren wenig Gäste da, dann erklärte er den
+Musikern, daß sie schuld seien, weil sie saumäßig spielten. Dann
+packten die Musiker ihre Instrumente ein, ließen sich ihr Geld geben
+und gingen. Senjora Doux war darüber recht zufrieden, denn nun hatte
+sie einen Grund, das Geld für die Musik zu sparen und den Gästen zu
+erklären, daß die Musiker fortgelaufen seien.
+</p>
+
+<p>
+Waren dann wieder die Gäste nach ein paar Tagen unzufrieden und
+verlangten sie Musik, dann mußte Senjor Doux den Musikern nachlaufen.
+Oft geschah es, daß er nur einen Bandonium- oder Gitarrespieler
+bekam. Die Gäste verzogen sich, und endlich brachte Doux
+wieder eine gute Kapelle ins Haus, bis nach einer Weile der Krach
+wieder da war und sich die ganze Geschichte wiederholte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+Eines Tages kam eine ganz vorzügliche Kapelle von acht Mann aus
+Mexiko-City und bot sich in den Cafés an. Sie kamen zuerst zu Senjor
+Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Fünfzig Pesos den Tag für acht Mann? Zahle ich nicht. Auch noch das
+Essen? Ich bin doch nicht verrückt. Und nur wochenweise und mit dreitägiger
+Kündigung? Da können Sie in der ganzen Stadt herumlaufen,
+gibt Ihnen niemand. Fünfundzwanzig will ich zahlen und tägliche Kündigung.
+Ich kriege genug Leute.“
+</p>
+
+<p>
+Die Kapelle ging in ein andres Café, bekam, was sie verlangte, und
+das Café war jeden Abend gut besetzt, obgleich die Leute sich hier
+wenig in Cafés oder Restaurants setzen; nur gerade so lange, bis sie ihr
+Eis geschluckt oder ihre Coca-Cola gesaugt haben. Dann gehen sie
+wieder, weil sie lieber auf den Plätzen spazierengehen oder auf den
+Bänken sitzen.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Kapelle hielt die Leute auch für zwei Eisgetränke oder eine
+extra Flasche Bier, und das um so lieber, weil der Wirt anständig genug
+war, keinen Preisaufschlag auf die Getränke zu nehmen.
+</p>
+
+<p>
+Dieses Café war nur fünf Häuser weit von der La Aurora, noch im
+selben Block, und La Aurora war so leer, daß es wie ein beleuchteter
+Leichnam aussah. Senjora Doux wollte das Licht auf die Hälfte abdrehen,
+weil es überflüssig brenne; aber Senjor Doux widersetzte sich
+diesem Gedanken. Jede Stunde einmal ging er, ohne Hut und ohne sich
+Jacke oder Weste anzuziehen, zum Kino, um sich die ausgestellten
+Plakate anzusehen. Er kannte sie auswendig. Aber in Wahrheit ging
+er nur, um die Gäste in der La Moderna zu zählen; denn da mußte er
+vorüber, wenn er zum Kino wollte. Er ging vorbei, ohne den Kopf zu
+wenden. So sah es aus. In Wirklichkeit aber sah er doch jeden Gast in
+der La Moderna, und zu seiner Trauer sah er viele, die sonst bei ihm
+saßen.
+</p>
+
+<p>
+Ein paar Tage sah er sich das mit an. Dann stellte er sich vor die Tür
+seines Cafés und paßte auf, wann der erste Geiger der La-Moderna-Kapelle
+vorüberkam.
+</p>
+
+<p>
+„Einen Augenblick, Senjor!“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte?“
+</p>
+
+<p>
+„Wollen Sie nicht zu mir kommen? Ich zahle Ihnen fünfzig.“
+</p>
+
+<p>
+„Bedaure, wir bekommen fünfundsechzig.“
+</p>
+
+<p>
+„Das bezahle ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Muy bien, Senjor, Adios.“
+</p>
+
+<p>
+Als wieder eine Woche vorbei war, fragte er den Geiger abermals.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+„Gut, für fünfzig, Senjor.“
+</p>
+
+<p>
+„Abgemacht. Dann von Freitag an.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux stürmte rein zu seiner Frau: „Ich habe die Kapelle. Für
+fünfzig. Fein.“
+</p>
+
+<p>
+Die Kapelle konnte es dafür machen, denn sie war in der La Moderna
+gekündigt und hatte kein anderes Engagement in der Stadt.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Sahne war herunter. Die Leute hätten gern wieder einmal
+eine andre Kapelle gesehen. Es kamen zwar genügend Gäste nun in die
+La Aurora, aber doch bei weitem nicht so viel, wie in der La Moderna
+jeden Abend gesessen hatten. Senjor Doux sagte der Kapelle, daß sie
+saumäßig spiele. Die Musiker ließen es sich nicht gefallen, es kam zum
+Krach, und sie verließen das Café. Senjor Doux brauchte ihnen nicht zu
+kündigen und sparte das Geld.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-2">
+2
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">ittags</span> gegen halb zwölf hatte Senjor Doux
+auch seine Bücher ausgefüllt, und dann setzte er
+sich zum Mittagessen hin. Um zehn hatte er ein
+kaltes Huhn verzehrt, weil es ihm bis zum Mittagessen
+zu lange dauerte. Jetzt aß er zum ersten
+Male am Tage richtig. Dann ging er schlafen, weil,
+abgesehen von den Mittagsgästen, jetzt stille Zeit
+kam. Um fünf stand er wieder auf, wusch und
+rasierte sich und eilte ins Café, vom Hunger getrieben.
+</p>
+
+<p>
+Von jetzt an blieb er im Café bis Schluß. Die Polizei kümmert sich hier
+nicht um die Sitten, um Sittlichkeit und um Gesittung der Menschen.
+Das überläßt sie den Leuten selbst. Wer Zeit und Geld hat, sich die
+ganze Nacht im Café herumzudrücken, mag es tun. Es ist sein Geld,
+seine Zeit und seine Gesundheit. Wenn der Wirt keine Gäste mehr hat,
+macht er schon von selbst zu und braucht dazu keine guten Ratschläge
+und Strafmandate der Polizei, denn er ist ja ein erwachsener Mensch
+und kein Säugling, der noch in die Windeln macht und die Milchflasche
+nicht allein halten kann. Und weil keine Polizeistunde ist, niemand
+einen Spaß darin sieht, die Polizei zu ärgern und an verbotenen Früchten
+zu naschen, so hat das Café um zwölf selten noch genügend Gäste, daß
+es sich lohnt, Licht zu verbrennen. Denn die Leute, die aus Gründen
+ihres Berufes nachts auf sein müssen, gehen nun nicht ins Café, sondern
+in die Bars, wo zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht vollständige
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+Mahlzeiten oder Spezialplatten verabreicht werden zu billigeren Preisen
+als im Café.
+</p>
+
+<p>
+Zu dieser Zeit waren wir mitten drin in der dicksten Arbeit.
+</p>
+
+<p>
+„Putzen Sie mal die Bleche“, sagte der Meister zu mir. „Das werden Sie
+ja wohl können. Wenn mal die Alte (das war Senjora Doux, die keineswegs
+alt, sondern kaum dreißig war) reinkommen sollte – die muß ja
+ihre Nase in jeden Dreck reinstecken –, dann putzen Sie nur immer
+Bleche. Dann merkt sie nicht, daß Sie nichts von der Bäckerei verstehen.
+Aber jetzt kommt sie nicht, jetzt ist gerade der Alte drüber; die
+haben ja sonst keine Zeit. Mich wundert es nur, daß sie dafür überhaupt
+noch Zeit und Gedanken finden. Aber Gedanken werden sie sich dabei
+wohl kaum machen. Die denken dabei an uns, ob wir uns etwa keine
+Eier verrühren. Das wollen wir jetzt erst mal machen.“ Nun wurden
+tüchtig Eier eingeschlagen, Butter rein und dann in den Ofen geschoben.
+Als die Fütterung vorüber war, lernte ich Bleche sauber machen. Das
+kann man nicht so ohne weiteres, wie man vorher wohl denkt. Es muß
+gelernt sein. Dann mußte ich Mehl abwiegen. Auch das hat seine
+Kniffe. Und dann mußte ich fünfhundert Eier aufschlagen, das Gelbe
+und das Weiße voneinander trennen. Würde man das so machen, wie
+es Mutter in der Küche tut, so brauchte man dazu eine Woche. Hier muß
+das in kaum zwanzig Minuten geschehen sein, und es darf kein Pünktchen
+Gelb in der Weißmasse gefunden werden, weil das allerlei
+Schwierigkeiten zur Folge hätte.
+</p>
+
+<p>
+Dann lernte ich die Teigteilmaschinen bedienen, das Feuer in Ordnung
+halten, Brot- und Brötchenteig ansetzen, Kleingebäck glasieren, Torten
+beschneiden und für die Ornamentierung vorarbeiten, Schüsseln und
+Geschirre reinigen, die Tische abwaschen, die Backstube ausfegen, Eis
+mahlen, Eismasse ansetzen und so manches andre mehr. Alles so nach
+und nach, alles in der Weise, wie man jedes Ding lernen kann. Es gibt
+überhaupt nichts, das man nicht lernen könnte.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam der Samstag. Lohntag. Aber Lohn gab es nicht. „Manjana,
+morgen“, sagte Senjor Doux. Morgen war Sonntag, und wir mußten
+mehr arbeiten als die übrigen Tage. Hinsichtlich des Lohnzahlens aber
+erklärte Senjor Doux, es sei Sonntag, und Sonntags zahle er keinen
+Lohn: „Morgen.“ Montag zahlte er aber auch nicht, weil er noch nicht
+zur Bank gewesen sei. Dienstag gab es kein Geld, weil er das Geld,
+das er von der Bank geholt, bereits ausgegeben habe. Mittwoch
+bekamen die Kellner erst mal ihr Geld, und Donnerstag hatte er überhaupt
+kein Geld und konnte nicht zahlen. Freitag war er nicht zu
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+finden; immer, wenn man ihn suchte, war er gerade in seine Wohnung
+gegangen und wollte nicht gestört werden. Samstag waren bereits zwei
+Löhne fällig, aber da hatte er zu große Ausgaben, weil er für den
+Sonntag mit einkaufen mußte und die Banken schon mittags schlossen.
+„Morgen“, sagte er. Aber morgen war Sonntag, wo er keine Löhne
+zahlte. „Morgen“, das war Montag, aber da war er noch nicht zur Bank
+gewesen.
+</p>
+
+<p>
+Nach drei Wochen bekam ich das erstemal Geld von ihm, nicht für drei
+volle Wochen Arbeitslohn, sondern nur für eine Woche. So ging das
+immer durch, immer war er Wochen und Wochen mit dem Lohn im
+Rückstand. Wir aber durften mit der Arbeit nicht eine Viertelstunde
+im Rückstand sein, dann gab es Radau. Fünfzehn, sechzehn, ja einundzwanzig
+Stunden Arbeit am Tage hatten wir zu leisten. Das hielt
+er für ganz selbstverständlich, und für ebenso selbstverständlich hielt
+er es, daß er den Lohn zahle, wann es ihm beliebe, und nicht, wenn er
+fällig sei.
+</p>
+
+<p>
+Aber andre Arbeit war nicht zu finden, und wäre sie zu finden gewesen,
+wir hatten ja keine Zeit, sie zu suchen. Wenn wir in der Backstube des
+Nachmittags fertig waren, dann waren die andern Werkstätten oder
+Bureaus, wo man nachfragen konnte, meist schon geschlossen. Man
+mußte eben aushalten. Wenn man leben will, muß man essen, und
+wenn man auf irgendeine andre Art kein Essen findet, muß man tun,
+wie es dem, der das Essen hat, gefällt.
+</p>
+
+<p>
+Den Kellnern ging es nicht besser. Sie bekamen nur zwanzig Pesos den
+Monat und sollten im übrigen vom Trinkgeld leben. Aber hier ist man
+nicht freigebig mit dem Trinkgeld, und wenn die Gäste knapp waren,
+dann hatten wieder die Kellner nichts zu lachen. Dann waren sie schuld
+daran, daß die Gäste ausblieben, und Senjora Doux gönnte ihnen nicht
+einmal die zwanzig Pesos Lohn. Wir wohnten im Hause, die Kellner
+nicht. Die hatten Familie und wohnten mit ihren Familien. Dadurch
+hatten sie besondere Ausgaben. Sie bekamen nicht einmal volles Essen,
+sondern nur so nebenbei, als Gnade oder als besondere Vergünstigung.
+Unser Meister hatte schon vier Monate Lohn stehen. Selbst wenn er
+hätte gehen wollen, er konnte nicht, weil Senjor Doux ihn wochenlang
+vielleicht mit der Restsumme hingehalten hätte. Wir sollten jeder
+täglich zum Mittagessen eine Flasche Bier bekommen. Das war ausgemacht.
+Aber wir bekamen Bier nur dann, wenn Senjora Doux bei
+sehr guter Laune war, wenn viele Bestellungen vorlagen, und wenn
+wir zwanzig Stunden zu arbeiten hatten. Das Essen selbst war sehr gut.
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+Es gab viel Fleisch, zwei oder drei Fleischgerichte zu Mittag. Aber
+nach einer Woche konnte man nichts mehr essen; denn es gab jeden
+Tag genau dasselbe zum Essen. Da war auch nicht ein Reiskörnchen
+heute anders, als es gestern war, und nicht eine Fleischfaser schmeckte
+heute anders, als sie morgen schmecken würde.
+</p>
+
+<p>
+Ein Kellner bekam Fieber und war in drei Tagen tot. Er war ein
+Spanier gewesen, der erst vor zwei Jahren herübergekommen war. An
+seiner Stelle trat ein Mexikaner ein, namens Morales. Er war ein
+flinker, intelligenter Bursche. Wenn ich gelegentlich Backware in das
+Café zu bringen hatte, so sah ich beinahe jedesmal, daß Morales mit
+dem einen oder dem andern seiner Kollegen sprach. Sie sprachen ja
+natürlich immer zusammen, wenn sie nicht bedienten. Aber hier fiel
+mir das Sprechen doch zum ersten Male auf. Wenn sonst die Kellner
+zusammen miteinander sprachen, so war das immer so oberflächlich.
+Sie redeten über Lotterielose oder über Nebengeschäfte oder über
+Mädchen oder über ihre Familien. Meist lachten sie dabei oder
+witzelten.
+</p>
+
+<p>
+Dagegen wenn Morales mit einem sprach, wurde nicht gelacht, sondern
+immer sehr andächtig zugehört. Morales war immer der Sprecher und
+die übrigen immer die Zuhörenden. Ich sah es blühen. Das „Syndikat
+der Restaurationsangestellten“ arbeitete.
+</p>
+
+<p>
+Die Gewerkschaften in Mexiko haben keinen schwerfälligen bureaukratischen
+Apparat. Ihre Sekretäre fühlen sich nicht als „Beamte“,
+sondern sie sind alle junge brausende Revolutionäre. Die Gewerkschaften
+hier sind erst durch die Revolution der letzten zehn Jahre
+entstanden. Und so sind sie gleich in die allermodernste Richtung
+geraten. Sie haben die Erfahrung der amerikanischen Gewerkschaften,
+die Erfahrung der russischen Revolution, die Explosivgewalt des
+Jungen Stürmers und Drängers und die Elastizität einer Organisation,
+die noch nach ihrer eignen Form sucht und noch täglich ihre Taktik
+wechselt.
+</p>
+
+<p>
+Richtig, in der La Moderna war der Streik da. Kellnerstreik. Senjor
+Doux lachte sich eins. Bei ihm brauchte er das nicht zu befürchten. Und
+nun kamen die Gäste der La Moderna alle in sein Lokal, weil sie sich
+in dem Café, wo der Streik war, fürchteten. Die Furcht ist berechtigt.
+Denn die Polizei ist in Arbeiterkämpfen neutral. Wenn einem Gast,
+der in ein Café geht, wo gestreikt wird, ein Stein an den Kopf fliegt,
+so darf er zur Sanitätspolizei gehen und sich verbinden lassen. Im
+übrigen aber kümmert sich die Polizei nicht darum. Die Streikposten,
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+die vor dem Café stehen, haben ihm ja gesagt, daß in dem Café gestreikt
+wird. Außerdem steht es in der Zeitung, und Flugblätter werden ihm
+auch genug in die Hand gedrückt. Er weiß, was ihm bevorsteht. Er
+braucht ja nicht in dieses Café zu gehen, er kann ja in ein andres gehen
+oder sich auf die Bank auf der Plaza setzen oder spazierengehen. Wer
+da hingeht, wo Steine in der Luft umherfliegen, dem geschieht es ganz
+recht, wenn er einen an den Kopf kriegt.
+</p>
+
+<p>
+La Moderna bewilligte nach vier Tagen alles.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-3">
+3
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">rei</span> Wochen später ging Morales zu Senjor
+Doux und sagte: „Also achtstündige Arbeitszeit,
+zwölf Pesos die Woche, eine Vollmahlzeit und
+zweimal Kaffee mit Gebäck.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux, der die ganze Zeit voller Schadenfreude
+gewesen war, weil seinem Konkurrenten
+so übel mitgespielt wurde, kriegte zuerst einen
+Schreck. Dann sagte er: „Morales, kommen Sie
+zur Kasse. Da ist Ihr Lohn, und Sie können gehen, Sie sind entlassen.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Morales drehte sich um, zog seine weiße Jacke aus, und sofort zogen die
+übrigen Kellner gleichfalls ihre Jacken aus und kamen zur Kasse.
+</p>
+
+<p>
+Ein wenig verstört zahlte Senjor Doux die Löhne, und dann ließ er die
+Leute gehen. Er war ganz sicher, daß er andre Leute kriegen würde.
+Die paar Gäste, die gerade drin waren, bediente Senjora Doux. Dann
+verließen die Gäste auch das Café. Aber wenn andre kamen und sahen,
+daß keine Kellner drin waren, setzten sie sich gar nicht erst, sondern
+gingen gleich wieder raus. Nur einige Fremde kamen, setzten sich,
+bestellten etwas und betrachteten diese Art von langsamer Bedienung
+als die hier übliche. An diesem Abend standen keine Streikposten vor
+dem Café. Aber am nächsten Tage waren sie da, und es wurden eifrigst
+Flugblätter verteilt. Es waren wieder nur Fremde, die in das Café
+gingen, die die spanisch geschriebenen Flugblätter nicht lesen konnten
+und auch nicht verstanden, was die Streikposten zu ihnen sagten.
+</p>
+
+<p>
+Aber um diese Fremden kümmerten sich die Posten nicht viel. Außerdem
+fühlten die Fremden, meist Amerikaner, Engländer oder Franzosen,
+auch immer sehr bald, daß die Luft merkwürdig schwül war,
+und sie verließen das Café ziemlich rasch, oft ohne ihr Eisgetränk auch
+nur anzurühren.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+Den zweiten Tag darauf hatte Senjor Doux zwei Kellner, einen
+Deutschen und einen Ungarn. Beide waren erbärmlich zerlumpt. Senjor
+Doux hatte ihnen weiße Jacken gegeben, einen Kragen und einen
+schwarzen Schlips. Aber er gab ihnen weder Hosen noch Schuhe. Und
+gerade in diesen beiden Dingen sahen die Burschen entsetzlich aus. Sie
+verstanden kein Wort Spanisch und waren nicht zu gebrauchen. Aber
+Senjor Doux wollte mit ihnen ja nur protzen vor den Streikposten.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Mittagessen, das sie mit allerlei bösen Zwischenfällen serviert
+hatten, war ein wenig Ruhe im Café. Senjor Doux war schlafen
+gegangen, und Senjora Doux saß schläfrig in einer Nische. Ich brachte
+ein Blech Backware hinein und hörte, daß die beiden Vögel deutsch
+sprachen.
+</p>
+
+<p>
+„Sind Sie Deutscher?“ fragte ich den, der richtig deutsch sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, der hier ist ein Ungar“, antwortete er erfreut, daß jemand mit ihm
+deutsch sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, daß die Kellner hier streiken, und daß Sie hier den Streikbrecher
+machen?“
+</p>
+
+<p>
+„Die streiken nicht“, sagte er. „Die wollen nur nicht arbeiten, die sind
+nicht zufrieden.“
+</p>
+
+<p>
+„Was zahlt Ihnen denn der Alte?“
+</p>
+
+<p>
+„Fünf Pesos die Woche, das ist ganz schönes Geld. Und das Essen und
+Schlafen“, gab er zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+„Na, nun mal deutlich, lieber Freund, schämen Sie sich denn nicht, hier
+den Streikbrecher zu machen?“
+</p>
+
+<p>
+„Streikbrecher? Das bin ich nicht. Die streiken nicht, die haben nur
+aufgehört, weil sie mit dem Lohn nicht zufrieden sind. Ich bin mit fünf
+Pesos zufrieden. Was soll ich auch machen. Ich bin ganz herunter, habe
+nichts zu essen und keinen ganzen Fetzen.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann gehen Sie lieber betteln“, riet ich.
+</p>
+
+<p>
+„Betteln? Nein, das ist unanständig.“
+</p>
+
+<p>
+„Streikbrechen ist anständiger?“
+</p>
+
+<p>
+„Was will ich denn machen, wenn man Hunger hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Dann stehlen Sie, wenn Ihnen Betteln zu unanständig ist, aber Streikbrechen
+ist ein dreckiges Geschäft.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben gut reden,“ platzte er nun los, „Sie arbeiten hier schön in
+der Konditorei, haben zu essen, haben ein Dach und kriegen Ihr Geld.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist richtig“, erwiderte ich. „Und ich will Ihnen nun etwas sagen. Ich
+kann Ihnen hier keinen Vortrag darüber halten, in welchem Zusammenhang
+der Streik jener Leute und Ihr Hungerleben steht. Ich kann Ihnen
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+hier so auf einen Ruck nicht klarmachen, wie durch jeden Streik, ob er
+gewonnen oder verloren wird, das Hungerleben der arbeitslosen
+Arbeiter um einen Grad seltener wird. Wenn die Leute hier die achtstündige
+Arbeitszeit durchsetzen, muß der Alte zwei, vielleicht gar drei
+arbeitslose Kellner mehr einstellen. Das ist nur gerade das Nächste und
+Klarste. Darüber hinaus kommen noch andre Umstände zugunsten der
+Arbeiter in Betracht, die viel weiter reichen als gerade bis zu dem
+kleinen Vorteil, den man vor der Nase sieht.“
+</p>
+
+<p>
+Durch unser Gespräch wachte Senjora Doux aus ihrem Nickerchen auf,
+und sie rief herüber: „Sie, hören Sie mal, Sie wollen wohl die beiden
+Deutschen da verhetzen? Scheren Sie sich in die Backstube, wo Sie
+hingehören, Sie haben hier gar nichts verloren.“
+</p>
+
+<p>
+„Verhetzen? Ich? Die beiden Deutschen? Nein, ich lehre sie nur ein paar
+wichtige spanische Worte, damit sie besser im Leben zurechtkommen“,
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist gut,“ sagte Senjora Doux, „das tun Sie nur, das ist sehr gut.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun will ich Ihnen mal noch was sagen“, fuhr ich fort, mich wieder an
+den Deutschen wendend. „Bis jetzt haben sich die Streikposten um euch
+noch nicht viel gekümmert. Sie wissen, daß ihr Fremde seid. Aber das
+geht nur ein oder zwei Tage so weiter. Morgen abend oder übermorgen
+seid ihr erstochen oder erschossen, damit Sie es wissen. Hier fackelt man
+nicht lange mit solchem Kroppzeug wie ihr seid. Wir können hier nur
+anständige Leute gebrauchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Die tun uns nichts“, sagte der Mann. „Wir gehen nicht raus.“
+</p>
+
+<p>
+„Keine Angst, lieber Freund. Die kommen rein und machen das hier
+drin ab, unter voller Kaffeehausbeleuchtung mit Musikbegleitung. Verlassen
+Sie sich drauf. Nebenbei bemerkt, das einzig richtige Mittel, wie
+man mit Streikbrechern umgehen muß. Einen Mexikaner oder einen
+Spanier kriegen sie hier nicht als Streikbrecher, die wissen, was es
+bedeutet.“
+</p>
+
+<p>
+Er war ein wenig bleich geworden. Nun fragte er: „Gibt es denn hier
+keine Polizei?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, so gut wie bei euch zu Hause“, sagte ich. „Aber die Polizei
+mischt sich hier nicht in Streitigkeiten zwischen Arbeiter und Unternehmer
+so ein wie bei euch da drüben. Die ist hier neutral. Wenn sie
+den Mörder erwischt, wird er mit einigen Jahren verknackst. Aber
+einen Mann, der einem Streikbrecher die letzte Wahrheit gesagt hat, den
+kriegen sie nicht. Der ist nicht unter den Streikenden. Sie suchen ihn
+auch gar nicht. Den Raubmörder suchen sie. Aber dem hier laufen sie
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+nicht lange nach. Es hat euch ja niemand geheißen, in die Gefahrzone
+zu gehen. Wenn ihr trotzdem geht, habt ihr auch die Verantwortung zu
+tragen. Als vernünftiger Mensch stellen Sie sich doch nicht auch bei
+einem Gewitter direkt unter einen einzelnen hohen Baum? Oder
+vielleicht doch? Ihre Schuld, wenn der Blitz Sie erschlägt. Da kann die
+Polizei gar nichts tun. Die Polizei ist hier nicht für die Kapitalisten da,
+sondern für die Kapitalisten und für die Arbeiter, die Betonung liegt
+auf dem Und. Sie steht weder dem Kapitalisten bei noch dem Arbeiter,
+wenn die beiden einen Handel miteinander auszufechten haben. Der
+Streikbrecher hat in diesem Handel gar nichts verloren.“
+</p>
+
+<p>
+Der gute Mann wußte nicht, worum es ging, vielleicht wollte er es nicht
+einmal wissen. Er sagte: „Ich denke, das ist ein freies Land? Wo ist
+denn da die Freiheit, wenn man nicht arbeiten darf, wo man will?“
+</p>
+
+<p>
+„So wenig wie Sie da stehen können, wo ein andrer steht, ebensowenig
+können Sie an dem Platze arbeiten, wo ein andrer arbeitet. Denn die
+Leute haben ihren Platz nicht verlassen, sie haben nur die Arbeit unterbrochen,
+und sie kehren zurück, sobald der Alte Vernunft annimmt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich finde so leicht nicht wieder Arbeit“, sagte er nun. „Ich bin froh,
+daß ich die hier habe. Ich bleibe hier und lasse mich auf der Straße
+nicht sehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Seien Sie nur ganz unbesorgt, die haben ein gutes Gedächtnis und
+kennen Sie auch noch nach Monaten wieder. Aber wir beide haben uns
+wohl von nun an nichts mehr zu erzählen. Und wagen Sie ja nicht, sich
+in der Backstube sehen zu lassen. So gesund, wie Sie reingekommen sind,
+kommen Sie nicht mehr raus, darauf können Sie sich verlassen. Sie sind
+für mich kein Deutscher, sondern ein Lump. Wenn Sie auch sonst nichts
+verstehen wollen, das werden Sie ja wohl noch verstehen.“
+</p>
+
+<p>
+Jeder Mensch, der in das Café gehen wollte, mußte sich an den Streikposten
+vorbeidrängen, und jedem wurde gesagt, daß gestreikt wurde.
+Darauf kehrten die Leute regelmäßig um. Polizei war nicht zu sehen.
+Es war ja ganz ruhig. Niemandem geschah etwas.
+</p>
+
+<p>
+Aber am Abend, es war vielleicht halb neun, da stand der Deutsche an
+der einen Tür. Die Türen sind ja alle offen, und man sieht von draußen
+alles, was drinnen vorgeht, so klar, als ob es mitten auf der Straße
+geschähe. Die Gäste wollen raussehen und wollen gesehen werden, und
+die Nichtgäste wollen reinsehen und sich daran erfreuen, wie sich andre
+einen angenehmen Abend machen.
+</p>
+
+<p>
+Er stand da an der Tür und wippte mit der Serviette. Er schien recht
+stolz zu sein, daß er es zum Kellner gebracht hatte. Unter normalen
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+Umständen hätte er vielleicht Geschirrwäscher werden können. Die
+Streikposten kümmerten sich gar nicht um ihn. Sie schielten nur
+gelegentlich zu ihm rüber.
+</p>
+
+<p>
+Da kam ein junger Bursche vorbei mit einem Stück Holz in der Hand.
+Der Streikbrecher ging ein wenig zurück, aber der Bursche ging mit
+einem ruhigen Schritt die eine Stufe hoch und hieb ihm zwei gesunde
+Hiebe über den Schädel. Dann warf er das Holz weg und ging ruhig
+seiner Wege.
+</p>
+
+<p>
+Der Notkellner stürzte hin und blutete nach Kräften. Kaum hatte
+Senjor Doux das gesehen, da trat er vor die Tür und rief: „Polizei!“
+Es kam gleich einer an, seinen Knüttel in der Hand schwingend.
+</p>
+
+<p>
+„Den haben sie totgeschlagen“, rief Senjor Doux dem Polizisten entgegen.
+– „Wer?“ fragte der Beamte.
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht“, antwortete Senjor Doux. „Wahrscheinlich die
+streikenden Kellner.“
+</p>
+
+<p>
+Sofort sprangen zwei Streikposten hinzu und schrien: „Wenn du Hurensohn
+das noch mal sagst, schlagen wir dir die Knochen entzwei.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux verschwand sofort im Café und sagte nichts mehr.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie gesehen, wer den Mann hier geschlagen hat?“ fragte ein
+zweiter Polizist, der hinzugekommen war, die Posten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, so halb. Ein junger Bursche kam vorbei mit einem Stück Holz –
+da liegt es noch – und schlug auf den Mann los“, sagte der eine Posten.
+</p>
+
+<p>
+„Kennen Sie den Burschen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Zu unserm Syndikat gehört er nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann hat er mit dem Streik gar nichts zu tun. Wahrscheinlich eine
+andre Geschichte“, sagte der Polizist.
+</p>
+
+<p>
+„Zweifellos“, bestätigte der Posten.
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Polizisten führten den Notkellner zur Wache, wo er verbunden
+und für die Nacht dabehalten wurde.
+</p>
+
+<p>
+„He, du da drin, du Hurensohn“, riefen die Posten jetzt hinein zu dem
+Ungarn. „Wie lange bleibst du noch da drin? Du kriegst eins mit der
+Eisenstange, wir haben kein Holz mehr.“
+</p>
+
+<p>
+Der Ungar verstand kein Wort. Jedoch er fühlte, was sie sagten. Er
+wurde blaß und ging zurück.
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux aber hatte es verstanden. Er lief zur Tür und rief nach der
+Polizei. Aber es kam keine. Nach einer Viertelstunde aber sah er einen
+an der Ecke stehen. Er rief ihn heran.
+</p>
+
+<p>
+„Die Posten haben meinen Kellner mit dem Tode bedroht“, sagte er, als
+der Polizist herangekommen war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+„Welcher hat ihn mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist.
+</p>
+
+<p>
+„Der da“, antwortete Senjor Doux und zeigte dabei auf Morales.
+Morales hatte gar nichts gesagt, aber ihn haßte Doux am besten.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie den Kellner mit dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist.
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Fällt mir auch gar nicht ein. Dieser Bastard ist mir viel zu
+dreckig, als daß ich das Wort an ihn richten würde“, sagte Morales.
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich mir denken“, erwiderte der Polizist. „Wer hat ihn denn mit
+dem Tode bedroht?“ fragte der Polizist nun.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe gesagt, er möge nicht so dicht zur Tür kommen, es könne ihm
+sonst vielleicht eine Eisenstange auf den Kopf fallen, da oben vom
+Balkon.“ Das sagte einer der Posten.
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux stand noch in der Tür. Der Polizist drehte sich jetzt zu ihm
+herum und sagte: „Nun, hören Sie, Senjor, wie können Sie denn so etwas
+sagen? Es ist doch gar nicht wahr.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben doch den andern auch schon halb erschlagen“, verteidigte sich
+Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Vertragen Sie sich lieber mit Ihren Leuten,“ riet jetzt der Polizist,
+„dann kommt so etwas nicht vor.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ja eine nette Geschichte hier, daß man nicht mal seinen Schutz
+bekommt“, rief Doux wütend.
+</p>
+
+<p>
+„Ruhig!“ sagte der Polizist laut, „sonst nehme ich Sie zur Wache. Keine
+Beleidigung hier.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich zahle doch meine Steuern, und da kann ich doch verlangen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was Steuern?“ unterbrach ihn der Polizist. „Die Kellner zahlen auch
+Steuern, genau so gut wie Sie. Und nun lassen Sie uns in Ruhe. Machen
+Sie Ihre Geschäfte mit Ihren Leuten ab, aber stören Sie uns nicht immerwährend.“
+</p>
+
+<p>
+Der Ungar stand eine Weile im Café unschlüssig, während hier draußen
+die Verhandlungen waren. Es hatten sich Leute angesammelt, die alle
+auf seiten der Kellner waren. Und zum Teil waren es deren Ausbrüche
+der Sympathie, die dem Polizisten, der ja auch Prolet war, das Rückgrat
+steiften. Fr wußte ja nicht, ob nicht vielleicht Doux einen dicken
+Freund unter den Inspektoren hatte, der ihm sagen könnte, daß er seine
+Pflicht vernachlässigt habe.
+</p>
+
+<p>
+Als der Polizist gegangen war, zog der Ungar seine weiße Jacke aus
+und ging zur Kasse, um sich seine zwei Tage Lohn geben zu lassen. Er
+stand jetzt da in Hemdsärmeln. Diese Hemdsärmel waren nur Fetzen
+und Dreck. Zwei Gäste waren im Café, und die sahen den Unglücklichen.
+Ihnen verging der Geschmack am Kaffee und am Gebäck, als sie
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+bemerkten, welchen Schmutz und welche Lumpen die weiße Jacke verdeckt
+hatte. Sie standen auf, zahlten an der Kasse und gingen.
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux fragte den Ungarn, was los sei, und warum er gehen
+wolle. Der konnte nicht antworten und versuchte nun, mit Gebärden,
+die er überreichlich verschwendete, klarzumachen, daß sein treuer Kollege
+etwas über den Schädel gekriegt habe, und daß er wohl der nächste
+sein würde, der dran glauben müsse. Draußen standen die Posten und
+andre Leute, die diese Gebärdensprache aus fossiler Vorzeit mit Vergnügen
+verfolgten. Doux versuchte dem Ungarn begreiflich zu machen,
+daß er hier im Café durchaus sicher sei. Aber der Ungar traute dieser
+Zusage nicht. Wäre er mit den Sitten und Gebräuchen besser bekannt
+gewesen, so würde er gewußt haben, daß er nie und nirgends sicher ist,
+daß er ja nicht ewig innerhalb der vier Wände bleiben könne, und daß
+er, sobald er das Haus verließe, geliefert ist. Denn sein Gesicht kennen
+jetzt schon alle Arbeiter der Stadt, die brauchen keine Photographie
+und keinen Steckbrief. Die vier Wände schützen ihn auch nicht. Eines
+Tages, morgen oder übermorgen schon, geht einer rein, tut als ob er
+Eis an den Tisch gebracht haben will, und wenn der Ungar kommt, hat
+er das Messer sitzen oder den Spucknapf so geschickt über den Schädel
+gehauen, daß die Ambulanz ihn abholen muß. Ehe man drinnen weiß,
+was geschehen ist, ist der Strafvollziehende einige Block weit. Niemand,
+der beste Detektiv nicht, findet ihn je. Einer der Gründe, warum es hier
+nie Streikbrecher gibt. Man kennt die wirksamsten Mittel und scheut
+sich nicht eine Minute lang, sie rücksichtslos anzuwenden. Krieg ist
+Krieg. Und die Arbeiter sind im Kriege, bis sie endlich nicht nur eine
+Schlacht, sondern den ganzen Feldzug gewonnen haben. Wenn den
+Staaten jedes Mittel im Kriege erlaubt ist, warum nicht den Arbeitern
+in ihrem Kriege ebenfalls? Der Arbeiter begeht nur immer den Fehler,
+daß er als ein anständiger Bürger angesehen werden will. Aber dafür
+gibt ihm niemand etwas.
+</p>
+
+<p>
+Der Ungar kam heraus, und einer der Posten nahm ihn gleich in
+Empfang. Sie brachten ihn zum Bureau des Syndikats, gaben ihm ein
+Nachtquartier und versprachen ihm, man wolle versuchen, ihm eine
+Stelle in einer Blechschmiede zu verschaffen.
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux hatte ihn auch noch um seinen Streikbrecherlohn betrogen,
+ihm nur fünfzig Centavos gegeben und vierzig Centavos für ein zerbrochenes
+Wasserglas berechnet.
+</p>
+
+<p>
+Der Deutsche machte andre Erfahrungen, wie mir später erzählt wurde.
+Am folgenden Morgen wurde er dem Polizeioffizier vorgeführt. Anstatt
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+daß man ihn gelobt hätte für seine treue Streikbrecherarbeit, fragte ihn
+der Offizier, wo er seinen Einwanderungsschein habe.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe keinen“, sagte er mit Hilfe eines Dolmetschers.
+</p>
+
+<p>
+„Wie sind Sie denn hier in das Land gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit einem Schiff.“
+</p>
+
+<p>
+„So. Also von einem Schiff ausgerückt.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich habe abgemustert.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, diese Abmusterung kennen wir schon. Wir übergeben Sie jetzt
+Ihrem Konsul mit der Bedingung, daß er Sie mit dem nächsten Schiff
+wieder nach Deutschland zurückschickt. Wir können die Deutschen
+sonst sehr gut leiden, aber Sie machen dem deutschen Namen keine
+Ehre. Sie stiften hier nur Unfrieden, und für solche Leute haben wir
+hier keinen Platz.“
+</p>
+
+<p>
+Zwei Polizisten brachten ihn zum Konsul.
+</p>
+
+<p>
+Von nun an war der Konsul für ihn verantwortlich. Er mußte ihn verpflegen,
+bis ein deutsches Schiff da war, das ihn mitnahm.
+</p>
+
+<p>
+„Was haben Sie denn hier ausgefressen? Gestohlen?“ fragte der
+Konsul.
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich habe in der La Aurora als Kellner gearbeitet und eins über
+den Kopf gekriegt“, sagte der Mann.
+</p>
+
+<p>
+„In der La Aurora wird doch gestreikt. Wußten Sie das nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Freilich. Sonst hätte ich doch nicht da als Kellner arbeiten können, ich
+bin doch Tischler.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, lieber Freund, Sie sind hier nicht in Deutschland. Streikbrecher
+sind hier nicht beliebt. Wir haben hier eine Arbeiterregierung, und
+zwar eine richtige Arbeiterregierung, die zu den Arbeitern hält. Wenn
+hier im Wasserwerk oder im Elektrizitätswerk gestreikt wird, dann
+gibt es keine Technische Nothilfe wie in Deutschland oder in Amerika,
+sondern dann gibt es eben kein Wasser und keine Elektrizität, bis die
+Streikenden sagen: So, nun gibt es wieder was. Hier ist die Regierung
+neutral in solchen Streitigkeiten. Also, Ihre Tätigkeit hier ist erschöpft.
+Laufen Sie mir nicht davon. Ich kriege Sie, und dann lasse ich Sie
+daheim verknacken. Sie stehen jetzt unter meiner Autorität; ich habe
+gebürgt für Sie, andernfalls müßten Sie hier im Gefängnis warten, bis
+ein Schiff da ist. Und das Gefängnis hier ist kein Spaß, sondern ist eine
+ernste Sache.“
+</p>
+
+<p>
+Damit war nun die Frage der Streikbrecher in der La Aurora entschieden.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-4">
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+4
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> waren immer ein paar Gäste im Café, die von
+Senjor und Senjora Doux bedient wurden. Aber Geschäft
+konnte man es nicht nennen. Wir in der Bäckerei
+hatten auch nicht viel zu tun, nur gerade die Bestellungen,
+die aus dem Hause gingen.
+</p>
+
+<p>
+Es war zwei Tage später und am Nachmittag. Es
+mochten vielleicht sechs oder acht Gäste im Lokal
+sein. Unter ihnen war ein Polizeiinspektor namens
+Lamas. Er war ständiger Gast in der La Aurora, kam am Nachmittag
+und kam am Abend. Er hatte bei Senjor Doux eine ganz nette Rechnung
+stehen, die er immer „morgen“ bezahlen wollte. Obgleich er gut
+verheiratet war und zwei Kinder besaß, hatte er doch außerdem drei
+Geliebte, die er alle unterhalten mußte. Das kostete Geld, und das Geld
+mußte herangeschafft werden. Darum hatte er auch überall Schulden.
+Also die Gäste saßen da drin im Café und aßen ihr Eis oder tranken
+geeiste Erfrischungen. An einem Tisch wurde Domino gespielt und an
+einem andern Karten.
+</p>
+
+<p>
+In den Vereinigten Staaten sind ja die Streikposten gute und fromme
+Bürger, die an Gesetz und Autorität glauben. Wenn sie Streikposten
+stehen, so tun sie das gerade so, als ob sie einem aufgebahrten Leichnam
+die Ehrenwache geben. Sie sagen kein Wort, und wenn die Polizisten
+kommen und sagen: „Sie müssen weiter zurücktreten, Sie stören
+den Verkehr“, so tun sie das sofort, als ob der Polizist sie bezahlte und
+nicht der Polizist von ihrem Gelde lebte. Dort haben die Arbeiter noch
+Disziplin, und sie sind gedrillt wie Soldaten.
+</p>
+
+<p>
+Hier dagegen haben die Arbeiter nur wenig Disziplin, und die Sekretäre
+müssen tun, was die Mitglieder wollen. Und es ist merkwürdig, sie
+gewinnen beinahe jeden Streik.
+</p>
+
+<p>
+„He, du Hurensohn da drin,“ rief einer der Posten einem Gaste zu,
+„friß doch nicht das Eis. Das ist doch nur Wasser und Zucker. Nicht ein
+Löffel voll Sahne drin. Der Sauhund da will doch aus deiner Portion
+das herausschlagen, was er sonst verdient, wenn nicht gestreikt wird.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Der Gast hielt es offenbar mit dem Wirt; er rief hinaus: „Bezahlst du
+das Eis oder ich, du Dreck.“
+</p>
+
+<p>
+„Paß nur auf, du Eiterbeule, daß ich dir nicht mal reinkomme“, sagte
+jetzt der Posten, und seine Rede wurde mit lautem Gelächter begleitet.
+Einer der Gäste hatte eine Dame bei sich, die aus Strohhälmchen ihre
+Squeeze saugte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+„Ist sie noch eine Jungfrau?“ rief jetzt ein andrer Streikposten hinein.
+„Mach nur schnell, Rodriguez, ehe dir ein andrer zuvorkommt.“
+</p>
+
+<p>
+Die Dame tat, als hätte sie nichts gehört. Aber der Herr, der bei ihr
+saß, rief zurück: „Dann lade ich dich ein, du Faulenzer. Für nützliche
+Dinge bist du ja nicht zu gebrauchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig, Faulenzer,“ sagte der Posten, „an wen verkaufst du sie denn
+heute abend? Zwanzig Centavos bezahlt einer wohl noch und ein Glas
+Eiswasser.“
+</p>
+
+<p>
+Nun kam Senjor Doux zur Tür und sagte: „Stören Sie hier meine Gäste
+nicht, wer nicht hergehört, fort!“
+</p>
+
+<p>
+„Gäste? Sind ja alles Hurenbengel, aber keine Gäste“, schrien nun nicht
+nur die Streikposten, sondern auch andre Burschen, die dabeistanden.
+„Bezahlen Sie mal einen anständigen Lohn und geben Sie richtiges
+Essen. Wir sollen Ihnen wohl erst einmal das Leder abziehen. Machen
+Sie nur ja recht rasch. Lange warten wir nicht mehr und stehen hier
+auch nicht mehr lange Posten. Dazu haben wir keine Zeit. Dann werden
+wir mal einen andern Ton anstimmen.“
+</p>
+
+<p>
+Nun kam der Inspektor Lamas zur Tür. Er mußte sich wohl für seine
+Schulden einsetzen. Vorige Woche hatte er auch noch eine Torte für
+fünfundzwanzig Pesos bekommen mit dem schönen Namen „Adelia“
+draufgegossen. Adelia war eine jener drei Geliebten, und die Torte
+war für ihren Geburtstag bestimmt. Er war noch besonders in die Backstube
+gekommen und hatte Rosenranken als Verzierungen gewünscht.
+Diese Torte war er auch noch schuldig.
+</p>
+
+<p>
+Er stand eine Weile in der Tür und hörte sich die Reden mit an. Dann
+zog er seinen Revolver und schlug dem Posten, der ihm am nächsten
+stand, mit dem Knauf eins über den Kopf, so daß gleich das dicke Blut
+herausquoll. Dann pfiff er. Es kamen zwei Polizisten, und er ließ alle
+Posten und einige andre Leute, die in Sympathie mit den Streikenden
+waren, zur Hauptwache führen.
+</p>
+
+<p>
+Kaum waren sie abgeführt, da kam Morales zurück, der drei Stunden
+abgelöst worden war und jetzt wiederkam, um seinen Posten von
+neuem anzutreten. Als er hörte, was geschehen war, rief er rein: „Du
+Hundesohn da drin,“ er meinte Doux damit, „jetzt geht es dir schlecht,
+das sollst du mal sehen. Bis jetzt haben wir nur Spaß gemacht. Aber
+wenn du das nicht anders haben willst, wir können auch noch eine
+andre Flöte blasen.“
+</p>
+
+<p>
+Morales ging sofort zum Bureau des Syndikats.
+</p>
+
+<p>
+Zehn Minuten darauf war schon der Sekretär auf der Wache.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+„Was wollen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Sofort her mit dem Inspektor. Mit dem werde ich jetzt mal ein Wörtchen
+reden. Der ist besoffen.“
+</p>
+
+<p>
+Der Inspektor kam, und der Sekretär wollte seine verhafteten Leute
+sehen. Auch diese Leute kamen, und der Sekretär fragte nun nach dem
+Polizeidirektor. Auch der kam, wurde ganz aufgeregt, als er den Sekretär
+des Syndikats sah, und machte sich gleich an das Geschäft.
+</p>
+
+<p>
+„Warum haben Sie den Mann geschlagen?“ fragte der Direktor.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat die Leute im Café beschimpft.“
+</p>
+
+<p>
+Der Direktor sah ihn jetzt voller Wut an: „Wo steht, daß Sie einen
+Mann, der jemand beschimpft und sonst nichts tut, schlagen dürfen?“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Lamas wollte was sagen, aber der Direktor fiel ihm gleich ins Wort:
+„Kennen Ihre Instruktion nicht!“ Er wandte sich zum Schreiber:
+„Schreiben Sie, Lamas ist in Unkenntnis über seine Instruktionen.“
+</p>
+
+<p>
+Dann sagte er zu Lamas: „Das ist hier kein guter Platz für Sie. Ich
+werde sehen, daß ich ein Dorf für Sie kriege, wo Sie kein Unheil
+anrichten können. Und wenn noch mal etwas Ähnliches vorkommt,
+werden wir ohne Sie fertig werden müssen. Wird uns nicht schwerfallen.
+Warum haben Sie die Leute hier verhaftet?“
+</p>
+
+<p>
+„Die haben alle Gäste und Senjor Doux beschimpft“, sagte Lamas
+schüchtern.
+</p>
+
+<p>
+„Beschimpft. Beschimpft. Was heißt das, beschimpft?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben Hurensohn gesagt“, verteidigte sich Lamas.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie jeden verhaften wollen, der Hurensohn sagt, dann werden
+Sie wohl gleich um das ganze Land eine Gefängnismauer ziehen müssen.
+Ich glaube, Sie sind nicht ganz richtig im Kopfe.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben die Leute aber auch noch bedroht.“ Es klang recht kläglich,
+was Lamas sagte und wie er es sagte.
+</p>
+
+<p>
+„Bedroht. Was verstehen Sie denn darunter?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben gesagt, sie wollen Senjor Doux erschlagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das haben wir nicht gesagt“, riefen die Verhafteten.
+</p>
+
+<p>
+Der Direktor sah Lamas ironisch an und sagte: „Hat zu Ihnen noch nie
+jemand gesagt, daß er Sie erschlagen wolle? Haben Sie dann Ihre Frau
+und Ihre Freunde und Bekannten auch gleich verhaftet und mit dem
+Revolverkolben über den Kopf geschlagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Das schien aber hier sehr ernst zu sein“, sagte Lamas.
+</p>
+
+<p>
+„Um Ihre Haut oder um was? Hat einer von denen, die Sie verhaftet
+haben, jemand geschlagen oder beraubt oder das Café des Senjor Doux
+demoliert? Sicher nicht, denn dann würden Sie mir das gleich erzählt
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+haben. Wir und Sie sind dazu da, um das Eigentum und die Person des
+Senjor Doux zu schützen, aber es steht nicht in der Verfassung, daß
+wir dazu da seien, ihm zu helfen, Löhne zu zahlen, von denen kein
+Mensch leben kann, und ihm zu helfen, seine Leute jeden Tag so lange
+zu beschäftigen, daß sie nicht einmal mehr Zeit finden, mit ihrer
+Familie spazierengehen zu können. Wenn die Leute sich das gefallen
+lassen, das geht uns nichts an; aber wenn sie es sich nicht mehr länger
+gefallen lassen wollen, dann ist es nicht unsre Aufgabe, die Leute deshalb
+zu verhaften. Warum verträgt sich Senjor Doux nicht mit seinen
+Leuten? Dann hätte er gleich Ruhe. Aber diese Unordnung kann nicht
+weitergehen. Das kann ja zu Ruhestörungen führen. Ich werde sofort
+anordnen, daß das Café La Aurora für zwei Monate geschlossen wird.
+Dann ist da Ruhe.“
+</p>
+
+<p>
+Er wandte sich zum Schreiber: „Füllen Sie gleich das Schließungsdokument
+aus, für zwei Monate. Ich werde es unterzeichnen und beim
+Gouverneur verantworten. Und Sie, Senjor Lamas, betrachten sich als
+vorläufig Ihres Dienstes enthoben, bis ich vom Gouverneur unterrichtet
+bin, wohin Sie versetzt werden. Die Verhafteten sind entlassen. Außerdem
+irgendwelche Beschwerden?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein“, erklärten die Leute.
+</p>
+
+<p>
+Der Direktor stand auf, gab dem Sekretär des Syndikats, der sich verabschiedete,
+die Hand und sagte zu ihm: „Wir haben ja nun in der Angelegenheit
+nichts mehr zu tun. Das Weitere liegt jetzt bei Ihnen. Es
+war gut, daß ich so schnell zu erreichen war. Es sind immer noch welche
+da, die nicht mitkönnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Oder die nicht mitwollen, weil sie gebunden sind“, setzte der Sekretär
+fort.
+</p>
+
+<p>
+„Er wird einen Platz bekommen, wo er Ersparnisse machen kann, weil
+er keine Ausgaben hat. Ich habe schon einen Platz für ihn, eine Banditenregion.
+Wenn er etwas wert ist, da kann er es zeigen. Und wenn er
+nichts wert ist, werden wir ihn feuern. Er gehört immer noch zu dem
+alten Stock, die glauben, daß die Diktatur die einzig richtige Form des
+Regierens ist. Wir haben sie bald alle raus, und es ist ganz gut, wenn
+die Letzten, die wir drin haben, in alte Fehler verfallen und sich uns
+so zu erkennen geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ha!“ rief der Sekretär aus, „in den Staaten drüben sind diese alten
+Fehler urmoderne Einrichtungen.“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich,“ erwiderte der Direktor, „aber wenn wir schon vieles nachmachen,
+so müssen wir doch nicht alles nachmachen, und besonders
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+müssen wir nicht das nachmachen, was in unsre Zeit nicht mehr hineinpaßt.
+Diese Mittel waren einmal gut, vielleicht, heute sind sie die
+dümmsten Mittel, die man anwenden kann. Und sie werden auch
+drüben nur von Eseln angewandt; und Esel haben die da drüben ja
+viel mehr als wir, wenn es sich um zweibeinige handelt.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-5">
+5
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> beiden Beamten mit ihren grünen Schnüren
+am Rock kamen zu Senjor Doux und übergaben
+ihm das Dokument. Doux bekam einen heillosen
+Schreck und schrie zu seiner Frau: „Na ja,
+da haben wir ja die Bolschewistenregierung. Die
+haben mir einen netten Streich gespielt.“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn los?“ sagte seine Frau näherkommend.
+</p>
+
+<p>
+„Die haben uns geschlossen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es dir ja immer gesagt, laß uns nicht hierhergehen. Das ist
+ein ganz verrücktes Land, wo es weder Recht noch Gesetz gibt. Du
+kannst nur immer Steuer zahlen, und zwar tüchtig, aber zu sagen hast
+du nichts.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie müssen gleich zumachen,“ sagte nun der Beamte, der das Protokoll
+überreicht hatte, „sonst gibt es ein Strafmandat über hundert Pesos.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Gäste werden doch wohl noch ihre Getränke austrinken dürfen?“
+fragte Senjor Doux.
+</p>
+
+<p>
+Der Beamte sah nach der Uhr und sagte: „Eine halbe Stunde, dann ist
+Schluß. Sie kriegen einen Wachtmann her, der aufpaßt, daß Sie keine
+Gäste aufnehmen für das Lokal. Den Wachtmann müssen Sie bezahlen.
+Das ist ein Beamter.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich auch noch den Wachtbeamten bezahlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie glauben doch nicht etwa, daß wir ihn bezahlen? Wir haben kein
+Geld dafür, um umsonst aufzupassen, daß Sie das Protokoll auch einhalten.“
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Beamten gingen raus und stellten sich vor die Tür, um die
+halbe Stunde Gnadenzeit abzuwarten. Als sie um war, riefen sie hinein,
+und Senjor Doux schloß wütend die Türen. Nur der Gang für das Hotel
+blieb offen, weil das Hotel ja die Ruhe und Sicherheit nicht gestört hatte.
+Im Lokal aber zog keine Ruhe ein, sondern es wurde lebhafter, als es
+je in den letzten Tagen gewesen war. Die Douxens gerieten sich in die
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+Haare. Sie wurde wie eine Furie, jeder Centavo, der dem Geschäft verlorenging,
+fraß an ihrem Herzen. Sie watschelte in ihren Pantoffeln
+hin und her zwischen den Tischen und machte dem Manne das Dasein
+heiß. Sie trug nur Hänger, gerade so übergeworfen. Die dicken fleischigen
+Waden waren frei und steckten in hellgelben seidenen Strümpfen.
+Nacken und der Oberteil der Brust waren auch frei, fleischig und
+quabbelig. Nur ihre Jugend hielt diese ausgewachsenen Massen in einer
+Form, die nicht gerade häßlich wirkte, sondern mehr verlockend. Aber
+fünf Jahre mehr würden das Verlockende sicher auslöschen, und das
+Häßliche würde nicht nur bleiben, sondern verstärkt werden. Die Arme
+guckten ihrer ganzen Länge nach nackt aus den Ärmellöchern des
+Hängers. Sie hätte, nach dem Aussehen ihrer Arme zu urteilen, als
+Ringkämpferin auftreten können. Aber es war nur quabbeliges Fleisch,
+wie alles übrige ihres Körpers. Im Nacken hatte sie einen Fleischwulst,
+der vorläufig nur schüchtern sich hervorwagte, aber in einigen Jahren
+Landmarke sein würde. So wie sie jetzt herumlief, lief sie immer im
+Lokal herum. Wäre es ein andres Lokal gewesen, man hätte sie gut für
+eine Bordellmutter halten können, mit der nicht gut zu spaßen war.
+Die Hänger wechselte sie zuweilen. Sie hatte einen grauen, einen rosafarbenen,
+einen grünen, einen dunkelgelben und einen hellvioletten.
+Ob sie irgendein andres Kleid besaß, weiß ich nicht. Ich habe nie ein
+andres an ihr gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux lief auch stets in Hemd und Hose umher. Nur wenn er
+zum Markt ging, setzte er einen Hut auf. Er trug immer eine schwarze
+Hose, die er mit einem schmalen Ledergürtel hielt, ein weißes Hemd
+mit Kragen und schwarzem Schlips. Sein Bauch stand spitz vor, als ob
+er am Aufblasen sei. Auch die Senjora schien einen ähnlichen spitzen
+Bauch zu haben. Man konnte das nur nicht so beurteilen, weil der
+Hänger das ausglich. Aber was sie vorn zuviel hatte, fehlte ihr hinten.
+Das heißt, hinten war schon allerlei vorhanden; aber das proportionale
+Verhältnis zum Bauch war doch nicht kräftig genug, um der ganzen
+Figur die mollige Form zu geben. Und weil vorn viel mehr war als
+hinten, so sah es in dem Hänger immer so aus, als ob sie hinten nur das
+Allernotwendigste habe, und als ob selbst dieses Allernotwendigste
+gerade am Überlegen sei, ob es nicht auch noch nach vorn rutschen solle.
+Jedenfalls brauchte Senjor Doux nicht verlegen sein, er konnte gut
+etwas in den Händen halten und brauchte nicht zu befürchten, sich an
+Knochen wund zu stoßen. „Du bist ja rein verrückt gewesen,“ schrie sie
+auf ihn ein, „hier in dieses wahnsinnige Land zu gehen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+„Ich?“ schrie er zurück. „Warst du es nicht, die jeden Tag mir die Ohren
+volljaulte, daß hier das Geld auf der Straße läge, und daß man es nur
+aufzuschaufeln brauche?“
+</p>
+
+<p>
+„Du gemeiner Lügner, du,“ brüllte sie los, „du dreckiger Marseiller Zuhälter,
+der du bist, hast du nicht mein ganzes Geld abgehoben und mir
+gesagt, daß es hier tausend Prozent bringe in zwei Jahren?“
+</p>
+
+<p>
+„Habe ich vielleicht nicht recht damit gehabt? Wir sind hierhergekommen
+mit nichts. Oder wieviel haben wir denn gehabt? Achthundert Pesos.
+Oder vielleicht mehr? Und jetzt haben sie mir schon achtundsechzig
+tausend Pesos für das Haus und Café geboten. Und ich verkaufe es
+nicht dafür, weil es viel mehr wert ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Mehr wert? Mehr wert?“ erboste sie sich. „Nicht einen Dreck ist es
+wert. Wo denn? Es ist zu. Die werden dir kaum die Ziegelsteine bezahlen.
+Aber das habe ich dir ja schon damals gesagt, als die neue Regierung
+herankam. Wie heißt denn der Hund, der Obregon, der Spitzbube!
+Da war es vorbei.“
+</p>
+
+<p>
+„Wir haben doch erst seitdem angefangen, zu etwas zu kommen. Oder
+vielleicht vorher? Vorher vielleicht? Wo wir einhundert Pesos nach den
+andern schmieren mußten, um die Augen aufbehalten zu dürfen. Jeder
+hielt die offne Hand hin.“
+</p>
+
+<p>
+„Und jetzt,“ widersprach sie ihm, „ist es jetzt anders? Jetzt stehen die
+Leute immer mit der offnen Hand da. Erst die Küche, nun die Kellner,
+und du wirst sehen, die Bäckerei kommt auch noch hintennach. Dann
+können wir heimfahren, bettelarm.“
+</p>
+
+<p>
+„Laß mich jetzt in Ruhe, zum Donnerwetter nochmal“, schrie er in
+voller Wut. „Du verdirbst alles mit deiner Habgier und mit deinem verfluchten
+Geiz.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich geizig? Geizig ich? Wo ich doch das ganze Geld zusammenhalten
+muß, weil du es sonst verhuren würdest mit den Weibsbildern. Und
+das nennst du geizig? Du freilich kümmerst dich nicht um die Kinder
+und was daraus wird. Du gehst huren, und ich habe die Kinder am
+Halse.“
+</p>
+
+<p>
+Da hörten wir ja feine Familiengeheimnisse. Ich glaube kaum, daß die
+Senjora recht hatte; denn ich wüßte nicht, wann er sich Zeit genommen
+hätte, Seitensprünge zu machen. Aber solche Auseinandersetzung war
+wohl das, was man „ein eheliches Zwiegespräch“ nennt. Denn die beiden
+lebten in durchaus glücklicher Ehe und Harmonie. Diese glückliche Ehe
+wurde nur eben dadurch gestört, daß Arbeiter anfingen, aufzuwachen
+und die Gewinne derer zu überrechnen, für die sie arbeiteten. Solches
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+Überrechnen stört zuweilen Könige und ganze Staaten. Warum soll es
+nicht auch die Harmonie von Ehen stören?
+</p>
+
+<p>
+Diese ehelichen Zwiegespräche wurden in den nächsten Tagen nicht
+nur heftiger, sondern auch häufiger. Sie füllten das ganze Tagesleben
+der beiden Doux aus und zogen sich die ganze Nacht hin, während die
+beiden nebeneinander im Bett lagen. Dadurch lernten wir das ganze
+Leben der beiden kennen, von dem Tage an, wo sie geboren wurden,
+bis zu der Stunde, wo sie sich im Bett schlugen, Lampen und Waschschüsseln
+und Nachttöpfe zerhämmerten. Das alles hatte ihr Freund,
+der Polizeiinspektor verursacht. Sie aber behaupteten, die junge
+Organisation, das „Syndikat der Hotel- und Restaurantangestellten“
+sei schuld. Nicht schuld an den ehelichen Liebesgesprächen, wohl aber
+an der allmählichen Verschiebung der Machtverhältnisse im Lande.
+</p>
+
+<p>
+Als sie beide jenes Stadium erreicht hatten, in dem sie mit der Absicht
+umging, ihm Rattengift in den Kaffee zu mischen, und er die ganze
+Nacht hindurch an das Rasiermesser dachte, mit dem er ihr die Kehle
+durchschneiden wolle, bewies er, daß der Mann der Frau überlegen
+ist.
+</p>
+
+<p>
+Er ging zum Polizeidirektor und fragte, was zu tun sei, um die zweimonatige
+Schließung des Lokals aufzuheben. Der Polizeidirektor sagte
+ihm, daß er da gar nichts tun könne; die Schließung sei für zwei
+Monate angeordnet, der Gouverneur habe es bestätigt, und ehe die zwei
+Monate nicht vorüber seien, könne er nicht wieder öffnen.
+</p>
+
+<p>
+„Dann bin ich bankrott“, sagte Senjor Doux. „Und dann haben die
+Kellner und Bäcker keine Arbeit mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Machen Sie sich nur darum keine Sorge, Senjor,“ erwiderte der
+Direktor, „solange Leute Brot essen wollen, so lange werden auch Leute,
+die Brot backen, Arbeit finden, und solange jemand im Café sitzen und
+Erdbeereis löffeln will, wird man auch Kellner verlangen, die es ihm
+auf den Tisch stellen. Das sehen Sie ja an der ‚La Moderna‘, die ist
+jetzt immer gut besucht. Alle Ihre Gäste sind da. Aber ich kann nichts
+tun. Das Lokal ist geschlossen, und es bleibt zwei Monate geschlossen.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Am Nachmittag dieses Tages traf Senjor Doux den Morales.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Morales, ich will alles bewilligen,“ sagte ihm Doux in bescheidener
+Ansprache, „können Sie nicht dafür sorgen, daß mein Lokal
+wieder aufgemacht wird?“
+</p>
+
+<p>
+Morales sah ihn von oben bis unten an und gab ihm zur Antwort: „Wer
+sind Sie denn? Ach so, Sie sind ja der Doux vom Café La Aurora. Wir
+haben mit Ihnen nichts zu tun. Unsre Beziehungen sind nun gelöst.
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Wenn Sie was wollen, gehen Sie zum Syndikat. Aber uns geht das
+nichts an. Adios.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux schrieb einen Brief an das Syndikat, daß er den Herrn
+Sekretär sprechen wolle, er bitte ihn höflichst, zu ihm zu kommen, um
+die Angelegenheit in dem Kellnerstreik mit ihm zu besprechen. Am
+andern Tage erhielt Senjor Doux die Antwort vom Syndikat. Es waren
+keine Höflichkeitsfloskeln darin enthalten, sondern nur in einem kurzen
+klaren Satze war gesagt: „Wenn Sie etwas vom Syndikat wünschen,
+das Bureau ist: Calle Madero Nr. 18. Segundo Piso. Der Sekretär.“
+</p>
+
+<p>
+Er hielt es nicht einmal für nötig, der Sekretär, seinen Namen zu
+nennen. Was blieb Senjor Doux übrig, er mußte gehen; denn das
+Rasiermesser verfolgte ihn Tag und Nacht, und selbst wenn er aß, hatte
+er das Gefühl, daß sein Tischmesser ein Rasiermesser sei. „Setzen Sie
+sich da in den Vorraum“, sagte ein Arbeiter, der im Bureau aushalf.
+„Wir haben noch zu tun, eine Besprechung. Es wird nicht lange dauern.“
+Es dauerte aber doch über eine halbe Stunde, und Senjor Doux hatte
+inzwischen Zeit, die Sinnsprüche, die an den Wänden hingen, auswendig
+zu lernen. Jeder dieser Sprüche erregte zuerst seine Wut. Je
+länger er sie aber studierte, desto mehr Angst bekam er vor den
+Dingen, die ihm hinter der Tür bevorstanden, wo er eine Schreibmaschine
+klappern hörte.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kam der Arbeiter und sagte: „Senjor, der Sekretär will Sie
+sprechen.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-6">
+6
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_s.jpg" alt="S"><span class="hidden">S</span></span><span class="postfirstchar">enjor</span> Doux schluckte, als er den kleinen Raum des
+Sekretärs betrat. Er hatte beabsichtigt, dem Sekretär
+gleich fest in die Augen zu sehen; aber er kam nicht
+dazu. Denn hinter dem Sekretär war über die ganze
+Wand eine Fahne, zur Hälfte rot, zur andern Hälfte
+schwarz, gespannt und darüber stand in dicken
+Lettern:
+</p>
+
+<p>
+¡Proletarios del mundo, unios! (Proletarier aller
+Länder, vereinigt euch!)
+</p>
+
+<p>
+Das machte Senjor Doux ganz verwirrt. Er hatte plötzlich den Eindruck,
+als ob da vor ihm nicht der Sekretär sitze, sondern alle Kellner
+der ganzen Welt ihn wütend anblickten. Seine Stimme, die so fest sein
+sollte, wurde ganz zaghaft, als er nun sagte: „Guten Tag, ich bin Senjor
+Doux vom Café La Aurora.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+„Gut. Setzen Sie sich. Was wünschen Sie?“ fragte der Sekretär.
+</p>
+
+<p>
+„Ich möchte gern wissen, ob Sie veranlassen können, daß mein Café
+wieder geöffnet wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Das können wir veranlassen“, erwiderte der Sekretär. „Sie brauchen
+nur die Bedingungen zu erfüllen.“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, ich bin bereit, alles zu bewilligen, was die Kellner fordern.“
+</p>
+
+<p>
+Der Sekretär nahm einen kleinen Zettel, warf einen Blick darauf und
+sagte: „Die Forderungen sind nicht mehr die gleichen, die gestellt
+wurden, als die Kellner Ihnen die Mitteilung machten.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht mehr die gleichen?“ schluckte Doux erschreckt.
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Es sind fünfzehn Pesos die Woche“, sagte der Sekretär geschäftsmäßig.
+</p>
+
+<p>
+„Die forderten aber nur zwölf.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist leicht möglich. Aber dann wurde gestreikt. Und Sie verlangen
+doch nicht etwa, daß die Leute umsonst streiken. Jetzt macht es fünfzehn.
+Hätten Sie gleich bewilligt, wäre es bei zwölf geblieben.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ erwiderte Doux, sich aufrichtend, „ich bewillige die fünfzehn
+Pesos.“
+</p>
+
+<p>
+„Freitag ist Zahltag. Freitags für die ganze Woche. Diese unpünktlichen
+Zahlungen können wir nicht mehr zulassen“, sagte der Sekretär.
+</p>
+
+<p>
+„Aber das kann ich nicht so ohne weiteres machen. Wir haben das
+immer so gemacht, daß wir zahlten, wenn wir das Geld eben gerade
+dazu frei hatten.“
+</p>
+
+<p>
+Der Sekretär sah auf: „Was Sie immer getan haben, geht uns nichts an.
+Wir bestimmen, was Sie von nun an zu tun haben. Mit dieser alten
+Wirtschaft, wie sie Hunderte von Jahren bestanden hat, wollen wir
+nun endlich ein Ende machen. Da ist die Arbeit, hier ist der Lohn,
+Ebenso pünktlich wie Sie die Arbeit von den Leuten verlangen, haben
+Sie den Lohn zu zahlen!“
+</p>
+
+<p>
+„Das wird aber schwer gehen“, verteidigte Doux seine Position. „Dann
+fehlt mir oft das Geld für Einkäufe.“
+</p>
+
+<p>
+„Das kümmert uns nichts. Löhne gehen vor, sonst fehlen den Leuten
+die Pesos, um <em>ihre</em> Einkäufe zu machen. Und wir denken, es ist besser,
+daß Ihnen das Geld für Einkäufe fehlt als den Arbeitern.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux atmete schwer. „Aber am Samstag ist doch erst die Woche
+um. Warum soll ich da Freitag schon den Lohn zahlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum? Warum? Ist Ihnen denn das nicht klar?“ Der Sekretär tat
+ganz erstaunt. „Der Arbeiter borgt Ihnen ja sowieso schon fünf Tage
+Lohn. Er gibt Ihnen seine Arbeitskraft fünf volle Tage, während Sie
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+mit dem Kapital Geschäfte machen. Wie kommt denn der Arbeiter
+überhaupt dazu, Ihnen fünf Tage Arbeit zu borgen? Eigentlich sollten
+Sie Montag früh im voraus für die ganze Woche bezahlen, das würde
+sich gehören. Aber so weit wollen wir nicht gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, also damit bin ich auch einverstanden. Auch mit dem einen Vollessen
+und dem Kaffee mit Zugebäck. Dann ist ja wohl das alles in
+Ordnung?“ Senjor Doux stand auf.
+</p>
+
+<p>
+„Setzen Sie sich nur noch einen Augenblick“, lud ihn der Sekretär ein.
+„Da sind noch einige Nebenfragen zu erledigen. Die Streiktage müssen
+Sie bezahlen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Die Streiktage bezahlen?“ schrie Senjor Doux. „Ich soll auch noch
+die Faulenzerei bezahlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Streik ist keine Faulenzerei. Und wenn bei Ihnen gestreikt wird,
+müssen Sie den vollen Lohn weiter zahlen. Streik ist auch Arbeit. Sonst
+könnten Sie alle, die ganzen Hotelbesitzer und Kaffeehausbesitzer, uns
+ja zu einem langen Streik treiben, um unsre Kassen zu zerstören, so
+daß wir nie wieder streiken könnten. Nein, Senjor, darauf lassen wir
+uns nicht ein. Der Streik wird von uns finanziert. Wir sind nur die
+Lehnsbank für die Arbeiter. Aber zu zahlen haben Sie den Streik. Sie
+haben ja Zeit, reichlich, sich zu überlegen, ob Sie es zum Streik kommen
+lassen wollen oder nicht. Die Kriegskosten muß der bezahlen, der den
+Frieden braucht, um wieder Geschäfte zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist die größte Ungerechtigkeit, die mir je vorgekommen ist“, rief
+Senjor Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will Ihnen nicht die Ungerechtigkeiten hier vorzählen, die Sie und
+Ihresgleichen jahrelang verübt haben“, sagte der Sekretär.
+</p>
+
+<p>
+„Es bleibt mir wohl nichts andres übrig, ich muß auch das bezahlen“,
+gestand Doux nun kleinlaut.
+</p>
+
+<p>
+„Am besten gleich heute,“ erklärte der Sekretär, „denn morgen kostet
+es bereits einen Tag mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann werde ich noch vor fünf Uhr herkommen und alles bezahlen“,
+sagte Senjor Doux und erhob sich abermals.
+</p>
+
+<p>
+„Bringen Sie aber etwas mehr mit“, warf der Sekretär ein, während
+er sich gleichfalls erhob.
+</p>
+
+<p>
+„Noch mehr?“ fragte Senjor Doux erschreckt.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich denke, Sie wollen doch das Café jetzt schon geöffnet haben und
+nicht erst nach zwei Monaten.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist denn das nicht damit verbunden, wenn ich alles bewillige?“ Senjor
+Doux wurde ganz nervös.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+„Keineswegs“, erwiderte der Sekretär. „Das Schließen des Lokals hatte
+andre Gründe als den Streik. Das wissen Sie wohl recht gut. Sie haben
+den Inspektor aufgefordert, den Streikposten einen Denkzettel zu
+geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich nicht getan“, wehrte sich Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Wir sind darüber andrer Meinung. Es ist jedenfalls in Ihrem Lokal
+geschehen, und Sie sind für die Vorgänge in Ihrem Lokal verantwortlich.
+Sie konnten es leicht verhindern, daß so etwas vorkommen konnte.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann sagen Sie doch schon, was ich noch zu tun habe“, drängte Senjor
+Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben zehntausend Pesos in die Kasse unsres Syndikats zu zahlen
+als Sühnegeld. Sobald Sie die Summe eingezahlt haben, werden wir für
+Sie die Garantie übernehmen, und dann kann das Café geöffnet
+werden, und die Siegel werden abgelöst.“
+</p>
+
+<p>
+„Zehntausend Pesos soll ich zahlen?“ Senjor Doux war wieder in den
+Stuhl gefallen. Der Schweiß brach ihm aus.
+</p>
+
+<p>
+„Sie brauchen es nicht zu bezahlen. Wir zwingen Sie nicht. Dann bleibt
+das Café zwei Monate geschlossen.“ Der Sekretär wurde ganz trocken
+und kaufmännisch. „Natürlich haben Sie nach zwei Monaten die Löhne
+für die Kellner für die vollen zwei Monate nachzuzahlen. Die können
+doch nicht verhungern. Und wir können ihnen leider nicht erlauben,
+andre Arbeit anzunehmen, weil sie sich bereit halten müssen, bei Ihnen
+wieder anzufangen, sobald Sie öffnen. Wir können doch nicht zugeben,
+daß Sie eines Tages, wenn Sie öffnen wollen, keine Kellner haben und
+vielleicht geschäftlichen Schaden erleiden. Und damit Sie gleich im
+klaren sind, ein für allemal: Es ist nicht unsre Absicht, das Geschäftsleben
+zu vernichten oder auch nur zu stören. Durchaus nicht. Aber es
+ist unsre Absicht, dafür zu sorgen, daß der Arbeiter von dem, was er
+produziert, nicht nur einen angemessenen Anteil erhält, sondern den
+Anteil, der ihm zukommt bis zu der höchsten Grenze, die das Geschäft
+tragen kann. Und diese Grenze ist viel höher, als Sie glauben. Damit
+beschäftigen wir uns augenblicklich besonders eingehend, die Tragfähigkeit
+jedes Arbeitszweiges zu errechnen. Arbeitszweige, die dem
+Arbeiter nicht so viel eintragen, daß er ein Leben führen kann, wie es
+einem Menschen von heute zukommt, sollen zugrunde gehen. Dabei
+wollen wir helfen. Und wenn solche Arbeitszweige wichtig sind für die
+Allgemeinheit, dann werden wir dafür sorgen, daß die Allgemeinheit
+dem Arbeiter ein menschenwürdiges Dasein gewährleistet. Daß Ihr
+Café für die Allgemeinheit so sehr wichtig wäre, bestreite ich. Aber es
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+ist nun einmal da. Und solange Sie es dazu benutzen, Ihr Vermögen zu
+vergrößern, bringt es auch genügend ein, um anständige Löhne zu
+zahlen. Wenn Sie nichts mehr verdienen können, werden Sie schon von
+selber zumachen. – So, das habe ich Ihnen gesagt, damit Sie nicht
+denken, wir sind Erpresser. Nein, wir wollen nur, daß die Leute, die
+Ihnen ein Vermögen produzieren, den Anteil bekommen, auf den sie
+ein Recht haben. Für Sie bleibt noch genug übrig.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux hatte das sicher nur zur Hälfte verstanden. Er saß ganz
+verdöst da. In seinem Kopfe surrten nur immer jene zehntausend Pesos
+herum, die er da auf den Tisch legen sollte. Er traute sich nicht ja zu
+sagen aus Angst vor seiner Senjora. Aber ebensowenig traute er sich
+ein glattes Nein hier hinzuwerfen, gleichfalls aus Angst vor der Senjora.
+Er wußte ja nicht, was sie vorziehen würde. Jeder Tag Zögerung
+kostete Geld. Schließlich kam es auf mehr heraus als auf diese zehntausend
+Pesos, wenn er zwei Monate geschlossen halten mußte und dann
+außerdem die Löhne nachzuzahlen hatte. So arbeitete er mit den Summen
+in seinem Kopfe, bis er halb verrückt wurde.
+</p>
+
+<p>
+Er stand auf und sagte: „Ich werde es mir überlegen.“
+</p>
+
+<p>
+Er verließ das Bureau, ging die Treppe hinunter und trat auf die
+Straße. Er wischte sich den Schweiß und schnappte nach Luft. Dann
+machte er sich auf den Heimweg. Dabei kühlte er ab und fing an, die
+Sache ruhig zu überlegen. Er rechnete auf einem Papierstückchen hin
+und her und kam endlich zu der Überzeugung, daß es billiger sei, sofort
+alles zu bezahlen.
+</p>
+
+<p>
+Nun aber Senjora Doux. Ging er erst heim, so gab es die furchtbarsten
+Kämpfe. Sagte er ein bündiges Nein, würde sie sagen: „Warum hast
+du nicht ja gesagt?“ Umgekehrt hätte sie gesagt: „Warum hast du nicht
+nein geantwortet.“ Er konnte in diesem Falle tun, was er wollte, er
+würde es ihr nie recht machen, denn es kostete Geld, und zwar reichlich
+Geld. Und in allen Dingen, die Geld kosteten und nicht das Doppelte
+einbrachten, gab es Krakeel. Endlich aber packte ihn ein stolzer Mannesmut,
+einmal seinen Willen ganz allein, und ohne seine Frau zu fragen,
+durchzusetzen. Und er dachte das am besten in der Weise zu tun, wenn
+er eine Entscheidung traf, die sie in die hellste Wut treiben müßte. Und
+das war, sofort zur Bank zu gehen, das ganze Geld, das nötig war, abzuheben
+und sofort wieder, ohne auch nur seine Frau zu sprechen,
+zum Bureau zurückzugehen und alles glatt zu bezahlen.
+</p>
+
+<p>
+Eine halbe Stunde später war er im Bureau, zahlte jeden Peso, der aufgesetzt
+war, und dann sagte ihm der Sekretär: „Abends um sieben
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+dürfen Sie Ihr Café wieder aufmachen. Ich werde dafür sorgen, daß
+Ihnen bis dahin das Aufhebungsprotokoll zugestellt wird.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux faltete die Quittungen zusammen, nachdem die Marken
+draufgeklebt waren, und sagte dann: „Ich habe nur eine kleine Einwendung
+zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja?“ fragte der Sekretär.
+</p>
+
+<p>
+„Ich soll doch jetzt die Löhne Freitags zahlen für die ganze Woche?“
+</p>
+
+<p>
+„Allerdings“, erwiderte der Sekretär.
+</p>
+
+<p>
+„Was dann aber, wenn der Mann am Samstag nicht wiederkommt?
+Dann hat er ja einen Tag Lohn, mit dem er fortgelaufen ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie mal an,“ sagte der Sekretär lächelnd, „wie gut Sie rechnen
+können. Das hätte ich gar nicht von Ihnen erwartet. Sie sind ja bisher
+den Leuten manchmal sechs Wochen lang mit dem Lohn davongelaufen,
+nicht nur mit einem Tag, nein, mit sechs Wochen Lohn.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber die Leute haben doch dann immer ihren Lohn bekommen, und
+ich bin ihnen doch sicher.“ Senjor Doux warf sich in die Brust.
+</p>
+
+<p>
+„Ob Sie so sicher sind, ist noch sehr die Frage. Sie können ja unter der
+Hand verkaufen und laufen davon mit den stehenden Löhnen. Aber
+das kommt vielleicht nicht vor. Was aber vorkommt, das ist, daß Sie
+immer einige Wochen lang die Löhne festhalten und mit diesem Gelde,
+das den Kellnern gehört, Geschäfte machen, ohne den Leuten Zinsen
+dafür zu zahlen. Wie kommen die Leute dazu, Ihnen Geld kostenlos
+vorzustrecken? Das wird nun aufhören. Sie können noch froh sein,
+daß wir nicht anordnen, die Löhne werden Mittwoch abend für die
+ganze Woche bezahlt, so daß also das Risiko auf halb und halb geht.
+Lassen wir es bei Freitag. Wenn Sie anständig zu den Leuten sind,
+läuft Ihnen schon keiner mit dem einen Tag Lohn davon. Und sollte es
+wirklich einmal einer tun, so werden Sie daran nicht zugrunde gehen.
+Also diese Frage ist nun geklärt. Besser, Sie beeilen sich, daß Sie
+bis um sieben mit allem fertig sind und Ihre Gäste zufriedenstellen
+können.“
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux verließ das Bureau und ging heim.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-7">
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+7
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">as</span> ist ganz vernünftig, daß du das gemacht
+hast“, sagte seine Senjora wider Erwarten.
+„Wenn es nach mir gegangen wäre, dann hätten
+wir das alles sparen können.“
+</p>
+
+<p>
+„Nach dir?“ fragte Senjor Doux erstaunt. „Es ist
+ja alles nach dir gegangen. Du hast mir ja geraten,
+ich sollte die Kellner alle rausfeuern, es
+wären genug auf der Straße, die froh seien,
+wenn sie dafür arbeiten könnten.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch auch richtig“, erwiderte Senjora Doux. „Sie laufen uns
+ja das Haus ein, um Arbeit zu kriegen. Daß mit einem Male niemand
+kommen würde außer diesen beiden Vagabunden, hatte ich nicht gedacht.
+Das war mein ganzer Fehler in der Rechnung. Laß nur gut sein,
+wir holen das Geld schon wieder herein; die Bäckerei und die Konditorei
+muß es bringen. Die sind ja anständiger als die Kellner, die sind
+ja keine Bolschewisten.“
+</p>
+
+<p>
+So war es. Die Bäckerei und die Konditorei mußten den Schaden gutmachen.
+Senjor Doux tat etwas für Reklame. Er ließ in den Kinos und
+in den Zeitungen inserieren, was für gute Brötchen er backe, wie gut
+seine Kuchen und Torten seien und wie vorzüglich das Kleingebäck.
+</p>
+
+<p>
+Das hatte zur Folge, daß wir jeden Abend nun um elf, Samstags um
+zehn anfangen mußten, und daß es dann durchging bis zum andern
+Tage nachmittags um vier oder fünf. Das wurde nun schon die Regel.
+Wem es nicht gefiel, der hörte auf. Das war Senjor Doux recht angenehm.
+Dann erklärte er, daß niemand wegen Arbeit nachfragen käme,
+und wir mußten eine Weile für den einen oder gar zwei, die aufgehört
+hatten, noch mitarbeiten.
+</p>
+
+<p>
+In Wahrheit aber war es so, daß Senjor Doux so lange wie nur irgend
+möglich den fehlenden Mann nicht ersetzte, um den Lohn für ihn zu
+sparen. Denn wir schickten ihm Leute zu, die er nicht annahm, und zu
+denen er sagte, es sei nichts frei. Das ging dann so lange, bis wir einfach
+Bestellungen liegen ließen. Wenn es sich um Bestellungen handelte, die
+für einen Geburtstag oder einen Namenstag sein sollten, dann gab es
+immer Unannehmlichkeiten für Senjora Doux. Er drückte sich, und sie
+hatte sich mit der Kundschaft herumzuschlagen. Endlich wurde es ihr
+zu bunt, und sie selbst nahm einen oder zwei neue Leute an, immer
+die billigsten, die nichts von der Bäckerei verstanden und auch nicht
+genügend Intelligenz besaßen, es rasch zu begreifen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+Mit Senjor Doux hatte der Meister auch jeden Tag seine Auseinandersetzungen.
+Den einen Tag fehlte der Zucker. Der Meister ging zum
+Doux und sagte ihm, daß wir zweihundert Kilo Zucker benötigten.
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut,“ erwiderte Senjor Doux, „werde ich gleich bestellen.“
+</p>
+
+<p>
+Aber er bestellte nicht, nur um ein paar Tage länger das Geld in der
+Tasche behalten zu können. Dann kam eine Stunde, in der überhaupt
+kein Zucker da war und wir uns mit den Kellnern herumschlugen, die
+in die Backstube kamen, um auch noch den letzten Rest von Zucker
+für das Café herauszuholen, wo die Gäste vor leeren Zuckerdosen
+saßen. Dann sauste Senjor Doux los, um rasch den Zucker heranzuschaffen.
+Wir konnten mit unsrer Bäckerei dann stehen und warten,
+konnten nicht weiterarbeiten, bis der Zucker da war, konnten aber
+auch nicht zu Bett gehen, weil die Ware noch fertig werden mußte und
+wir auf den Zucker zu warten hatten.
+</p>
+
+<p>
+So ging es mit den Eiern. Da waren fünfhundert Kisten bestellt. Die
+kamen auch. Dann, wenn wir an den letzten fünfzig Kisten arbeiteten,
+sagte der Meister dem Senjor Doux: „Eier müssen bestellt werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Hat es nicht Zeit bis morgen?“ fragte Doux.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, bis morgen hat es Zeit, aber dann müssen sie bestellt werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut denn“, sagte Doux, und er war recht zufrieden, daß er bis morgen
+warten durfte.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Vormittag hatte der Meister dann wieder reinzulaufen.
+„Es wird aber höchste Zeit, übermorgen sind wir fertig mit den Eiern.“
+Diesmal fragte Doux nicht, ob es Zeit habe bis morgen, sondern er
+wartete selbst auf eignes Risiko bis morgen. Und dann kam richtig die
+Stunde, wo wir umherstanden und auf die Eier zu warten hatten.
+</p>
+
+<p>
+Und ebenso ging es mit dem Eis. Das Speiseeis sollte bis zwei Uhr fertig
+sein. Die Masse hatten wir längst fertig. Aber das Roheis kam nicht,
+weil Doux es zu spät bestellt hatte. Dann kam es statt um eins um drei
+oder um vier, und wir hatten zu warten und umherzustehen, weil wir
+nicht Schluß machen konnten, ehe das Eis fertig war für das Café.
+</p>
+
+<p>
+So wurde mit unsrer Zeit gewüstet. Es war nicht alles reine Arbeitszeit,
+nein, es war verwüstete Zeit, die wir nutzlos vergeuden mußten, nur
+weil Senjor Doux ein paar Stunden länger sein Geld behalten wollte,
+und weil unsre Arbeitszeit, unsre Lebenszeit ja nicht für Stunden, sondern
+für die ganze Woche von ihm gekauft wurde. Und jede Minute
+unsres Lebens gehörte ihm, nicht uns. Er bezahlte dafür.
+</p>
+
+<p>
+Wenn es uns nicht gefiel, gut, wir konnten ja gehen. Wir konnten gehen
+und verhungern. Arbeitsgelegenheit war rar. Und die Arbeit, die zu
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+haben war, wurde von den Eingeborenen weggeschnappt, die es für
+einen Lohn taten, von dem man nicht leben kann, selbst wenn man
+Eingeborene davon mit ihren Familien leben sieht. Was blieb einem
+übrig? Verhungern oder tun, was dem Herrn beliebte. Mit den Kellnern
+konnte er nicht mehr tun, was ihm beliebte. Wir hatten jetzt alles das
+mit zu übernehmen, was er an ihnen nicht verüben konnte. Wir waren
+Gesindel. Wenn wir gingen, zwanzig andre warteten, überselig, in eine
+Bäckerei zu kommen, wo es nicht nur Brot reichlich zu essen gab und
+Kuchen, nein, wo es sogar Mahlzeiten gab, so gut, wie sie diejenigen,
+die als Arbeiter für die Bäckerei in Frage kamen, nie auf ihrem Tische
+gesehen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Die Kellner waren Mexikaner oder Spanier, intelligente Burschen, aufgeweckt
+und rührig. Aber wir in der Bäckerei waren zusammengelesenes
+Gesindel, ohne Familie, ohne Wohnort. Einige konnten nicht einmal
+Spanisch sprechen. Die Arbeitsverhältnisse und Löhne boten auch
+nicht die geringste Anziehungskraft für Arbeiter, die Klassenstolz
+haben. Bürgerstolz hatten wir schon. Aber mit Bürgerstolz kann man
+die Lebensverhältnisse des Arbeiters nicht verbessern. Denn Bürgerstolz
+hat der Unternehmer selbst genug, und er weiß, wie er ihn zu
+seinen Gunsten zu gebrauchen hat. Das ist sein Schlachtfeld, wo er
+jeden Kniff kennt und jeden Angriff mit Erfolg zu parieren versteht.
+Wir strebten nur danach, etwas zu sparen und dann einen kleinen
+Handel anzufangen oder das Reisegeld zusammenzubekommen, um nach
+Colombia zu gehen. Wir versuchten aus dem Acker, den wir bebauten,
+soviel herauszuholen wie nur möglich. Ob die, die nach uns auf diesem
+Acker sich ansiedeln mußten, darauf verreckten, das war uns gleichgültig.
+Jeder ist sich selbst der Nächste. Ich grase einmal ab und ziehe
+auch noch die Wurzeln mit heraus, wenn das Gras nicht langt. Nach uns
+die Sündflut. Was gehen mich meine Mitsklaven an?
+</p>
+
+<p>
+Senjor Doux und alle seine Geschäftskollegen in der Stadt verstanden
+es schon, uns jede Möglichkeit zu nehmen, nachdenken zu lernen. Es
+ist ja hier Neuland. Jeder hat nur einen Gedanken: Reich zu werden,
+recht rasch reich zu werden; ohne Rücksicht darauf, was aus dem andern
+wird. So machen es die Ölleute, so die Minenleute, so die Kaufleute, so
+die Hotelbesitzer, so die Cafeterios, so jeder, der ein paar Kröten hat,
+etwas auszubeuten. Wenn er kein Ölfeld, keine Silbermine, keine
+Ladenkundschaft, keine Hotelgäste ausbeuten kann, so beutet er den
+Hunger der zerlumpten Arbeiter aus. Alles muß Geld bringen, und
+alles bringt Geld. In den Muskeln und Adern hungernder Arbeiter liegt
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+das Gold genau so gut aufgespeichert wie in den Goldminen. Goldminen
+auszubeuten, erfordert oft große Kapitalien und ist häufig mit
+einem großen Risiko verknüpft. Die Goldminen, die hungernde
+Arbeiter in ihren Kadavern tragen, sind bequemer auszubeuten als
+unsichere Ölfelder, wo man zehnmal auf zweitausendfünfhundert Fuß
+bohren kann mit großen Kosten und nichts als tote Brunnen macht. Solange
+der Arbeiter seine Knochen rühren kann, ist er kein toter Brunnen.
+Da ist der Ungar Apfel. Er kam her mit einigen hundert Pesos und
+fand keine Arbeit. Dann mietete er sich eine kleine Baracke und kaufte
+sich bei einem Althändler Werkzeuge und bei einem andern Althändler
+altes Blech. Davon machte er Eimer und Wassertanks.
+</p>
+
+<p>
+Eines Tages kam ein Amerikaner vorbei und sagte: „Können Sie mir
+nicht einen Tank machen?“
+</p>
+
+<p>
+„Den kann ich machen, wenn Sie mir hundert Pesos Vorschuß geben“,
+erwiderte Apfel.
+</p>
+
+<p>
+Er konnte ihn aber nicht machen.
+</p>
+
+<p>
+Dann traf er in einer chinesischen Speisewirtschaft einen hungrigen
+und zerlumpten Landsmann aus Budapest, der vor der Blutgier des
+Herrn Horthy hatte fortrennen müssen. Der kam in die Wirtschaft und
+kam auch an den Tisch Apfels und fragte bescheiden mit einem paar
+Brocken Spanisch, ob er nicht das halbe Brötchen da haben könne, das
+Apfel noch auf dem Teller liegen habe, und das abgeräumt werden sollte.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Nehmen Sie es“, sagte Apfel. „Was sind Sie denn für ein Landsmann?“
+</p>
+
+<p>
+„Ungar“, antwortete der Mann.
+</p>
+
+<p>
+Und nun sprachen sie Ungarisch.
+</p>
+
+<p>
+„Suchen Sie Arbeit?“ fragte Apfel.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, schon lange, aber es ist nichts zu kriegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, es ist nichts zu kriegen“, bestätigte Apfel. „Aber ich kann Ihnen
+Arbeit verschaffen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich?“ sagte der Mann erfreut. „Ich wäre Ihnen ja so dankbar
+dafür.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es ist vierzehnstündige Arbeitszeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Das macht nichts,“ erwiderte der Mann, „wenn es nur Arbeit ist und
+ich zu essen habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Lohn ist auch nicht hoch. Nur gerade zwei Pesos fünfzig.“
+</p>
+
+<p>
+„Damit wäre ich schon zufrieden.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann kommen Sie nur morgen früh dort hin“, sagte Apfel und machte
+dem Manne klar, wo er seine Werkstatt habe. „Da arbeite ich auch, ich
+habe da einen kleinen Kontrakt übernommen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+„Da bin ich ja recht froh, daß ich mit einem Landsmann zusammenarbeiten
+kann.“
+</p>
+
+<p>
+„Das dürfen Sie auch,“ sagte Apfel, „denn irgend jemand anders stellt
+Sie nicht ein. Es ist durchaus keine Arbeit zu haben.“
+</p>
+
+<p>
+Der Mann kam und fing an zu arbeiten. Und er arbeitete tüchtig. Vierzehn
+Stunden am Tage. In tropischem Lande. In einer Holzbaracke unter
+einem Wellblechdach. Man kann eine solche Arbeit nicht beschreiben.
+Man kann nur dabei zusammenbrechen oder ein Skelett werden.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Pesos fünfzig den Tag. Fünfzig Centavos für die Nacht in einem
+Bett, nein, kein Bett, ein Holzgestell, über das ein Stück Segeltuch gespannt
+ist. In einer Lumpenherberge, wo Wanzen und Tausende von
+Moskitos die Nacht zur Hölle machen. Fünfzig Centavos für Mittagessen
+beim Chinesen und fünfzig Centavos für Abendessen beim Chinesen.
+Zwanzig Centavos für ein Glas Kaffee und zehn Centavos für
+zwei trockene Brötchen. Ein paar Zigaretten den Tag. Ein Glas Eiswasser
+für fünf Centavos oder auch zwei oder drei im Laufe des Tages.
+Dann geht auch das Hemd in die Brüche, die Schuhe waren schon hinüber,
+ehe er anfing zu arbeiten, und ein Paar neue kosten einen vollen
+Wochenlohn, ein Hemd zwei Tage Lohn, vorausgesetzt, man ißt nichts.
+Das geht zwei Wochen, das geht drei Wochen, das geht vielleicht sogar
+vier Wochen. Dann muß er ins Hospital gebracht werden. Als Landarmer.
+Vielleicht kann man den Konsul zahlen machen, vielleicht nicht.
+Malaria, Fieber, wer weiß was. Zwei Tage darauf kommt er in eine
+Holzkiste und wird verscharrt.
+</p>
+
+<p>
+Apfel hat aber seinen Kontrakt erfüllt und drei neue Tanks in Auftrag
+bekommen. Er findet immer wieder hungernde Landsleute. Wenn
+es keine Ungarn sind, dann Österreicher, oder Deutsche, oder Polen
+oder Böhmen. Sie schwirren ja nur so herum. Alle sind ihm ja so dankbar
+dafür, daß er ihnen Arbeit gibt, jetzt nur noch zwölf Stunden den
+Tag, weil er modern wird und kein Ausbeuter ist. Aber zwei Pesos
+fünfzig und dem Antreiber drei Pesos fünfzig. Denn den Antreiber
+braucht er, weil er – es sind nur gerade vier Jahre, seit er den ersten
+Tank baute – im eignen Auto spazierenfährt und sich im amerikanischen
+Viertel ein schönes Haus bauen ließ.
+</p>
+
+<p>
+Auch die Knochen der Landsleute, denen man Wohltaten erweist, und
+die infolge der Wohltaten, infolge der Überarbeit, infolge der Schlafhöhlen,
+in denen sie ihre Nächte verbringen, infolge der schlechten Ernährung
+dutzendweise am Fieber verrecken und als Niemand verscharrt
+werden, kann man zu Gold machen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+In Budapest schreiben die Zeitungen: „Unser Bürger Apfel hat durch
+Tatkraft und Unternehmungsgeist da drüben in wenigen Jahren ein
+Riesenvermögen gemacht.“ Möchten doch die Zeitungen immer so genau
+die Wahrheit drucken wie in diesem Falle. Reichtümer über Nacht
+werden hier gemacht! Das ist richtig. Man hat nichts weiter nötig, als
+die Goldminen auszubeuten.
+</p>
+
+<p>
+Und die Fremden können es am leichtesten. Wenn ihnen von den Nichtlandsleuten
+ein Strich durch die Rechnung gemacht werden soll, dann
+stehen sie unter dem Schutze ihrer Hohen Gesandtschaft, und das freie
+Amerika droht mit dem militärischen Einmarsch.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-8">
+8
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> schliefen nicht in einer Lumpenherberge, aber
+doch auch in einer Schlafhöhle. Haus konnte man es
+nicht gut nennen. Es war eine große Holzkiste mit
+einem Blechdach. Das Licht kam nur durch die Tür
+herein und durch die Fensterluken, die weder Glas
+noch Drahtgaze hatten. Es führte eine Holztreppe
+hinauf in den Raum, sechs Stufen. Unter dem Hause
+lagen alte Eierkisten und leere Schmalzdosen, alte
+Stricke und morsche Lumpen. In der Regenzeit war das alles ein wüster
+Schlamm und eine wundervoll ideale Brutstätte für Hunderttausende
+von Moskitos.
+</p>
+
+<p>
+Der Raum war gerade groß genug, daß man zwischen den Klappgestellen,
+die man Betten nennen muß, weil sie es vorstellen sollen,
+vorbeigehen und sich dazwischen ankleiden konnte. Der Raum diente
+nicht nur uns zum Aufenthalt, sondern auch großen Eidechsen und
+fingerlangen Spinnen. Außerdem trieben sich da noch immer drei
+Hunde herum. Einer von ihnen war immer krank und hatte die Räude
+oder so etwas Ähnliches. Er sah grauenerregend aus. Wenn er sich
+besserte, bekam der andre die Krankheit. Aber die Hunde liebten uns
+sehr, und darum jagten wir sie nicht fort. Sie waren oft unser einziges
+Vergnügen, wenn wir keine Zeit hatten, mal auf die Straße zu gucken,
+sondern nur gerade so auf die Segelleinwand fielen und vor Übermüdung
+nicht einschlafen konnten.
+</p>
+
+<p>
+Hin und wieder wurde der Raum von einem von uns ausgefegt. Gescheuert
+wurde er nie. Da aber das Dach leckte, so bekamen wir reichlich
+Wasser in die Bude, wenn ein tropischer Wolkenbruch losging, was
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+im letzten Monat der Regenzeit alle halbe Stunde geschah. Wir wurden
+dann natürlich auch naß, und unser Schlafen bestand dann darin, daß
+wir immerfort aufstehen mußten, um das Schlafgestell unter eine Stelle
+des Daches zu schieben, wo wir glaubten, daß da kein Regen hindurch
+käme. Aber der Regen folgte uns mit beharrlicher Bosheit, wohin wir
+uns auch verkrochen.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten jeder ein Moskitonetz. Aber das klaffte an einem halben
+Dutzend Stellen auseinander. Und die Moskitos fanden nicht nur die
+klaffenden Stellen sehr leicht, sondern ebenso leicht und sicher jene
+Stellen, wo wir glaubten, da könne kein Loch sein. Wir nähten an den
+Netzen herum, so gut wir konnten. Aber am nächsten Tage war es
+neben dem alten Loch wieder aufgerissen. Man darf ruhig sagen, jedes
+Netz bestand nur aus großen Löchern, die durch morsche Stoffetzen
+zusammengehalten werden, damit die Löcher auch wissen, wo sie hingehören.
+</p>
+
+<p>
+Außerdem besaßen wir jeder ein sehr schmutziges Kopfkissen. Und
+jeder hatte eine zerlumpte Decke. An der Wand hing ein alter Spiegel
+in einem Weißblechrahmen und einige Photographien von nackten,
+ganz nackten Mädchen und andre Photographien von Vorgängen, die
+in vielen Ländern von dem Staatsanwalt beschützt werden. Diese
+Photographien hier hätte keine noch so moderne Kunstkommission verteidigen
+können, weil sie mit Kunst absolut nichts, dagegen mit Naturvorgängen
+alles zu tun hatten. Aber in einem Lande, wo man solche
+schönen Sachen in jedem anständigen Laden kaufen kann, und wo sie
+ein zehnjähriger Junge genau so leicht kaufen kann wie ein alter Seemann,
+macht niemand damit Geschäfte, weil sie niemand interessieren,
+und weil sie niemand kauft. Nur Verbotenes interessiert. Wir sahen
+auch nichts Besonderes daran, wir hatten keine Zeit dazu.
+</p>
+
+<p>
+Zwischen neun und zwei Uhr konnte man sich in dem Schlafraum nicht
+aufhalten, man wäre sofort Dörrfleisch geworden. Aber in dieser Zeit
+hatten wir ja darin nichts verloren, sondern da arbeiteten wir vor den
+Backöfen. Und gerade dann immer, wenn es so schön kühl zu werden
+begann, daß man herrlich schlafen konnte, mußte man raus.
+</p>
+
+<p>
+Die Arbeit an sich war nicht schwer, das könnte ich nicht sagen. Aber
+fünfzehn bis achtzehn Stunden ununterbrochen auf den Beinen sein,
+unausgesetzt hin und her rennen, sich bücken und strecken, Dinge da
+hinstellen und dort forttragen, macht viel mehr müde, als wenn man acht
+Stunden sehr schwer arbeitet und an eine Stelle gebunden ist. Dann
+ging es immerwährend: „Flink, flink, das Rundgebäck aus dem Ofen.
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+Rasch, Teufel noch mal, die Bleche gefettet. Kreuzdonner, den Schläger
+in die Rührmaschine geschraubt, schnell, schnell, ich muß Schnee haben.
+Die Masse ist versalzen, fix, fix, weg damit, neue angesetzt. Ich brauche
+zwei Kilo Glasur, habe ich Ihnen doch vor einer Stunde schon gesagt.
+Ja, Himmelelement, haben Sie denn die Zuckerlöse nicht gestern eingekocht?
+Jetzt sind wir aufgeschmissen! Heiliger Nepomuk, nun rutscht
+auch noch der José mit der Eismasse aus, und die Suppe schwimmt auf
+dem Zement. Danke schön, José, das geht heute wieder bis sechs, wenn
+solche Schweinereien gemacht werden.“
+</p>
+
+<p>
+Das war ein immerwährendes Hetzen und Jagen und Kommandieren
+und Rennen. Ich bin sicher, daß ich täglich meine vierzig Kilometer da
+bin und her raste. Und dann der ewige Wechsel. Kaum war ein neuer
+angelernt, schon ging ein andrer wieder fort. Das Anlernen hielt am
+meisten auf. Senjor Doux sagte dann: „Nun habt ihr zwei neue Leute
+bekommen, die ich bezahlen muß, und ihr schafft doch nicht mehr.
+Was hat es da für Zweck, überhaupt neue einzustellen? Es kommt ja
+nichts heraus dabei.“
+</p>
+
+<p>
+Er hatte schon recht, aber es kam doch nie einer, der etwas vom Backen
+verstand. Man mußte ihnen jeden einzelnen Griff zeigen, sogar wie sie
+ein Blech oder den Mehllöffel anzufassen hatten. Und ehe man es ihnen
+zeigte, hatte man es zehnmal selbst gemacht. Manche begriffen es ja
+rasch. Manche aber standen ewig im Wege herum und hielten nur auf.
+Wir bekamen einen Konditor, der mit dem einfachsten Blätterteig
+nicht fertig wurde, und doch konnte er Zeugnisse vorzeigen, daß er in
+ersten Konditoreien gearbeitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Es waren nur die Fremden, die ausländischen Arbeiter, an denen
+Senjor Doux verdienen und die er ausbeuten konnte. Die mexikanischen
+Arbeiter ließen sich nicht so ausbeuten. Sie machten das zwei,
+drei, höchstens vier Wochen mit, dann sagten sie: „Das ist zu viel
+Arbeit“ und hörten auf. Dann hatten sie aber auch genügend Geld,
+daß sie einen kleinen Handel mit Zigaretten, Kaugummi, Ledergürteln,
+Revolvertaschen, Backwaren, Zuckerwaren, kandierten Früchten,
+frischem Obst oder ähnlichen Dingen anfangen konnten. Der Handel
+brachte ihnen vielleicht nur einen Peso durchschnittlich im Tag, aber
+sie richteten sich damit ein und waren freie Männer, die nicht andern
+Leuten ihre Knochen verkauften. Manche dieser kleinen Händler kamen
+immer höher rauf, bis sie sich in einer winkligen Nebengasse ein dunkles
+kleines Lokal mieten konnten, das sie zu einem Laden einrichteten.
+Wir dagegen blieben immer versklavt. Wir gaben uns mit dem Peso
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+Reingewinn, den wir als freie Männer hätten machen können, nicht zufrieden.
+Wir verdienten ja auch viel mehr. Einen Peso und fünfzig
+Centavos den Tag und Essen und Wohnung. Und wir stellten höhere
+Ansprüche an das Leben. Jene Leute, die nur gerade so lange arbeiteten,
+bis sie genügend verdient hatten, um sich selbständig zu machen, gaben
+sich mit einer Zwirnhose für drei Pesos fünfzig Centavos zufrieden.
+Eine solche Hose war uns natürlich nicht gut genug. Unsre mußte
+sieben oder acht Pesos kosten. In einer andern glaubten wir uns nicht
+sehen lassen zu können, ohne unsre Würde als Weißer zu verlieren.
+Jene freien Leute kauften rohe Stiefel für sieben oder acht Pesos. In
+solchen Stiefeln konnten wir nicht über die Straße gehen. Wie hätte
+denn das ausgesehen? Schon der Mädchen wegen konnten wir das nicht
+tun. Unsre Stiefel kosteten nie unter sechzehn oder achtzehn Pesos. Wir
+waren ja auch Weiße. Und um das bleiben zu können in den Augen
+der übrigen Weißen, der Amerikaner, der Engländer, der Spanier,
+mußten wir Sklaven bleiben. Adel verpflichtet. Nirgends mehr als in
+tropischen Ländern, die eine eingeborene Bevölkerung haben so groß,
+daß die Weißen nur einen kleinen Prozentsatz ausmachen.
+</p>
+
+<p>
+Freilich, wenngleich wir uns auch die größte Mühe gaben, Kaste zu
+behalten, wir lebten dennoch in einer merkwürdigen Schwebestellung.
+Die Amerikaner, Engländer und Spanier zählten uns nicht zu ihresgleichen.
+Für die waren wir doch nur das dreckige Proletariat, und das
+blieben wir auch. Zu den Mischblütigen gehörten wir auch nicht. Für
+die waren wir die fremden Bettler, der Schlamm, der den wohlhabenden
+Weißen in der ganzen Welt nachfolgt und ihnen an den Fersen
+haftet, wohin sie auch immer gehen. Diese Großen machen natürlich
+den Schlamm, aber wenn sie ihn wegräumen sollen, dann gehen sie
+heim.
+</p>
+
+<p>
+Zu den reinblütigen Eingeborenen gehörten wir auch nicht. Auch diese
+wollten nichts mit uns zu tun haben. Alle diese und sieben Achtel
+der Halbblütigen waren Proleten wie wir, aber es trennte uns doch eine
+Welt voneinander, die nicht überbrückt werden konnte. Sprache, Volksvergangenheit,
+Sitten, Gebräuche, Anschauungen, Ideen waren so trennend,
+daß sich kein gemeinsames Band zeigen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Laßt es gehen, wie es will. Laßt uns leben. Und das wollen wir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-9">
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+9
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> hatten wieder mal Lohn ausbezahlt bekommen.
+Osuna und ich gingen einkaufen. Er kaufte einen
+neuen Hut, Hemd und neue Stiefel; ich legte mir
+eine neue Hose und ein Paar schöne braune Schuhe
+zu. Wir gingen gleich nach Hause und zogen das an.
+Dann sagte Osuna: „Was tun wir denn mit dem
+Geld, das wir jetzt noch übrig haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Das möchte ich wissen“, sagte ich. „Ich habe mir
+auch schon Gedanken darüber gemacht. Überflüssige Sachen zulegen,
+hat gar keinen Zweck.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das hat gar keinen Zweck“, bestätigte Osuna.
+</p>
+
+<p>
+„Das Geld hier in der Tasche behalten, wäre eine Dummheit“, fuhr ich
+fort.
+</p>
+
+<p>
+„Das wäre gewiß eine sehr große Dummheit“, gab Osuna zu. „Es wird
+einem ja doch gleich gestohlen.“
+</p>
+
+<p>
+„Es auf die Bank zu tragen, halte ich auch nicht für gut“, erklärte ich.
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wir würden uns damit nur lächerlich machen, wenn wir mit unsern
+paar Pesos da angerückt kommen und sagen, daß man uns damit ein
+Konto eröffnen soll“, sagte Osuna, und er hatte recht.
+</p>
+
+<p>
+„Zweifellos würden wir uns damit unsterblich blamieren“, unterstrich
+ich die kluge Bemerkung Osunas. „Außerdem ist die Bank jetzt schon
+geschlossen. Während der Geschäftsstunden haben wir auch gar keine
+Zeit hinzugehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was sollen wir nur tun mit dem Geld? Auf Tequila habe ich gar
+keinen Appetit.“ Das sagte Osuna.
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann ihn nicht riechen.“ Das sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, was wir tun könnten?“ fragte Osuna.
+</p>
+
+<p>
+„Ja?“
+</p>
+
+<p>
+„Wir könnten runtergehen zu den Senjoritas.“
+</p>
+
+<p>
+„Das Beste, was wir tun können“, antwortete ich. „Dann wissen wir
+wenigstens, wo unser Geld geblieben ist, und wir können es auch gar
+nicht besser anlegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig“, sagte Osuna. „Da sprechen Sie die Wahrheit. Wir sehen ja
+jetzt ganz anständig aus und können uns da sehen lassen. Immer die
+Backstube vor Augen oder die Kammer, da wird man noch ganz
+verrückt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte ich, „und die Photographien tun es auch nicht für immer.
+Ich glaube überhaupt, wir müssen uns mal nach einigen neuen Photographien
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+umsehen. Ich kann diese Frauenzimmer nun bald nicht mehr
+angucken.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich auch nicht“, gab Osuna zu. „Es ist beinahe so, als ob man mit ihnen
+verheiratet wäre. Sie mischen sich bereits in alles rein, und sie scheinen
+sich in der Tat um alles zu bekümmern, was wir tun. Ich bin es nun
+leid. Man kennt sie schon zu gut, und ich will mal andre Gesichter
+sehen.“
+</p>
+
+<p>
+Osuna stand auf von dem Rand des Bettgestells, ging zur Wand und
+riß die ganzen schönen nackten Frauen herunter. Dann legten wir
+jeder einen Peso beiseite, versteckten die beiden Pesos in einem alten
+Schuh und machten aus, daß wir morgen nachmittag neue Frauen und
+neue „Vorgänge“ kaufen würden, um unsre einsamen Kammerwände
+damit zu zieren und unsre Phantasie nicht verhungern zu lassen. Um
+auch die richtige Auswahl treffen zu können und zu wissen, was am
+eindrucksvollsten auf unsre Phantasie wirken könne, machten wir uns
+jetzt elegant und suchten nach den Wirklichkeiten des Lebens, wo es
+nicht nüchtern, sondern schön ist, ohne der Betäubung durch den
+Tequila zu bedürfen.
+</p>
+
+<p>
+Es war bereits Abend geworden. Wir hatten ziemlich weit zu gehen,
+denn die Senjoritas wohnten am Rande der Stadt. Sie bewohnten ein
+ganzes Viertel für sich allein. Das war ihnen ebenso lieb wie den
+Männern, die nach der Schönheit des Lebens suchten, ohne Verpflichtungen
+dafür übernehmen zu müssen, wenn sie die Schönheiten genießen
+dürfen.
+</p>
+
+<p>
+Es tönte uns gleich Musik entgegen und frohes Lachen. Mit jedem
+Schritt, den wir näher kamen, vergaßen wir mehr und mehr die
+Trockenheit und die Stumpfheit des Lebens. Die entsetzliche Nüchternheit
+des Lebens kann man auch im Tequila vergessen, aber doch nicht
+so. Es bleibt immer ein wüster Strudel im Kopf zurück und ein dickes
+dreckiges Gefühl im Munde. Nein, Schönheit ist, wo Musik ist und rotbemalte
+Mädchenlippen lachen.
+</p>
+
+<p>
+An den Häusern entlang waren zementierte Fußwege, kaum zwei
+Schritte breit. Die Straße lag einen Meter oder zuweilen noch viel mehr
+tiefer als die Fußsteige. Es führten keine Stufen hinunter, sondern
+wenn man auf die Straße wollte, mußte man einen gewagten Sprung
+machen. Diese Straßen waren lehmige Moraste, Schlamm und große
+Wasserlachen füllten das Straßenbett. Und dieser Morast und die
+Wasserlachen waren dick und stinkig. Große Steine und irgendwo
+abgebrochene Zementbrocken lagen wahllos umher. Tiefe Löcher
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+machten die Straßen so gut wie unpassierbar. Trotzdem arbeiteten
+sich Autos und Droschken durch diese Straßen, um Gäste zu bringen,
+zu erwarten oder abzuholen. Zuweilen blieben die Autos in den
+morastigen Löchern stecken. Und mit furchtbarem Geknatter, Heulen,
+Schießen, Knallen, Keuchen und Stampfen arbeiteten sie sich wieder
+heraus und weiter. Aber die Autoführer und die Droschkenkutscher
+schimpften nicht. Sie lachten nur und nahmen das alles als einen
+Spaß, der mit dazu gehöre, und ohne den das Viertel hier nicht das
+sein könnte, was es wirklich ist.
+</p>
+
+<p>
+An Straßenecken standen kleine Musikkapellen, die sehr gut spielten,
+viel besser spielten als die Straßenkapellen in der Stadt, wo sie so dick
+herumwimmelten, daß sie sich die Füße gegenseitig abtraten. Jede
+dieser Kapellen hatte eine Geige, eine Baßgeige, eine Klarinette und
+eine Flöte. Manche hatten keine Flöte, sondern dafür eine Trompete.
+Andre wieder hatten nur Geige, Baßgeige und Gitarre. Die waren beinahe
+immer die besten. Wenn sie gespielt hatten, gingen sie einsammeln.
+Es gab selten jemand etwas. Meist gaben eigentlich nur die
+Senjoritas den Musikern etwas Geld.
+</p>
+
+<p>
+Aber dann gingen die Kapellen auch wieder in die Restaurants und
+spielten dort. Dort bekamen sie schon eher etwas, häufig aber auch
+nichts. Das Dasein der Künstler. Dem die Musik am besten gefiel, dem
+sie am meisten sagte und am meisten gab, hatte kein Geld, um sie zu
+bezahlen. Und die andern, die zahlen konnten und es auch manchmal
+taten, sagten, es seien Bettelmusikanten, und sie sollten doch lieber
+„It ain’t goin’ rain’ no’ mo’ –“ spielen, statt diese blöden Opern. Es
+waren aber keine Opern, sondern es waren altmexikanische Lieder
+und Gesänge, die so süß klangen und doch so voller Kraft waren.
+</p>
+
+<p>
+Eigentlich war die Musik ja überflüssig. Aber hier konnte nicht genug
+Musik sein. Schönheit und Liebe war doch überall herum. In jedem
+Lokal wurde getanzt. Jedes Lokal hatte seine Senjoritas, die mit den
+Herren lächeln und tanzen und trinken mußten, und deren Aufgabe
+es war, den Herrn zu veranlassen, daß er Geld ausgebe. Dafür bekamen
+die Senjoritas auch je einen Raum im Hinterhause des
+Restaurants, wo sie sich mit ihrem Herrn ungestört vergnügen konnten,
+und sie brauchten für den Raum keine Miete zu bezahlen, und die
+Wäsche wurde ihnen auch noch gestellt. Denn Wäsche wird viel
+gebraucht.
+</p>
+
+<p>
+Und überall wurde getanzt. Jeder durfte tanzen, wie er wollte. Und
+jedes Paar durfte tanzen, wie es wollte. Es war kein Tanzordner da,
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+und die Leutchen durften sich im Tanz alles sagen, was sie auf dem
+Herzen hatten, ohne sich der Sprache zu bedienen. Niemand hinderte
+sie daran, so zu tanzen, daß eigentlich, wenn es gerecht zuginge, jeder
+von ihnen zwanzig Jahre Zuchthaus bekommen müßte. Aber es ging
+ja eben nicht gerecht zu, und darum tanzten alle so, daß ihnen die
+Engel im Himmel hätten zuschauen dürfen, ohne zu erröten.
+</p>
+
+<p>
+Zuweilen tanzte aber doch ein Paar in der Weise, daß des Satans Großmutter
+ihr Gesicht in der Schürze verbergen mußte, wenn sie es sah.
+Aber sie sah es ja nicht, und andre Leute kümmerten sich nicht darum,
+und die vorbeipatrouillierenden Polizisten steckten sich eine Zigarette
+an und sahen lächelnd zu oder gingen weiter, weil es sie langweilte.
+Das Paar langweilte es nach einer Runde selbst, und es tanzte wieder
+den Engeln zur Freude, weil es schöner war und das andre niemandem
+zum Ärgernis wurde.
+</p>
+
+<p>
+Eine Negerin aus Virginia trat auf in der Casa Roja, wo wir gerade
+vorbeikamen. Sie tanzte mitten im Lokal. Bauchtanz. Aber der wahre
+Bauchtanz, der echte und unverfälschte. Der Bauchtanz war es, den
+Eva erfand, als sie das Paradies los war und sich frei bewegen konnte.
+Nicht nur alle Herren, sondern auch alle Senjoritas, die im Lokal waren,
+standen auf, um dieses Kunstwerk zu sehen und Gesten zu lernen, die
+ihnen von Nutzen sein konnten, wenn sie nicht allein schliefen. Und
+in alle Türen drängten die Herren und die Senjoritas, die auf der
+Straße waren; denn die Türen waren offen. Kunst ist das, was unsre
+Seele jubeln macht. Und der Bauchtanz der Negerin aus Virginia war
+reife und vollendete Kunst. Auch sie war eine Senjorita und hatte ihr
+Haus hier, um darin mit Herren zu plaudern. Aber keiner der Herren,
+der sie eben tanzen gesehen hatte, wagte sie anzusprechen. Sie war
+himmelhoch über alle die Senjoritas hier emporgeflogen. Sie war gottbegnadete
+Künstlerin, und keiner der Herren glaubte so viele Pesos
+in seiner Tasche zu haben, daß er es wagen dürfe, mit ihr zu gehen.
+Ein tosender Beifall brach aus, als sie geendet hatte und niedergesunken
+war auf den Fußboden. Dort kniete sie, die Arme zurückgeworfen,
+den Leib mit den quellenden Brüsten drehend und schiebend
+wie in einem letzten aushauchenden Seufzer, der dem letzten müden
+Tropfen einer sterbenden Bergquelle folgt. Dann mit einem kurzen,
+schmerzhaften Ruck zog sie den Unterleib zurück und ließ den Kopf
+matt und müde sinken, bis die Stirn den Boden berührte. Nun sprang
+sie auf mit einem jubelnden Schrei gesunder und vollbefriedigter
+Freude, stand schlank und gerade im Saal, die linke Hand in die Hüfte
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+gepreßt, den rechten Arm in runder weicher Geste hochgeworfen.
+Ihre Augen blitzten, und ihre weißen Zähne leuchteten zwischen den
+vollen Lippen hervor. Und sie lachte ein sieghaftes Lachen, streckte
+ihren Leib hervor mit einer Geste, als ob sie einen Kontinent einladen
+wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <a id="corr-19"></a>alegria,
+senjores mios!“
+</p>
+
+<p>
+Es folgte ein kurzes Schweigen, dann donnerte der Beifall aufs neue
+los, und die Musik setzte mit einem Schmettern ein, das einige Takte
+dauerte, während die Negerin, ihr dünnes Kleid zupfend und sich das
+Haar zurückstreichend, zu ihrem Platze ging, wo sie eine Flasche Bier
+und ein Glas stehen hatte. Alle Herren betrachteten sie mit einer
+scheuen Bewunderung, ohne sich ihr zu nähern und sie zu dem einsetzenden
+Foxtrott aufzufordern. Sie gingen zu den andern Senjoritas,
+die sich bescheidener benahmen und nicht Orkane erwarten ließen,
+die den gewandtesten Mann mit einer Fingerbewegung aus dem Sattel
+zu heben drohten. Die Senjoritas betrachteten die Negerin nicht als
+eine Nebenbuhlerin, die sich eines unlauteren Wettbewerbes bediente.
+Durchaus nicht. Sie gab dem Geschäft einen ganz ungeheuerlichen
+Schwung, der zehn Minuten vorher nicht zu spüren war. Die Herren
+hatten Feuer in den Augen, während sie bisher ziemlich gleichgültig
+und interesselos dreingeschaut hatten. Und die Senjoritas versuchten
+jetzt beim Tanzen einige der Bewegungen, die sie soeben gesehen
+hatten, nachzuahmen. Aber es sah häßlich aus und widerlich. Sie
+preßten sich hart an die Männer und spielten mit ihren hinteren Partien.
+Aber die Herren reagierten nur sehr schwach darauf und hielten sich
+auffallend steif zurück, bis die Senjoritas anfingen, die Gesten, die bei
+ihnen so aussahen, als ob ein kleiner Gemüsekrämer plötzlich die
+Reklame eines großen Warenhauses nachmachen möchte, aufzugeben
+und immer mehr zu lassen und in normaler Weise zu tanzen. Ja, nun
+benahmen sie sich wie die sogenannten anständigen Damen. Das gefiel
+den Herren viel besser und erinnerte sie sicher an ihre Bräute oder
+Frauen oder an begehrte Mädchen und brachte sie in die Stimmung,
+die allein für das Geschäft nutzbringend war.
+</p>
+
+<p>
+Sie luden ihre Tänzerinnen ein, sich mit ihnen zu einer Flasche Bier
+oder einem Whisky an einen Tisch zu setzen. Sekt trinkt man nur, wo
+den Kleinen alles verboten und den Großen mehr erlaubt ist, als sie in
+normaler Weise leisten und genießen können. Wo Sekt getrunken
+werden muß, um lachen zu dürfen und sich der Schönheiten des
+Lebens zu erfreuen, artet die Unterhaltung häufig zur Schweinerei aus.
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+Und an diesen Ausartungen mißt der Zensor seine Normalmeterstäbe
+ab, mit denen er den Kleinen die Länge des Vergnügens zumißt, die er
+ihnen zubilligt. Immer nur da, wo die Röcke nicht hochgehoben werden
+dürfen, begeht man Verbrechen und tut den törichten Unsinn, nachzusehen,
+was unter den Röcken ist.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-10">
+10
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">ie</span> Straßen waren voll von Händlern. Da waren
+Tische, wo es heiße Enchiladas gab. An andern
+gab es Kaffee. Wieder an andern kaltes Huhn
+oder gebratenen Fisch oder Roastbeef mit Brötchen
+oder mit Tortillas. Man konnte Salat
+kaufen, oder Bananen, Papayas, Äpfel, Weintrauben,
+Apfelsinen. Kleine Buden verkauften
+Zigaretten, Zigarren und Tabak. Andre Zeitungen
+und Zeitschriften. An vielen Tischen gab es Eiswasser in fünf
+oder sechs verschiedenen Sorten, Lemones, Hochata, Jamaica, Tamarindo,
+Pinja, Naranja, Papaya und was nicht noch. Dazwischen liefen
+Jungen und Frauen herum mit Körben oder Zigarrenkistchen. Sie verkauften
+Kaugummi, Süßigkeiten, getrocknete Kalavasaskerne, Peanuts,
+Obst und Blumen. Andre liefen herum mit Eimern mit Eiswasser, das
+sie glasweise abgaben. Hundert Menschen, wenn nicht mehr, fanden
+hier ihren Lebensunterhalt. Frauen trugen ihre Säuglinge auf den
+Armen oder führten kleine Kinder an der Hand, während sie ihrem
+Handel nachgingen. Weder die Sittlichkeit der halbwüchsigen Jungen,
+die ihre Zeitungen oder Zigaretten ausriefen, noch die der ehrbaren
+Handelsfrauen oder deren Kinder wurde vernichtet in dieser Umgebung.
+Wer Sittlichkeit hat, der verliert sie nicht, wenn er etwas
+sieht, das als Unsittlichkeit anzusehen ihn niemand gelehrt hat.
+</p>
+
+<p>
+Hunderte von ehrbaren Frauen und Mädchen und Kindern und ganzen
+Familien hatten den ganzen Tag hindurch das Quartier der Senjoritas
+zu passieren, um zu ihren Wohnungen zu gelangen. Sie fühlten sich
+nicht gefährdet. Sie konnten einen andern Weg wählen, wenn sie
+wollten; aber der Weg durch das Quartier war kürzer. Und wenn man
+mit einer Frau, die etwas vom Leben verstand, darüber sprach, so sagte
+sie: „Einen Mann zu gewinnen und zu behalten, ist nicht so schwer;
+aber jeden Tag ein halbes Dutzend Männer zu gewinnen, ist eine
+Kunst. Warum soll ich mit Entrüstung auf die Senjoritas sehen? Ich
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+glaube, die Entrüstung und das Ärgernis bei vielen ehrbaren Frauen
+kommt nur daher, weil es ihnen nicht gelänge, sich auf diese Art ihren
+Lebensunterhalt zu verdienen. Die Herren wollen für ihr Geld etwas
+haben, und die Mehrzahl der ehrbaren Frauen ist zu langweilig, zu
+dumm, zu häßlich, um den Herren das geben zu können, wofür die
+Herren zahlen. Um ihre Nachteile zu verschleiern, nennen sie sich anständig,
+und sie haben große Mühe, ihrem eignen Manne zu gefallen.“
+Und die Dame, die das sagte, war die ehrbar angetraute Frau eines
+wohlsituierten Kaufmannes in der Stadt, der einem vornehmen Klub
+als Mitglied angehörte. Und sie war eine schöne Frau, die sich gut
+und geschmackvoll zu kleiden verstand und sicher nie einem andern
+Manne als dem ihrigen auch nur die kleinste Gunstbezeigung erwiesen
+hatte. Aber sie war ja auch keine Puritanerin, sondern eine Tochter
+aus alter spanisch-mexikanischer Familie. In puritanischer Umgebung
+können solche Anschauungen nicht wachsen, und wenn sie auftauchen,
+sind sie widerwärtig.
+</p>
+
+<p>
+Es kam ein junger Amerikaner eines Tages hierher. Er hatte eine sehr
+hübsche junge Frau und drei niedliche Kinderchen. Ich wurde bei
+ihm zum Dinner eingeladen. Vor Tisch und nach Tisch betete er, und
+Sonntags vergaß er nicht, mit seiner Frau die amerikanische Kirche zu
+besuchen. Als er mich bat, ihm die Stadt zu zeigen, sagte er: „Ich habe
+gehört, hier in diesen Ländern gibt es das und das. Wo ist denn das?“
+Ich zeigte es ihm, und er besuchte mehr als eine der Senjoritas. Als er
+dann wieder zurückreiste, sagte er mir: „Das ist doch ein schrecklich
+unsittliches Land. Dem Himmel sei Dank, daß so etwas bei uns nicht
+gestattet ist.“
+</p>
+
+<p>
+Da log er zum zweitenmal. Es war gestattet. Wie alles gestattet ist,
+was gegen die natürlichen Triebe des Menschen gerichtet ist. Es wurde
+gestattet durch Vergewaltigung von Frauen und Kindern, durch Verheiratung
+elfjähriger Mädchen an fünfzigjährige reiche Männer, die
+sich nach acht Wochen wieder scheiden ließen. Es wurde gestattet durch
+das Herumschleichen von Frauen und Mädchen in den Seitengassen zur
+Abend- und Nachtzeit. Es wurde gestattet dadurch, daß von hundert
+Männern wenigstens fünfzehn und von hundert Frauen und Mädchen
+achtzehn an üblen Krankheiten litten, die in den dunklen Seitengassen
+wucherten und wuchsen. Dann werden Millionen und aber Millionen
+von Dollar ausgegeben, um diesen Krankheiten, von denen zu sprechen
+schamlos ist, Einhalt zu gebieten, während hunderttausend Dollar
+genügten, sie auf das kleinste Maß zu beschränken, dadurch, daß man
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+den Leutchen Gelegenheit gibt, sich innerhalb beleuchteter vier Wände
+guten Abend zu sagen, Wasser und Seife zur Hand zu haben und die
+ganze Sache ebenso als Geschäft zu betrachten wie die bezahlte
+Krankenpflege, das Dampfbad oder das Massieren. Aber wenn das
+von diesem natürlichen und gesunden Standpunkt aus betrachtet
+würde, hätten ja die alten Betschwestern, die kastrierten Traktätchenschreiber
+und die sabbernden Verkünder Goldner Regeln nichts mehr
+zu tun. Wohin mit ihnen so schnell? Man kann sie doch nicht eingraben.
+Sie würden ja nicht einmal Dung machen, weil sie zu trocken,
+zu ledern und zu saftlos sind.
+</p>
+
+<p>
+Die Senjoritas sprachen alle mehrere Sprachen. Die nur Spanisch
+sprechen konnten, hatten wenig Erfolg. Sie mußten sich mit den Peons
+begnügen, und diese armen Teufel konnten nur gerade den denkbar
+kleinsten Betrag in diesen Spekulationen anlegen. Diese ungebildeten
+Senjoritas wohnten in den abgelegensten Teilen des Quartiers, wo die
+Zimmer am billigsten waren, am einfachsten möbliert, und wo die
+Musikkapellen nur so gelegentlich hinkamen, wenn in den andern
+Sektionen die Konkurrenz zu groß war. Hier in dieser Sektion trugen
+die Senjoritas Kleider so einfach, daß sie mit ihnen sofort zur Stadt
+hätten gehen können, ohne aufzufallen. Die Einnahmen reichten kaum
+zur Schminke und zum Puder; aber Wasser, Seife, antiseptische
+Lösung, für jeden Besucher reine Tücher mußten sie haben. Denn der
+Gast, der da vorbeikam, konnte ganz gut der Inspektor der Gesundheitskommission
+sein, der plötzlich das Zimmer betrat, nach dem Gesundheitspaß
+fragte und sich die Materialien für die Sauberkeit
+ansehen wollte, Puder, Schminke und Parfüm brauchten nicht in
+Ordnung sein, aber die andern Materialien mußten in vorschriftsmäßiger
+Verfassung sein, sonst gab es Quarantäne, und die war kostspielig
+und war mehr gefürchtet als Geldstrafe oder Gefängnis.
+</p>
+
+<p>
+Es gab keine Sklaverei. Jede Senjorita war frei. Sie durfte morgen
+oder sofort das Haus verlassen. Keine alte Hökerin, kein Faulenzer
+hielt sie unter irgendeiner Form von Pfand für Mietschulden, Kostgeld
+oder Wäscherechnungen. Die Miete mußte eine Woche im voraus
+bezahlt werden. Wer nicht bezahlen konnte, mußte das Quartier verlassen.
+Wer auf der Straße zu Geschäftszwecken angetroffen wurde,
+kam in Quarantäne. Für Privatzwecke durfte sie aber auf den öffentlichen
+Straßen spazierengehen, soviel sie wollte, und wann sie wollte.
+In der Goldnen Sektion, die am Eingang des Quartiers war, wo alles
+im strahlenden Lichte der Tanzsalons lag, wohnten die Französinnen.
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+Sie sprachen ein rasend schnelles Französisch, und sie alle schworen,
+daß sie aus Paris seien. Aber mehr als die Hälfte hatten Paris nie
+gesehen, sondern kamen aus London, aus Berlin, aus Warschau, aus
+Budapest, aus Petersburg oder aus Städten noch viel ferner von Paris.
+Keine von ihnen konnte die Erlaubnis erhalten, hier in dieses Land
+zu kommen, weil Damen, die sich diesem ehrenwerten Geschäft widmen
+oder widmen wollen, die Einreise nicht erlaubt ist. Aber sie waren alle
+hier und waren alle eingereist. Jede mit Hilfe eines andern Tricks.
+</p>
+
+<p>
+Die Pariserinnen waren die Elegantesten; das mußten sie schon sein,
+um in dieser Sektion bestehen zu können. Sobald die Einnahmen für
+die notwendige Aufmachung nicht mehr ausreichten, was sehr rasch
+geschehen konnte und sehr häufig vorkam, mußte die Senjorita der
+drückenden Konkurrenz wegen in die nächst billigere Sektion verziehen.
+Und so kam es vor, daß manch eine, die das Geschäft nicht verstand
+und die Kunst nicht lernte, um es mit den Meisterinnen aufzunehmen,
+immer weiter von der Goldnen Sektion abrücken mußte,
+bis sie in dem dunkelsten Teil endlich landete, wo nur die Peons hingingen,
+die um fünfzig Centavos handelten.
+</p>
+
+<p>
+Hier aber in der Goldnen Sektion erschienen die, die das Geld nicht
+ansehen, wenn sie herkommen. Die Ölleute, die sechs oder acht Monate
+im Busch oder im Dschungel gelebt hatten, wo sie nichts ausgeben
+konnten, und jetzt zweitausend Dollar in der Tasche hatten, von denen
+sie nur zwanzig auszugeben gedachten, von denen sie aber am Ende
+der Nacht nur noch so wenig hatten, daß sie sich einen Peso von einem
+Landsmann betteln mußten, um das Auto zu bezahlen, mit dem sie
+zum Hotel fahren wollten. Da kamen die Schiffskapitäne, die ein
+gutes Nebengeschäft am Tage gemacht hatten; die Spekulanten, die
+einigen Grünlingen Aktien für Ölfelder verkauft hatten, in denen
+man nur Öl sah, wenn man eine Kanne voll hinbrachte. Da waren die
+Riggers, die ihren Kontrakt gestern fertiggebracht und heute das Geld
+kassiert hatten. Diese Geldstrotzenden gingen von Haus zu Haus, von
+Senjorita zu Senjorita, augenscheinlich ausgestattet mit unverwüstlicher
+und unerschöpflicher Lebenskraft. Aber sie gingen ja zu Meisterinnen
+ihrer Kunst, die es wohl verstehen, aus dem trockensten Baumstamm
+eine muntere Quelle rieseln zu lassen, sicherer noch als der heiligste
+indische Fakir.
+</p>
+
+<p>
+Die Häuser waren meist aus Holz gebaut. Jedes Haus hatte nur einen
+Raum. Ein Haus sah genau so aus wie das andre, und jedes Haus war
+dicht an das Nachbarhaus geklebt. Der Raum hatte nur eine Tür, die
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+unmittelbar von der Straße in das Zimmer führte. Und jeder Raum
+hatte nur ein Fenster, das keine Glasscheiben hatte, manchmal jedoch
+statt der Scheiben Moskitodrahtgaze.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Fahrstraße konnte man nicht gehen, man mußte auf dem
+schmalen zementierten Wege gehen, der an der Häuserreihe entlang
+führte. Die Senjoritas saßen alle vor der offenen Tür auf einem Stuhl,
+oder sie standen herum, allein oder in kleinen Gruppen, schwatzend
+und lachend. An keiner Tür konnte man vorbeigehen, ohne daß man
+von der Senjorita, der diese Tür gehörte, festgehalten und mit den
+süßesten Worten eingeladen worden wäre, hineinzukommen und sich
+mit ihr zu unterhalten. Dabei machten sie so gewagte Versprechungen,
+daß die Versprechungen allein genügten, die eisernste Widerstandskraft
+und die teuersten Gelübde spielend über den Haufen zu werfen.
+Erreichte man das nächste Haus, ließ einen die Senjorita sofort los,
+denn das nächste Haus war das Bereich der Nachbarin, wo nur die das
+Recht besaß, Versprechungen zu machen, die noch um einige Grade
+weitergingen als die der eben verlassenen Dame.
+</p>
+
+<p>
+Man konnte sich nur durch eine einzige Ausrede vor diesen fortgesetzten
+Angriffen retten: „Ich habe kein Geld.“ Dann war man sofort frei, vorausgesetzt,
+daß die Senjorita es glaubte. Meist glaubte sie es nicht und
+fühlte einem dann die Taschen ab. Aber keine hätte den Versuch
+gemacht, einem auch nur fünfzig Centavos wegzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Ihre Menschenkenntnis bewiesen sie dadurch, daß sie ehrbare Bürger,
+die das Quartier zu passieren hatten, um zu ihren eignen Wohnungen
+zu gelangen, nie belästigten oder nur in ganz bescheidener, unaufdringlicher
+Weise. Viele suchten sich ihre Gesellschaft recht sorgfältig aus
+und berührten keineswegs jeden, der vorbeikam. Andre weigerten sich
+entschieden und liefen sich selbst durch überbotene Beträge nicht gewinnen,
+wenn ihnen der Herr aus irgendeinem Grunde nicht gefiel.
+Manche sahen keinen Chinesen an, andre keinen Neger, viele keinen
+Indianer. Und doch, wenn schlechte Geschäftstage kamen, wenn es zum
+Ende des Monats ging, zwang sich manche, jemand zuzulächeln, den sie
+zu Anfang des Monats oder noch drei Tage vorher entrüstet angesehen
+hätte, wenn er sie nur angetippt haben würde.
+</p>
+
+<p>
+Die Großen des Reiches sprachen nicht nur fließend Französisch, sondern
+auch sehr geläufig Englisch, Spanisch, Deutsch. Manche Unterhaltungen
+bereiten nur dann Vergnügen, wenn die Begleitmusik die
+Muttersprache ist. Und gewisse Empfindungen kommen nur dann voll
+zur Entfaltung, wenn sie mit Worten erweckt werden, die bestimmte
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+Gefühlsnerven treffen, die eine angelernte Sprache niemals treffen
+kann. Denn solche Worte bringen die Erinnerung an das erste Schamgefühl,
+die Erinnerung an das erste Mädchen, das man begehrte, die
+Erinnerung an die mysteriösen Stunden des ersten Reifegefühls zurück.
+Die Meisterinnen der Kunst wissen das recht wohl. Darum kommen die
+Stümperinnen, die nur eine Sprache kennen, nicht voran; sie bleiben
+immer die Centavoskrämer in den dunklen Sektionen.
+</p>
+
+<p>
+Aber die Bajadere Goethes sucht man vergebens. Zeit ist Geld. Und zum
+süßen Tändeln, zum zarten Spielen, zum stundenlangen Heransehnen
+an die Erfüllung fehlt diesen Meisterinnen das, was man die Liebe einer
+angebeteten Frau nennt. Hier ist hohe und höchste Kunst, nichts mehr.
+Aber die bekommt man voll, und man wird für sein Geld nicht betrogen.
+Der Rest ist: Die süße heilige Sehnsucht nach der Geliebten.
+Hier wird der unbezahlbare Wert der geliebten Frau bestätigt. Das
+wissen die Künstlerinnen auch, und sie machen kein Hehl daraus. Darum
+verkaufen sie eben nur das, was die Herren wünschen. Mehr wird nicht
+verlangt für das Geld. Diese Künstlerinnen sind gute Kaufleute, die
+es verstehen, Kundschaft heranzuziehen und zu halten.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-11">
+11
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">enn</span> Sie es gern hören, kann ich auch Deutsch
+sprechen“, sagte Jeannette. „Ich bin ja aus Charlottenburg.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe geglaubt, aus Paris.“
+</p>
+
+<p>
+Darüber fühlte sie sich sehr geschmeichelt; denn die
+echten Französinnen riefen ihr „Boche“ entgegen,
+wenn sie sich zankten. Und die Senjoritas zankten
+sich gern und häufig. Wenn der Zank vorüber war –
+er war nicht immer wegen der Kundschaft, sondern häufiger wegen
+Preisdrückerei –, dann war Jeannette wieder „Meine Teure aus Straßburg“,
+für die sie ein Mitleid empfanden, das auf patriotischer Grundlage
+ruhte, ein Mitleid, das daheim in Frankreich bereits anfängt,
+andern Gefühlen Platz zu machen. Aber davon wußte man hier nichts;
+denn die Französinnen hatten Frankreich schon eine Reihe von Jahren
+nicht mehr gesehen.
+</p>
+
+<p>
+Jeannette, die in Charlottenburg vielleicht Olga hieß, in ihrem Gesundheitspaß
+aber Jeannette genannt wurde – und dieser Name war durch
+Photographie beglaubigt –, hatte sich während des Krieges in Buenos
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+Aires aufgehalten. Auch dort war sie sehr tätig in ihrem Beruf gewesen
+und war zu einem Vermögen gekommen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bekam plötzlich Lust, einmal nach Hause zu fahren und zu sehen,
+wie es dort aussieht“, sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+Sie fand Vater und Mutter in den elendesten Verhältnissen. Der Vater
+war in Friedenszeiten ein geachteter Bürger gewesen, Fabrikportier
+bei einer großen Berliner Firma. Nach dem Kriege war er entlassen
+worden, weil ein Kriegsinvalide, den das Vaterland nicht unterhalten
+wollte, untergebracht werden mußte.
+</p>
+
+<p>
+Die Leute hatten ihr ganzes Leben lang sich nichts gegönnt, immer nur
+gespart und gespart, um auf ihre alten Tage etwas zu haben. Sie hatten
+ihr Geld auf einer mündelsicheren Sparkasse. Als aber dann der Staat
+durch die Entwertung des Geldes die Mündel, die Dienstmädchen und
+die alten ehrbaren Leutchen um ihre kleinen Spargüter so gewissenlos
+betrog, wie es kein Privatmensch je hätte wagen dürfen, ohne daß die
+Menschen ihn in Stücke gerissen hätten, verwandelte sich das Goldgeld
+der Familie Bartels – Jeannette sagte mir, das sei ihr deutscher
+Name, aber ich glaube es nicht – in Papierschnitzel, die so wertlos
+waren, daß man sie nicht einmal auf verschwiegenem Ort mit Erfolg
+verwenden konnte.
+</p>
+
+<p>
+Die Bartels beschlossen, sich mit Gas zu vergiften; aber von irgendeiner
+Wohltätigkeits-Vereinigung bekamen sie für zwei Wochen Graupen,
+Reis, Trockengemüse und eine Büchse Corned Beef. Damit hielten
+sie sich vier weitere Wochen am Leben, und da fuhr eines schönen Nachmittags
+Jeannette vor, die soeben von Hamburg und von Buenos Aires
+gekommen war, ohne sich vorher anzukündigen. Sie brachte so viel Geld
+mit, daß sie eine ganze Straße in Charlottenburg hätte kaufen können;
+denn sie hatte Dollars.
+</p>
+
+<p>
+„Mädel, Mädel, wie kommst du nur zu so viel Geld?“ hatte die Mutter
+nur immer wieder gefragt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe einen Viehherdenbesitzer in Argentinien geheiratet, der zwei
+Millionen Stück Rindvieh hatte. Der ist nun gestorben und hat mir sein
+ganzes Vermögen hinterlassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer hätte das gedacht, Mädel, daß du einmal solches Glück im Leben
+haben würdest!“ sagte die Mutter, und Jeannette wurde in der Straße
+bald bekannt als die „Argentinische Millionenwitwe“. Das klang besser
+als zu sagen, die Olga Bartels, die in Argentinien einen Millionär geheiratet
+hat. Mit „Argentinischer Millionenwitwe“ konnte die Verwandtschaft,
+die Bekanntschaft und die Nachbarschaft besser prunken
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+und mehr Geschwätz machen als mit Olga Bartels. Eine Olga Bartels
+in der Familie oder in der Nachbarschaft zu haben, das konnte jeder,
+eine argentinische Millionenwitwe zu kennen, das umgab einen mit
+einem Glorienschein.
+</p>
+
+<p>
+Mit einer Handvoll Dollar kaufte Jeannette ihren Eltern ein Etagenhaus,
+das im Frieden wenigstens dreihunderttausend Mark wert gewesen
+war. Sie ließ es auf ihren Namen schreiben – so geschäftstüchtig
+war sie, das lernt man draußen –, aber alle Einkünfte aus dem Hause
+ließ sie den Eltern. Dann kaufte sie ihnen noch eine gute Anzahl solider
+Aktien, die den Kurs immer mitmachen mußten, und hinterlegte sie bei
+einer guten Bank mit der Anordnung, daß die Dividenden gleichfalls
+ihren Eltern an den Fälligkeitstagen ausgezahlt werden sollten.
+</p>
+
+<p>
+Und dann machte sich Jeannette einige gute Wochen. Die hatte sie auch
+nach den anstrengenden Jahren ehrlich verdient.
+</p>
+
+<p>
+Zum richtigen Genuß dieser guten Wochen gehörte natürlich auch die
+Mitwirkung des andern Geschlechts. Das gehört immer dazu, sonst kann
+man schwerlich von einem guten Leben oder von Vergnügen sprechen.
+Aber Jeannette machte kein Geschäft daraus, und sie suchte sich die
+Herren aus, mit denen sie sich erfreuen wollte.
+</p>
+
+<p>
+Die Familie war in das große Haus gezogen und hatte, mit hoher obrigkeitlicher
+Genehmigung des Wohnungsamtes, die Mansardenwohnung
+einnehmen dürfen, die Jeannette auf ihre Kosten zuvor einbauen ließ.
+Eines Morgens, als der Vater zu ihr in das Schlafzimmer kam, das sie
+sich eingerichtet hatte, fand er einen Herrn in ihrem Bett. Die beiden
+Bettgäste hatten lange in einem Restaurant gesessen, reichlich Sekt getrunken,
+und so war es geschehen, daß der Herr nicht rechtzeitig
+erwacht war, um sich zu anständiger Stunde angemessen und schweigend
+zu empfehlen.
+</p>
+
+<p>
+Der Vater wollte den Herrn verprügeln oder erschießen oder sonst
+irgend etwas Grauenhaftes mit ihm angeben. Der Herr hatte Takt, war
+gut erzogen, und mit äußerster Geschicklichkeit gelang es ihm, sich trotz
+der Angriffe des Vaters anzukleiden und dann mit Hilfe Jeannettes die
+Tür und die Treppe zu erreichen.
+</p>
+
+<p>
+Damit war er in Sicherheit. Nicht so Jeannette, die nun allein den Angriffen
+ihres Vaters, der seine Kräfte nicht mehr nach zwei Fronten zu
+verausgaben brauchte, ausgesetzt war. Die Mutter sprang ihr bei.
+</p>
+
+<p>
+Die guten, wohlsituierten Familien, die dort im Hause wohnten, würden
+von den Ereignissen gar nichts gehört haben, wenn nicht der Vater in
+seiner gekränkten und schwer beleidigten Bürgerehre sich so blöde
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+betragen hätte, daß die Leute es erfahren mußten, auch wenn sie vielleicht
+gar kein Interesse daran gehabt hätten, ob Jeannette lieber allein
+oder in Gesellschaft schlafe.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du dazu hergekommen, du Hure, daß du uns solche Schande hier
+vor den Leuten antust?“ brüllte der alte Bartels auf Jeannette ein. „Da
+wollte ich doch lieber, daß ich mich hier anständig vergiftet hätte, als
+solche Schmach an meiner eignen Tochter zu erleben. Eine Hure bist du,
+nichts weiter. Ich verfluche dich, ich sage mich los von dir, ich verstoße
+dich aus meinem Hause.“
+</p>
+
+<p>
+Die Mutter wollte schlichten, aber der Alte wurde dadurch nur noch
+verrückter. Die Ehre des Fabrikportiers war für ewig in den Kot getreten.
+Mit Ehren war er grau geworden, wie er hundertmal versicherte,
+und nun, während er schon mit einem Fuße im Grabe stand, mußte er
+noch so etwas an seiner Tochter erleben, die er wie einen Engel im
+Paradiese angesehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Jeannette hörte sich das alles an, ohne zu antworten. Es kam ihr so fern
+vor, so fremd, so lächerlich und so unsagbar dumm zugleich. Es war ihr,
+als ob das irgendwo auf einer Theaterbühne geschehe, wo sie Zuschauerin
+sei, und sie fand das Stück herzlich abgeschmackt und unmodern.
+</p>
+
+<p>
+Erst als der Vater zum dritten Male wiederholte: „Ich verstoße dich aus
+meinem Hause. Du bist nicht mehr meine Tochter!“ da begriff sie, daß
+sie selbst gemeint sei. Und nun legte sie los, und sie sprach viel weniger
+aufgeregt als der Vater. Sie regte sich überhaupt nicht auf dabei, sondern
+sagte es in Form einer erregten Unterhaltung: „Deine Tochter?
+Das Leben hast du mir allerdings gegeben. Aber ich habe dich nicht
+darum ersucht, und ob ich gerade dich gewählt haben würde, wenn ich
+gefragt worden wäre, das glaube ich kaum. Denn mit deiner mickrigen
+Ehrlichkeit und Wohlanständigkeit ist es nicht weit her, wenn sie dir
+nicht einmal einen Lebensabend verbürgt, wo du wenigstens satt zu
+essen hast. Dann schon lieber Schneppe, das sage ich dir ganz frei ins
+Gesicht, oder Bandit oder Einbrecher. – Mit welchem Recht willst du
+mich denn überhaupt verstoßen? Vielleicht mit dem Rechte meines zufälligen
+Vaters? Ein schöner Vater bist du mir. Noch niemals in meinem
+Leben hat jemand Hure zu mir gesagt. Ich hätte ihm das Gesicht zerfleischt.
+Aber es hat auch nie jemand gewagt, das zu mir zu sagen. Das
+konntest du nur fertigbringen. Und damit wir nun gleich ganz klar
+miteinander sind: Du hast recht, ich bin was du sagst. Aber wovon
+lebst du denn? Womit habe ich dir das Leben gerettet? Mit Hurengeld.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+Der Vater sagte nichts darauf. Er starrte sie nur an. Die Mutter hatte
+sich auf einen Stuhl gesetzt und weinte leise vor sich hin. Sie als Frau
+mit dem feineren Empfinden, das Männern meist versagt ist, hatte
+wohl schon ein wenig von der Wahrheit geahnt. Aber eine schlichte
+Lebensklugheit, gewonnen in einem mühseligen arbeitsreichen Leben,
+hatte sie geleitet, die Dinge nicht unnötig anzutasten, die umfallen
+können. Die bestimmte Wahrheit nicht zu kennen und nicht zu erforschen,
+hielt sie für weise und für zweckmäßig. Das Leben ließ sich
+dann leichter ertragen.
+</p>
+
+<p>
+Jeannette war im Zuge, ganze Arbeit zu machen und volle Klarheit
+zu verbreiten. Dieser Nimbus als Millionärswitwe hatte ihr von Anfang
+an nicht recht gefallen. Sie hatte es eigentlich auch nicht selbst erfunden,
+sondern es war so beim Ausfragen nach der Herkunft ihres Reichtums
+in sie hineingeredet worden. Und sie hatte es gehen lassen damit. Sie
+dachte sich, wozu große Trommeln rühren für die kurze Zeit, die sie
+hier auf Besuch war.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, mit Hurengeld“, wiederholte sie mit Nachdruck. „Jede zwei,
+drei, vier oder fünf Dollar bedeuten einen Mann, der bei mir war. Jetzt
+kannst du dir ja ausrechnen, wie viele ich hatte, und wie viele ich haben
+mußte, um dich vor der Gasvergiftung zu retten und deinen ehrlichen
+Namen zu schützen, damit du und Mutter nicht im Skandalanzeiger
+und in der Morgenpost als Selbstmörder erschienen. Das hätte dein
+langes, in Ehren verbrachtes Leben mit einem Schlage verdreckt, denn
+als Selbstmörder verrecken, ist keine große Ehre. Aber von allen den
+Männern, die mich besucht haben, hat keiner jemals Hure zu mir gesagt,
+weder Betrunkene, noch halb verrückte und halb tierische Seeleute, die
+von langer Fahrt kamen und wie die jungen Stiere sich benahmen. Alle
+sagten sie einen freundlichen und höflichen guten Abend zu mir, wenn
+sie mich verließen, und die meisten sagten sogar ein höfliches und ernstgemeintes
+‚Herzlichen Dank, Senjorita!‘ Und warum? Weil ich nie
+jemand betrog. Das, was du vielleicht Ehre nennst, ist nicht meine Ehre.
+Meine Ehre und mein Stolz sind, daß jeder, der bei mir war, für sein
+gutes und oft sehr schwer verdientes Geld gute und echte Ware bekam.
+Ich war das Geld immer wert und bin es heute mit meiner reichen Erfahrung
+erst recht wert. Und das ist mein Stolz, und das ist meine Ehre,
+nie jemand zu betrügen.
+</p>
+
+<p>
+Na gut, ich bin eine Hure. Aber ich habe Geld, und du mit deinen
+Ehren hast keins. Heute aber gibt dir niemand etwas für deine Ehre,
+noch nicht einmal eine gutbezahlte Vertrauensstellung; selbst da mußt
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+du noch Kaution stellen, und wenn ich die nicht vorstrecke, kannst du
+hier den ganzen Tag in der Bude hocken und Muttern das Leben zur
+Hölle machen mit deinem ewigen Herumlamentieren. Wenn es dir
+Vergnügen macht, kannst du ruhig auf die Straße gehen und allen
+Leuten erzählen, daß die argentinische Millionenwitwe eine Schneppe
+ist. Ich mache mir nicht so viel daraus, nicht so viel. Ich habe bereits
+mein Visum. Ich wollte erst in drei Wochen reisen, aber nun fahre ich
+in einer Stunde schon. Mache mir noch ein paar schöne Wochen in
+Scheveningen und Ostende – ich kann es mir ja erlauben –, und dann
+geht es wieder los. Um mein Ziel zu erreichen, brauche ich nämlich noch
+fünfzehntausend Dollar. Und nun bitte, laß mich allein, ich ziehe mich
+an und packe meine Koffer.“
+</p>
+
+<p>
+Der Vater verließ das Zimmer wie ein Automat; die Mutter blieb noch
+eine Weile. Aber als die Tochter ihr sagte: „Sieh nach dem Vater, laß
+ihn nicht allein. Er macht vielleicht Dummheiten. Er begreift ja so langsam,
+daß es in der Welt verschiedene Wege gibt, um sein Leben zu
+fristen“, da ging die Mutter auch, und Jeannette packte so rasch, daß sie
+in kaum einer halben Stunde angezogen und mit ihren beiden gepackten
+und verschlossenen Koffern in dem kleinen Korridor stand.
+</p>
+
+<p>
+Dann sprang sie rasch zur vierten Etage hinunter, wo sie bat, das
+Telephon benutzen zu dürfen, um ein Auto zu bestellen.
+</p>
+
+<p>
+Ehe die Alten überhaupt recht zur Besinnung kamen, was eigentlich
+los war, tutete unten das Auto, Jeannette rief den Chauffeur herauf,
+die Koffer zu holen, und als die Koffer heraus waren, öffnete sie ihre
+Handtasche, legte zweihundert Dollar auf den Tisch, umarmte und
+küßte ihre Mutter, dann nahm sie, ohne zu fragen, ihren Vater beim
+Schlafittchen, küßte ihn ab und sagte: „Na, lieber Vater, lebe wohl.
+Nimm es mir nicht so übel und sei nicht so tragisch. Ich wäre sonst am
+Typhus gestorben. Und um das Hospital bezahlen zu können und die
+Injektionen, brauchte ich Geld, und so fing es an. Und als ich raus kam,
+war ich zu schwach, um arbeiten zu können, und weil ich so abgezehrt
+aussah, gab mir auch niemand Arbeit, und so ging es dann weiter. Es
+hat mir das Leben gerettet und dir und Muttern. So, nun weißt du alles
+und kannst dir den Rest zusammenreimen. Na, lebe wohl. Wer weiß,
+ob ich dich noch einmal lebend wiedersehe.“
+</p>
+
+<p>
+Da fing der Alte an zu weinen, nahm sie in seine Arme, küßte sie und
+sagte: „Leb’ wohl, Kind. Ich bin halt alt. Das ist alles. Es ist schon gut.
+Du mußt das besser wissen. Schreibe manchmal. Mutter und ich, wir
+werden uns immer freuen, wenn wir etwas von dir hören.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+Dann töffte sie ab. Die Alten haben sich mit der Zeit mit dem Hurengelde
+völlig abgefunden. Jeannette sendet vierteljährlich eine schöne
+Summer rüber, und die Annahme wird nie verweigert. Ehre entwickelt
+sich nur und erhält sich nur, wenn man nicht zu hungern braucht; denn
+das Ehrgefühl richtet sich nach den Mahlzeiten, die man hat, nach denen,
+die man sich wünscht, und nach denen, die man nicht hat. Darum gibt
+es drei Hauptklassen und drei verschiedene Ehrbegriffe.
+</p>
+
+<p>
+„Und dann“, erzählte mir Jeannette weiter, „bin ich nach Santiago gekommen,
+darauf nach Lima und endlich hierher. Man muß schon etwas
+können und muß schon gute Männerkenntnis haben, wenn man hier
+Geschäfte machen will. Die Konkurrenz ist groß.“
+</p>
+
+<p>
+„Das können Sie doch nicht für immer betreiben, dieses Geschäft“,
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich nicht“, erwiderte Jeannette. „Das Traurigste unter diesem
+Himmel ist eine alte Dame, die hier vor der Tür sitzen oder auf und
+ab wandern muß und sich zu Dingen hergeben muß, die wir mit
+energischer Handbewegung ablehnen. Ich mache mit, bis ich sechsunddreißig
+bin, und dann wird Schluß gemacht. Ich habe gespart und habe
+nie gelumpt. Wollen Sie wissen, wie hoch mein Bankguthaben hier auf
+der amerikanischen Bank ist? Sie würden es ja doch nicht glauben, und
+es tut ja auch nichts zur Sache. Dann kaufe ich mir ein Gut in Deutschland
+oder eine Farm in Kanada, und dann wird geheiratet.“
+</p>
+
+<p>
+„Geheiratet?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Was dachten Sie denn? Natürlich. Mit sechsunddreißig. Dann fängt
+doch die Freude am Leben erst an. Und ich werde schon etwas aus
+meinem Leben und aus meiner Ehe machen. Ich habe ja die Erfahrung
+und die Männerkenntnis, ich verstehe schon, meinem Manne ein Leben
+und ein Bett zu bereiten, daß er den Wert seines Schatzes erkennt.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist doch etwas viel gewagt. Die Welt ist klein, sehr klein. Und
+es kann doch gelegentlich eine Begegnung mit einer, nun sagen wir es
+ruhig, mit einer Zwei- oder Fünf-Dollar-Bekanntschaft stattfinden, die
+das paradiesische Eheleben zerschmettert.“
+</p>
+
+<p>
+Jeannette lachte und sagte: „Nicht mit mir. Da kennen Sie mich nicht.
+Ein solches Höllenleben führe ich nicht. Das überlasse ich den dummen
+Frauenzimmern. Ich habe damals meinem Vater gesagt: Meine Ehre ist,
+daß ich niemals jemand betrogen habe, und daß ich niemals jemand
+betrügen werde. Also vor allen Dingen nicht meinen Mann. Bevor wir
+zu ernsten Abmachungen kommen, werde ich ihm ohne irgendeine Einschränkung
+sagen, wo ich mein Geld herhabe. Steht er über dieser
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+Angelegenheit, dann werde ich ihm sagen: Gut, wir heiraten unter
+folgender Bedingung: Du wirfst mir niemals vor, wie ich zu meinem
+Vermögen kam, und ich werfe dir niemals vor, daß du von diesem Gelde
+ein angenehmes Leben führen darfst. Denn das Geld behalte ich in der
+Hand, und er kriegt genug, daß er mich nicht anzubetteln braucht. Ich
+werde ihn mir vorher schon gut genug ansehen, daß ich nicht in den
+falschen Hut greife, wenn ich mein Los ziehe.“
+</p>
+
+<p>
+Der Mann, der sie bekam, durfte dem Schicksal vielleicht dankbar sein.
+Denn wenn er kein Spaßverderber war, würde er nach einer Woche
+erfahren, daß Jeannette das Fünffache ihres Vermögens wert sei, weil
+sie die Ehe sicher nicht langweilig werden läßt. Sie gewißlich ließ keine
+Wünsche unerfüllt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-12">
+12
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_d.jpg" alt="D"><span class="prefirstchar">„</span><span class="hidden">D</span></span><span class="postfirstchar">a</span> sind Sie ja, Osuna“, rief ich ihm entgegen. „Ich
+habe Sie schon lange gesucht, glaubte, Sie seien
+bereits heimgegangen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein,“ sagte er, „an Heimgehen dachte ich
+gerade nicht. Aber wir könnten jetzt einmal ein
+wenig zusammenbleiben und in den Pacifico
+Saloon gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gehen wir, vamonos!“
+</p>
+
+<p>
+Es war ein sehr großer weiter Raum, weiß, mit Gold verziert. An der
+einen Seite waren Nischen. In jeder Nische ein kleiner Tisch und drei
+gepolsterte Bänke herum. An der andern Seite, den Eingangstüren
+gegenüber, waren gepolsterte Bänke die ganze Front entlang. An der
+Seite, die der Wand mit den Nischen gegenüberlag, war das Büfett
+mit hohen Sitzen für die Gäste. In der Ecke war eine Jazzkapelle, die
+auf einem Podium saß. Die Wände waren mit Gemälden geschmückt.
+Diese Gemälde waren recht gut gemalt. Es waren die Darstellungen
+nackter Frauen in Lebensgröße. Diese schönen Frauen gebrauchten
+keine Feigenblätter, um jemand daran zu erinnern, daß es etwas zu
+verbergen gäbe, dessen Vorhandensein jedem Menschen bekannt ist,
+und das nur darum auf Gemälden und Statuen heuchlerischerweise
+abgelogen und abgeleugnet wird, damit man nicht vergessen soll, daß es
+unanständig ist. Und immer nur dann, wenn es unter einem Feigenblatt
+verborgen wird, bückt man sich, um nachzusehen, was darunter ist, weil
+man bei seiner Schwester oder bei seinem Bruder, wenn man mit ihnen
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+in der Badewanne saß, nie bemerkt hatte, daß da ein Blatt aus dem
+Bauche wächst. Hier freilich wäre es lächerlich gewesen, den Leuten, ob
+sie nun Männer oder Frauen waren, einzureden, daß die Menschen am
+untern Ende des Bauches eingewachsene oder festgewachsene Blätter
+hätten. Sie würden es nicht geglaubt haben. Woanders glaubt man es
+offenbar oder hält wenigstens die Menschen für dumm genug, daß sie es
+glauben. Denn wären die Blätter nicht, würden die Menschen nie wissen,
+daß sich dieser Teil des menschlichen Körpers von den übrigen Teilen
+in irgendeiner Weise unterscheidet. Das aber muß den Menschen gelehrt
+werden, damit sie wissen, was Sünde ist, und damit sie die bezahlen und
+in Ehren halten, die behaupten, daß sie das Recht hätten, die Sünden
+vergeben zu dürfen. Was würden wir armen Menschen tun, wenn wir
+nicht wüßten, was Sünde ist! Das so schön aufgebaute Gebäude würde
+zusammenbrechen. Denn es ist ja nur auf Suggestion aufgebaut.
+</p>
+
+<p>
+Auf der langen gepolsterten Bank saßen die Senjoritas und warteten
+auf ihre Tänzer. Die Herren saßen entweder an der Bar oder in den
+Nischen. Zwei oder drei der Herren hatten eine oder zwei der Senjoritas
+bei sich, mit denen sie sich sehr anständig unterhielten, ebenso geistvoll
+wie in einem Ballsaal der oberen Zweitausend von Neuyork. Es war nur
+interessanter, weil man, wenn man wollte, auch das sagen durfte, was
+man auf dem Herzen hatte, während man das bei jenen Zweitausend
+nur sagen darf, wenn angenommen wird, daß man die Landessprache
+nicht genügend versteht, um den wahren Sinn der Worte zu begreifen.
+Ein Onestep rasselte vom Podium herunter. Aber die Herren waren
+recht tranig. Nur da, wo alles verboten ist, weiß man immer, was man
+tun will, um sich zu amüsieren. Hier, wo alles erlaubt ist, was man sich
+nur denken kann, sind die Herren immer verlegen und schüchtern, und
+wenn die Senjoritas nicht gar so freundlich und aufmunternd herüberlächeln
+würden, kämen die Herren nicht zum Tanzen. Und trotz des
+schönen Lächelns: die Senjoritas müssen meist mit ihresgleichen tanzen,
+weil die Herren ihre Verlegenheit und Schüchternheit dadurch zu verbergen
+suchen, daß sie an der Bar sitzen und trinken und trinken, mehr
+trinken, als sie wollen. Durch das Trinken wollen sie den Senjoritas
+beweisen, daß sie Männer seien; es ihnen auf andere Weise zu zeigen,
+dazu fehlt ihnen in dieser ungezwungenen Umgebung der Mut. Und sie
+trinken, um hierbleiben zu können, in der Nähe der Senjoritas, deren
+Lächeln sie lieben, und deren schöne Gesichter sie gern sehen.
+</p>
+
+<p>
+Dann aber raffen sich doch einige auf und bitten die Senjoritas um
+einen Tanz. Es ist zum Lachen. Sie tanzen überformell, die Herren. Und
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+die Senjoritas, um es den Herren zu erleichtern, schmiegen sich ihrer
+ganzen Länge nach an ihre schüchternen Tänzer. Es ist fruchtlos. Und
+die Senjoritas tanzen nun ebenso formell wie die braven Herren. Aber
+das gefällt nun den Herren nicht, und jetzt beginnen sie, etwas schmiegsamer
+zu werden. Die Senjoritas lächeln ihr schönstes Lächeln. Aber die
+Herren drucksen und wissen nicht, was sie zu den Damen sagen sollen.
+Es ist wie in einer Tanzschule.
+</p>
+
+<p>
+Die Senjoritas, die mit ihresgleichen tanzen, tanzen zuweilen in der
+überdeutlichsten Weise, um die Herren auf sich zu lenken. Aber merkwürdig,
+es zieht nicht. Sie erreichen ihre Absichten viel leichter, wenn
+sie elegant tanzen, ohne Wackelagen und Schmiegelagen. Die Künstlerinnen
+unter ihnen, die Weisen, wissen, daß sie die meisten Erfolge
+haben, wenn sie die Herren an deren Bräute oder deren Freundinnen
+aus der Gesellschaft erinnern können. Aus diesem Grunde sitzen auch
+viele der Senjoritas vor ihren Türen und häkeln feine Spitzen oder
+sticken feine Tücher. Es ist ein Trick, der seine Wirkung nicht verfehlt.
+Er erinnert die Herren, die hier in fremdem Lande sind, wochen- oder
+monatelang auf See, im Dschungel, im Busch waren, an traute Häuslichkeiten
+der heimatlichen Erde.
+</p>
+
+<p>
+Manchmal führen die Herren ihre Senjoritas wieder zurück zu ihren
+Plätzen, während sie selbst wieder an die Bar gehen oder sich einen
+Platz in den Nischen nehmen. Dann aber ladet auch ein Herr eine oder
+zwei oder – besonders wenn er sich nicht recht traut, mit einer allein
+zu sitzen – drei oder vier Senjoritas an seinen Tisch.
+</p>
+
+<p>
+„Was trinken Sie, Senjorita?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich, einen Whisky und Soda. Ich, einen Jugo de Naranja, einen Apfelsinensaft.
+Ich, eine Flasche Bier. Ich möchte ein Paketchen Zigaretten.“
+Keine bestellt Sekt oder einen teuren Wein. Sie neppen nicht. Wenn
+freilich der Herr protzen will, oder er will durchaus seine vier Monate
+Arbeitslohn in einer Nacht verhauen, dann bestellt er Sekt und wer
+weiß was sonst noch und ladet mit einemmal sämtliche Senjoritas, die
+anwesend sind, zwanzig oder fünfundzwanzig, ein, an dem großen
+Gelage, das nun beginnt, teilzunehmen. Dann wird es lustig. Es ist
+nichts verboten, und Polizeistunde gibt es nicht. Der Saloonbesitzer hat
+seinen Stempelbogen mit den Steuermarken im Lokal hängen und hat
+das Recht, sein Geschäft so zu betreiben, daß es keinen Schaden leidet.
+Wo geneppt wird, geht morgen niemand mehr hin, die ganze Stadt
+weiß es in zwölf Stunden. Der Besitzer muß zumachen. Um das Neppen
+zu verhüten, hat er große Plakate im Saloon hängen: „Jedes Getränk
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+ein Peso“ oder: „Jedes Getränk fünfzig Centavos“. Sie brauchen keine
+Polizeivorschriften. Gäste und Restaurateure regeln das selbst durch die
+Freiheit von Angebot und Nachfrage, durch die Freiheit der Konkurrenz
+und durch das Fehlen von Konzessionsverpflichtungen. Wenn zu viele
+einen Saloon aufmachen, braucht keine Behörde einzugreifen, die
+überflüssigen gehen von selbst pleite. Nur die Nichtnepper, nur die,
+die für gutes Geld gute Ware liefern, überleben. Vier Polizisten und
+ein Inspektor halten in diesem großen Viertel die Wache, und sie
+haben so selten etwas zu tun, daß es auffällt, wenn sie einmal eingreifen
+müssen. Sie brauchen nur ganz selten einen Betrunkenen in
+Sicherheit zu bringen, weil selten ein Betrunkener zu sehen ist. Und
+wenn man doch einen sieht, so ist es ein indianischer Arbeiter oder ein
+heruntergekommenes Halbblut. Im Streitfalle mit den Senjoritas und
+den Herren sind sie auf seiten der Schwächeren, der Senjoritas. Und
+nur, wenn der Herr zweifelsfrei im Recht ist, dann wird ihm beigestanden.
+</p>
+
+<p>
+Zwei oder drei Detektive mischen sich unter die Leute. Sie suchen nach
+den Opium- und Kokainverkäufern, die hier in diesem Viertel ihre
+Kundschaft finden.
+</p>
+
+<p>
+Osuna und ich, wir setzten uns an einen Tisch und bestellten Bier. Dann
+tanzten wir mit zwei Senjoritas und luden sie ein, sich zu uns zu setzen.
+Sie tranken ein Gläschen Whisky. Wir wußten nicht, was wir zu ihnen
+reden sollten. Und es tat mir leid um die Senjoritas, die sich die größte
+Mühe gaben, eine Unterhaltung in Gang zu bringen. Ich war immer
+froh, wenn wieder ein Tanz einsetzte, weil man mit den Füßen leichter
+fortkonnte als mit der Zunge.
+</p>
+
+<p>
+Um überhaupt zu reden, fragten wir die Senjoritas nach allen möglichen
+dummen Sachen. Ob sie jede Woche den Arzt sehen müßten oder nur
+alle zwei Wochen. Ob diejenigen, die nicht in den Saloons tanzten, für
+ihre Häuser hundertfünfzig oder zweihundert Pesos den Monat zu
+zahlen hätten. Wieviel sie durchschnittlich verdienten.
+</p>
+
+<p>
+Sie hielten uns sicher für außerordentlich stupid, daß wir so blöde
+geschäftliche Fragen an sie richteten, statt von den mehr interessanten
+Dingen des Lebens zu sprechen. Aber sie verloren ihre gute Laune nicht.
+Das konnten sie auch nicht gut, weil sie keine Launen hatten. Die
+durften sie nicht haben, weil es dem Geschäft hinderlich werden könnte.
+Und weil sie keine Launen hatten, fühlten sich viele Herren, die Familie
+hatten, hier wohler als in ihrem Hause; denn es gibt nur wenige
+Männer, die launische und zänkische Frauen lieben. Die Erholung hier
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+war für solche Herren die Geldausgabe wert. Hier waren die Herren
+immer vergnügt. Und ich glaube sicher, wenn sie zu Hause stets ebenso
+vergnügt wären wie hier, würden manche keine zänkischen und
+launischen Frauen daheim vorfinden.
+</p>
+
+<p>
+Endlich sagte Osuna: „Es ist elf, ich glaube wir gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte ich, „gehen wir.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-13">
+13
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_w.jpg" alt="W"><span class="hidden">W</span></span><span class="postfirstchar">ir</span> kamen heim um halb zwölf. Um zu der Kammer
+zu gelangen, wo wir unsre Arbeitshose anziehen
+wollten, mußten wir an der Backstube vorüber. Sie
+waren feste am Arbeiten da drin. Wir guckten durch
+die Tür, und der Meister sah uns.
+</p>
+
+<p>
+Er zog seine Uhr und sagte: „Es ist gleich zwölf.“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich,“ erwiderte ich, „wir haben es eben an
+der Kathedrale gesehen. Und überhaupt, ich höre auf.“
+</p>
+
+<p>
+„Wann?“ fragte der Meister.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Dann sagen Sie es dem Alten. Er ist vorn im Café.“
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich gesehen. Das brauchen Sie mir nicht zu sagen. Ich bin ja
+durch das Café gekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich höre auch auf“, sagte nun Osuna.
+</p>
+
+<p>
+„Warum wollt ihr denn beide aufhören?“ fragte der Meister.
+</p>
+
+<p>
+„Wir sind doch keine Blödhammel, daß wir hier jeden Tag fünfzehn
+und achtzehn Stunden arbeiten“, sagte Osuna.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr habt wohl getrunken?“ fragte der Meister.
+</p>
+
+<p>
+Osuna ging gleich auf ihn zu: „Was sagen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde doch wohl noch sagen dürfen, daß es gleich zwölf ist,“ rechtfertigte
+sich der Meister, „wenn wir hier schon seit zehn arbeiten und
+so viel zu tun ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie können sagen, was Sie wollen,“ meinte ich, „aber nicht mehr zu uns.
+Sie sind nicht mehr unser Meister.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut,“ sagte der Meister darauf, „dann geht aber auch gleich. Dann
+braucht ihr hier auch nicht mehr zu schlafen, und morgen früh noch das
+Frühstück mitnehmen, gibt es auch nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Darum haben wir Sie gar nicht gefragt,“ erwiderte Osuna, „und wenn
+wir das wollten, würden wir gerade Sie nicht darum anbetteln.“
+</p>
+
+<p>
+Wir gingen in die Kammer, packten unsre Arbeitslumpen jeder in
+einen leeren Zuckersack und gingen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+Mit einmal sagte Osuna: „Wir haben ja unsre zwei Pesos in den alten
+Schuhen gelassen, nur gleich geholt. Wenn die Bilder haben wollen,
+dann mögen sie sich selber welche kaufen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir nahmen unsre zwei Pesos und kamen wieder vorbei an der
+Backstube.
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat denn die Bilder da zerrissen?“ fragte der Tscheche.
+</p>
+
+<p>
+„Wir“, antwortete Osuna. „Vielleicht was dagegen? Nur sagen. Wir
+sind gerade in der Stimmung. Ich denke doch, daß wir mit unsern
+Bildern machen können, was wir wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Das habe ich nicht gewußt, daß das eure Bilder waren. Die hättet ihr
+doch nicht zu zerreißen brauchen“, sagte ein andrer.
+</p>
+
+<p>
+„Solche unanständigen Bilder mag ich nicht leiden“, antwortete Osuna.
+„Wenn ihr so etwas vor Augen haben wollt, kauft sie euch. Wir
+brauchen keine Bilder, was Gale?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wir haben solche Bilder nicht nötig, glücklicherweise nicht“,
+unterstützte ich Osuna. Und ich tat es mit voller Überzeugung.
+</p>
+
+<p>
+Dann gingen wir zu Senjor Doux und verlangten unser Geld, das wir
+noch zu kriegen hatten. Er gab es uns nicht und sagte, wir sollten
+morgen wiederkommen.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Morgen kennen wir reichlich“, gab ich ihm zur Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Osuna stellte seinen Sack auf den Boden, lehnte sich ein wenig über
+das Büfett, hinter dem Senjor Doux stand, und sagte ziemlich laut:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Wollen Sie uns jetzt sofort unser Geld geben oder nicht? Oder soll ich
+erst die Polizei hereinholen, daß Sie uns unsern verdienten Lohn auszahlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Schreien Sie doch nicht so, daß die Gäste aufmerksam werden“, sagte
+Senjor Doux leise und griff in die Hosentasche, um das Geld herauszunehmen.
+„Ich zahle Ihnen ja, ich bin Ihnen doch nie einen Centavos
+Lohn schuldig geblieben. Wollen Sie noch eine Flasche Bier trinken?“
+</p>
+
+<p>
+„Können wir machen“, erwiderte Osuna. „Wir sind nicht zu stolz dazu.“
+Wir setzten uns an einen Tisch, und ein Kellner brachte uns zwei
+Flaschen Bier.
+</p>
+
+<p>
+„Das Bier wollen wir ihm nicht schenken, diesem Geizkragen“, sagte
+ich. „Er hat sicher geglaubt, wir würden nein sagen, sonst hätte er es
+uns nicht angeboten.“
+</p>
+
+<p>
+„Sicher nicht,“ meinte Osuna, „deshalb habe ich ja auch ja gesagt. Ich
+habe gar keinen Appetit darauf.“
+</p>
+
+<p>
+Warum wir gingen, danach fragte Senjor Doux nicht. Solche plötzlichen
+Abschiede kamen bei ihm zu häufig vor, als daß er sich darüber aufgeregt
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+hätte. Ebensowenig fragte er uns, ob wir nicht bleiben möchten.
+Er wußte wohl, daß es bei uns ebenso erfolglos gewesen wäre wie bei
+früheren Abschieden.
+</p>
+
+<p>
+Er ging zur Kasse, wo seine Frau stand, und holte das Geld für uns.
+Dann brachte er es an unsern Tisch, legte es hin und verschwand wieder
+hinter dem Büfett, ohne noch etwas zu sagen, und ohne nochmals zu uns
+rüberzusehen.
+</p>
+
+<p>
+Dann gingen wir zu einem indianischen Kaffeestand, wo wir ein Glas
+Kaffee tranken und die Frau fragten, ob wir nicht unsre Säcke hier
+bis zum Morgen unterstellen könnten. Dann würden wir wiederkommen,
+bei ihr frühstücken und die Säcke abholen.
+</p>
+
+<p>
+Danach gingen wir wieder zu den Senjoritas, wo es angenehmer war als
+in der Backstube.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Tage, nachdem wir den Vormittag über uns auf den
+Bänken der Plaza herumgedrückt hatten, gingen wir zu einer Casa de
+Huespedes, wo wir jeder ein Bett belegten für fünfzig Centavos und
+unsre Säcke in dem Kofferraum abgaben.
+</p>
+
+<p>
+Bett ist ja nun auf keinen Fall richtig. Einzelne jener Betten waren
+von dem Muster unsrer Bäckerbetten, also Hängematten aus Segelleinen,
+die in einem Scherengestell aufgespannt waren. Wir aber bekamen
+bessere Betten. Das waren Drahtmatratzen, die durchgelegen
+waren, so daß man immer in einer Höhle lag, wo man so zusammengepreßt
+war, daß man kaum atmen konnte. Die Unterlage war so dünn
+und zerschlissen, daß man den Draht fühlte, und da man ja nicht viel
+Fleisch am Körper hatte, kerbte sich der Draht in die Knochen. Und
+das war ein recht angenehmes Gefühl. Diese Betten könnten in einer
+Folterkammer gute Dienste leisten.
+</p>
+
+<p>
+Da war ein weißüberzogenes Kopfkissen und ein weißes Leinenlaken
+in jedem Bett. Aber da diese weiße Leinenwäsche nur jede Woche oder
+alle drei Wochen gewechselt wurde, während der Bettgast jeden Tag
+wechselte, so waren die Sachen eigentlich nicht weiß, sondern fettig,
+fleckig und streifig. Außerdem gehörte zu jedem Bett eine Decke, die
+sicher nie gewaschen und nie geklopft wurde. Es wurde nicht gelaust,
+und niemand wurde untersucht, ob er krank sei. Wer sein Bett bezahlte,
+durfte darin schlafen, ob er von den Läusen bald aufgefressen wurde,
+ob er Syphilis, Tuberkulose, Malaria, Leprose, Krätze, schwarze Pocken
+oder sonst etwas hatte.
+</p>
+
+<p>
+Die Schlafräume lagen zu ebener Erde. Türen hatten sie nicht, oder es
+waren nur noch die Reste ehemaliger Türen vorhanden. Man trat vom
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+Hofe unmittelbar in den Schlafraum. Jeder Schlafraum hatte sechs bis
+acht Betten. Die Betten standen kreuz und quer im Raum, gerade wie
+sie am besten Platz fanden. Ein Raum lag neben dem andern, so daß
+die Räume eine lange Reihe bildeten. Am Ende der Reihe schloß sich
+im rechten Winkel wieder eine Reihe an und an diese wieder eine
+Reihe, so daß also der ganze viereckige Hof mit Schlafräumen eingezäunt
+war. Die Vorderfront bildete ein großes zweistöckiges gemauertes
+Haus mit der stolzen Inschrift „Continental-Hotel. – Bäder
+zu jeder Tages- und Nachtzeit“. Hier in diesem Vordergebäude waren
+die Zimmer für einen Peso; in jedem Raume standen zwei Betten. Diese
+Betten hatten Moskitonetze, während die billigen keine hatten.
+</p>
+
+<p>
+Viel wert waren die Netze nicht, weil sie große Löcher hatten. Außerdem
+war in dem Gewebe der Atem von Tausenden von verschiedenen
+Menschen aufbewahrt.
+</p>
+
+<p>
+Bäder konnte man in der Tat zu jeder Nachtzeit bekommen. Es waren
+Brausebäder, und jedes Bad kostete fünfundzwanzig Centavos. Dafür
+bekam man Seife und Handtuch und einen Bastwisch zum Abreiben
+dazu geliefert. In diesen Baderäumen wimmelte es von riesengroßen
+Schaben. An der Wasserrohrleitung war kein Hahn, den man einstellen
+konnte, so daß das Wasser laufen konnte. Man hatte eine Kette
+zu ergreifen und an der zu ziehen. Beim Baden konnte man also nur
+immer eine Hand zum Waschen gebrauchen, während man mit der
+andern an der Kette ziehen mußte. Wusch und seifte man sich mit
+beiden, so mußte man die Kette loslassen und das Wasser hörte auf zu
+laufen. Das wurde getan, um Wasser zu sparen; denn Wasser ist hier
+ein kostbarer Artikel.
+</p>
+
+<p>
+In den billigen Schlafräumen gab es alles erdenkliche Ungeziefer und
+alle möglichen Insekten der Tropen, alles natürlich in tropischen Ausmaßen,
+nur die Moskitos waren klein. Die großen widerlichen Schaben
+liefen in den Betten umher und an den Wänden auf und ab, als ob
+ihnen die Räume gehörten.
+</p>
+
+<p>
+Die Reihen der billigen Schlafräume waren alle aus dünnen Brettern
+erbaut, die halb zerfault waren. Die Dächer waren aus Wellblech und
+bei manchen Räumen aus Pappe. Ob sie aber aus Blech oder aus Pappe
+waren, alle leckten, wenn es regnete, so fürchterlich, daß an ein Schlafen
+nicht zu denken war.
+</p>
+
+<p>
+Die Gäste alle rauchten. Und da es ja nicht ihr Haus war, so flogen die
+ganze Nacht hindurch die glühenden Zigarettenstummel und brennenden
+Zündhölzer in den Räumen herum. Die Zündhölzer hier sind aus
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+Wachs und brennen schön weiter, wenn man sie weggeworfen hat. Aber
+trotzdem sind Feuer sehr selten. Wenn sie ausbrechen, brennt alles
+nieder, weil die Feuerwehr zwar die modernsten Löschmaschinen besitzt
+und sehr gut gedrillt ist, aber kein Wasser hat. Nur gerade so viel
+Wasser, wie in den fahrbaren Maschinen mitgeführt wird.
+</p>
+
+<p>
+Die Fußböden waren alle zertreten und morsch und faul. Ratten und
+Mäuse hatten ideale Heime und trugen die Beulenpest umher.
+</p>
+
+<p>
+Die billigen Schlafräume waren immer voll besetzt, die teuren für einen
+Peso standen zur Hälfte immer leer.
+</p>
+
+<p>
+Wir kamen, gaben einen Namen an, der eingeschrieben wurde, und
+erhielten unsre Raum- und unsre Bettnummer. Dann legten wir uns
+schlafen, nachdem wir ein Brausebad genommen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Gegen acht Uhr abends standen wir auf und gingen wieder in die Stadt.
+Das Bett gehörte uns noch für die kommende Nacht, und wir brauchten
+nicht noch einmal dafür zu bezahlen.
+</p>
+
+<p>
+Bedürfnisanstalten gibt es hier nicht, dafür müssen alle Wirtschaften,
+die darauf eingerichtet sind, jedem, auch wenn er nichts verzehrt, die
+Benutzung gestatten. Aber manche Wirtschaften haben selbst keine Einrichtung
+dafür, weil sie keinen überflüssigen Raum haben. Dann muß
+sogar der Besitzer in ein Nachbarrestaurant gehen.
+</p>
+
+<p>
+Das war der Grund, daß ich in eine Bar kam. Ein Riese von einem
+Mann stand an dem Büfett und trank Tequila. Er hatte hohe Reitstiefel
+an mit Sporen. Sein Gesicht war sehr roh, und er trug einen mächtigen
+Hindenburgbart.
+</p>
+
+<p>
+„Hallo!“ rief er, als ich wieder hinausgehen wollte. „Suchen Sie Arbeit?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja. Was für welche? Wo?“
+</p>
+
+<p>
+„Baumwolle pflücken. In Concordia. Mr. G. Mason. Zahlt den üblichen
+Pflückerlohn. Bahnstation. Kostet drei Pesos sechzig.“
+</p>
+
+<p>
+„Sind Sie beauftragt, Leute anzunehmen?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, sonst würde ich es Ihnen doch nicht sagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, geben Sie mir einen Zettel.“
+</p>
+
+<p>
+Er ließ sich ein Stück Papier von dem Wirt geben, nahm ein Bleistiftstümmelchen
+aus seiner Hemdtasche und schrieb den Zettel aus.
+</p>
+
+<p>
+Ich las den Zettel: Mr. G. Mason, Concordia. Dieser Mann kommt zum
+Pflücken. L. Wood.
+</p>
+
+<p>
+Als ich später Osuna traf und ihn fragte, sagte er mir, daß er nicht
+mitkäme. Am nächsten Morgen fuhr ich ab.
+</p>
+
+<p>
+Ich kam an und fand Mr. Mason. Auf dem Felde waren viele Pflücker
+tätig, und die Arbeit hatte schon tüchtig angefangen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+Als Mr. Mason meinen Zettel sah, sagte er: „Mr. L. Wood? Kenne ich
+nicht. Hat keinen Auftrag von mir, Pflücker anzunehmen. Kann gar
+keine brauchen. Habe genug.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind doch Mr. G. Mason?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin W. Mason.“
+</p>
+
+<p>
+„Wohnt hier in der Nähe ein Mr. G. Mason?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein“, antwortete der Farmer.
+</p>
+
+<p>
+„Dann sind Sie doch damit gemeint“, sagte ich. „Das mit dem G. ist dann
+nur ein kleiner Irrtum. Sie pflücken doch. Wie kann denn Mr. Wood
+oder ganz gleich wie er heißt wissen, daß hier ein Mr. Mason wohnt, der
+Baumwolle baut und jetzt gerade mit dem Pflücken beginnt?“
+</p>
+
+<p>
+Der Farmer machte ein unbestimmtes Gesicht und sagte dann: „Das
+weiß ich auch nicht. Jedenfalls kenne ich keinen Mann namens Wood,
+und mein Vorname ist nicht G., sondern W.“
+</p>
+
+<p>
+„Schöne Sache,“ sagte ich, „einem so das Geld aus der Tasche zu lotsen
+für die Eisenbahnfahrt, wenn man schon so gut wie nichts hat. Ich will
+Ihnen etwas sagen, Mr. Mason, etwas stimmt hier nicht, und es ist an
+dieser Stelle hier schwer herauszukriegen, wer der verfluchte Gauner
+ist, der einen um seine Zeit und sein Geld betrügt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie wollen, können Sie ja hier anfangen zu pflücken,“ lenkte
+Mr. Mason nun ein, „aber Sie kommen nicht aufs Geld. Ich habe nur
+Eingeborene zum Pflücken, und die tun es billig. Sie können auch hier
+nirgends wohnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Verstehe auch ohne Hörrohr, was los ist“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie schon einmal als Zimmermann gearbeitet?“ fragte nun
+Mr. Mason.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das habe ich, ich bin ein geübter Zimmermann.“
+</p>
+
+<p>
+Wenn man hier nicht verhungern will, muß man alles sein können,
+auch wenn man nie eine Axt oder ein Zieheisen in der Hand gehabt hat.
+Ich jedenfalls hatte keine blasse Ahnung von der Zimmerei. Aber ich
+dachte, wenn ich erst einmal vor der Arbeit stehe und mir eine Axt
+gegeben wird, dann geht das übrige schon von selbst. Es kann jemand
+in England oder in Frankreich oder in Deutschland vier oder fünf Jahre
+Buchbinder oder Gelbgießer oder sonst was gelernt haben und ein
+Meister in seinem Fache sein. Das ist hier gar nichts wert, weil selten
+oder nie ein Buchbinder oder Gelbgießer verlangt wird. Wer bei seinem
+Handwerk bleiben will wie der Schuster beim Leisten, der bekommt
+hier nicht einmal verschimmeltes Brot in den Magen. Heute ein Auto
+reparieren, morgen einen guten Maurer machen, übermorgen Stiefel
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+besohlen, die folgende Woche ein Bohnenfeld pflügen, dann Tomaten in
+Blechbüchsen konservieren und verlöten, hierauf Werkzeuge schmieden
+und Drillmaschinen in Ordnung bringen in den Ölfeldern, dann ein
+Kanu, mit Papayas gefüllt bis zum Sinken, über Stromschnellen und
+Sandbänke, zwischen Alligatorenherden und durch undurchdringliches
+Dornengestrüpp tagereisenweit die Flüsse hinunterpaddeln, wenn man
+das nicht alles nebenbei kann, ist das so mühevoll gelernte Handwerk
+und das lange Studium des Ingenieurs oder des Arztes nicht so viel wert,
+daß man sich fünfzig Centavos für ein chinesisches Mittagessen verdienen
+kann.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie Zimmermann sind, kann ich Ihnen Arbeit besorgen“, erläuterte
+Mr. Mason. „Da baut ein Farmer ein neues Haus, und er wird
+nicht gut damit fertig, weil er nichts von Holzarbeit versteht. Ich gebe
+Ihnen einen Zettel mit. Es ist nur eine Stunde von der Bahnstation
+entfernt.“
+</p>
+
+<p>
+Ich bin alt genug und lange genug aus den Windeln, um zu wissen, daß
+niemand einen Zimmermann brauchte, und daß Mr. Mason nur nach einer
+Gelegenheit suchte, mich recht rasch loszuwerden, damit ich nicht etwa
+das Reisegeld von ihm verlange. Denn es war kein Zweifel, daß er den
+Mr. Wood beauftragt hatte, sich nach Pflückern umzusehen. Inzwischen
+aber hatte er indianische Pflücker angeworben, die es billiger machten,
+weil sie von Frijoles und Tortillas leben konnten. Das ist der Trick, den
+sie mit den Arbeitslosen spielen. Überall wird angeworben, weil sie nicht
+wissen, wer kommt und wer nicht kommt. Überallhin, wo sie einen
+Bekannten haben, schreiben sie Briefe, daß sie Pflücker brauchen, und
+von überallher finden sich immer wieder Gutgläubige und Verhungernde,
+die den letzten Peso für die Bahnfahrt wagen. Der Farmer hat
+dann die Auswahl, sich die billigsten auszusuchen und den Pflückerlohn
+zu pressen, weil der arme Teufel nicht mehr fort kann; er muß
+pflücken und wenn ihm nur drei Centavos für das Kilo geboten werden.
+Es war zwecklos, sich mit dem Manne lange herumzustreiten. Die einzige
+Abrechnung wäre gewesen, ihm ein paar in die Fresse zu hauen. Aber
+er hatte den Revolver in der hinteren Tasche, und Fausthiebe, auch
+wenn sie noch so gut gezielt sind, bleiben gegen Revolverkugeln zu sehr
+im Nachteil, als daß es sich lohnte, es mit der nackten Faust gegen
+nickelplattierte Bleikerne aufzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Zur Station mußte ich sowieso zurück. Da konnte ich ja gut bei jenem
+Farmer einmal vorsprechen. Es war aber schon so, wie ich vermutet
+hatte. Der Farmer brauchte keinen Zimmermann, er war selbst Zimmermann
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+genug, um mit drei Peons sein Haus wunderschön und dauerhaft
+aufzubauen. Immerhin, die Nachfrage nach Arbeit brachte mir ein
+gutes Essen ein. Und der Farmer bestätigte mir auch, daß Mr. Mason
+ein ganz niederträchtiger Lump sei und jedes Jahr diesen Trick mit der
+Anwerbung von Pflückern vollführe, um durch die arbeitsuchenden
+weißen Arbeiter noch mehr auf die Pflückerlöhne der Indianer zu
+pressen. Denn diese armen Teufel, die kaum eine andre Einnahme an
+Geld das ganze Jahr hindurch haben, werden ganz klein und duldsam
+gegenüber den Lohnpressungen, wenn sie selbst Weiße um diese Arbeit
+betteln gehen sehen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-14">
+14
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> ich zur Stadt zurückkam, waren mir von meiner
+monatelangen Arbeit in der Bäckerei gerade zwei
+Pesos übriggeblieben.
+</p>
+
+<p>
+Was tun?
+</p>
+
+<p>
+Ich ging zum Casa, wo ich hoffte, Osuna zu finden.
+Aber er war nicht da. Vor zwölf ging er nicht zu
+Bett. Abends war ja das Leben am schönsten, wenn es
+kühl war und die hübschen Mädchen auf den Plazas
+promenierten, während die Musikbanden spielten.
+</p>
+
+<p>
+Auf keinem der Plazas sah ich Osuna. Also konnte er nur im Spielsaal
+sein. Der Spielsaal war im oberen Stockwerke eines großen Hauses,
+das zu ebener Erde eine Bar hatte. Im Spielsaal selbst wurden keine
+Getränke verabreicht. Es gab nur Eiswasser, das man umsonst erhielt.
+Gesellschaftskleidung war nicht vorgeschrieben. Ich ging hin, gerade
+wie ich war, ohne Jacke und ohne Weste. Den Leitern der Spielbank
+kam es nicht darauf an, was die Besucher auf dem Leibe hatten,
+sondern was sie in den Taschen hatten, und der, der ohne Jacke und
+Weste erschien, konnte drei oder sechs oder gar neun Monate Drillerlohn
+in der Tasche haben. Je verölter und verspritzter seine Hosen, sein
+Hemd und sein Hut, je verlehmter seine Stiefel waren, desto wahrscheinlicher
+war es, daß er zwei- oder dreitausend Pesos lose in der
+Hosentasche trug und zur Spielbank kam, um diese Summe zu verdoppeln.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem Treppenabsatz war ein kleines Tischchen, wo zwei Männer
+saßen, die jeden, der hinaufging, beobachteten. Sie kannten jeden Besucher,
+und sie hatten eine feines Gedächtnis für die, denen der Besuch
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+untersagt war, weil sie sich nicht zu benehmen verstanden. Es kam vor,
+daß jemand behauptete, der Bankhalter habe ihn übervorteilt. Ohne zu
+streiten, zahlte der Bankhalter die fünf, zehn oder zwanzig Pesos, um
+die der Streit ging, sofort aus, auch wenn die Bank durchaus im Recht
+war. Aber der Mann durfte nie wieder den Saal betreten. Die Bank
+betrog nicht. Es waren nur immer die Gäste, die zu betrügen versuchten.
+Die Bank wußte, daß sie bessere Geschäfte machte, wenn sie grundehrlich
+spielte, Karten und Würfel wechselte, sobald ein Spieler nur den
+leisesten Zweifel äußerte, als wenn sie versucht hätte, durch geschickte
+Manipulationen den Spielern das Geld aus der Tasche zu holen.
+</p>
+
+<p>
+Der Saal war gedrängt voll. Und wären nicht die vielen Ventilatoren
+gewesen, würde eine unerträgliche Hitze den Aufenthalt unmöglich gemacht
+haben. Es waren Tische da, an denen Roulette gespielt wurde, an
+andern wurde gepokert, wieder an andern gab es „Meine Tante – deine
+Tante“, oder man konnte sein Glück mit „Siebzehn und vier“ wagen.
+Eine Bank wurde von einem Chinesen gehalten, der Vorstandsmitglied
+des Jockeiklubs war. Die Spielbank arbeitete unter dem Namen Jockeiklub,
+und sie war nur Mitgliedern des Jockeiklubs zugänglich. Mitglied
+des Jockeiklubs war man, sobald man den Saal betrat. Die Regierung
+schrieb zwar vor, daß jeder Besucher eine ausgeschriebene, auf seinen
+Namen lautende Mitgliedskarte haben müsse. Aber nach dieser Karte
+wurde nie jemand gefragt, jedenfalls nie ein Weißer. Nur von den Indianern
+verlangte man Karten zu sehen, aber die hatten keine, und deshalb
+wurde ihnen der Zutritt nicht erlaubt. Die farbige Rasse war durch
+die Chinesen reichlich vertreten, und zwar so reichlich, daß an manchen
+Abenden die Chinesen die Hälfte der Gäste ausmachten.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte schon richtig vermutet. Osuna war anwesend. Er stand an der
+Würfelbank, wo ein Locker spielte, der von der Bank angestellt und
+bezahlt wird, um an den Banktischen zu spielen, wo augenblicklich
+keine Gäste sind. Durch sein Spielen, bei dem er nach jedem Wurf den
+Einsatz erhöht und endlich Einsätze von fünfundzwanzig Pesos macht,
+lenkt er die Aufmerksamkeit von Spielgästen, die sich an andern Tischen
+drängen, zu dieser Bank. Der hohe Einsatz macht die Leute aufgeregt,
+sie kommen näher, umdrängen den Tisch, um den waghalsigen Spieler
+zu beobachten. Natürlich gewinnt der Spieler und verliert, genau nach
+den Gesetzen des Spielerglücks. Aber es ist ja nicht sein Geld, es ist das
+Geld der Bank, das er setzt. Und die Gäste wissen nicht, daß er zur Bank
+gehört und nur Anreizspiele macht. Aber es dauert nur wenige Minuten
+und der Tisch ist von einem Dutzend erregter Männer belagert, die das
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Fallen der Würfel belauern und in ihrem Innern sofort die Kombinationen
+ausrechnen, in welchen Intervallen die Zahlen wiederkehren.
+Sobald sie glauben, die Kombination errechnet zu haben, fangen sie zu
+setzen an und spielen. Die Würfelbank, die vor kaum zehn Minuten
+nicht einen Spieler hatte, sondern müßig lag, nur mit dem Bankhalter
+hinter dem Tisch, ist jetzt der Mittelpunkt des Spielsaales. Jedes Feld
+ist drei- und viermal besetzt.
+</p>
+
+<p>
+Dadurch wurde die Bank mit „Meine Tante – deine Tante“ müßig, und
+der Bankhalter konnte abrechnen, die Chips auswechseln und die neuen
+Kartenpacks aufschichten. Wenn er fertig war und der Bankhalter bei
+den Würfeln vor den Strömen des Schweißes zu keuchen begann, setzten
+bei der Tanten-Bank zwei Locker ein. Und allmählich ging der Würfelkorb
+immer langsamer, weil immer langsamer und seltener hier gesetzt
+wurde, während bei der Tante das Gedränge unheimlich wurde.
+</p>
+
+<p>
+In einer Ecke wurde jetzt eine Bank versteigert. Sie wurde angeboten
+mit fünf Pesos, überboten mit zehn, und sie ging endlich fort mit sechzig
+Pesos. Ich sah rüber zu dem, der sie gekauft hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Hölle noch mal, Leary, Mann, wo kommen Sie denn her?“ rief ich hinüber.
+Es war in der Tat Leary, mit dem ich in Campeche in einem Ölcamp
+gearbeitet hatte. „Ich drücke den Daumen für Sie, Leary, bis auf
+dreihundert gegen zwanzig. Einverstanden?“ rief ich ihm zu.
+</p>
+
+<p>
+„Einverstanden, Gale“, rief er zurück.
+</p>
+
+<p>
+Die Amerikaner, die anwesend waren und es gehört hatten, lachten und
+kamen alle zu dem Tisch, wo Leary sich jetzt niedersetzte, um die Bank
+zu übernehmen, die er ersteigert hatte.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde losgespielt. Leary mußte bluten. Hundert, zweihundert, dreihundert.
+Er packte das Gold nur immer so raus und schob es fort. Seine
+Chips waren längst zu Ende.
+</p>
+
+<p>
+„Verflucht noch mal, Gale, drücken Sie denn auch, oder was ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur keine Angst, Leary, hauen Sie nur drauf, alles was Sie haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, mache ich“, rief Leary herüber. „Aber ich schneide ihn ab, wenn
+Sie mich abflattern lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen Sie drauf! Ich stehe Ihnen mit dreihundert gegen Gentleman-Agrément,
+drauf!“ Ich hatte zwei Pesos in der Tasche.
+</p>
+
+<p>
+Und Leary ging los. Vierhundert, fünfhundert, sechshundert, siebenhundert.
+Sein Gesicht wurde rot wie eine Tomate, und es sah aus, als ob
+es jeden Augenblick platzen wolle. Er zog ein Tuch aus der Tasche und
+wischte sich den Schweiß ab. Aufgeregt war er nicht. Es war nur die
+Emsigkeit der Arbeit, die ihn so stark mitnahm.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+Siebenhundertfünfzig.
+</p>
+
+<p>
+Die Karten fielen. Die Bank gewann.
+</p>
+
+<p>
+Die Karten fielen abermals. Die Bank gewann.
+</p>
+
+<p>
+Ich quetschte den Daumen. Die Bank gewann. Leary stand auf: „Ich
+gebe die Bank ab. Versteigere.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieviel haben Sie gemacht, Leary?“ fragte ich ihn, als er zu mir kam,
+um mir die Hand zu geben. Denn wir hatten uns ja nur über den Tisch
+und über das Gedränge hinweg begrüßt.
+</p>
+
+<p>
+„Gemacht? Wieviel? Ich weiß nicht ganz genau. Aber da, nehmen Sie.
+Gehört Ihnen.“ Er gab mir zweihundert Pesos.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte sie ehrlich verdient. Aber er sagte mir nicht, wieviel er gemacht
+hatte. Für zwanzig hatte er sich verbürgt, falls er gewänne; wenn er mir
+nun zweihundert geben konnte, so hatte er einen hübschen Haufen in
+der Hosentasche.
+</p>
+
+<p>
+Man nimmt das Geld und fragt nicht, woher es kommt. Man kann doch
+nicht verhungern. Verhungern ist Selbstmord. Und Selbstmord ist eine
+Sünde. Aber Sünden soll man nicht begehen, das wird einen schon in der
+Jugend gelehrt.
+</p>
+
+<p>
+Leicht gewonnenes Geld ist rasch ausgegeben. Aber diese zweihundert
+Pesos waren keineswegs leicht verdient, und ich hielt sie gut zusammen.
+Ich borgte Osuna fünfzehn Pesos, und er mietete sich einen kleinen
+Zigarettenstand. Er zahlte für das Tischchen, das mit einem Stück gestreiftem
+Segeltuch überspannt war, um die Sonnenstrahlen abzuhalten,
+neun Pesos Miete den Monat.
+</p>
+
+<p>
+Jeden Tag einmal kam der städtische Steuereinnehmer vorbei, der den
+Standtribut einforderte, fünfzehn Centavos. Dafür bekam Osuna ein
+Zettelchen, das er vorzeigte, wenn der Beamte nachmittags wieder vorbeikam,
+um bei denen einzukassieren, die am Vormittage nicht bezahlt
+hatten. Diese Bezahlung des täglichen Tributs war alles, was man mit
+den Behörden zu tun hatte, wenn man ein Geschäft auf der Straße
+errichtete.
+</p>
+
+<p>
+Wenn das Geschäft mal an einem Tage sehr schlecht ging, dann sagte
+Osuna zu dem Beamten: „Ich habe heute kaum ein Mittagessen verdient“,
+dann schenkte ihm der Beamte für diesen Tag die Steuer. Es
+wird dem Händler geglaubt, wenn er sagt, daß er kein Geschäft gemacht
+hat; dafür glaubt er auch bei einer andern Gelegenheit wieder
+der Behörde, wenn die etwas sagt. Vertrauen gegen Vertrauen.
+</p>
+
+<p>
+Viel verdiente Osuna nicht. Manchen Tag einen Peso, manchen zwei
+Pesos. Über zwei Pesos kam er selten. Aber es war leichter als in der
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+Bäckerei. Die Arbeitszeit war freilich die gleiche. Von frühmorgens um
+fünf bis nachts um zwölf oder eins stand er an seinem Tisch.
+</p>
+
+<p>
+Ich holte mir jeden Tag ein oder zwei Pakete Zigaretten bei ihm und
+verringerte so seine Schuldsumme. Es ging sehr langsam; denn jedes
+Paketchen kostete nur zehn Centavos, und in jedem Paketchen waren
+vierzehn Zigaretten. In manchen Paketen war sogar noch ein Gutschein
+für zehn, zwanzig oder fünfzig Centavos, die Osuna freilich von der
+Fabrik ersetzt bekam, die er aber doch erst einmal auszulegen hatte.
+Die Fabrik zahlte ihm für diese ausgeliehene Summe fünf Prozent.
+</p>
+
+<p>
+Eines Nachmittags, als ich bei ihm saß und auf der kleinen Kiste hockte,
+die sein Stuhl war, fragte ich ihn: „Warum sind Sie denn damals nicht
+mit zum Baumwollpflücken gekommen? Sie hatten doch das Reisegeld
+so gut wie ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Eben darum, weil ich das Reisegeld hatte, bin ich nicht mitgekommen.
+Ich hatte Sie gewarnt, aber Sie wollten mir ja nicht glauben. So
+leicht werden Sie nun wohl nicht mehr darauf hineinfallen.“
+</p>
+
+<p>
+„Man kann nie im voraus wissen, ob es stimmt, oder ob es nicht stimmt.
+Im vorigen Jahre stimmte es“, erwiderte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich kann es auch mal stimmen und wirklich Arbeit da sein und
+richtiger Pflückerlohn“, bestätigte er mir. „Aber ich habe reichlich Erfahrung.
+Vor drei Jahren war ich pflücken, bei einem Amerikaner.
+Wissen Sie, wie es mir ergangen ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wie?“
+</p>
+
+<p>
+„Als die erste Woche herum war, wollten wir unsern Lohn haben. Da
+sagte der Farmer, er könne nur jedem einen Peso geben. Wenn wir
+Ware brauchten, so könnten wir das aus seinem Laden beziehen. Da
+nahmen wir auch Ware, weil wir sie brauchten. Von dem Tage an gab
+er uns überhaupt kein Geld mehr, sondern immer nur Bons für seinen
+Laden. Und da setzte er uns Preise an, doppelt so hoch als in der Stadt.
+Tabak, den wir in der Stadt für achtzig Centavos kauften, berechnete
+er uns mit einem Peso vierzig. Ein Hemd, das in der Stadt drei Pesos
+kostete, berechnete er mit fünf Pesos. So ging das mit Mehl, mit Bohnen,
+mit Kaffee, na, kurz mit allem. Als wir dann mit der Ernte fertig waren,
+wollten wir abrechnen und unser Geld haben. Da sagte er ganz trocken,
+er hätte selber kein Geld, wir könnten für das ganze Geld, das uns noch
+zustände, Ware haben. Was sollten wir aber mit der Ware machen?
+Geld brauchten wir vor allem, um wieder zur Stadt zurückkommen zu
+können.“
+</p>
+
+<p>
+„Und bekamt ihr das Geld?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+„Nein, wir mußten laufen. Er blieb uns den ganzen Lohn schuldig. Er
+sagte, wir sollten unsre Adresse einschicken, dann wolle er uns das Geld
+im Oktober schicken. Er hat nie einen Centavo geschickt, ist den Lohn
+heute noch schuldig. Wir haben gerade für das lausige Essen die acht
+Wochen gepflückt. Und was für Essen? Sie wissen ja, was man sich da
+kocht, und was man ißt. Sie haben ja gepflückt.“
+</p>
+
+<p>
+„Da läßt sich auch gar nichts dagegen tun“, sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, die kriegen immer wieder Leute. Immer wieder andre. Immer
+wieder andre Dumme, immer wieder andre, die in der Stadt vor dem
+Verhungern stehen, und die ehrlich arbeiten wollen. Wir haben ja nun
+in einigen Staaten sehr tüchtige Gouverneure, die von den Arbeitern
+gewählt wurden, von den Sozialisten und von den Syndikaten. In San
+Luis Potosi und in Tamaulipas. Die Gouverneure haben nun vor kurzem
+in den Arbeiterversammlungen gesprochen und zugesagt, daß sie hier
+energisch eingreifen wollen. Der Gouverneur von Tamaulipas arbeitet
+ein Dekret aus, daß jeder Baumwollfarmer fünfundzwanzig Pesos
+hinterlegen muß für jeden Pflücker, und daß er für jeden Pflücker das
+Bahngeld für die Hin- und Rückreise bezahlen muß. Das ist wenigstens
+ein Anfang. Bis jetzt konnten die mit den armen Teufeln machen, was
+sie gerade wollten. Wenn sie dann keine Pflücker kriegen und überall
+herumschreien, daß ihnen die Ernte verfault, dann sagen sie, das Landarbeitersyndikat
+sei schuld und das müßte ausgerottet werden. Dann
+reden sie von den faulen Indianern und den Peons, die lieber als Banditen
+leben, als daß sie anständig arbeiten wollen. Mich fängt keiner
+mit dem Schwindel. Baumwollpflücken? Ich? Ich denke nicht, daß Sie
+mich für einen solchen Dummkopf halten. Lieber stehlen oder krepieren.
+Haben Sie schon einmal hier einen armen Farmer gesehen? Ich
+nicht. In den ersten drei Jahren vielleicht, da geht es ihm etwas hart.
+Aber wenn er das Land erst einmal durch hat, dann ist es sicherer als
+eine Goldmine. Dann aber wollen sie auch gleich noch Diamantminen
+daraus machen dadurch, daß sie die Arbeiter um den Lohn betrügen.
+Cabrones!“
+</p>
+
+<p>
+Ich denke, daß Osuna durchaus recht hatte. Und ich nahm mir vor,
+meine Laufbahn als Baumwollpflücker für immer abzuschließen. Es
+kam nichts dabei heraus. Und es war so zwecklos. Was kümmerte mich
+denn der Baumwollbedarf Europas? Wenn sie Baumwolle da drüben
+haben wollen, so mögen sie herüberkommen und sie sich selber abpflücken,
+damit sie einmal erfahren, was es heißt: Baumwolle pflücken.
+Mit dieser neuerkämpften Lebensweisheit belastet, verließ ich Osuna
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+und ging rüber zu der Kaffeebar, um Kaffee zu trinken und zwei Hörnchen
+zu essen.
+</p>
+
+<p>
+Neben mir saß ein Amerikaner, ein älterer Mann, sicher Farmer.
+</p>
+
+<p>
+„Suchen Sie nach was?“ fragte er, als ich über die Bar hin und her
+guckte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, nach dem Zucker“, sagte ich. Er reichte mir die emaillierte Zuckerbüchse.
+</p>
+
+<p>
+„Das meinte ich eigentlich nicht, als ich fragte“, sagte der Mann
+lächelnd. „Ich meinte vielmehr, ob Sie etwas verdienen wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Das will ich immer“, erwiderte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie schon mal Rinderherden blockiert?“ fragte er jetzt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin auf einer Viehfarm groß geworden.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann habe ich Arbeit für Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja?“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Herde von tausend Köpfen, achtzig Stiere darunter, dreihundertfünfzig
+Meilen über Land bringen. Abgemacht?“
+</p>
+
+<p>
+„Abgemacht!“ Ich schlug in seine Hand. „Wo sehe ich Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Hotel Palacio. Um fünf. In der Halle.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-15">
+15
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">infach</span> mit der Bahn können Viehherden nicht befördert
+werden. Das Land ist groß, die Strecken sind
+so weit, daß die Frachten die Herden auffressen. Das
+Füttern und Tränken hat gleichfalls seine Schwierigkeiten.
+Es muß herangeschafft werden zu den Stationen,
+Futterleute müssen angenommen werden.
+Durch den langen Transport geht das Vieh auch herunter.
+Es kann am Ende so kommen, daß der Viehzüchter
+noch draufzahlen darf, wenn die Reste der Herde am Bestimmungsmarkte
+angelangt sind.
+</p>
+
+<p>
+So bleibt nichts andres übrig, als die Herden über Land zu treiben. In
+den europäischen Ländern ist das eine ziemlich einfache Sache. Aber
+hier gibt es keine Straßen. Es müssen Gebirge überstiegen werden,
+Sümpfe umgangen, Flüsse gekreuzt werden. Man muß stets Wasser zu
+finden verstehen, weil die Herden sonst zugrunde gehen, und man muß
+täglich Weidegründe erreichen.
+</p>
+
+<p>
+„Was, dreihundertfünfzig Meilen?“ fragte ich Mr. Pratt, als wir uns
+zur Verhandlung niedergesetzt hatten. „Luftlinie?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+„Ja, Luftlinie.“
+</p>
+
+<p>
+„Verflucht. Das können dann sechshundert Meilen werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Das glaube ich nicht“, erwiderte Mr. Pratt. „Soweit ich Erkundigungen
+einziehen konnte, läßt es sich nahe an der Luftlinie halten.“
+</p>
+
+<p>
+„Was mit der Bezahlung?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Sechs Pesos den Tag. Ich stelle Pferd und Sattelzeug. Beköstigen
+müssen sie sich selbst. Ich gebe Ihnen sechs von meinen Leuten mit,
+Indianer. Der Vormann, ein Halbblut, geht auch mit. Er ist ein ganz
+tüchtiger Mann. Verläßlich. Ich könnte ihm die Herde vielleicht anvertrauen.
+Aber besser nicht. Wenn er alles unterwegs verkauft und wegrennt,
+kann ich nichts machen. Seine Frau und seine Kinder wohnen bei
+mir auf dem Rancho. Aber das ist keine Sicherheit. Suchen Sie mal hier
+jemand im Lande. Und ich möchte ihm auch nicht soviel Geld mitgeben.
+Ohne Geld kann ich ihn nicht abschicken; da sind so viele Ausgaben
+unterwegs. Es ist nicht gut, die Leute zu verführen. Selber kann ich
+nicht so lange fortbleiben vom Rancho. Wenn man es weißt, dauert es
+nicht lange, und die Banditen sind herum. Nun hätte ich gern einen
+weißen Mann, der den Zug übernimmt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ob ich so ehrlich bin, wie Sie denken, das weiß ich nicht. Noch nicht“,
+sagte ich lachend. „Ich verstehe es auch, mit einer Herde durchzubrennen.
+Sie haben mich doch gerade hier auf der Straße aufgegriffen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sehe den Leuten ins Gesicht“, sagte Mr. Pratt. „Aber, um ganz
+ehrlich zu sein: So auf gut Glück gehe ich ja nun auch nicht. Ich kenne
+Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie mich? Ich wüßte nicht woher.“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie denn nicht bei einem Farmer mit Namen Shine gearbeitet?“
+</p>
+
+<p>
+„Allerdings“, bestätigte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Da habe ich Sie gesehen. Sie gingen dann zu den Ölleuten zur Ablösung
+eines Drillers. Na?“
+</p>
+
+<p>
+„Stimmt. Ich erinnere mich aber nicht, daß ich Sie gesehen hätte.“
+</p>
+
+<p>
+„Tut nichts. Aber Sie sehen, daß ich Sie kenne. Und Mr. Shines Wort,
+daß ich mich auf Sie verlassen kann, trotzdem Sie sich immer um Streiksachen
+kümmern –“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Fällt mir gar nicht ein. Was kann ich denn dafür, daß immer
+zufällig da, wo ich bin, die Hölle losgeht. Ich mische mich nie rein.“
+</p>
+
+<p>
+„Lassen wir das beiseite. Bei mir haben Sie keine Gelegenheit. Sie haben
+den Kontrakt und sind kein Arbeiter. Sie übernehmen es, die Herde zu
+transportieren, und ich übernehme es, Ihnen das Geld vorzustrecken
+und Ihnen Tagesdiäten zu zahlen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+„Kontrakt? Ganz gut. Aber was mit der Kontraktprämie?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+Mr. Pratt schwieg eine Weile, dann nahm er sein Notizbuch, rechnete
+und sagte: „Ich habe zwei Meilen vom Markt, wo ich sie zum Verkauf
+bringen will, eine Weide gepachtet. Sie ist aufgezäunt. Wenn ich die
+Herde in der Weide halten kann, brauche ich nicht die Preise zu
+nehmen, sondern kann meinen Vorteil wahrnehmen, bis man mir
+kommt. Wahrscheinlich kriege ich mehrere Schiffsladungen in Auftrag.
+Andernfalls verkaufe ich dutzendweise. Macht bessern Preis, als wenn
+ich die ganze Herde auf einmal losschlagen muß. Ich werde mal sehen.
+Ich habe einen guten Kommissionär da, der schon jahrelang mit mir
+arbeitet und immer gute Preise geholt hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist alles ganz gut,“ flocht ich ein, „aber das alles hat nichts mit
+meinem Kontrakt und meiner Prämie zu tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Well, für jeden Kopf, den Sie gesund durchkriegen, bezahle ich Ihnen
+extra sechzig Centavos. Wenn Sie weniger als zwei Prozent Verlust
+haben, noch einmal hundert Pesos.“
+</p>
+
+<p>
+„Und das Risiko?“
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie mehr verlieren als zwei Prozent, dafür ziehe ich Ihnen pro
+Kopf verlorenes Vieh fünfundzwanzig Pesos ab“, sagte Mr. Pratt.
+</p>
+
+<p>
+„Warten Sie einen Augenblick“, sagte ich. Ich rechnete rasch auf einem
+Zeitungsrand und antwortete dann: „Abgemacht. Einverstanden. Geben
+Sie mir den Kontraktzettel.“
+</p>
+
+<p>
+Er riß ein Blatt aus seinem Büchlein aus, schrieb mit Bleistift die soeben
+vereinbarten Bedingungen auf, unterschrieb den Zettel und gab ihn mir.
+„Ihre Adresse?“ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Meine Adresse?“ sagte ich. „Ja, meine Adresse, das ist so eine Sache.
+Sagen wir hier, sagen wir: Hotel Palacio.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie ist denn das? Ist der Transport schon ausblockiert?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, es ist noch nicht ein Kopf ausblockiert. Wir nehmen einen kleinen
+Prozentsatz Einjährige und in der Masse Zwei- und Dreijährige. Vierjährige
+habe ich nicht viel. Ein paar können Sie mithaben. Beim Ausblockieren
+helfe ich Ihnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist alles gebrannt mit Ihrem Zeichen?“
+</p>
+
+<p>
+„Alles, damit haben wir nichts zu tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Was mit den Leitstieren?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist die Sache. Da müssen Sie zusehen, wie Sie die kriegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist recht. Werden wir schon einangeln.“
+</p>
+
+<p>
+Mr. Pratt stand auf: „Nun wollen wir erst einen gießen, und dann lade
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+ich Sie zum Abendessen ein. Nachher habe ich Privatgeschäfte.“ Diese
+Privatgeschäfte kümmerten mich nicht.
+</p>
+
+<p>
+Als wir uns nach dem Abendessen trennten, fragte Mr. Pratt, wieviel
+ich Vorschuß haben wolle. Ich sagte ihm, daß ich nichts brauche.
+</p>
+
+<p>
+„Was, Sie brauchen keinen Vorschuß?“ fragte er erstaunt. „Das kommt
+mir aber doch recht merkwürdig vor. Wo haben Sie denn das Geld
+gemacht?“
+</p>
+
+<p>
+„In der Spielbank.“
+</p>
+
+<p>
+„Da werde ich heute abend später auch mal hingehen, vielleicht gewinne
+ich Ihren Lohn und Ihre Prämie.“
+</p>
+
+<p>
+„Von mir aber nicht,“ sagte ich, „denn ich komme nicht. Ich halte, was
+ich habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Von Ihnen wollte ich es auch nicht holen. Den andern will ich es
+abnehmen. Da sind immer so verrückte Kerle drin, die aus den Kamps
+hereinkommen, die können es nicht schnell genug hergeben. Ich mache
+Solotisch mit zweien oder dreien dieser Vögel. Wenn Sie lernen wollen,
+wie das gemacht wird, dann kommen Sie hin und sehen Sie zu“, riet
+er mir.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe kein Interesse“, sagte ich und ging meiner Wege.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-16">
+16
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> nächsten Morgen früh um fünf reisten wir ab. Wir
+hatten sechzehn Stunden mit dem Schnellzug zu
+fahren. Die Züge haben nur erste und zweite Klasse,
+weil man hier nicht so viele Kastenunterschiede macht
+wie in vierklassigen Ländern. Die erste Klasse kostet
+wenig mehr als das Doppelte der zweiten. Man reist
+aber in der zweiten ebenso rasch wie in der ersten
+und keineswegs sehr unbequem. In der ersten Klasse
+sind die Sitze an den Längsseiten, aber man sitzt quer zur Zugrichtung.
+In der Mitte ist der Gang, der durch den ganzen Zug führt. In der
+zweiten Klasse, wo die eingeborene ärmere Bevölkerung reist, sind an
+beiden Längsseiten durchgehende Bänke, und man sitzt mit dem Rücken
+gegen die Wand des Abteils. In der Mitte sind Quersitze, und an jeder
+Seite zwischen den langen Bänken und den Quersitzen führt der Gang.
+Die Lokomotiven, gigantische Maschinen, werden nur mit Öl geheizt.
+Hinter dem Tender folgt der Expreßgutwagen und ferner der Gepäckwagen
+mit der Post. Dann folgen zwei lange Wagen zweiter Klasse,
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+dann ein langer Wagen erster Klasse und endlich der Pullman-Wagen
+für die Schlafgäste.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Wagen zweiter Klasse sitzt in jedem Zuge eine Abteilung
+Soldaten von etwa zwölf bis achtzehn Mann mit geladenen Gewehren,
+geführt von einem Offizier. Wegen der Banditenüberfälle auf Züge sind
+die Soldaten notwendig. Es kommt trotzdem vor, daß die Züge von
+Banditen überfallen werden. Dann entwickelt sich zwischen den Soldaten
+und den Banditen eine Schlacht, die einige Stunden dauert und
+eine gute Anzahl Tote kostet. Bei diesen Überfällen werden die Reisenden
+ausgeraubt, jedoch nie getötet, es sei denn, daß sie bewaffneten
+Widerstand leisten. Abgesperrte Bahnübergänge, Bahnwärter und so
+etwas gibt es nicht. Die Züge sausen mit rasender Geschwindigkeit
+durch das unübersehbare Land, durch Dschungel und Busch, über
+Prärien und über Gebirge, die mit ewigem Schnee bedeckt sind. Über
+weite Schluchten sind Brücken gezogen, vierzig, fünfzig, sechzig Meter
+hoch, viele Kilometer lang. Und die Brücken sind nur aus Holz, und der
+Zug rast in schwindelnder Höhe darüber hinweg.
+</p>
+
+<p>
+Die Bahnstrecke ist nicht abgezäunt. Rinderherden, Pferde, Esel, Maultiere
+und Wild treiben sich in der Nähe der Bahnstrecke umher und
+weiden oder ruhen mitten auf dem Geleise. Dann heult der Zug schauerlich,
+um die Tiere zu verscheuchen. Manchmal stehen sie auf und rennen
+davon; manchmal rühren sie sich nicht, und der Zug muß halten, und
+ein Zugbeamter steinigt die Tiere hinweg. Dann wieder laufen die Tiere
+direkt in den rasenden Zug oder sie werden übersehen. An der ganzen
+langen Zugstrecke sieht man zu beiden Seiten der Geleise die Skelette
+der Tiere liegen. Verwundete, denen die Füße abgefahren sind oder
+der Leib aufgerissen wurde, liegen verdurstend, den Tod erwartend in
+der tropischen Sonnenglut. Niemand, der vorbeikommt, tötet sie und
+erlöst sie von ihren Qualen, weil der Besitzer vielleicht irgendwo
+lauert; denn wenn man das Tier tötet, muß man ihm das Tier bezahlen,
+als ob es lebend wäre, und er darf einen außerdem noch zum Gericht
+schleppen, wo man wegen unerlaubter Tötung eines Tieres mit fünfzig
+oder hundert Pesos oder gar mehr bestraft wird.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man annimmt, daß man nicht beobachtet wird, hält man dem
+armen Tier den Revolver ans Ohr. Dann aber muß man laufen. Mitleid
+an Tieren üben ist kostspielig. Ich habe einmal einem Esel, der
+neben dem Bahngleise im Busch lag und dem der eine Huf abgefahren
+war, eine Schüssel mit Wasser gebracht, als die Sonne im Mittag stand.
+Die dankbaren Augen des Tieres sind mir unvergeßlich. Aber ob ich es
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+ein zweites Mal tun werde, wenn Hütten nicht weit entfernt sind, weiß
+ich nicht. Am Abend, als die Sonne unterging, starb das Tier. Es hatte
+auch noch innere Verwundungen. Ich stand in der Tienda und trank
+eine Limonade. Da kam ein Halbblut rein und sagte zu mir: „Der Esel
+da drüben am Geleise gehört mir. Sie haben ihm heute mittag vergiftetes
+Wasser gegeben. Der Esel ist jetzt tot. Sie werden mir den Esel
+bezahlen. Sie haben ihn vergiftet. Sie haben ja hier den ganzen Nachmittag
+zu den Leuten herumerzählt, es sei eine Schmach, daß man dem
+Tier nicht einen Erlösungsschuß gebe.“
+</p>
+
+<p>
+Das Wasser war natürlich nicht vergiftet, denn ich hatte es aus dem
+Trinkwasser-Tank der Familie des Tienda-Besitzers genommen. Und
+der Besitzer der Tienda bestätigte das auch dem Halbblut. Dieser
+Bursche wußte natürlich recht gut, daß ich dem armen Tier kein Gift
+gegeben hatte. Schließlich einigten wir uns, daß ich ihm fünf Pesos für
+seinen Esel bezahlte und eine Flasche Bier und ein Päckchen Tabak.
+Wenn nicht der Tienda-Mann und einige Indianer, die in der Kantine
+waren, mir beigestanden hätten, wäre mein angewandtes Mitleid eine
+teure Sache geworden.
+</p>
+
+<p>
+Entlang der Geleise hocken die Geier in Schwärmen und warten auf
+die Beute. Sie begnügen sich auch mit Katzen, Hunden, Schweinen.
+Weite Strecken dient das Bett der Eisenbahn ganzen Maultier- und
+Eselskarawanen als Straße, weil die Straße, die nebenher führt, oft
+nicht mehr zu finden ist, denn der Dschungel oder der Busch hat sie
+verschlungen.
+</p>
+
+<p>
+Die Bahn hat nur ein Geleise. Etwa je fünfzig Kilometer voneinander
+entfernt sind große Wassertanks errichtet, wo die Lokomotiven wieder
+frisch aufgefüllt werden können. An vielen Stationen wird kaum gehalten,
+besonders wenn keine Reisenden aussteigen oder einsteigen.
+Dann fliegt nur der Postsack heraus, und der andre wird hineingepfeffert.
+Auch die Eisblöcke, die in Säcke eingenäht sind und festumpackt
+mit Hobelspänen und Sägespänen, um das Eis vor dem Zerschmelzen
+zu schützen, werden einfach hinausgefeuert. Der Empfänger
+wird sich schon darum kümmern.
+</p>
+
+<p>
+Die Fahrkarten kann man auf den Stationen kaufen oder im Zuge.
+Kauft man sie im Zuge, muß man fünfundzwanzig Prozent mehr
+zahlen. Diesen Aufschlag braucht man nicht zu zahlen, wenn die Station
+keinen Fahrkartenverkauf hat. Viele Stationen brauchen nach fünf Uhr
+abends keine Karten zu verkaufen, damit sie nach Eintreten der Dunkelheit
+kein Geld im Gebäude haben, was den Agenten das Leben kosten
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+kann. Auch in diesem Falle wird im Zuge nur der Normalpreis erhoben.
+Die Karte wird einem nach einer Weile im Zuge wieder abgenommen,
+und der Schaffner steckt einem <a id="corr-25"></a>ein kleines Kärtchen in das Hutband,
+auf das er die Kilometerzahl geschrieben hat. So hat er seine Gäste
+alle unter schöner Kontrolle.
+</p>
+
+<p>
+Die Soldaten sitzen meist mit ihren Lesefibeln da, in denen sie buchstabieren.
+Sie sind ausschließlich Indianer und können nur in ganz
+seltenen Fällen lesen und schreiben. Aber sie haben einen brennenden
+Ehrgeiz, es zu lernen. Einer hilft dem andern, und wenn der eine nur
+gerade gelernt hat, wie man „eso“ schreibt, so ist er ganz aufgeregt, es
+seine Kameraden auch zu lehren.
+</p>
+
+<p>
+Um acht oder halb neun wird zum Frühstück gehalten auf einer Station,
+die schon eine belebte Stadt genannt werden darf. Wir stiegen aus und
+gingen in das Bahnhofslokal. Natürlich wieder ein Chinese. Wenn man
+doch endlich mal ein Restaurant finden möchte, das keinem Chinesen
+gehört.
+</p>
+
+<p>
+„Da wundern sich die Leute noch,“ sagte Mr. Pratt, während uns chinesische
+Kellner den Kaffee und die gebackenen Eier mit Schinken hinstellten,
+„daß die Anti-China-Bewegung hier in dem Lande, wo man
+sonst keinen Rassenhaß kennt, immer größeren Umfang annimmt. Aber
+jedes Restaurant, das sie nur ergattern können, erwerben sie, und
+gierig warten sie auf jeden Neuen, der Pleite machen muß, weil er sich
+gegen sie nicht halten kann. Sie nisten sich ein wie Ungeziefer. Sollen
+sich nicht wundern, wenn das mal eine blutige Nacht gibt.“
+</p>
+
+<p>
+„An der Pazifikküste habe ich eine erlebt“, erzählte ich ihm. „Kostete
+achtundzwanzig Chincs das Leben. Und niemand wußte, wer es getan
+hat. Aber sie sind nicht gegangen. Sie übernehmen das Risiko.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es ja eben,“ erwiderte Mr. Pratt, „was ich mit Ungeziefer sagen
+wollte. Sie sind wie die Läuse.“
+</p>
+
+<p>
+Wir standen auf, zahlten und gingen ein wenig auf dem Bahnsteig
+spazieren. Dutzende von Händlern liefen herum und boten alles mögliche
+an, von dem man nicht glauben möchte, daß es auf Bahnsteigen
+angeboten werden könnte. Papageien, junge Tiger, Tigerfelle, lebende
+Rieseneidechsen, Blumen, Singvögel, Apfelsinen, Tomaten, Bananen,
+Mangos, Ananas, Zuckerrohr, kandierte Früchte, zerbröckelnde Schokolade,
+Tortillas, gebratene Hühnchen, geröstete Fische, gekochte Riesenkrebse,
+die in ihrer runden, spinnenähnlichen Gestalt grauenerregend
+aussehen, aber sehr gut schmecken, Flaschen mit Kaffee, mit Zitronenwasser,
+mit Pulque. Zerlumpte und barfüßige Indianermädchen liefen
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+am Zuge entlang und boten sich als Dienstmädchen und Köchinnen an.
+Es ist für die zwanzig oder dreißig Minuten, während der Zug hier
+steht, ein Leben auf der Station wie auf dem tollsten Jahrmarkt. Der
+Gegenzug kommt meist am Abend hier vorbei, aber da warten die
+Gäste schon auf die nahe Großstadt und sind müde und abgespannt
+von der Fahrt. Während der übrigen Zeit des Tages ist eine solche
+Station, die augenblicklich sinnverwirrend erscheint, totenstill. Sie glüht
+müde in der Sonne. Nur die Güterzüge bringen ein wenig Bewegung
+unter die Beamten; aber alles ist träge und schläfrig. Das Leben ist
+konzentriert auf die zwanzig Minuten am Morgen. Wer in diesen zwanzig
+Minuten sein Geschäft nicht gemacht hat, muß diesen Tag aus seinem
+Leben als einen erfolglosen Tag streichen.
+</p>
+
+<p>
+Mittags kamen wir in eine größere Station, wo der Zug etwa vierzig
+Minuten zum Mittagessen hielt. In der Bahnhofswirtschaft – richtig
+wieder Chinesen – standen an mehreren großen Tischen schon dreißig
+Gedecke bereit. Die halbe Anzahl Teller war schon mit Suppe gefüllt.
+Mit einem raschen Blick hatte der Inhaber heraus, auf wieviel Gäste er
+rechnen könne. Manche aßen kein Dinner, sondern sie ließen sich nach
+der Karte bedienen. Sie kamen schlechter dabei weg. Die Portionen
+waren weder größer noch besser, aber teurer, als wenn sie im Dinner
+gingen.
+</p>
+
+<p>
+Dann kam der lange, der ermüdend lange Nachmittag der Fahrt. Der
+Zug sauste immer durch die gleiche Landschaft. Dschungel, Prärie,
+Busch. Der Gegenzug, der hier an der Mittagsstation kreuzte, hatte die
+Morgenzeitungen der entgegengesetzten Stadt mitgebracht. Sie wurden
+im Zuge verkauft. Man konnte sonst noch alles mögliche im Zuge haben:
+Bier, Wein, Limonade, Schokolade, Früchte, Süßigkeiten, Zigaretten,
+Zigarren. Alle Getränke waren geeist, und wer kein Geld hatte, bekam
+gutes reines Eiswasser umsonst, das er sich selbst holte.
+</p>
+
+<p>
+Abends um neun stiegen wir auf einer kleinen Station aus. Es war die
+Heimatstation des Mr. Pratt. Wir gingen in die Kantina, die gleichzeitig
+das Hauptpostamt war. Mr. Pratt begrüßte den Kantina-Besitzer,
+einen Senjor Gomez, und stellte mich ihm vor.
+</p>
+
+<p>
+Na, zu essen, was man woanders essen nennen würde, gibt es in solchen
+Kantinas nicht. Aber man kann nicht verhungern. Man kann sich das
+schönste Essen zusammenstellen. Wir nahmen eine Büchse Vancouver
+Salm, einige Büchsen spanische Ölsardinen, einige Büchsen Wiener
+Würstchen (gemacht in Chikago), eine Büchse Kraftkäse (die Marke
+heißt Kraft, aber der Käse ist trotzdem gut und kräftig, wenn auch
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+teuer wie ein Stück Gold), und endlich nahmen wir noch ein Paket
+Crackers, weil es Brot oder Brötchen nicht gibt. Was sollte man damit
+auch auf dem Lande anfangen? Den Tag darauf ist es wie Stein oder
+völlig verschimmelt oder innen und außen voll von kleinen roten
+Ameisen. Diese Crackers sind viereckige Biskuits, so groß wie eine
+Handfläche, und ich habe den Fabrikanten sehr stark im Verdacht, daß
+er mit diesen Crackers die Christen an den Geschmack der Matze gewöhnen
+will. Als mir mal jemand Matze zu kosten gab, sagte ich zu
+ihm: „Schwindeln Sie mich doch nicht an, das ist ja ein Klotz-Cracker.“
+Ja, also so schmeckt das Zeug. Entsetzlich nüchtern und nichtssagend.
+Aber was andres gibt es nicht. Und wenn man nicht zu den indianischen
+Tortillas hält, sind diese Crackers wohl das gesündeste Brot in den
+Tropen; denn europäisches oder gar deutsches Brot würde einem hier
+den Magen umdrehen und in einer Woche auf den Cementerio bringen.
+Der Cementerio ist der Platz, wo man hier die Toten begräbt, ein Platz,
+den man woanders Friedhof nennt.
+</p>
+
+<p>
+Aber an Friedhof dachten wir nicht, denn wir machten uns mit dem
+Senjor Gomez über seinen Bier- und Tequila-Vorrat her. Wir waren
+zwar nach einer angemessenen Frist dann auch tot, jedoch nicht reif
+zum Begraben. Wir wickelten uns in unsre Decken und legten uns auf
+den Boden des Billardraumes in der Kantina. Senjor Gomez hatte es
+besser. Er ging zu seiner Frau und lag weicher als wir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-17">
+17
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_m.jpg" alt="M"><span class="hidden">M</span></span><span class="postfirstchar">it</span> diesem Gedanken an eine Frau oder an die
+Frau im allgemeinen – so genau weiß ich das
+nicht mehr – schlief ich ein, und mit dem Gedanken
+an eine bestimmte Frau wurde ich am
+nächsten Morgen geweckt. Diese Frau war Mrs.
+Pratt. Sie war vom Rancho mit dem Ford gekommen,
+um in der Kantina einiges einzukaufen.
+Bei dieser Gelegenheit fand sie ihren Ehegatten,
+den sie noch nicht erwartet hatte, und sie fand ihn in einer Verfassung,
+die sie am allerwenigsten erwartet hätte.
+</p>
+
+<p>
+Wie das immer so geht, solange die Welt aufgebaut ist, es ist stets der
+Unschuldige, der leiden muß. Ich war der Unschuldige, und ich mußte
+infolgedessen leiden. Mr. Pratt war das Muster eines Ehemannes, und
+ich, den er irgendwo im Schlamm aufgelesen hatte, war der nichtswürdige
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+Bube, der ihn verlockt, verführt und ihn in den Sumpf geworfen
+hatte. Denn er, der brave Mr. Pratt, tat so etwas nie.
+</p>
+
+<p>
+Als wir gingen, gab Mr. Pratt Senjor Gomez einen Wink. Männer verstehen
+den Wink sofort, besonders wenn die beiden, zwischen denen
+der Wink ausgetauscht wird, Ehemänner sind, die mit ihren Frauen
+gern in Frieden leben.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hatten also so viele Ölsardinen und dann noch das und das und –“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Der Wink kam wieder.
+</p>
+
+<p>
+„– und Sie hatten zwei kleine Flaschen Bier, und hier der Mr. Gale
+hatte vier. Ja, das ist alles. Ich habe die Flaschen genau angekreuzt.“
+</p>
+
+<p>
+Mrs. Pratt war zufrieden mit ihrem Gatten. Er konnte ja später das
+Schock Flaschen bezahlen, das da leer in der Ecke lag. Er war dem
+Senjor Gomez ja gut. Aber ich kriegte einen Blick von Mrs. Pratt, der
+mich das Schlimmste befürchten ließ, und ich überlegte ernsthaft, ob es
+nicht besser sei, Mr. Pratt gleich hier zu sagen, daß ich auf den Kontrakt
+doch lieber verzichten wolle. Denn ich hatte ja etwa zwei Wochen, wenn
+nicht länger, im Hause der Mrs. Pratt zu leben. So lange konnte es
+dauern, bis der Transport ausblockiert war. Und was konnte mir diese
+Dame in jener langen Zeit alles antun! Man denke, ich hatte ihren nüchternen,
+braven Ehegatten in eine Verfassung gebracht, daß er selbst
+jetzt, nach einigen Stunden Schlaf, noch kaum auf den Füßen stehen
+konnte und mit verglasten Augen in die Welt guckte. Man soll sich mit
+verheirateten Männern nicht einlassen. Das tut nie gut. Das ist eine
+ganz andre Rasse. Ich würde mich nicht wundern, wenn ich Senjora
+Gomez auch noch auf den Hals kriege. Dann aber laufe ich, das ist
+sicher; denn gegen Senjoras läßt es sich schwerer ankommen als gegen
+Missis. Deren Zungenbänder sind viel geläufiger als die anglosächsischen,
+und die Senjoras arbeiten viel intensiver und viel unvorsichtiger mit
+den Fingernägeln.
+</p>
+
+<p>
+Ich war deshalb recht froh, daß Mrs. Pratt ihren sonst so Nüchternen
+in den Ford bugsierte, sich an das Steuerrad setzte, einschaltete und
+abrasselte. Daß ich mit sollte und mit wollte, darum kümmerte sie sich
+nicht. Ich konnte ja laufen, die vierzehn Meilen, die der Rancho von
+der Station entfernt war. Aber der Gedanke daran gab mir eine ungeheuere
+Schwungkraft, und mit dieser Schwungkraft setzte ich dem
+Ford nach, als Mrs. Pratt die Kurve einbog, um auf den Weg zu
+kommen. Ich rasselte in die offene Klappe, Kopf zuerst. Die Schwungkraft
+hatte nicht ausgereicht, auch die Beine mit hineinzukriegen. Deshalb
+hingen die Beine lang heraus. Ich bin überzeugt, daß die Indianer,
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+denen wir unterwegs begegneten, sicher glaubten, ich sei eine Anprobierpuppe,
+die Mrs. Pratt von der Bahn geholt habe. Vielleicht glaubten
+sie noch ganz andre Dinge, vielleicht, daß Mrs. Pratt mich überfahren
+habe und mich nun rasch nach dem Rancho schleppe, um mich dort
+einzuscharren.
+</p>
+
+<p>
+Wir kamen auf dem Rancho an. Aber niemand kümmerte sich um mich.
+Mrs. Pratt fuhr das Auto unter ein Strohdach und ließ es dort stehen.
+Ich hing noch immer in dieser unglücklichen Stellung in der Klappe.
+Endlich aber wurde mir diese Lage doch zu unbequem. Ich zerrte mich
+heraus und setzte mich in die Polster.
+</p>
+
+<p>
+Als ich erwachte, stand die Sonne tief. Ob sie aufgehend oder untergehend
+war, wußte ich nicht, weil ich ja hier fremd war und die
+Himmelsgegenden nicht kannte.
+</p>
+
+<p>
+„Hallo, Sie da unten, haben Sie jetzt Ihren Suff ausgeschlafen?“ rief
+da Mrs. Pratt von der Veranda des Rancho-Hauses herunter. „Sie
+scheinen mir ja gerade das richtige Hühnchen zu sein, das mein alter
+Esel da auf der Straße aufgelesen hat. Sie werden wohl mit der Herde
+am Panama-Kanal landen, Sie Trunkenbold. Dem Himmel sei Dank,
+daß da der Kanal ist, sonst könnten wir der Herde bis nach Brasilien
+nachlaufen. Wer weiß, wo Sie mit ihr hingeraten. Kommen Sie rein
+zum Essen.“
+</p>
+
+<p>
+Zum Essen. War das nun Frühstück oder Abendessen? Ich sah nach
+meiner Uhr. Stehengeblieben. Natürlich. Wenn man so ein verfluchtes
+Ding mal wirklich braucht, dann steht sie. Am liebsten möchte ich sie
+gleich gegen die Wand pfeffern. Was tu ich mit einer Uhr, die stehnbleibt,
+wenn man mal eine Flasche Bier trinkt und lustig ist und singt!
+Also rauf zum Essen. Nur um die gute Frau nicht noch mehr zu ärgern,
+aß ich von allem etwas. Mr. Pratt saß gleichfalls am Tisch und piekte
+in seinen Tellern herum. Er sah nicht auf, und er tat, als ob er mich
+gar nicht kenne. Wenn ich das Wort an ihn richtete, brummte er nur.
+Ich kannte den Schwindel schon. Er hatte seiner Frau erzählt, daß ich
+ihn verführt hätte, und daß er fertig mit mir sei, aber da er doch schon
+die Kosten der Fahrt für mich bezahlt habe, wolle er mich mit der
+Herde losschicken und dann nie wiedersehn.
+</p>
+
+<p>
+Als Mrs. Pratt einmal aufstand, um zur Küche zu gehen, sagte Mr. Pratt:
+„Hallo, Boy, machen Sie das Konzert ein wenig mit. Morgen ist es verraucht.
+Sie ist gar nicht so. Eine prächtige Seele. Nur mit dem Trinken
+kann sie sich nicht befreunden.“ Nun änderte er den Ton: „Es war
+unanständig von Ihnen, daß Sie mich immerfort aufforderten, auf die
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+Gesundheit des Präsidenten, auf die Fahne, auf das Vieh zu trinken.
+Ich hatte Ihnen im voraus gesagt, daß ich trocken bin und nie trinke.
+Aber wenn Sie mit Gesundheittrinken kommen, das ist ein unfaires
+Spiel.“
+</p>
+
+<p>
+Nanu? Was war denn das mit einem Male? Ach so, Mrs. Pratt war
+wieder hereingekommen, und er hatte das Konzert zu machen. Er verstand
+es. Er hatte die letzten Sätze so hinausgedonnert, daß Mrs. Pratt
+sich ganz aufrecht auf ihren Stuhl setzte, als ob sie damit sagen wollte:
+Da können Sie sehen, was für einen anständigen Mann ich habe; er tut
+es nur aus Patriotismus, während Sie es aus Verkommenheit tun.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen wurden wir in Gnaden entlassen. Mir wurde meine
+Stube gezeigt, und ich legte mich schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Am folgenden Morgen, gleich nach dem Frühstück, sattelten wir auf
+und ritten erst einmal nach der Pferdeprärie hinaus, damit ich mir ein
+Pferd aussuchen möge. Die Pferde werden draußen auf der Prärie
+gezeugt und geboren. Sie kommen nie in einen Stall und wachsen völlig
+wild auf. Ställe gibt es überhaupt nicht. Pferde und Vieh sind Sommer
+und Winter im Freien. Die Pferde werden durchaus menschenscheu
+und fliehen, wenn sie nur einen Menschen in der Nähe riechen.
+</p>
+
+<p>
+Zweimal oder dreimal im Jahr werden die Pferde, die man nicht
+gebraucht, eingefangen und in einen Korral, eine kleine Umzäunung
+in der Nähe des Hauses, gebracht. Hier werden sie gefüttert, damit sie
+sich des Menschen nicht ganz entwöhnen, werden angebunden, werden
+geduldig aufgezäumt, aufgesattelt, endlich wird aufgesessen, und dann
+werden sie wieder entlassen. Hier wird das alles mit großer Geduld
+getan, um den Charakter des Pferdes nicht zu brechen, seinen Stolz
+nicht zu verletzen, sein natürliches Feuer nicht auszulöschen.
+</p>
+
+<p>
+In Amerika geschieht das Brechen der wild aufgewachsenen Pferde
+mitleidloser. Sie werden in den Korral gebracht, sehr fest gezäumt, fest
+gesattelt, und gleich springt ein Mann rauf, den das Pferd nicht mehr
+abwerfen kann, weil der Mann in dem Stocksattel sehr fest sitzt. Dann
+wird das Tier gepeitscht, und es rast nun herum, bis es schäumend und
+in Schweiß gebadet, keuchend und völlig ermattet zusammenbricht.
+Dann zittert es tagelang nachher noch, wenn es nur den Sattel spürt.
+Aber es wehrt sich nicht mehr. Es ist zahm. Man kann es nun reiten.
+Aber es ist nicht mehr „das Pferd“, es ist nur „ein Pferd“. Ein Pferd
+unter tausend gleichen Pferden.
+</p>
+
+<p>
+Ich suchte mir ein Pferd aus, von dem ich glaubte, daß es die anstrengende
+Reise aushalten könne. Wir umzingelten es, lassoten es ein
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+und brachten es zurück zum Rancho. Ich band es an einen Baum und
+ließ es ganz in Ruhe. Dann etwas später warf ich ihm Mais vor, den es
+nicht nahm. Dann Gras, das es auch nicht fraß. Hierauf ließ ich es den
+Rest des Tages und die Nacht hungern und dursten. Am Morgen gab
+ich ihm Gras. Es lief fort, soweit die Leine reichte. Dann stellte ich ihm
+Wasser hin, das es umschüttete, weil es nicht gewöhnt war, aus einem
+Eimer zu trinken. Es hatte immer nur am Teich getrunken.
+</p>
+
+<p>
+Mit der Zeit brachte ich es, oder richtiger: sein eigner Hunger brachte es
+zum Essen und Trinken. Und da es sein Essen und Trinken nur bekam,
+wenn ich dabeistand, verband es das Essen mit meiner Gegenwart,
+und nach zwei Tagen bereits kannte es mich, und ich durfte ihm nahe
+kommen und es ganz leicht auf den Nacken klopfen. Es zitterte zwar
+ein wenig, aber bald verschwand auch das Zittern.
+</p>
+
+<p>
+Natürlich konnte ich mich nicht die ganze Zeit über mit dem Pferde
+beschäftigen, sondern eben nur, wenn ich zum Essen zum Rancho kam,
+weil wir den ganzen Tag mit dem Blockieren zu tun hatten.
+</p>
+
+<p>
+Als es sich an mich noch besser gewöhnt hatte, zäumte ich es auf ohne
+Maulknebel, nur mit Riemenzaum, der außen um das Maul gelegt wird.
+Man kann die Pferde, wenn sie nicht durch falsche Behandlung verdorben
+sind, gut ohne eisernen Maulknebel reiten. Sie gehen wundervoll
+dabei; denn es ist eine irrige Annahme, daß man ein Pferd nur
+meistern könne, wenn man seine Mundwinkel aufreißt oder wundscheuert.
+Das ist lediglich die Folge falscher Behandlung. Kühen steckt
+man ja auch keine Eisenknebel ins Maul.
+</p>
+
+<p>
+Dann sattelte ich es, und jedesmal, wenn ich zum Essen hereinkam, zog
+ich die Gurten fester. Jedesmal drückte ich fest auf den Sattel, als ob
+ich mich aufschwingen wolle. Dann ließ ich die Steigbügel hängen und
+ließ sie baumeln, so daß sie gegen die Weichen schlugen. Erst leise,
+dann immer ein wenig mehr. Beim ersten Male schlug das Pferd aus.
+Aber auch an dieses Baumeln und Schlagen der Steigbügel gewöhnte es
+sich nach zwei Tagen völlig. Dann hüpfte ich halb auf den Sattel und
+ließ mich sofort wieder heruntergleiten.
+</p>
+
+<p>
+Während der ganzen Zeit war das Pferd angebunden. Bald sehr lang,
+bald sehr kurz. Endlich wagte ich das Aufsitzen. Ich verband ihm die
+Augen und sprang auf. Es stand und zitterte am ganzen Leibe. Sofort
+war ich wieder herunter. Ich klopfte es auf den Nacken, auf den Rücken
+und sprach unausgesetzt mit ihm. Wieder sprang ich auf. Es drehte
+sich und wendete sich, sprang aber nur wenig. Bald ließ es auch das
+Springen sein, nachdem es sich gegen den Baum gestoßen hatte. Nun
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+blieb ich im Sattel sitzen und schlug mit den Füßen in den Bügeln
+gegen die Weichen. Nur beim ersten Male wurde es unruhig, dann
+wußte es, daß es davon nicht stürbe. Endlich band ich das Tuch los.
+Das Pferd gucke sich um. Ich, oben sitzend, sprach beruhigend auf das
+Tier ein, klopfte es, und wieder fühlte es, daß ihm nichts Böses geschehe.
+Dann kam der Prüfungstag, ob es überhaupt zum Reiten zu gebrauchen
+sei. Ich hatte schon immer mit der Gerte hinten ein wenig aufgeklopft,
+damit es sich auch an dieses Signal gewöhne. Nun saß ich wieder auf
+und ließ losbinden. Es stand ganz ruhig, denn es wußte ja nicht, was
+es tun solle. Ich gab ihm einen Klaps mit der Gerte, aber es reagierte
+nicht. Nun bekam es einen unerwarteten tüchtigen Hieb, und da setzte
+es los. Ich hatte es gut in der Hand, und es war Platz genug zum Auslaufen.
+Ich ließ es nun erst einmal rennen, hielt aber mehr und mehr
+zurück, bis es das Gefühl bekam, daß dies ein Signal sei zum Halten
+oder zum Fallen in eine andre Gangart. Es wurde ein gutes Pferd, sein
+kühner Stolz wurde nicht gebrochen. Ich nannte es Gitano.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst blockierten wir die Stiere aus, weil ich mir einen Leitstier suchen
+mußte. Wir kreisten die ein, die wir haben wollten, und trieben sie in
+einen Korral. Dort ließ ich die, die ich für die geeignetsten hielt, hungern.
+Nebenher wurden unausgesetzt die zwei- und dreijährigen Kühe ausblockiert,
+die Ochsen und die übrigen Stiere. Ich sah mir jedes einzelne
+der Tiere an, ob es gesund sei, dann kamen alle in eine große umzäunte
+Weide, damit die, die den Transport mitzumachen hatten, wußten, daß
+sie zusammengehörten. Als wir etwa dreihundert blockiert hatten und
+sie in der Sperrweide waren, hielt ich die Stiere für reif.
+</p>
+
+<p>
+Ich jagte sie in die Sperrweide, und hier ging der Entscheidungskampf,
+wer der Leitstier sein würde, los. Die keinen Wert darauf legten,
+Herrscher zu sein, drückten sich so weit wie möglich. Fünf kämpften
+sich aus. Der Sieger raste, noch schwer blutend, gleich auf eine der
+schönsten Kühe, die sich schon erwartungsvoll herangedrängt hatten.
+Die übrigen Stiere mußten wir sofort doktern. Als der Sieger ausgetobt
+hatte und wieder Vernunft annahm, bekam er auch seine Medizin.
+Denn wenn man die Wunden nicht gleich behandelt, sind in ein paar
+Tagen dicke Würmer drin, und die wieder herauszukriegen, dauert
+lange. Inzwischen kann das Tier draufgehen.
+</p>
+
+<p>
+Fängt es an zu magern, setzt eine andre Gefahr ein. Dann wird es von
+den Zecken bei lebendigem Leibe aufgefressen. Die Zecken gehen
+hauptsächlich an magerndes Vieh, an gesundes gehen sie nur in kleiner
+Anzahl, die sich leicht bekämpfen läßt.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-18">
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+18
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">ls</span> wir die tausend Köpfe ausblockiert hatten, gab
+mir Mr. Pratt fünf drauf als Krankgut, weil
+zwischen tausend Stück Vieh immer einiges sein
+mochte, das krank war, ohne daß man es gleich sah,
+und das den Transport nicht aushielt.
+</p>
+
+<p>
+Dann bekam ich hundert Pesos Wegegeld und einige
+Schecks, die ich unterwegs einlösen durfte, wenn mir
+Geld fehlte. Ferner erhielt ich den Lieferschein und
+endlich eine Karte, eine Land- und Wegkarte.
+</p>
+
+<p>
+Von dieser Karte, obgleich sie eine amtliche Karte war, will ich besser
+nicht sprechen; denn auf eine Karte aus Papier kann man alles mögliche
+zeichnen: Wege, Flußläufe, Dörfer, Städte, Grasflächen, Teiche, Gebirgspässe
+und was sonst nicht noch alles. Das Papier weigert sich
+nicht, das alles aufzunehmen.
+</p>
+
+<p>
+Aber was darauf gezeichnet ist, braucht noch lange nicht in Wirklichkeit
+auch da zu sein. Ich habe auf Reisen Karten gehabt, amtliche
+Karten, die als die besten galten. Da war eine Stadt mit Namen drauf
+gezeichnet. Als ich zu der Stelle kam, war noch nicht einmal eine
+Indianerhütte zu finden. Die Stadt war vor zwanzig Jahren geplant
+worden und wurde seitdem in jeder Karte geführt, obgleich nie jemand
+daran ging, sich dort niederzulassen. Das wäre auch nicht gut gegangen,
+weil da meilenweite Sümpfe und Moraste waren.
+</p>
+
+<p>
+Böser ist es schon mit solchen Sachen, die nicht auf die Karte gemalt
+sind, die aber in Wirklichkeit vorhanden sind, und, was das Allerschlimmste
+ist, ganz unerwartet vorhanden sind.
+</p>
+
+<p>
+Es ist unangenehm, wenn man denkt, man kommt in ein sandiges
+Gelände und verschwindet mit seiner ganzen Herde in einem Sumpf.
+Und es ist ebenso peinlich, wenn auf der Karte eine schön grün gemalte
+Prärie eingezeichnet ist, und in Wahrheit ist es eine weite Sandwüste
+oder ein unwegsames Felsengebirge, das man zu kreuzen hat. Reist
+man allein, so ist das schon widerwärtig genug. Reist man aber in
+Begleitung einer Rinderherde, für deren Wohl man verantwortlich ist,
+so fängt es an, tragisch zu werden. Die Herde will essen und trinken,
+sie soll kein Gewicht verlieren, sondern zunehmen. Und am zweiten
+Tage fängt das arme Vieh in seinen Durstqualen an zu brüllen, daß
+man nur gleich so mitbrüllen möchte aus Mitleid.
+</p>
+
+<p>
+Wären die Karten aber wieder gut, so gut wie sie in den alten dichtbesiedelten
+Ländern sind, dann könnte man solche großen Herden
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+nicht züchten und nicht transportieren. Mr. Pratt hatte zwölftausend
+Stück Rindvieh, und er war nur ein kleiner Züchter. Denn wie sollen
+gute Karten gemacht werden, wenn weder das Geld dafür vorhanden
+ist noch die Bevölkerung, die ein Bedürfnis für solche Karten hat? Die
+großen Minen- und Ölkompanien machen sich ihre Karten selbst, aber
+nur gerade die Distrikte, wo sie interessiert sind, und in diese Karten
+zeichnen sie nur eben das ein, was für die Kompanie speziellen Wert
+hat. Im Verhältnis zur Größe des Landes sind diese Distrikte nur
+Pünktchen auf der Karte.
+</p>
+
+<p>
+Ein Kompaß war für meine Zwecke ohne Nutzen, weil er nicht das sagt,
+was man wissen will, und das ist: Wo sind die Weiden? Wo ist Wasser
+für tausend Köpfe Vieh? Wo sind die Pässe über die Gebirge? Wo sind
+die Furten durch die Ströme?
+</p>
+
+<p>
+Drei Packmulas nahm ich mir mit und Medizin, um krank werdendes
+Vieh zu doktern, Kreolin, Alkohol, Salbe und eine Eisensäge, falls
+Hörner gekappt werden müssen. Denn die Hörner des Viehes unterliegen
+hier denselben Krankheiten wie die Zähne der zivilisierten
+Menschen. Die Fäule frißt im Innern des Hornes, und das Tier magert
+ab, weil es vor Zahnschmerzen – richtiger Hornschmerzen – nicht
+mehr frißt.
+</p>
+
+<p>
+Mit Mrs. Pratt war ich in den Tagen, die wir für das Ausblockieren
+und Vorbereiten des Transportes brauchten, sehr gut Freund geworden.
+Sie war keineswegs ein solcher Hausdrachen, wie sie am ersten Tage
+erschienen war. Ganz im Gegenteil, sie war ein lustiger Bursche, immer
+vergnügt und guter Dinge. Sie hätte die Banditen bekämpft wie ein
+alter Rancher. Jetzt in den letzten drei Jahren kam es nur ganz selten
+vor, daß sich Banditen auf dem Rancho sehen ließen, aber vordem
+war beinahe jede Woche was los, und das Ranchohaus zeigte Dutzende
+von Kugellöchern.
+</p>
+
+<p>
+Fluchen konnte Mrs. Pratt, daß es eine wahre Freude war, ihr zuzuhören.
+Das ging bei jedem zweiten Wort „Son of a bitch“, „Bastard“,
+„F-ing Injun“, „F-yeself“ und was der schönen Dinge mehr sind. Auf
+einem solchen Rancho ist es ja nun verflucht einsam, und die Nächte
+sind lang. Selbst im Hochsommer ist es um sieben Uhr stockfinster, weil
+es Dämmerungen nicht gibt. Und man konnte es Mrs. Pratt nicht verdenken,
+daß sie das Leben so intensiv lebte, wie es das Dasein auf
+einem Viehrancho nur zuläßt. Wie soll so eine arme Frau die überschüssigen
+Kräfte, die ihr verbleiben, weil sie nicht im Dorfe oder in
+der Stadt den ganzen Tag mit den Nachbarn herumschwätzen und
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+klatschen kann, verwenden? Sie flucht wie ein alter Steuermann eines
+Klippers. Und alles ist „Hurensohn“, ihr Mann, ich, die Indianer, die
+Fliege, die in die Kaffeetasse fällt, das Indianermädchen in der Küche,
+der Finger, in den sie sich geschnitten hat, die Henne, die auf den Tisch
+flattert und die Suppenschüssel umwirft, ihr Pferd, das zu langsam
+läuft, na, kurz: jedes lebende und leblose Ding zwischen Himmel und
+Erdmittelpunkt ist ein Hurensohn.
+</p>
+
+<p>
+Sie hatten ein Grammophon, und wir tanzten beinahe jeden Abend. Ich
+tanzte zwar lieber mit dem indianischen Küchenmädchen aus mancherlei
+Gründen, aber Mrs. Pratt tanzte bei weitem besser. Wir kamen zu
+so guten Verhältnissen miteinander, daß sie mir eines Abends in Gegenwart
+ihres Mannes ganz offen sagte, daß sie mich zu heiraten wünsche,
+falls ihr Mann stürbe oder sich scheiden ließe. Sie erklärte mir gleichfalls
+in Gegenwart ihres Mannes, daß sie mich recht gern habe, und daß
+mein einziger Fehler das Saufen sei. Aber das sei kein unausrottbarer
+Fehler, und sie würde mir diesen Fehler schon bald austreiben und
+mir den Tequila so lange mit Petroleum mischen, bis ich mich davor
+ekle. So habe sie ihrem Manne das Saufen auch abgewöhnt, dem
+Hurensohn.
+</p>
+
+<p>
+Mir war nicht bange davor. Das Resultat, das sie bei Mr. Pratt erzielt
+hatte, gab mir die Sicherheit, daß wenn ich Mrs. Pratt als nachgelassene
+Witwe eines Tages heiraten sollte, ich keine Sorge zu haben brauche,
+daß ich den Tequila oder sonst etwas abschwören müßte. Wenn
+Mr. Pratt die Wege fand und er den Petroleum nicht herausschmeckte,
+was bei dem Tequila überhaupt schwer ist, weil er an und für sich nach
+Petroleum schmeckt, so würde ich wohl auch zu der einem Manne
+zukommenden Ration gelangen. Schließlich mußte man ja auch Vieh
+verkaufen in der Stadt, und da konnte sie einem ja nicht immer nachlaufen,
+auch wenn sie mitreisen sollte. „Nur nicht von Weibern sich
+unterkriegen lassen, wenn man etwas für notwendig und vernünftig
+hält. Es führt zu nichts Gutem, und man gewöhnt sich nur Laster an,
+die man nicht wieder los wird. Entweder man säuft, oder man läuft mit
+andern Weibsbildern herum“, sagte mir Mr. Pratt. „Eine Erholung von
+der Ehe muß der Mensch doch haben, wenn er das Leben ertragen will.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Er hatte ganz recht. Am besten, man stellt der Frau vorher die Frage:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Soll ich zum Tequila halten oder lieber Mäuschen jagen?“ Jedenfalls,
+wenn es dazu kommen sollte, daß es mit Mrs. Pratt und mir ernst wird,
+werde ich ihr diese Frage stellen. Dann habe ich von vornherein die
+Offensive ergriffen, und sie kann sich entscheiden. Ich glaube dann
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+nicht, daß sie mir den Tequila mit Petroleum mischen wird, sondern sie
+wird eine gute Sorte im Hause halten. Wenigstens für die Nachtkappe.
+Sie ist eine feine Frau, Mrs. Pratt. Ich lasse nichts auf sie kommen.
+Eine Frau, die mit dem wildesten Pferd fertig wird, die fluchen kann,
+daß sich ein Wachtmeister vor Scham in eine Erdhöhle verkriechen
+muß, die ihrem Manne alle Wünsche und jede Laune erfüllt – wie er
+mir einmal vertraulich erzählte, ohne dabei seine Frau zu beleidigen –,
+vor der die indianischen Cowboys zittern und die Banditen nicht
+wagen, die Veranda zu betreten, eine Frau, die mir in Gegenwart ihres
+Mannes, den sie liebt, ganz sachlich erklärt, daß sie mich zu heiraten
+wünscht, wenn er stirbt, oder wenn er ihr fortläuft – verflucht noch
+mal, eine solche Frau kann einen wohl bis in den tiefsten Busch und in
+die fernsten Gedanken verfolgen, auch wenn man sich sonst nicht
+gerade viel aus dem kreuzgottverfluchten Weibsvolk macht.
+</p>
+
+<p>
+„He, cantinero, una botella de tequila, eine ganze Flasche. Auf dein
+Wohl, Ethel Pratt. Ich besaufe mich jetzt auf deine Gesundheit. Der
+Petroleumgeschmack soll mich erinnern an – na – na ja, an dich, ganz
+wie du bist, an alles, was du hast. Salud, Ethel!“
+</p>
+
+<p>
+Sie stand auf der Veranda und winkte mit der Hand: „Viel Glück,
+Boy. Sind immer willkommen auf dem Rancho. Hey, Suarez, du
+Himmelhund, du verdreckter Sohn einer alten gottverfluchten alten
+Hure, siehst du denn nicht, daß der schwarze Jungstier ausbricht, er
+bockt, der Hurensohn von einem Stier. Wo hast du denn deine stinkenden
+verfi– Augen? Well boy, good-bye!“
+</p>
+
+<p>
+Ich schwenkte den Hut, und Gitano fegte ab mit mir.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-19">
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+19
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> ging los, das Geschrei und das Gejohle, das Zurufen,
+das Heulen und Schrillen der Indianer, das Pfeifen
+der kurzstieligen Peitschen, das Trampeln der Hufe,
+das Toben einer scheu werdenden Kolonne, die plötzlich
+losraste und einblockiert werden mußte, damit
+sie den Anschluß an den Haupttrupp nicht verliere.
+Den ersten Tag begleitet uns Mr. Pratt. Der erste
+Tag gehört mit zu den härtesten. Die Herde ist noch
+zu lose. Das Zusammengehörigkeitsgefühl stellt sich erst nach einigen
+Tagen des Transportes ein. Dann kennt die Herde die Leitstiere und
+bekommt den Geruch der Verwandtschaft zueinander. Dann bildet sich
+die Familie oder, eigentlich besser, das Volk. Nach einigen Tagen weiß
+jedes Tier, daß es hier zu diesem Trupp gehört, und sie bleiben zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Freilich darf man nicht glauben, daß sie so schön zusammenbleiben
+wie eine Schafherde in Europa, die von einem Hirten und einem Hunde
+zusammengehalten wird. Solche Rinder, die ihr bisheriges Leben auf
+einer unermeßlichen Prärie verbracht haben, sind an Räumlichkeiten
+gewöhnt. Sie drängen nicht aufeinander, sie streuen fortgesetzt. Die
+paar Hunde, die wir mit hatten, konnten nicht viel schaffen. Sie ermüdeten
+und waren nur für Kleinarbeit zu gebrauchen. Immerfort
+mußte blockiert und eingekreist werden. Ein unausgesetztes Galoppieren
+und Schreien und Schrillen.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte eine Trillerpfeife als Signalpfeife für die Boys, und der
+Vormann hatte eine einfache Pfeife, damit man beide Signale unterscheiden
+konnte. Dem Vormann gab ich die Spitze, und ich nahm den
+Schwanz. In der Rückgarde übersieht man besser das ganze Feld des
+Transports. Es läßt sich besser dirigieren, während die Front natürlich
+auch wieder ihre besonderen Kniffe verlangt.
+</p>
+
+<p>
+Oh, was für einen schöneren Anblick gibt es, als so eine Riesenherde
+gesunder halbwilder Rinder! Dort vor einem trampt und stampft sie,
+die breiten Nacken, die runden Leiber, die mächtigen stolzen Hörner.
+Das ist ein wogendes Meer voll unsagbarer Schönheit. Gigantische
+Stärke lebendiger Natur gebändigt unter einem Willen. Und jedes
+Hörnerpaar ist ein Leben für sich, ein Leben mit eignem Willen, eignen
+Wünschen, eignen Gedanken, eignen Gefühlen.
+</p>
+
+<p>
+Von der Höhe seines Pferdes aus überblickt man das Gewoge der
+Hörner und Nacken. Man könnte so von einem Rücken zum andern
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+Rücken über die ganze Herde wandern bis zu den läutenden Stieren
+an der Front.
+</p>
+
+<p>
+Die Tiere brüllten ab und zu, oder zankten sich und stießen sich.
+Es wurde geschrien und gerufen. Die Glocken läuteten. Die Sonne
+lachte und glühte. Alles war grün. Das Land des ewigen Sommers. O du
+schönes, o du wunderschönes, uraltes, sagen- und liederreiches Land
+Mexiko! Deinesgleichen gibt es nicht wieder auf dieser Erde.
+</p>
+
+<p>
+Ich mußte singen. Und ich sang, was immer mir einfiel, Choräle und
+süße Volkslieder, Liebeslieder und Gassenhauer, Opernarien, Sauflieder
+und Dirnenlieder. Was kümmerte mich der Inhalt der Lieder?
+Was ging mich die Melodie der Lieder an? Ich sang aus froher freier
+Herzensfreude.
+</p>
+
+<p>
+Und welch eine Zauberluft! Der heiße Odem des tropischen Busches,
+die warme, schwüle Ausdünstung dieser Masse von wandernden Rindern,
+die schweren Wellen eines fernen Sumpfes, die vom Winde getragen
+herüberwogten.
+</p>
+
+<p>
+Dicke Schwärme summender Beißfliegen und andrer Insekten kreisten
+über der trottenden Herde, und dicke Schwaden schillernder grüner
+Fliegen folgten uns nach, um sofort über den Dünger herzufallen. In
+ganzen Völkern begleiteten uns Schwarzvögel, die sich auf die Rücken
+der Tiere niedersetzten, um die Zecken aus der Haut zu picken. Millionen
+von Lebewesen fanden ihre Nahrung durch diese gewaltige Herde.
+Leben und Leben, und überall nichts als Leben.
+</p>
+
+<p>
+Unser Marsch führte nun einige Tage über Landwege. Zu beiden Seiten
+waren die Felder und Weiden eingezäunt mit Stacheldraht.
+</p>
+
+<p>
+Umzäunte Weiden dürfen ohne ausdrückliche Genehmigung des Besitzers
+nicht eingebrochen werden. Unsre Herde mußte auf den Wegen
+weiden. Sie hatte reichlich zu fressen, und wir trafen auch genügend
+Pfuhle an, die noch von der Regenzeit her mit Wasser gefüllt waren.
+</p>
+
+<p>
+Aber wenn Autos oder Fuhrwerke oder Karawanen die Wege passierten,
+gab es Arbeit. Wir mußten die Tiere zur Seite drängen. Dabei
+scheuten sie, brachen aus oder kehrten um und rasten einzeln oder in
+Trupps kilometerweit zurück, und wir hatten hinterherzujagen und
+sie wieder zum Anschluß zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+Viel schwerer war die Arbeit, wenn wir auf offne Weiden kamen, wo
+andres Vieh in großen Herden bereits weidete, oft ohne Aufsicht. Nicht
+immer, aber doch zuweilen mischen sich die Herden, und man muß sie
+lösen. Wir hatten einmal dreiviertel Tag zu arbeiten, um die Mischung
+zu lösen. Denn von dem fremden Vieh darf man nicht ein einziges
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+Stück aus Versehen mitführen. Das gibt heillosen Spektakel. Ich und an
+letzter Stelle Mr. Pratt waren verantwortlich für Vieh, das durch unsern
+Transport einer andern Herde verlorenging.
+</p>
+
+<p>
+Zuweilen wird man die fremden Tiere nicht los. Sie wollen durchaus
+folgen. Vielleicht, daß sie den Stier mögen, oder daß sie den Geruch
+unsrer Herde lieben. Ebenso kommt es vor, daß sich ein Stück unsrer
+Herde mit einer weidenden Herde mischt und dort nicht mehr heraus
+will, sondern bei jener fremden Herde bleiben möchte. Das soll man
+auch immer gleich wissen, daß man ein fremdes Stück in der eignen
+Herde transportiert, oder daß ein eignes Stück dort zurückgeblieben ist.
+Die Brandzeichen sind oft sehr ähnlich, oft sehr verwischt und unleserlich.
+</p>
+
+<p>
+Es ist dann gut, wenn man die eigne Herde gut erzogen hat, so daß sie
+sich nicht mit den andern mischt und die fremden Tiere ganz von
+selbst ausscheidet.
+</p>
+
+<p>
+Jagt man die fremde Herde beiseite, was der Vormann zu tun hatte
+mit Hilfe eines der Treiber, ehe unsre Herde nahe kam, so konnte es
+doch auch oft geschehen, daß einige Dutzend Köpfe der eignen Herde
+glaubten, sie seien gemeint, und mit der fremden Herde davonjagten.
+Dann wurde das Durcheinander beinahe unentwirrbar, und es kostete
+Schweiß und Kehlen, die von dem vielen Schreien rauh waren wie
+Sandpapier.
+</p>
+
+<p>
+Ein General braucht sich gar nichts auf seine Kunst einzubilden. Ein
+Armeekorps Soldaten über Land zu bringen, ist die reine Spielerei
+gegenüber der Arbeit, tausend Köpfe wild aufgewachsener Rinder
+durch unwegsames und halbzivilisiertes Land zu transportieren. Den
+Soldaten kann man sagen, was man von ihnen will. Rinderherden kann
+man nichts sagen, da hat man alles selbst zu tun. Man ist Kommandant
+und Kommandierter in derselben Person.
+</p>
+
+<p>
+Gegen fünf Uhr des Nachmittags machten wir in der Regel halt. Manchmal
+früher, manchmal später. Das hing davon ab, ob wir Weide hatten
+und Wasser. Einen Tag können es die Tiere ohne Wasser aushalten,
+wenn sie frisches Gras haben, im Notfalle auch zwei Tage. Aber am
+dritten Tage wird die Sache bedenklich. Hatte ich keinen Führer bekommen
+können, oder war kein Wasser zu sehen, dann ließ ich die
+Tiere laufen. In den meisten Fällen fanden sie selbst Wasser. Aber das
+Wasser lag dann oft so, daß wir einen, zwei oder gar drei Tage, wenn
+nicht mehr, in unsrer Weglinie verloren, weil wir ganz quer abwandern
+mußten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Wir bildeten zwei Lager des Nachts. Eines in Front, eines im Schwanz.
+Es wurde Feuer gemacht, Kaffee gekocht, Bohnen oder Reis gekocht,
+Brot gebacken und getrocknetes Fleisch dazu gegessen. Dann wickelten
+wir uns in unsre Decken und schliefen auf der glatten Erde, mit dem
+Kopf auf dem Sattel.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Wachen mit Ablösung stellte ich aus, um Tiger zu verscheuchen,
+und um zu verhindern, daß einzelne Tiere abstreuen. Unter dem Vieh
+gibt es ebensogut Nachtbummler wie unter den Menschen.
+</p>
+
+<p>
+Die Tiere sind lange vor Sonnenaufgang auf und beginnen zu weiden.
+Wir ließen ihnen Zeit, und dann ging es weiter. Mittag rasteten wir
+abermals, damit die Tiere sich etwas suchen konnten, und damit sie
+verdauen und käuen können.
+</p>
+
+<p>
+Bis jetzt hatte ich nur einen Stier verloren. Er hatte gekämpft und war
+so schwer gespießt worden, daß wir ihn abstechen mußten. Wir schnitten
+das beste Fleisch aus, schnitten es in schmale Streifen und trockneten
+es. Für den Verlust aber hatte eine Kuh ein Kalb geworfen, eine Nacht
+vorher. Das gibt eine neue Schwierigkeit. Das kleine Kälbchen kann den
+Marsch nicht mitmachen. Aber töten möchte man es auch nicht. Man
+möchte ihm gern sein junges freudiges Leben lassen, und man fühlt
+auch mit der Mutter, die es so liebevoll beleckt und abschleckt. Was
+blieb übrig? Ich nahm das Kälbchen zu mir aufs Pferd, und wir wechselten
+ab: alle halbe Stunde nahm es ein andrer aufs Pferd.
+</p>
+
+<p>
+Das Kälbchen war unser Liebling. Es war eine Freude, rührend mitanzusehen,
+wenn wir haltmachten und die Mutter herbeikam, um ihr
+Kindchen in Empfang zu nehmen. Sobald wir es vom Pferde ließen,
+war die Mutter da. Sie wußte, daß das Kälbchen im Transport ist, und
+sie hielt sich immer in der Nähe des Reiters, der es vor sich im Sattel
+hatte. Das war eine Schleckerei und Leckerei, eine Blökerei und eine
+Brummerei, wenn wir das Kälbchen der Alten an den Euter setzten.
+Die Alte brachte sich bald um vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+Als das Kleine schwerer wurde, mußten wir es auf eines der Packmulas
+verladen. Es dauert lange, ehe so ein Jungtier marschieren kann. Hätten
+zu viele Kühe geworfen, dann wäre es uns nicht möglich gewesen, den
+Müttern diesen kleinen Liebesdienst zu erweisen. Aber es kam doch
+noch dreimal vor, und ich brachte es nicht fertig, die Kleinen zu töten.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-20">
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+20
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_u.jpg" alt="U"><span class="hidden">U</span></span><span class="postfirstchar">ndankbar</span> zu sein, ist eine Charaktereigenschaft
+der Menschen, die den Menschen so sehr Natur ist,
+daß man es am besten dabei bewenden läßt und
+sich deswegen nicht kränkt. Die Natur aber ist dankbar
+für jede Kleinigkeit, die man ihr erweist. Kein
+Tier und keine Pflanze vergißt den Trunk Wasser,
+den man ihnen spendet, oder die Handvoll Futter
+oder die Mütze voll Dünger, die man ihnen gab. So
+dankbar zeigten sich auch die Kälbchen und die Mütter der Kälbchen
+für den Liebesdienst, den wir ihnen erwiesen hatten.
+</p>
+
+<p>
+Wir kamen an einen Fluß, und weder wir noch der Führer konnten eine
+Furt ausmachen. Weiter stromabwärts fanden wir eine Fähre. Aber der
+Fährmann forderte für jeden Kopf so viel, daß das Übersetzen eine
+beträchtliche Summe ausgemacht haben würde. Solange man die hohen
+Fähr- und Brückengelder sparen kann, tut man es; weil noch genügend
+Brücken und Fähren kommen können, die man unbedingt gebrauchen
+muß, wenn der Strom zu breit oder zu reißend ist, oder wenn man an
+den Fluß nicht heran kann.
+</p>
+
+<p>
+Während ich mit dem Fährmann verhandelte, rastete die Herde etwa
+sechs Kilometer stromauf. Wir hielten hier für zwei Tage, weil vortreffliche
+Weide war und wir die Tiere einmal gründlich vollsaufen und
+gründlich baden lassen wollten. Sie müssen zuweilen baden, des Ungeziefers
+wegen, das beim Baden abstirbt. Die Tiere bleiben zu diesem
+Zweck stundenlang im Flusse stehen, an Stellen, wo ihnen das Wasser
+bis zur Hälfte des Bauches reicht.
+</p>
+
+<p>
+Nun aber, nachdem die beiden Erholungstage vorüber waren, mußten
+wir den Fluß kreuzen. Die Herde mußte durch. Wir begannen zu
+treiben, aber sobald die Tiere den Boden verloren, kehrten sie zum Ufer
+zurück. Der Fluß war nicht sehr breit, hatte aber in der Mitte tiefe
+Rinnen.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kam ich auf einen Gedanken. Wir hackten mit den Machetes
+Stämme ab, schälten Bast und bauten <a id="corr-26"></a>ein kleines leichtes Floß. Dann
+knüpften wir die Lassos zu einer langen Leine zusammen, und ein
+Indianer schwamm hinüber zum andern Ufer mit dem Ende der Leine.
+Wir knüpften die Leine am Floß fest und machten eine zweite Leine
+an. Dann packte ich eins der Kälbchen rauf, und drüben der Mann zog
+das Floß rüber und landete das Tierchen. Wir zogen mit unsrer Leine
+das Floß zurück und das zweite Kälbchen wanderte rüber. Nach wenigen
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+Minuten hatten wir alle vier Kälber auf der andern Seite. Und als sie
+dort so ärmlich und wackelnd auf ihren mageren stöckigen hohen Beinen
+allein standen, fingen sie erbärmlich an zu blöken. Es hörte sich kläglich
+an. Und wenn uns schon das traurige Blöken dieser kleinen hilflosen
+Geschöpfe zu Herzen ging, um wieviel mehr den Müttern. Kaum hatten
+die Kleinen ein paarmal geblökt, da setzte eine der Mütter ins Wasser
+und schwamm rüber. Gleich darauf folgten die andern drei Mütter.
+Das Wiedersehen war herzlich. Aber wir hatten keine Zeit, uns lange
+darum zu bekümmern; denn hier kriegten wir jetzt tüchtig Arbeit. Die
+Kühe drüben blökten nun auch, weil sie von der Herde getrennt waren.
+Sie fürchteten sich allein, und sie sehnten sich zurück nach ihrem Volke.
+Die Stiere hörten das Blöken eine Weile, und dann machten sie den
+Übergang. Der Leitstier war nicht dabei. Es waren jüngere Stiere, die
+offenbar glaubten, sie könnten dort drüben auf diese Weise ein eignes
+neues Reich gründen, wo sie von den stärkeren Stieren nicht gestört
+würden. Nun aber erwachte hier die Eifersucht der größeren Stiere und
+auch des Leitstieres. Sie schnaubten und dann sausten sie los, um den
+naseweisen Grünlingen da drüben die Flötentöne beizubringen.
+</p>
+
+<p>
+Auf der Wasserfahrt aber kühlten sie ab, und als sie drüben waren,
+hatten sie die Lust zum Kämpfen verloren, trotzdem sie hier so wütend
+geschnauft hatten. Aber die Stiere waren drüben und brüllten, und die
+Kühe hier auf dieser Seite hatten keine Lust, ihr ferneres Leben ohne
+Stiere zu verbringen. Und da sie gewöhnt waren, den Stieren immer und
+überall zu folgen, so folgten sie auch jetzt, und bald war das Wasser
+angefüllt mit schnaubenden, plantschenden, prustenden Rindern, die
+sich bemühten, hinüberzukommen. Es war ein wildes Durcheinander
+von gehörnten Köpfen und schlagenden und peitschenden Ungetümen.
+Manche kehrten wieder um, wenn es ihnen zu gefährlich schien.
+</p>
+
+<p>
+Und das war der Augenblick, wo wir eingreifen mußten. Es durfte nicht
+zur Manie werden, dieses Umkehren, sonst konnte die halbe Herde umkehren,
+weil sie ja keine Richtung im Wasser halten können, sondern
+nur drauflos platschen und auf ein Ufer losgehen.
+</p>
+
+<p>
+Wir schrien und peitschten und setzten mit den Pferden rein und jagten
+die Tiere zusammen und immer rüber und rüber zur andern Seite.
+</p>
+
+<p>
+Einzelne kamen ins Schwimmen und ins Treiben. Die hatten wir abzufangen
+und sie zum Ufer zu dirigieren. Drei gingen mir verloren, die
+abtrieben und die wir nicht holen konnten. Das war der ganze Verlust,
+den ich bei diesem Übersetzen hatte. Er war billig. Oft wird es teurer.
+Die Verlorenen waren an sich nicht viel wert. Sie hatten uns schon auf
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+dem Transport Schwierigkeiten gemacht. Sie gehörten zu den Schlappen.
+Und je kleiner man den Trupp der Marschhinker halten kann, um so
+besser. Wir ließen die Tiere drüben wieder rasten und machten gleich
+Lager für die Nacht. In derselben Nacht wurde mir eine schöne Zweijährige
+von einem Jaguar zerrissen. Es war so rasch und so lautlos zugegangen,
+daß niemand etwas gehört hatte. Wir sahen es am nächsten
+Morgen nur an dem Kadaver und an den Fährten, was sich in der Nacht
+abgespielt hatte.
+</p>
+
+<p>
+In jeder Hinsicht war ich billig davongekommen. Das Übersetzen mit
+der kleinen Fähre würde nach meiner Schätzung eine volle Woche gedauert
+haben. Auch dabei konnten Tiere verlorengehen, die abspringen,
+oder die man bei einem so langen Aufenthalt an einem Fluß durch
+Tiger und Alligatoren einbüßt. Man hat an tausend verschiedene
+Kleinigkeiten und Nebenumstände zu denken. Dazu kam noch das
+Fährgeld. Und was ich an Fährgeldern, Brückengeldern, Wegegeldern,
+Weide- und Wassergebühren sparte, ging in meine Tasche und gehörte
+mit zu meinem Verdienst.
+</p>
+
+<p>
+Was ich hier bei diesem Übergang über den Fluß gespart hatte, verdankte
+ich niemand sonst als meinen lieben kleinen Kälbern. Sie hatten
+die Liebe, die wir ihnen und ihren Müttern entgegengebracht hatten,
+reichlich vergolten.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-21">
+21
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">s</span> wäre ja kein echter Transport gewesen, wenn er
+ohne die Mithilfe von Banditen zu Ende gegangen
+wäre. Man erwartet sie eigentlich immer, und man
+wundert sich nur dann, wenn wieder einmal ein Tag
+vorüber ist, ohne daß sich der eine oder der andre
+Trupp hat sehen lassen. Ein solcher großer Viehtransport
+geht ja nicht schweigend vor sich. Dutzende
+von Indianern sehen ihn, und es spricht sich herum.
+Und man weiß nie, wer den Kundschafter macht für eine Horde. Die
+Mehrzahl der Banditenhorden sind die Überbleibsel der Revolutionsarmeen,
+die gegen die Arbeiterarmeen kämpften. Es sind die Reste
+jener Truppen, die von den Diktaturanhängern, von den großen Landeigentümern,
+von einer Clique amerikanischer Kapitalisten geworben
+wurden, und die bei Beendigung der Revolution übrigblieben, weil sie
+das Freischärlertum vorzogen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+Eines Morgens kamen sie. Genauer gesagt, eines Morgens trafen wir sie.
+Sie kamen ganz unschuldig angeritten. Sie konnten Peons sein, die
+irgendwohin zum Markte ritten oder auf der Arbeitsuche waren. Sie
+kamen aus der Flanke. Wir zogen auf einem breiten Buschwege, und
+plötzlich standen sie an der Seite des Weges, am Ausgange eines
+schmalen Buschpfades.
+</p>
+
+<p>
+„Hallo!“ rief der Führer. „Keinen Tequila?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein“, sagte ich. „Haben keinen. Aber wir haben Tabak mit. Könnt
+hundert Gramm abbekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut. Nehmen wir. Habt Ihr Maisblätter?“
+</p>
+
+<p>
+„Zwei Dutzend können wir wohl abgeben.“
+</p>
+
+<p>
+„Nehmen wir auch.“
+</p>
+
+<p>
+„He, wie ist es denn mit Geld? Der Transport hat doch Geld für die
+Fähren und Brücken und so.“ Jetzt wurde es heiß. Das Geld.
+</p>
+
+<p>
+„Wir haben kein Geld mit“, sagte ich. „Wir haben nur Schecks.“
+</p>
+
+<p>
+„Schecks ist Dreck. Kann ich nicht lesen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Leute sprachen etwas zueinander, und dann kam der Sprecher
+herangeritten und sagte: „Wegen des Geldes wollen wir doch einmal
+nachsehen.“
+</p>
+
+<p>
+Er durchsuchte meine Taschen und das Sattelzeug, aber ich hatte kein
+Geld. Er fand nur die Schecks, und er sah ein, daß ich recht hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Kühe können wir auch gebrauchen“, rief er nun.
+</p>
+
+<p>
+„Die brauche ich selbst“, sagte ich. „Ich bin nicht der Besitzer, ich habe
+nur den Transport.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann tut es Ihnen ja nicht weh, wenn ich mir ein paar aussuche.“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte,“ sagte ich, „helfen Sie sich nur. Ich habe eine hufkranke Kuh.
+Die Kuh ist gut, sie milcht in drei Monaten. Den Huf können Sie
+kurieren. Ist frisch.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist sie denn?“
+</p>
+
+<p>
+Ich ließ sie heraustreiben, und sie gefiel ihm. Während der ganzen Zeit
+wanderte der Transport natürlich weiter. Der läßt sich ja nicht so auf
+Kommando halten, besonders wenn keine Weide da ist, sondern nur so
+dünnes mageres Gras am Wege entlang steht. Die guten Leute ritten
+neben mir her.
+</p>
+
+<p>
+Der Führer sagte: „Schön, eine haben Sie mir gegeben, jetzt bin ich an
+der Reihe und darf mir eine aussuchen.“
+</p>
+
+<p>
+Er suchte sich eine aus, aber er verstand nichts von Vieh. Sie war nicht
+viel wert. Ich verschmerzte sie leicht.
+</p>
+
+<p>
+„Nun dürfen Sie mir wieder eine aussuchen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+Er bekam sie. Dann suchte er wieder eine aus. Diesmal nahm er eine
+der milchenden.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt sind Sie wieder an der Reihe, Senjor“, sagte er.
+</p>
+
+<p>
+Ich versuchte es mit einem Scherz. Ich rief einen meiner Leute heran,
+der das Kalb jener Kuh trug, die sich der Wegelagerer ausgesucht hatte.
+„Hier haben Sie das Jungtier dazu“, sagte ich und händigte ihm das
+Kälbchen ein. Mit dem Angebot war er sehr zufrieden, und er ließ das
+Kalb für ein Volltier gelten. Das tat er nicht aus Generosität. Nein,
+viele der Indianer können die Kühe nicht melken. Sie können nur
+melken, wenn das Kalb gleichzeitig saugt, sonst kriegen sie keinen
+Tropfen aus den Zitzen. Die Milch muß so halb von allein fließen, die
+Kuh muß glauben, daß sie die Milch dem Kalb gibt. Darum war ihm
+das zugehörige Kalb so willkommen, denn nun konnte er die Kuh
+melken, und sie hatten Milch daheim.
+</p>
+
+<p>
+Dann war er wieder an der Reihe. Als sie fortritten, zogen sie mit
+sieben Kühen und einem Kalb von dannen. Kostete mich, wenn ich das
+Kalb nicht rechnete, hundertfünfundziebzig Pesos. Denn auf welche
+Weise ich die Tiere verlor, das war gleichgültig. Was mir fehlte, wurde
+mir abgezogen. Mit den Banditen wurde gerechnet und mit den Zöllen,
+die man ihnen zu zahlen hatte. Es kam eben darauf an, wie man mit
+ihnen handelseinig wurde. Man mußte handeln mit ihnen wie mit Geschäftsleuten.
+Diplomatie spielte eine Rolle. Sie hätten ja auch mit
+fünfzehn abziehen können oder mit vierzig.
+</p>
+
+<p>
+Das alles sind Transportunkosten. Gehört zur Fracht. Kann überall
+geschehen. Woanders entgleist ein Zug, oder es verbrennt oder scheitert
+ein Schiff, und der Transport ist fertig. Zu all dem hat man die hohen
+Versicherungsprämien zu zahlen. Hier versichert niemand. Keine Versicherungsgesellschaft
+übernimmt das Risiko, oder sie übernimmt es nur
+zu Sätzen, die zu zahlen sich nicht lohnt. Woanders sind es die Verladekosten,
+die Fütterungskosten und wer weiß was sonst noch alles für
+Kosten. Hier sind es die Flußläufe, die Bergübergänge, die Pässe, die
+Schluchten, die Sandstrecken, die wasserlosen Strecken, die Banditen,
+die Jaguare, die Klapperschlangen, die Kupferschlangen, und wenn es
+ganz schief gehen soll, eine Seuche, die dem Vieh auf dem Marsche
+irgendwo von anderm Vieh, dem es begegnet, mitgegeben wird.
+</p>
+
+<p>
+Wenn man am Schlusse die Rechnungen vergleicht, sind die Unterschiede
+in den Transportunkosten nicht so groß, wie man vielleicht erwartet.
+Hier trägt es die Masse, die Masse der Aufzucht und die Masse
+des Transportes. Man kann sich natürlich mit den Banditen in einen
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+Streit einlassen oder in eine Schießerei oder in Drohungen mit dem
+Militär. Warum nicht? Es gibt immer noch hin und wieder einen Narren,
+der es tut, und man sieht es manchmal so schön im Kino, wie die Banditen
+rennen, drei Dutzend vor einem smarten Kuhjungen. Ja, im Kino.
+In Wirklichkeit ist das alles ganz, aber ganz, ganz anders. Die Banditen
+rennen nicht so schnell. Und mit den Drohungen! Ach, du blauer Himmel!
+Das Militär ist weit, und das Land ist groß. Die Dörfer der Banditen
+sind unzugänglich, und die Offiziere der Regierungstruppen finden sie
+nicht auf den Karten. Die Familie des Banditen hat sechs Brüder, drei
+dienen beim regulären Militär, drei dienen bei den Banditen, die nur
+darauf warten, daß wieder ein Diktator, der von den amerikanischen
+Ölkompanien und Minenkompanien genügend unterstützt wird,
+irgendwo auftaucht. Und wie das so wechselt. Die drei Brüder, die bei
+den regulären Truppen dienen, fressen morgen vielleicht etwas aus und
+finden Unterschlupf bei den Banditen, während die drei Brüder bei
+den Banditen sich freiwillig der Gnade des Gouverneurs unterwerfen
+und sich in die reguläre Armee einreihen lassen, wo sie vortreffliche
+Banditenjäger werden, weil sie alle Pfade und Tricks kennen.
+</p>
+
+<p>
+Ausrottung der Banditen. Das läßt sich alles so schön in den Zeitungen
+empfehlen, und es läßt sich noch viel schöner von der amerikanischen
+Regierung, die das Land im Interesse der amerikanischen Großkapitalisten
+als Kolonie betrachten möchte, kommandieren, mit der Drohung,
+die diplomatischen Beziehungen abzubrechen. Aber die Banditen lesen
+keine Zeitungen, und sie hassen die Amerikaner, und sie finden ihre
+Körbe am besten gefüllt, wenn es infolge der diplomatischen Auseinandersetzungen
+im Lande unruhig wird.
+</p>
+
+<p>
+Abgesehen von allem, es ist das gute Recht eines Banditen, sich zu
+nehmen, was er braucht. Dreihundert Jahre Sklaverei und Verluderung
+durch die spanischen Herren und Peitscher und Folterknechte, dann
+hundert Jahre Militärdiktatur und kapitalistische Cliquendiktatur von
+gewissenlosen Räubern und Banditen mit polierten Fingernägeln und
+Klubsesseln müssen das wundervollste und liebenswerteste Volk der
+Erde in Grund und Boden verlottern. In zivilisierten Ländern haben
+fünf Jahre Krieg die Völker so verludert, daß sie zwischen Recht und
+Unrecht nicht mehr durchfinden können, daß die Hälfte der Bevölkerung
+in jenen Ländern Verbrecher und die andere Hälfte Polizisten,
+Gefängniswärter und Staatsanwälte sind.
+</p>
+
+<p>
+Meine Banditen waren zufrieden, daß sie alles so leicht, so vergnügt
+und mit so angenehmer Unterhaltung bekommen hatten. Und ich war
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+zufrieden, daß sie nicht mehr genommen hatten, und daß ich so billig
+loskam. Was hat sich da die Polizei hineinzumischen? Man wird ganz
+gut fertig, wenn man sich nicht um die Polizei kümmert. Ehe man nicht
+erschlagen ist, hilft einem die Polizei nicht. Und wenn sie endlich hilft,
+dann hilft sie nur dem Mörder und nicht dem Erschlagenen. Was hat
+der Erschlagene davon, wenn der Mörder oder der Bandit auf den
+Friedhof geführt und erschossen wird? Er wird davon nicht lebendig.
+</p>
+
+<p>
+Wir hatten jetzt einen weiten Umweg zu machen. Eine größere Stadt
+lag auf unserm Wege, und die mußten wir weitab liegen lassen, denn
+da gab es keine Weiden. Einen langen Flußlauf hatten wir hinauf zu
+wandern, und dann kam der Übergang über das Gebirge.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde recht kühl. Reichlich Wasser war vorhanden, aber die Weiden
+wurden knapp. Die Tiere aßen das Laub der Bäume. Das Laub war
+ebenso sättigend wie Gras. Es schien dem Vieh eine angenehme Abwechslung
+zu sein, Laub zu weiden. Wenn ich die Rinder so geschickt
+das Laub abstreifen sah, so kam mir manchmal der Gedanke, daß die
+Rinder in einer fern zurückliegenden Zeit vielleicht gar keine Steppen-
+und Prärietiere gewesen sein mögen, sondern Waldtiere, in Wäldern,
+die Sträucher und niedrige, buschähnliche Bäume hatten. Wälder, die
+heute verschwunden sind, weil nur die hoch emporwachsenden Bäume
+überleben konnten.
+</p>
+
+<p>
+Der Paßübergang war mühevoll, und wir mußten alle unsre Aufmerksamkeit
+anwenden, um die Tiere gut zu leiten; denn sie waren Gebirge
+ja nicht gewohnt. Zwei rutschten ab. Darunter ein prächtiger Jungstier.
+Er rutschte mit seiner Kuh, während er gerade so lustig am Springen
+war. Liebestragödie. Wir konnten sie unten in der tiefen Schlucht
+liegen sehen, zerschmettert. Ich hatte auf mehr Abstürze gerechnet.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Schlangenbisse erlebten wir auch. Wir sahen es am Morgen an
+den geschwollenen Füßen zweier Kühe. Wir untersuchten und fanden
+die Einhiebe der Fänge. Aber die Kühe hatten Glück gehabt. Die
+Schlangen hatten vorgebissen, auf Holz oder auf irgendein wildes Tier.
+So bekamen die Kühe nicht die volle Ladung eingespritzt. Wir behandelten
+sie mit Schneiden, Abknebeln und achtundneunzigem Alkohol.
+Da wir hier, nachdem wir den Übergang durch hatten, zwei Tage haltmachten,
+kamen die Kühe schön wieder hoch, und ich sparte sie.
+</p>
+
+<p>
+Am Abend fingen zwei Indianer an, sich gräßlich darüber zu streiten,
+was es für Schlangen gewesen seien. Der eine behauptete, es seien
+Klapperschlangen gewesen, während der andre darauf bestand, daß es
+Kupferschlangen gewesen seien.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+Ich schlichtete den Streit, der sehr ernst zu werden drohte, mit einem
+Vergleich. Ich sagte zu Castillo: „Wenn Sie geschossen oder gar erschossen
+sind, so ist es Ihnen doch sicher ganz gleichgültig, ob Sie mit
+einem Revolver oder mit einem Gewehr, ob mit einer Achter oder mit
+einer Siebener erschossen sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Freilich, Senjor, ist das egal, wenn man schon geschossen ist, denn
+geschossen ist geschossen.“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, Senjores, so ist es auch mit den Kühen. Sie sind von einer
+Giftschlange gebissen, und es ist ihnen ganz und gar gleichgültig, ob sie
+von einer Rattler oder einer Copper gebissen sind. Sie sind gebissen,
+und es tut ihnen weh. Um das übrige kümmern sie sich nicht einen
+Dreck.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben recht, Senjor, es war eine Giftschlange, und was es für eine
+war, tut jetzt nichts mehr zur Sache.“
+</p>
+
+<p>
+Meinen Richterspruch fanden sie so klug, daß sie nicht mehr von den
+Schlangen sprachen, sondern nur von der Heilbarkeit der Schlangenbisse.
+Sie brachten alle möglichen indianischen Hausmittel zur Sprache,
+und dadurch endete der Streit der beiden.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-22">
+22
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_e.jpg" alt="E"><span class="hidden">E</span></span><span class="postfirstchar">ines</span> Morgens bei Sonnenaufgang, als wir den Aufbruch
+riefen und ich auf einen Hügel ritt, um von
+dort aus die Herde übersehen zu können und in die
+vorteilhafteste Richtung zu lenken, sah ich in der
+Ferne die Türme der Kathedrale liegen. Von leuchtendem
+Golde umflossen, stand das Ziel vor meinen
+Augen. Die Mühen waren zu Ende, und die Freude
+wartete in der Stadt, die im Glanze der Sonne badete.
+Ich ließ die Herde hier auf der Prärie und ritt zur Stadt. Ich sandte ein
+Telegramm an Mr. Pratt mit der Nachricht, daß ich hier sei. Dann ritt
+ich zurück zur Herde. Es war Abend, als ich zurückkam. Unsre Feuer
+loderten, und die beiden Männer, die Wache hatten, ritten gemächlich
+um die Herde und sangen die Tiere zur Ruhe.
+</p>
+
+<p>
+Die Nächte in den Tropen haben für den Menschen, der, solange wir
+ihn kennen, ein Taggeschöpf ist, etwas unsagbar Unheimliches an sich.
+Viel unheimlicher noch sind die tropischen Nächte für die Tagtiere.
+Kleine Herden kommen des Abends zum Ranchohaus, um in der Nähe
+der Menschen zu sein. Sie wissen es ganz genau, daß der Mensch sie
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+beschützt. In den Wochen nach der Regenzeit, in denen die Moskitos
+und die Beißfliegen in der Luft schwirren, dick wie aufgewirbelter
+Staub, kommen die Rinder selbst am Tage von den Prärien heim und
+drängen sich um das Ranchohaus, wo sie auf Hilfe hoffen. Man kann
+ihnen keine Hilfe gewähren, weil man selbst Kopf, Gesicht und Hände
+mit Tüchern umwickelt hat, um sich gegen die Geister der tropischen
+Hölle zu schützen.
+</p>
+
+<p>
+Aber selbst die Riesenherden fangen an, unruhig zu werden, sobald die
+Sonne untergegangen ist. Sie umzirkeln die Hütten der Herdenaufseher
+und lagern sich rundherum. Die Wachleute umreiten die Herden
+während der ganzen Nacht. Abends, nach Sonnenuntergang, ziehen alle
+Männer herum und singen die Herde in den Schlaf. Dann erst beginnen
+die Tiere sich zu legen. Manche großen Viehzüchter überlassen es den
+Herdenmännern, den Cowboys, ob sie singen wollen oder nicht; sie
+halten es für überflüssig, für alten Kohl. Aber Vieh, das nicht eingesungen
+wird, ist nicht so gut wie andres, das in den Schlaf gesungen
+wird. Das Vieh bleibt die ganze Nacht hindurch unruhig, legt sich für
+zehn Minuten und springt wieder auf, um umherzuwandern und andres
+Vieh zu streifen und die Kameradschaft zu fühlen. Dieses Vieh ist am
+Morgen schläfrig, und weil es am andern Tage den verlorenen Schlaf
+nachholen muß, frißt es nicht so gut wie das gesungene. Es kommt infolgedessen
+viel langsamer in Form. Auf Transporten muß man erst
+recht singen; denn hier ist das Vieh viel unruhiger, weil es ja auf ungewohnten
+Prärien lagert. Würde man die Herde hier nicht in den
+Schlaf singen, hätte man es an der Marschzeit schwer zu büßen, weil
+die Herde dann am Tage mehr ruht, als es für den Marsch gut ist.
+</p>
+
+<p>
+Ich jedenfalls ließ jeden Abend singen, und die Männer taten es mit
+Vergnügen. Sie ritten langsam und gemütlich, steckten sich zuweilen
+eine Zigarette an, und dann sangen sie wieder. Und bei dem Singen
+legten sich die Rinder in dem Bewußtsein absoluter Geborgenheit hin
+und ruhten. Schläfrig sahen sie dem reitenden Manne nach, brummten
+und begannen zu schlafen. Wird auch des Nachts ab und zu gesungen,
+so ist das den Tieren nur um so lieber. Sie wissen, daß ihnen dann
+nichts geschehen kann, denn der Mensch ist in der Nähe und beschützt
+sie gegen die Schrecknisse der Nacht. In der Tat verscheucht das Singen
+der Männer die Jaguare und Berglöwen. Daß dieses Singen der Kuhmänner
+auch alle Menschen verscheucht, die sich unter Singen eben
+Singen vorstellen, erwähne ich nicht. Man braucht mich nur singen zu
+hören, dann weiß man die letzten Geheimnisse der Welt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+Ich hatte die Kopfwache, die der Vormann hielt, auch hierher genommen,
+damit wir die letzten paar Abende noch alle zusammen sein
+konnten. Die Vorwache war überflüssig geworden, weil drüben der Fluß
+lag, der sich bis zur Stadt hinstreckte. Die Flanken konnten leicht gehalten
+werden von den beiden Wachen. Während die Leute rauchten
+und schwatzten, sattelte ich noch einmal auf und ritt die Herde ab,
+singend, pfeifend, summend und den Tieren zurufend.
+</p>
+
+<p>
+Klar wie nur der Nachthimmel in den Tropen sein kann, lag die
+schwarzblaue Wölbung über der singenden Prärie. Wie kleine goldne
+Sonnen standen die strahlenden Sterne in der satten Nacht. Und Sterne
+flogen umher, hunderte, tausende, als wären sie heruntergekommen von
+dem hohen Dom der Welt, um Liebe zu suchen und Liebe zu spenden
+und dann wieder zurückzukehren in die stille einsame Höhe, wo keine
+Brücke führt von dem einen zum andern. Die Glühkäferchen waren
+das einzige sichtbare Leben hier unten. Aber das unsichtbare sang mit
+Milliarden Stimmen und Stimmchen, musizierte mit Geigen und Flöten
+und Harfen, mit Zimbeln und Glöckchen. Und da lag meine Herde. Ein
+schwarzer, dunkler Brocken neben dem andern. Brummend, atmend und
+einen warmen, vollen, schwer lastenden Hauch erdischer Gesundheit
+verbreitend, der so reich war in sich, in seinem Unbewußtsein, der so
+wohl tat und so unendlich zufrieden machte.
+</p>
+
+<p>
+Mein Heer! Mein stolzes Heer, das ich über Flüsse führte und über
+Felsengebirge, das ich beschützte und behütete, dem ich Nahrung brachte
+und erfrischendes Wasser, dessen Streitigkeiten ich schlichtete und
+dessen Krankheiten ich heilte, und das ich Abend um Abend in den
+Schlaf sang, um das ich mich sorgte und härmte, um das ich zitterte, und
+das meinen Schlaf beunruhigte, um das ich weinte, wenn eines mir verlorenging,
+und das ich liebte und liebte, ach, so sehr liebte, als wäre es
+mein Fleisch und Blut! O du, der du ein Kriegerheer über die Alpen
+führtest, um in friedliche Länder den Mord und den Brand zu tragen,
+was weißt du von der vollkommenen Glückseligkeit, ein Heerführer
+zu sein!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-2-23">
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+23
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="dropart">
+<span class="firstchar"><img src="images/drop_a.jpg" alt="A"><span class="hidden">A</span></span><span class="postfirstchar">m</span> nächsten Morgen kam der Salztransport heraus,
+und ich salzte die Tiere. Ich hatte ihnen nur einmal
+Salz gegeben während des ganzen Marsches. Man
+kann sich darauf nicht gut einlassen, wenn man nicht
+ganz genau weiß, daß man viel Wasser noch am selben
+Tag erreichen wird. Jetzt aber war das Salz von
+großem Wert. Sie konnten sich tüchtig danach volltrinken
+und kamen in Glanz und Pracht, als hätten
+sie neue Uniformen erhalten. Ihre Felle schimmerten, als wären sie mit
+Bronzelack übergossen worden. Ich konnte mich mit meinem Transport
+sehen lassen. Drei Tage später kam Mr. Pratt mit dem Kommissionär,
+der den Verkauf übernommen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Donnerwetter! Donnerwetter nochmal!“ sagte er immer wieder. „Das
+ist Vieh. Das geht wie warme Butter fort.“
+</p>
+
+<p>
+Mr. Pratt schüttelte mir die Hand und sagte: „Mensch, Gale, wie haben
+Sie denn das nur fertiggebracht? Ich habe Sie nicht vor Ende nächster
+Woche erwartet. Vierhundert habe ich schon verkauft. Dadurch, daß
+Sie so früh hier sind, rechne ich, daß wir innerhalb einer Woche das
+letzte Paar Hörner los sind. Es ist noch ein zweiter Transport von einem
+andern Züchter unterwegs. Und wenn Sie später gekommen wären,
+hätte das auf den Preis gedrückt; zweitausend Kopf in derselben Woche
+kann der Markt nicht tragen, ohne erheblich zu pressen. Kommen Sie
+nur mit zur Stadt gefahren, der Vormann kann den Rest jetzt allein
+schaffen.“
+</p>
+
+<p>
+Die beiden Herren waren mit dem Auto herausgekommen, und wir
+waren am frühen Nachmittag schon in die Stadt zurück. Wir rechneten
+ab, und ich bekam ein recht nettes Sümmchen. Zwei Kälbchen waren
+noch hinzugeboren worden, und so hatte ich im ganzen fünf, die mir
+als volle Köpfe angerechnet wurden, wodurch meine Verluste sich um
+diese fünf Köpfe verringerten.
+</p>
+
+<p>
+„Mache ich einen guten Preis,“ sagte Mr. Pratt, „dann gebe ich Ihnen
+noch einen Hunderter zur Belohnung. Sie haben ihn verdient. Mit den
+Banditen sind Sie ja billig losgekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Kein Wunder,“ sagte ich, „den einen kannte ich gut, ein gewisser Antonio.
+Ich habe einmal Baumwolle mit ihm gepflückt, und wir waren
+gute Freunde. Er sorgte dafür, daß es billig wurde.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das ist es,“ meinte Mr. Pratt, „Glück muß man haben. Überall.
+Ob man Vieh züchtet, oder ob man sich eine Frau nimmt.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+Er lachte laut auf und sagte: „Sie, hören Sie einmal, Junge. Was haben
+Sie denn mit meiner Frau gemacht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Mit Ihrer Frau?“ Mir blieb der Bissen im Munde stecken, und
+ich bin sicher, ich wurde etwas blaß. Frauen können so wundervoll unkontrollierbar
+sich benehmen. Sie kriegen zuweilen Einfälle und manchmal
+Anfälle. Fallen sogar ganz aus heiler Haut heraus in die Beichtwut.
+Die Frau wird ihm doch nicht etwa was geläutet haben? Sie sah mir
+gar nicht so aus, als ob sie alle ihre Geheimnisse an die Glocke hänge.
+</p>
+
+<p>
+„Als Ihr Telegramm ankam, da war sie wie toll und rief: Da siehst du
+wieder einmal, was du für ein Nichtstuer bist, und was du für ein überflüssiges
+Werkzeug bist. Da bringt dieser Junge die Herde rüber, als ob
+er sie in seiner Basttasche habe, und als ob sie ihm am Sattelknopf
+hinge. Das schaffst du in deinem ganzen Leben nicht. Das ist ein andrer
+Bursche, dieser F-ing son of a bitch.“
+</p>
+
+<p>
+„Um des Himmels willen, Mr. Pratt, Sie werden sich doch nicht etwa
+scheiden lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Scheiden lassen? Ich? Warum denn? Wegen so einer Kleinigkeit?“
+</p>
+
+<p>
+Er lächelte wieder so eigentümlich. Wenn ich doch nur wüßte, wie er
+das meint: „Kleinigkeit“? Das kann heißen, daß er alles weiß, und das
+kann auch ebensogut heißen, daß er überhaupt nichts weiß.
+</p>
+
+<p>
+„Nein“, fuhr er fort. „Warum soll ich mich denn scheiden lassen? Haben
+Sie Angst, daß ich mich scheiden lasse?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja“, gestand ich.
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn aber?“
+</p>
+
+<p>
+„Weil mich Ihre Frau dann doch heiraten würde. Sie hat es doch ganz
+offen erklärt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach so, ja. Ich erinnere mich, das hat sie gesagt. Wenn meine Frau so
+was sagt, dann tut sie es auch. Da kommen Sie nicht los davon, Junge.“
+</p>
+
+<p class="ibr">
+Mir wurde ungemütlich zumute. Mr. Pratt merkte es, und er fragte:
+</p>
+
+<p class="ibr">
+„Warum haben Sie denn da eine solche Angst? Gefällt Ihnen denn
+meine Frau nicht? Ich denke doch, daß –“
+</p>
+
+<p>
+Ich ließ ihn nicht zu Ende reden, denn vielleicht kam jetzt das heraus,
+was er wußte. Und ich hielt es für besser, diese Angelegenheit in der
+Schwebe und unentschieden zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+„Freilich. Ihre Frau gefällt mir sogar sehr gut“, gestand ich.
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich mir denken“, sagte Mr. Pratt.
+</p>
+
+<p>
+Das war nun wieder so, daß es alles und nichts bedeuten konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, Mr. Pratt,“ sagte ich nun, „es ist so eine dumme Sache. Ihre
+Frau gefällt mir sogar sehr. Aber, bitte, lassen Sie sich doch nicht
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+scheiden. Sie vertragen sich doch so gut. Ich müßte sie ja dann heiraten.
+Es wäre ja vielleicht so übel nicht. Aber ich weiß doch gar nicht, was
+ich mit meiner Frau, entschuldigen Sie, bitte, was ich mit Ihrer Frau
+machen sollte.“
+</p>
+
+<p>
+„Na, was man mit jeder Frau macht. Ihr die Freude machen, die sie
+gern hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es nicht. Es ist etwas andres. Ich weiß nicht, wie ich mit der Ehe
+fertig werde.“ Ich versuchte es ihm klarzulegen. „Ich weiß nicht, wie ich
+mich da benehmen soll. Ich halte das einfach nicht aus. Ich kann nicht
+stillhalten. Ich kann nicht stillsitzen auf dem Ursch, verstehen Sie. Ich
+muß vagabondieren. Da kann ich doch meine Frau nicht mitschleifen.
+Ich würde ausrücken, weil ich das nicht vertrage, den ganzen Tag und
+jeden Tag vor einem ordentlichen Tisch zu sitzen und jeden Tag ein
+richtiges Frühstück und Mittagessen zu bekommen. Das verträgt auch
+schon mein Magen nicht. Wenn Sie mir einen Gefallen tun wollen –“
+</p>
+
+<p>
+„Jeden. Schon erfüllt“, sagte Mr. Pratt gutgelaunt.
+</p>
+
+<p>
+„Lassen Sie sich nicht scheiden von Ihrer Frau. Sie ist eine so gute Frau,
+eine so schöne Frau, eine so kluge Frau, eine so tapfere Frau. So eine
+kriegen Sie nie wieder, Mr. Pratt.“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich. Deshalb lasse ich mich ja auch nicht scheiden. Ich habe
+nie daran gedacht. Ich weiß überhaupt gar nicht, wie Sie auf solchen
+Cabbage kommen. Hopp auf, wir gehen jetzt die Ablösung vom
+Kontrakt einweichen.“
+</p>
+
+<p>
+Wir zogen ab.
+</p>
+
+<p>
+Was ist denn da los? So viele Indianerweiber mit ihren Körben habe ich
+ja nie gesehen. So viele Tortillas zu verkaufen?
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn eigentlich los hier?“ fragte ich Mr. Pratt. „Man sieht ja
+nichts weiter als Tortillas und Tortillas und Tortillas.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Bäcker streiken. Die Leute haben kein Brot und müssen alle
+Tortillas essen“, erklärte mir Mr. Pratt.
+</p>
+
+<p>
+„He, Mr. Pratt,“ rief ich da laut, mitten auf der Straße stehenbleibend,
+„da sehen sie gleich an diesem Beispiel, wie bitter Unrecht Sie und
+Mr. Shine mir getan haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Mr. Shine und ich? Inwiefern?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben doch beide behauptet, daß ich mich immer nur um Streiksachen
+kümmere, und daß überall, wo ich arbeite, ein Streik losgeht.
+Hier an dem Bäckerstreik bin ich doch ganz und gar unschuldig. Ich war
+doch wochenlang gar nicht hier. Wie kann ich denn da etwas mit dem
+Bäckerstreik zu tun haben?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+„Das sagen Sie, Gale. Aber nun gehen Sie einmal in die La-Aurora-Bäckerei
+und hören Sie, was Senjor und Senjora Doux den Leuten
+erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was können denn die Leute von mir erzählen?“ fragte ich.
+</p>
+
+<p>
+„Die behaupten und erzählen es jedem Gast, daß Sie den Streik angezettelt
+haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind nichtswürdige Verleumder, diese Douxens. Ich habe mit dem
+Streik gar nichts zu tun. Ich habe für Sie einen Transport gebracht und
+weiß gar nichts von einem Bäckerstreik.“
+</p>
+
+<p>
+„Die Douxens aber behaupten, seit Sie dort gearbeitet haben, sind die
+Arbeiter in der Bäckerei mit nichts mehr zufrieden, nicht mehr mit dem
+Essen, nicht mehr mit dem Schlafen, nicht mehr mit dem Lohn und nicht
+mehr mit der langen Arbeitszeit. Und kaum waren Sie fort, ging es los.
+Zuerst in der La Aurora und dann am folgenden Tage in sämtlichen
+Bäckereien. Die wollen zwei Pesos Mindestlohn, luftige Schlafräume
+und achtstündige Arbeitszeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun will ich Ihnen aber doch die Wahrheit sagen, Mr. Pratt“, sagte ich
+darauf. „Mit dem Streik habe ich wirklich nichts zu tun. Ich habe Ihnen
+ja schon damals gesagt, als wir uns zum ersten Male trafen und Sie
+mir das mitteilten, was Mr. Shine über mich erzählt hat, daß rein zufällig
+immer da, wo ich arbeite oder wo ich gearbeitet habe, gestreikt
+wird, sobald ich mich da auch nur umgesehen habe. Dafür kann ich doch
+aber nicht. Das ist doch nicht meine Schuld, wenn es den Leuten nicht
+mehr gefällt und sie es besser haben wollen. Ich sage nie etwas. Ich
+bin immer ganz ruhig und lasse immer die andern reden. Aber weiß
+der Kuckuck, überall, wohin ich komme, behaupten die Leute, ich sei
+ein Wobbly, und ich versichere Sie, Mr. Pratt, das ist –“
+</p>
+
+<p>
+„– die reine und unverfälschte Wahrheit“, beendete Mr. Pratt meinen
+Satz, den ich ganz anders zu beenden gedachte.
+</p>
+
+<p>
+Aber so geht das immer, wenn einem die Leute die Worte aus dem
+Munde nehmen und dann gar noch herumdrehen. Da braucht man sich
+wahrhaftig nicht zu verwundern, wenn sich die Menschen falsche
+Meinungen bilden. Sie sollen einen andern auch einmal reden lassen.
+Aber stets und immer müssen sie sich in die Ansichten, die andern
+Leuten gehören, hineinmischen. Kein Wunder, daß dann lauter Unsinn
+herauskommt.
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+ (mehrfache Fälle)<br>
+... Da kam der <span class="underline">Chink</span> mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. ...<br>
+... Da kam der <a href="#corr-0"><span class="underline">Chinc</span></a> mit einer Literflasche voll kaltem Kaffee hervor. ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <span class="underline">Gale</span> ein. „Nun ist der ...<br>
+... „Mag sein, davon verstehe ich nichts“, wandte Mr. <a href="#corr-11"><span class="underline">Shine</span></a> ein. „Nun ist der ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <span class="underline">algeria</span>, ...<br>
+... wollte, sich mit ihr zu vereinen, und sie rief: „El amor y la <a href="#corr-19"><span class="underline">alegria</span></a>, ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... und der Schaffner steckt einem <span class="underline">eine</span> kleines Kärtchen in das Hutband, ...<br>
+... und der Schaffner steckt einem <a href="#corr-25"><span class="underline">ein</span></a> kleines Kärtchen in das Hutband, ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... Stämme ab, schälten Bast und bauten <span class="underline">eine</span> kleines leichtes Floß. Dann ...<br>
+... Stämme ab, schälten Bast und bauten <a href="#corr-26"><span class="underline">ein</span></a> kleines leichtes Floß. Dann ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76111 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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