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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 05:33:19 -0700 |
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If you are not located in the United States, you'll have +to check the laws of the country where you are located before using this ebook. + +Title: Candida + +Author: George Bernard Shaw + +Posting Date: October 3, 2014 [EBook #9491] +Release Date: December, 2005 +First Posted: October 5, 2003 + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK CANDIDA *** + + + + +Produced by Michalina Makowska + + + + + + + + + + + +CANDIDA + +Ein Mysterium in drei Akten + +George Bernard Shaw + +Übersetzt von Siegfried Trabitsch + + + + + + + +PERSONEN + +Pastor Jakob Morell +Candida, seine Frau +Burgess, ihr Vater +Alexander Mill, Unterpfarrer +Proserpina Garnett, Maschinenschreiberin +Eugen Marchbanks, ein junger Dichter + +Ort der Handlung: Die St. Dominikpfarre, Viktoriapark, London E. + +Zeit: Oktober 1894. + + + + +ERSTER AKT + +(Ein schöner Oktobermorgen im nordöstlichen Viertel Londons. In +diesem ausgedehnten Bezirk sind die Seitengässchen viel weniger +schmal, schmutzig, übelriechend und stickig als in dem viele +Meilen entfernten London von Mayfair und St. James. Hier spielt +sich besonders das unelegante Leben der Mittelklassen ab. Die +breiten, dichtbevölkerten Strassen sind mit hässlichen eisernen +Bedürfnisanstalten, radikalen Klubs und Trambahnlinien, auf denen +Ketten von gelben Wagen endlos einziehen, reichlich versehn. Doch +Sind die Hauptverkehrsadern mit grasbewachsenen Vorgärtchen verziert, +von denen man nur den kleinen Streifen betritt, der vom Pförtchen zur +Haustür führt. Jene Strassen werden durch die stumm geduldete +Eintönigkeit sich meilenweit erstreckender hässlicher Ziegelbauten, +schwarzer Eisengitter, Steinpflaster und Schieferdächer arg entstellt. +Anständig aber unmodern oder gemein und ärmlicb gekleidete Leute, die +an dieses Viertel gewöhnt sind und sich zumeist in aufreibender Weise +für andere plagen müssen, ohne sich für ihre Arbeit zu interessieren, +bilden ihre Bewohner. Das bisschen ihnen gebliebene Energie und Eifer +gipfelt in der Habgier des Londoner Cockneys und in der Begierde, ihr +Geschäft vorwärts zu bringen. Selbst die Schutzleute und die Kapellen +sind nicht selten genug, die Eintönigkeit zu unterbrechen. Die Sonne +scheint klar, es ist nicht neblig, und obgleich der Rauch sowohl die +Gesichter und Hände als auch die Mauern aus Ziegelstein und Mörtel +verhindert, frisch und rein zu sein, so ist er doch nicht schwarz und +schwer genug, um einen Londoner zu belästigen.) + +(Diese reizlose Wüste hat ihre Oase. Am äussersten Ende der +Hackneystrasse ist ein durch ein hölzernes Pfahlwerk abgeschlossener +Park von 270 Morgen angelegt. Er enthält Rasenplätze, Bäume, einen +Teich zum Baden, Blumenbeete, die Triumphe der vielbewunderten +Cockney-Kunst der Teppichgärtnerei sind, und eine Sandgrube, die +ursprünglich zur Belustigung der Kinder vom Meeresufer importiert, +aber schleunigst verlassen wurde, als sie sich in eine natürliche +Ungezieferbrutstätte für die ganz kleine Fauna von Kingsland, +Hackney und Hoxton verwandelte. Ein Orchester, ein kleines +Forum für religiöse, antireligiöse und politische Redner, +Cricketplätze, ein Turnplatz und ein altmodischer Steinkiosk bilden die +Hauptanziehungspunkte. Wo die Aussicht von Bäumen oder grünen Anhöhen +begrenzt wird, ist es ein hübscher Aufenthaltsort. Wo sich aber der +Boden flach bis zu dem grauen Lattenzaun hinzieht und man Ziegel und +Mörtel, Reklameschilder, zusammengedrängte Schornsteine und Rauch +gewahrt muss die Gegend (im Jahre 1894), trostlos und hässlich genannt +werden.) + +(Die beste Aussicht auf den Viktoriapark gewinnt man von den +Frontfenstern der St. Dominikpfarre; von dort sieht man auf keinerlei +Mauerwerk. Das Pfarrhaus steht halb frei, mit einem Vorgarten und +einer Vorhalle. Besucher benützen die Stufen, die auf die Veranda +führen, Geschäftsleute und Familienmitglieder geben durch eine Tür +unterhalb der Treppe in das Erdgeschoß, wo ein Frühstückszimmer nach +vorne liegt, das zu allen Mahlzeiten dient; die Küche liegt hinten. +Oben, auf einem Niveau mit der Flurtür, befindet sich das +Empfangszimmer mit seinem breiten Fenster aus geschliffenem Glas, das +auf den Park hinausführt.) + +(Hier, in dem einzigen Raume, der von den Familienmahlzeiten und den +Kindern verschont bleibt, vollbringt der Pfarrer, Reverend Jakob Mavor +Morell, sein Tagewerk. Er sitzt in einem starken drehbaren Stuhl mit +runder Lehne am Ende eines langen Tisches, der dem Fenster +gegenübersteht, so daß er sich durch einen Blick über die linke +Schulter an der Aussicht auf den Park erfreuen kann. Am Ende des +Tisches, an diesen anstoßend, befindet sich ein zweiter Tisch, der nur +halb so breit ist und eine Schreibmaschine trägt.--Seine Schreiberin +sitzt davor mit dem Rücken gegen das Fenster. Der große Tisch ist +unordentlich mit Zeitungen, Broschüren, Briefen, Schubladeeinsätzen, +einem Notizheft, einer Briefwage und ähnlichen Dingen bedeckt. In der +Mitte steht ein übriger Stuhl für die Besucher, die mit dem Pfarrer +geschäftlich zu tun haben. Seiner Hand erreichbar steht eine +Papierkassette und eine Photographie in einem Rahmen. Die Wand hinter +ihm ist mit Bücherregalen zugestellt. Die theologische Richtung des +Pfarrers kann ein Sachverständiger an: Maurices "Theologischen Essays" +und einer vollständigen Ausgabe der Browningschen Gedichte erkennen, +seine politischen Reformideen an einem gelbrückigen Band "Fortschritt +und Armut", den "Essays der Fabier", dem "Traum John Bulls" von +William Morris, dem "Kapital" von Marx und einem halben Dutzend +anderer grundlegender sozialistischer Bücher. Dem Pfarrer gegenüber, +auf der andern Seite des Zimmers in der Nähe der Schreibmaschine, ist +die Tür. Weiter hinten, dem Kamin gegenüber, steht ein Bücherbrett +auf einem Spind, daneben ein Sofa. Ein starkes Feuer brennt im Kamin +und davor steht ein bequemer Lehnstuhl, ferner ein schwarz lackierter, +blumenbemalter Kohleneimer auf der einen Seite und ein Kindersessel +für einen Knaben oder ein Mädchen auf der anderen. Der hölzerne +Kaminsims ist lackiert, und in den kleinen Feldern der nett geformten +Fächer sind winzige Spiegelgläser eingelegt, und eine Reiseuhr in +einem Lederetui (das unvermeidliche Hochzeitsgeschenk) steht darauf. +An der Wand darüber hängt eine große Autotypie der Hauptfigur aus +Tizians Assunta. So sieht der Kamin sehr einladend aus. Im ganzen +gesehen ist es das Zimmer einer guten Hausfrau, die, was des Pastors +Arbeitstisch betrifft, an etwas Unordnung gewöhnt ist, aber trotzdem +die Situation vollkommen beherrscht. Die Einrichtung verrät in ihrem +ornamentalen Aussehen den Stil der in den Zeitungen annoncierten +"Saloneinrichtung" des unternehmenden Vorstadtmöbelhändlers; aber es +ist nichts Zweckloses oder Aufdringliches in dem Zimmer. Die Tapeten +und die Täfelung sind dunkel und lassen das große helle Fenster und +den Park draußen kräftig hervortreten.) + +(Hochwürden Jakob Mavor Morell ist ein christlich-sozialer Geistlicher +der anglikanischen Kirche und ein aktives Mitglied der Gilde von +"Sankt Matthäus" und der "Christlich Socialen Union". Ein starker, +freundlicher, allgemein geachteter Mann von vierzig fahren, kräftig +und hübsch, voll Energie und mit liebenswürdigen, herzlichen, +rücksichtsvollen Manieren, mit einer gesunden, natürlichen Stimme, die +er mit der wirkungsvollen Betonung eines geübten Redners benutzt. Er +verfügt über einen großen Wortschatz, den er vollkommen beherrscht. +Er ist ein vorzüglicher Geistlicher, fähig, was er will zu wem er will +zu sagen und die Leute abzukanzeln, ohne sich über sie zu ärgern, +ihnen seine Autorität aufzudrängen, ohne sie zu demütigen und, wenn es +sein muß, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen, ohne dabei zu +verletzen. Die Quelle seiner Begeisterung und seines Mitgefühls +versiegt niemals auch nur für einen Augenblick; er ißt und schläft +noch immer ausgiebig genug, um die tägliche Schlacht zwischen +Erschöpfung und Erholung glänzend zu gewinnen. Dabei ist er ein +großes Kind, verzeihlicherweise eitel auf seine Fähigkeiten und +unbewust selbstgefällig. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, eine +schöne Stirn mit etwas plumpen Augenbrauen, glänzende und lebhafte +Augen, einen energischen Mund, der nicht besonders schön geschnitten +ist, und eine kräftige Nase mit den beweglichen, sich blähenden +Nasenflügeln des dramatischen Redners, die aber wie alle seine Züge +der Feinheit entbehrt.) + +(Die Maschinenschreiberin, Fräulein Proserpina Garnett, ist eine flinke +kleine Person von ungefähr dreißig Jahren, sie gehört der unteren +Mittelklasse an, ist nett, aber billig mit einem schwarzen Wollrock +und einer Bluse bekleidet, ziemlich vorlaut und naseweis und nicht +sehr höflich in ihrem Benehmen, aber empfindungsfähig und +teilnahmsvoll. Sie klappert emsig auf ihrer Maschine drauf los, +während Morell den letzten Brief seiner Morgenpost öffnet. Er +durchfliegt seinen Inhalt mit einem komischen Stöhnen der Verzweiflung.) + +(Proserpina.) Wieder ein Vortrag? + +(Morell.) Ja. Ich soll nächsten Sonntagvormittag für die +Freiheitsgruppe von Hoxton sprechen. (Er betont mit großer +Wichtigkeit "Sonntag", weil das der unvernünftige Teil des Verlangens +ist.) Was sind das für Leute? + +(Proserpina.) Ich glaube, kommunistische Anarchisten. + +(Morell.) Es sieht den Anarchisten ähnlich, nicht zu wissen, daß sie +am Sonntag keinen Pastor haben können. Schreiben Sie ihnen, sie +sollen in die Kirche kommen, wenn sie mich hören wollen, das kann +ihnen nicht schaden! Und fügen Sie hinzu, daß ich nur Montags und +Donnerstags frei bin. Haben Sie das Vormerkbuch da? + +(Proserpina hebt das Vormerkbuch auf:) Ja! + +(Morell.) Ist irgendeine Vorlesung für nächsten Montag angesetzt? + +(Proserpina im Vormerkbuch nachschlagend:) Der radikale Klub von Tower +Hamlet. + +(Morell) Nun, und Donnerstag? + +(Proserpina.) Die englische Bodenreform-Liga. + +(Morell.) Was dann? + +(Proserpina.) In der Gilde von Sankt Matthäus am Montag. In der +unabhängigen Arbeitervereinigung, Abteilung Greenwich, am Donnerstag; +am Montag darauf in der soziademokratischen Föderation, Abteilung Mile +End; am folgenden Donnerstag ist die erste Konfirmationsklasse. +(Ungeduldig:) Ach, ich will lieber schreiben, daß Sie überhaupt nicht +kommen können; es sind doch nur ein halbes Dutzend unwissende und +eingebildete Hausierer, die miteinander keine fünf Schilling haben. + +(Morell belustigt:) Ah, aber bedenken Sie, es sind nahe Verwandte von +mir, Fräulein Garnett. + +(Proserpina ihn anstarrend:) Verwandte von Ihnen? + +(Morell.) Ja! Wir haben denselben Vater--im Himmel. + +(Proserpina erleichtert:) Oh, weiter nichts? + +(Morell mit einer Melancholie, die einem Manne Genuß ist, dessen +Stimme sie schon so schön auszudrücken vermag:) Ah, Sie glauben das +auch nicht,--jedermann sagt es, niemand glaubt es, niemand! (Schnell +zu seinem Gegenstande zurückkehrend:) Gut, gut! Na, Fräulein +Proserpina, können Sie keinen Tag für die Hausierer finden, wie ist's +mit dem fünfundzwanzigsten,--der war noch vorgestern frei. + +(Proserpina aus dem Vormerkbuch:) Auch vergeben--an die Fabier. + +(Morell.) Hol' der Geier die Fabier! Ist der achtundzwanzigste +gleichfalls vergeben? + +(Proserpina.) Bankett in der City. Sie sind von den Hüttenbesitzern +zum Speisen eingeladen. + +(Morell.) Das geht, ich werde eben statt dessen nach Hoxton gehen. +(Sie trägt diese Verpflichtung schweigend ein, mit unerschütterlicher +Verachtung gegen diese Hoxtoner Anarchisten, die sich in jeder Linie +ihres Gesichtes spiegelt. Morell reißt das Streifband eines Exemplars +des "Church Reformer" ab, das mit der Post angekommen ist, und +überfliegt den Leitartikel Stewart Hedlams und die Mitteilungen der +Gilde von Sankt Matthäus. Diese Vorgänge werden alsbald durch das +Erscheinen des Unterpfarrers Morells, Alexander Mill, unterbrochen. +Er ist ein junger Mensch, den Morell von der nächsten Missionstelle +der Universität bezogen hat, wohin er von Oxford gekommen war, um dem +East-End von London die Wohltat seiner akademischen Bildung angedeihen +zu lassen. Er ist ein eingebildeter, gutgesinnter, unreifer Mann, von +enthusiastischer Natur. Nichts absolut Unausstehliches ist in seinem +Wesen außer der Gewohnheit, um eine gezierte Sprache zu erzielen, mit +sorgsam geschlossenen Lippen zu reden und eine Menge Vokale schlecht +auszusprechen, als ob dies das Hauptmittel wäre, die Bildung Oxfords +unter den Pöbel Hackneys zu tragen.) + +(Morell, den er durch eine hündische Unterwürfigkeit für sich gewann, +blickt nachsichtig von seiner Lektüre im "Church Reformer" auf und +bemerkt:) Nun, Lexi, wieder verschlafen, wie gewöhnlich? + +(Mill.) Leider ja. Ich wollte, ich könnte des Morgens leichter +aufstehen. + +(Morell freut sich der eigenen Energie:) Ha, ha! (launig:) "Wache und +bete", Lexi, "wache und bete". + +(Mill.) Ich weiß. (Er benützt diese Gelegenheit sofort, um einen Witz +zu machen.) Aber wie kann ich wachen und beten, wenn ich schlafe; +--hab' ich nicht recht, Fräulein Prossi? + +(Proserpina scharf:) Fräulein Garnett, wenn ich bitten darf. + +(Mill.) Entschuldigen Sie, Fräulein Garnett. + +(Proserpina.) Sie müssen heute alle Arbeit allein erledigen. (Mill.) +Warum? + +(Proserpina.) Fragen Sie nicht, warum. Es wird Ihnen wohl bekommen, +Ihr Abendbrot einmal zu verdienen, bevor Sie es essen, wie ich es +täglich tue. Los, trödeln Sie nicht. Sie sollten schon seit einer +halben Stunde unterwegs sein. + +(Mill starr:) Spricht sie im Ernst, Herr Pastor? + +(Morell in bester Laune--seine Augen glänzen:) Ja. Heute werd' ich +einmal bummeln. + +(Mill.) Sie? Sie wissen ja nicht, wie man das macht. + +(Morell herzlich:) Ha, ha! Weißichdasnicht? Diesen Tag will ich ganz +für mich haben, oder doch wenigstens den Vormittag! Meine Frau kommt +nämlich zurück, um elf Uhr fünfundvierzig soll sie hier eintreffen. + +(Mill erstaunt:) Schon zurück--mit den Kindern? Ich dachte, sie +wollte bis Ende des Monats fortbleiben. + +(Morell.) So ist es. Sie kommt nur für zwei Tage her, um für Jimmy +etwas Flanellwäsche einzukaufen und um zu sehen, wie wir hier ohne sie +fertig werden. + +(Mill ängstlich:) Aber lieber Herr Morell, wenn das, was Jimmy und +Flussy gefehlt hat, wirklich Scharlach war, halten Sie es für klug?-- + +(Morell.) Unsinn, Scharlach! Masern waren es, ich habe sie selbst von +der Pycroftstraße aus der Schule nach Hause gebracht; ein Pastor ist +wie ein Arzt, mein Lieber, er muß der Ansteckung ins Auge sehen können +wie ein Soldat den Kugeln. (Er erbebt sich und schlägt Mill auf die +Schultern.) Trachten Sie, Masern zu bekommen, wenn Sie können; Candida +wird Sie dann pflegen, und was für ein Glücksfall wäre das für Sie, +--was? + +(Mill unsicher lächelnd:) Es ist schwer, Sie zu verstehen, wenn Sie +über Frau Morell sprechen.-- + +(Morell weich:) Mein lieber Junge, seien Sie erst verheiratet! +Verheiratet mit einer guten Frau, und dann werden Sie mich verstehen. +Es ist ein Vorgeschmack von dem Besten, was uns in dem himmlischen +Reich erwartet, das wir uns auf Erden zu gründen versuchen. Dann +werden Sie sich schon das Bummeln abgewöhnen! Ein braver Mann fühlt, +daß er dem Himmel für jede Stunde des Glücks ein hartes Stück +selbstloser Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen schuldig ist. Wir +haben ebensowenig das Recht, Glück zu verbrauchen, ohne es zu erzeugen, +als Reichtum zu verbrauchen, ohne ihn zu erwerben. Suchen Sie sich +eine Frau wie meine Candida, und Sie werden immer Schuldner sein, +wieviel Sie auch abzahlen. (Er klopft Mill liebevoll auf den Rücken +und ist im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als Mill ihn zurückruft.) + +(Mill.) Oh, warten Sie einen Augenblick, ich vergaß... (Morell bleibt +stehen und wendet sich um, die Türklinke in der Hand.) Ihr Herr +Schwiegervater wird hierherkommen, er hat mit Ihnen zu sprechen. +(Morell schließt die Tür wieder, mit vollkommen verändertem Wesen.) + +(Morell überrascht und nicht erfreut:) Burgess? + +(Mill.) Ja! Ich traf ihn mit jemandem im Park, in eifrigem Gespräch. +Er sprach mich an und bat mich, Sie wissen zu lassen, daß er +hierherkommt. + +(Moroll halb ungläubig:) Aber er ist seit Jahren nicht hier gewesen. +Sind Sie sicher, Lexi? Sie scherzen doch nicht etwa?-- + +(Mill ernst:) Nein, Herr Pastor, ganz bestimmt nicht! + +(Morell nachdenklich:) Hm, hm, er hält es an der Zeit, sich wieder +einmal nach Candida umzusehen, ehe sie gänzlich aus seinem Gedächtnis +verschwindet. (Er fügt sich in das Unvermeidliche und geht hinaus; +Mill sieht ihm mit begeisterter, närrischer Verehrung nach. Fräulein +Garnett, die Mill nicht schütteln kann, wie sie möchte, läßt ihre +Gefühle an der Schreibmaschine aus.) + +(Mill.) Was für ein vortrefflicher Mann, welch ein tiefes liebevolles +Gemüt! (Er nimmt Morells Platz am Tisch ein und macht es sich bequem, +indem er eine Zigarette hervorzieht.) + + +(Proserpina ungeduldig, nimmt den Brief, den sie auf der Maschine +geschrieben hat, und faltet ihn zusammen:) Ach! ein Mann sollte seine +Frau lieben können, ohne einen Narren aus sich zu machen. + +(Mill erregt:) Aber Fräulein Proserpina! + +(Proserpina geschäftig aufstehend, holt ein Kuvert aus dem Pulte, in +das sie, während sie spricht, den Brief hineinlegt:) Candida hin und +Candida her und Candida überall. (Sie leckt das Kuvert.) Es kann +einen außer Rand und Band bringen! (Hämmert das Kuvert, um es fest zu +schließen.) Hören zu müssen, wie eine ganz gewöhnliche Frau in dieser +lächerlichen Weise vergöttert wird, bloß weil sie schönes Haar und +eine leidliche Figur hat. + +(Mill mit vorwurfsvollem Ernst:) Ich finde sie ungewöhnlich schön, +Fräulein Garnett. (Er nimmt die Photographie zur Hand betrachtet sie +und fügt mit noch tieferem Ausdruck hinzu:) Wunderbar schön,--was für +herrliche Augen sie hat! + +(Proserpina.) Candidas Augen sind durchaus nicht schöner als meine, +(Mill stellt die Photograpbie fort und sieht sie strenge an,) und ich +weiß ganz gut, daß Sie mich für ein gewöhnliches und untergeordnetes +Geschöpf halten. + +(Mill erbebt sich majestätisch:) Gott behüte, daß ich von irgendeinem +Geschöpf Gottes in dieser Weise dächte. (Er geht steif von ihr fort +bis in die Nähe des Bücherschranks.) + +(Proserpina mit bitterem Spott:) Ich danke Ihnen, das ist sehr nett +und tröstlich. + +(Mill traurig über ihre Verstocktheit:) Ich hatte keine Ahnung, daß +Sie etwas gegen Frau Morell haben. + +(Proserpina entrüstet:) Ich habe durchaus nichts gegen sie. Sie ist +sehr liebenswürdig und sehr gutherzig, ich habe sie sehr gern und weiß +ihre wirklich guten Eigenschaften weit besser zu würdigen, als +irgendein Mann es könnte. (Mill schüttelt traurig den Kopf, wendet +sich zum Bücherschrank und sucht die Reihen entlang nach einem Bande. +Sie folgt ihm mit heftiger Leidenschaftlichkeit.) Sie glauben mir +nicht? (Er wendet sich um und blickt ihr ins Gesicht. Sie fällt ihn +mit Heftigkeit an:) Sie halten mich für eifersüchtig? Was für eine +tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens Sie haben, Herr Alexander Mill! +Wie gut Sie die Schwächen der Frauen kennen, nicht wahr? Wie schön +es sein muß, ein Mann zu sein und einen scharfen durchdringenden +Verstand zu haben, statt bloße Gefühle, wie wir Frauen, und zu wissen, +daß die Ursache, warum wir ihr Vernarrtsein in eine Frau nicht teilen, +nur in gegenseitiger Eifersucht zu suchen sein kann. (Sie wendet sich +mit einer Bewegung ihrer Schultern von ihm ab und geht an das Feuer, +ihre Hände zu wärmen.) + +(Mill.) Ach, wenn Ihr Frauen nur ebenso leicht den Schlüssel zur +Stärke des Mannes fändet wie zu seiner Schwäche, es gäbe keine +Frauenfrage. + +(Proserpina über ihre Schulter, während sie die Hände vor die Flammen +hält:) Wo haben Sie das von Herrn Morell gehört? Sie selbst haben es +nicht erfunden,--Sie sind dazu nicht gescheit genug. + +(Mill.) Das ist ganz richtig. Ich schäme mich durchaus nicht, ihm +diesen Ausspruch zu verdanken, wo ich ihm schon so viele andere +geistige Wahrheiten verdanke! Er tat ihn bei der Jahresversammlung +der freien Frauenvereinigung. Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß ich, +obwohl bloß ein Mann, im Gegensatz zu jenen Frauen diesen Ausspruch zu +schätzen wußte! (Er wendet sich wieder an den Bücherschrank in der +Hoffnung, daß diese Worte sie vernichtet haben.) + +(Proserpina ordnet ihr Haar vor den kleinen Spiegeln des Kamins:) Wenn +Sie mit mir sprechen, sagen Sie mir gefälligst Ihre eigenen Gedanken, +soviel sie eben wert sind, und nicht die Pastor Morells. Sie geben +niemals eine traurigere Figur ab, als wenn Sie versuchen, ihn +nachzumachen. + +(Mill gekränkt:) Ich versuche seinem Beispiel zu folgen, aber nicht, +ihn nachzumachen. + +(Proserpina kommt wieder an ihn heran auf dem Rückwege zu ihrer Arbeit:) +Jawohl, Sie machen ihn nach. Warum stecken Sie Ihren Schirm unter +den linken Arm, statt ihn in der Hand zu tragen wie jeder andere? +Warum gehen Sie mit vorgeschobenem Kinn und warum eilen Sie vorwärts +mit diesem eifrigen Ausdruck in den Augen,--Sie, der Sie nie vor halb +zehn Uhr morgens aufstehen? Warum sagen Sie in der Kirche "Aandacht", +obwohl Sie im Leben "Andacht" sagen? Bah--glauben Sie, ich weiß das +nicht? (Geht zurück zur Schreibmaschine.) Da kommen Sie her und +machen Sie sich endlich an Ihre Arbeit; wir haben heute Morgen genug +Zeit verloren. Hier ist eine Abschrift der Tageseinteilung für heute. +(Sie reicht ihm ein Memorandum. Mill schwer beleidigt:) Ich danke +Ihnen. (Er nimmt das Papier und steht mit dem Rücken gegen sie an den +Tisch gelehnt und liest.) Sie fängt an, auf der Schreibmaschine ihre +stenographischen Aufzeichnungen zu übertragen, ohne auf Mills Gefühle +zu achten. + +(Burgess tritt unangemeldet ein.) Er ist ein Mann von sechzig Jahren, +derb und filzig geworden durch die notwendige Selbstsucht des kleinen +Krämers, die sich später durch Überfütterung und geschäftlichen Erfolg +zu träger Aufgeblasenheit milderte. Ein gemeiner, unwissender, +unmäßiger Mensch, beleidigend und hochnasig Leuten gegenüber, deren +Arbeit wohlfeil ist, ehrfürchtig gegen Menschen von Reichtum und Rang, +aber beiden gegenüber ganz aufrichtig und ohne Groll oder Neid. Da +sie ihn ohne besondere Fähigkeiten sah, hat ihm die Welt keine andere +gut bezahlte Arbeit zu bieten gewußt, als unnoble Arbeit, und er wurde +infolgedessen etwas erbärmlich, hat aber keine Ahnung, daß er so +beschaffen ist, und betrachtet seinen kommerziellen Wohlstand ganz +ehrlich als den unvermeidlichen und sozial berechtigten Triumph der +Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit und Erfahrung eines Mannes, +der im Privatleben übertrieben, leichtsinnig, liebenswürdig und +leutselig ist. Körperlich ist er kurz und dick, mit einer +schnauzenähnlichen Nase in der Mitte eines flachen, breiten Gesichtes; +unter dem Kinn ein staubfarbener Bart mit einem grauen Fleck in der +Mitte; er hat wässerige blaue Augen mit klagend sentimentalem Ausdruck, +der sich durch die Gewohnheit, seine Sätze wichtigtuend zu singen, +auch leicht auf seine Stimme überträgt. + +(Burgess bleibt an der Schwelle stehen und blickt umher:) Man sagte +mir, Herr Morell sei hier. + +(Proserpina sich erhebend:) Er ist oben, ich will ihn holen. + +(Burgess sie frech anstarrend:) Sie sind nicht dieselbe junge Dame, +die sonst für ihn schrieb. + +(Proserpina.) Nein. + +(Burgess beistimmend:) Nein, die war jünger. (Fräulein Garnett starrt +ihn an, dann gebt sie mit großer Würde hinaus. Er nimmt dies +gleichgültig entgegen und geht an den Kaminteppich, wo er sich +umwendet und sich breitspurig aufpflanzt, den Rücken dem Feuer +zugekehrt.) + +(Burgess.) Sind Sie im Begriff Ihren Rundgang zu machen, Herr Mill? + +(Mill faltet sein Papier und steckt es in die Tasche:) Jawohl, ich muß +gleich fort. + +(Burgess wichtig:) Lassen Sie sich nicht aufhalten; was ich mit Herrn +Morell zu besprechen habe, ist ganz privater Natur. + +(Mill aufgeblasen:) Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich +einzumengen, verlassen Sie sich darauf, Herr Burgess. Guten Morgen! + +(Burgess herablassend:) Guten Morgen, guten Morgen! + +(Morell kommt zurück, während Mill sich zur Tür wendet.) + +(Morell zu Mill:) Sie gehen an die Arbeit? + +(Mill.) Jawohl, Herr Pastor. + +(Morell klopft ihn liebenswürdig auf die Schulter:) Da, nehmen Sie +mein Seidentuch um den Hals, es geht ein kalter Wind draußen. Aber +jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen. (Mill, mehr als getröstet über +Burgess' Schroffheit, freut sich und geht hinaus.) + +(Burgess.) Guten Morgen, Jakob. Sie verwöhnen Ihren Unterpfarrer wie +immer. Wenn ich einen Mann bezahle und einer auf meine Kosten lebt, +dann weise ich ihm gehörig seinen Platz an. + +(Morell etwas kurz angebunden:) Ich weise meinem Unterpfarrer immer +seinen Platz an, nämlich an meiner Seite als meinem Helfer und +Kameraden. Wenn es Ihnen gelingt, so viel Arbeit aus Ihren Kommis und +Angestellten herauszukriegen wie ich aus meinem Unterpfarrer, dann +müssen Sie ziemlich rasch reich werden. Bitte, setzen Sie sich in +Ihren gewohnten Stuhl. (Er weist mit trockener Autorität auf den +Armstuhl neben dem Kamin, dann ergreift er einen freien Stuhl und +setzt sich in zurückhaltender Entfernung von seinem Besucher.) + +(Burgess ohne sich zu rühren:) Sie sind ganz der alte, Jakob. + +(Morell.) Als Sie mich das letztemal besuchten--ich glaube, es war vor +drei Jahren--da sagten Sie genau dasselbe. Nur etwas aufrichtiger. +Ihr wörtlicher Ausspruch war damals: "Derselbe Narr wie immer, Jakob." + +(Burgess sich rechtfertigend:) Vielleicht sagte ich das, aber (mit +versöhnender Heiterkeit:) ich meinte nichts Beleidigendes damit. Ein +Geistlicher hat das Privilegium, ein wenig närrisch sein zu +dürfen--wissen Sie, das liegt schon in seinem Beruf. Einerlei, ich +bin nicht hergekommen, um alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwärmen, +sondern um die Vergangenheit vergessen sein zu lassen. (Er wird +plötzlich sehr feierlich und nähert sich Morell.) Jakob, vor drei +Jahren haben Sie mir übel mitgespielt. Sie haben mich um meine +Lieferungen gebracht, und als ich Ihnen in meiner erklärlichen +Verzweiflung böse Worte gab, brachten Sie meine Tochter gegen mich auf. +Nun, ich bin gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß ich ein guter Christ +bin. (Ihm seine Hand darreichend:) Ich verzeihe Ihnen, Jakob. + +(Morell auffahrend:) Verdammt frech! + +(Burgess weicht zurück mit fast schluchzendem Vorwurf über diese +Behandlung:) Ziemt diese Sprache einem Pastor, Jakob? Und besonders +Ihnen? + +(Morell bitzig:) Nein, sie ziemt ihm nicht, ich habe das falsche Wort +gebraucht,--ich hätte sagen sollen: "Der Teufel soll Ihre Frechheit +holen!" Das würde Ihnen der heilige Paulus und jeder andere brave +Priester gesagt haben. Glauben Sie, ich habe Ihr Anerbieten vergessen, +als Sie für das Armenhaus vertragsmäßig Kleider liefern sollten? + +(Burgess in höchster Erbitterung, weil ihm seine Forderung nur recht +und billig erscheint:) Ich habe im Interesse der Steuerzahler +gehandelt, Jakob,--es war das niedrigste Angebot, das können Sie nicht +leugnen. + +(Morell.) Jawohl, das niedrigste, weil Sie schlechtere Löhne zahlten +als irgendein anderer Unternehmer--Hungerlöhne,--ach, ärger als +Hungerlöhne war die Bezahlung, die Sie den Frauen für ihre Näharbeit +geboten haben. Ihre Löhne hätten die Armen auf die Straße getrieben, +um Leib und Seele zu verkaufen. (Immer wütender werdend:) Jene Frauen +waren aus meinem Kirchsprengel, ich habe die Armenpfleger dazu +gebracht, daß sie sich schämten, Ihr Angebot anzunehmen, ich habe die +Steuerzahler dazu gebracht, daß sie sich schämten, es zuzulassen, ich +habe jeden bis auf Sie dazu gebracht, sich deswegen zu schämen. +(Überschäumend vor Wut:) Wie können Sie es wagen, Herr, +hierherzukommen und mir etwas vergeben zu wollen und über Ihre Tochter +zu sprechen und... + +(Burgess.) Beruhigen Sie sich, Jakob,--still, still, regen Sie sich +nicht für nichts und wieder nichts so auf. Ich habe ja zugegeben, daß +ich unrecht hatte. + +(Morell wütend:) Haben Sie das? Ich habe nichts davon bemerkt! + +(Burgess.) Natürlich gab ich's zu, so wie ich's noch jetzt zugebe. Na, +ich bitte Sie um Verzeihung wegen des Briefes, den ich Ihnen +geschrieben habe,--genügt Ihnen das? + +(Morell mit den Fingern schnalzend:) Ganz und gar nicht! Haben Sie +die Löhne erhöht? + +(Burgess triumphierend:) Ja! + +(Morell verblüfft innehaltend:) Was? + +(Burgess salbungsvoll:) Ich bin das Muster eines Arbeitgebers geworden. +Ich beschäftige keine Frauen mehr, sie haben alle den Laufpaß +bekommen, und die Arbeit wird jetzt durch Maschinen verrichtet. Nicht +ein Mann verdient jetzt weniger als sechs Pence die Stunde, und die +alten geübten Arbeiter bekommen die von den Gewerkschaften +festgesetzten Löhne. (Stolz:) Was sagen Sie jetzt? + +(Morell überwältigt:) Ist das möglich? Na, es ist mehr Freude im +Himmel über einen Sünder, der Buße tut--(Er geht auf Burgess zu mit +einem Ausbruch entschuldigender Herzlichkeit.) Mein lieber Burgess, +ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, +die ich von Ihnen hatte. (Seine Hand fassend:) Und fühlen Sie sich +nicht wohler nach dieser Veränderung? Gestehen Sie es! Sie sind +glücklicher, Sie sehen glücklicher aus. + +(Burgess kläglich:) Na ja, vielleicht fühle ich mich jetzt glücklicher, +ich muß wohl, da Sie es bemerken. Tatsache ist, daß mein Angebot von +der Behörde angenommen wurde. (Wild:) Sie wollte nichts mit mir zu +schaffen haben, ehe ich anständige Löhne zahlte--der Teufel soll +diese verdammten Narren holen, die ihre Nase in alles stecken müssen! + +(Morell läßt seine Hand fahren, aufs tiefste entmutigt:) Das ist also +der Grund, warum Sie die Löhne erhöht haben! (Er setzt sich +niedergeschlagen.) + +(Burgess streng, anmaßend, lauter werdend:) Weswegen sollt' ich es +sonst getan haben? Wohin anders führt es, als zu Trunksucht und +Ausschweifungen? (Er setzt sich wie ein Richter in den großen +Lehnstuhl.) Das ist alles sehr schön und gut für Sie: es bringt Sie in +die Zeitungen und macht Sie zu einem berühmten Manne; aber Sie denken +nie an den Schaden, den Sie anrichten, indem Sie die Taschen der +Arbeiter mit Geld anfüllen, das sie doch nicht vernünftig auszugeben +verstehen, während Sie es Leuten fortnehmen, die gute Verwendung dafür +hätten. + +(Morell nach einem schweren Seufzer, mit kalter Höflichkeit:) Was +wollen Sie also heute von mir? Ich bilde mir nicht ein, daß nur +verwandtschaftliche Gefühle Sie herführen. + +(Burgess hartnäckig:) Doch--gerade verwandtschaftliche Gefühle und +nichts anderes! + +(Morell mit müder Ruhe:) Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess springt drohend auf:) Sagen Sie mir das nicht ein zweites Mal, +Jakob Morell! + +(Morell unerschütterlich:) Ich werde es genau so oft sagen, als es +nötig ist, Sie davon zu überzeugen.--Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess versinkt in einen Zustand von tief verwundetem Gefühl:) Nun +gut, wenn Sie durchaus unfreundlich sein wollen, dann ist es wohl am +besten, ich gehe. (Er bewegt sich zögernd gegen die Tür, Morell gibt +kein Zeichen. Burgess zögert noch.) Ich habe nicht erwartet, Sie +unversöhnlich zu finden, Jakob. (Da Morell noch immer nicht antwortet, +macht er noch einige zögernde Schritte nach der Tür, dann kommt er +zurück, jammernd:) Wir haben uns doch immer ganz gut vertragen, trotz +unserer verschiedenen Anschauungen, warum sind Sie mir gegenüber jetzt +so verändert? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich bloß aus Freundschaft +hergekommen bin und nicht, um mich mit dem Manne meiner eigenen +Tochter auf schlechten Fuß zu stellen. Seien Sie doch ein Christ, +Jakob, reichen Sie mir Ihre Hand. (Er legt seine Hand sentimental auf +Morells Schulter.) + +(Morell blickt nachdenklich zu ihm auf.) Schauen Sie, Burgess, wollen +Sie hier ebenso willkommen sein, wie Sie es waren, ehe Sie Ihren +Vertrag verloren? + +(Burgess.) Jawohl, Jakob, das möchte ich wirklich. + +(Morell.) Warum benehmen Sie sich dann nicht wie damals? + +(Burgess nimmt seine Hand behutsam weg:) Wie meinen Sie das? + +(Morell.) Das will ich Ihnen sagen. Damals hielten Sie mich für einen +jungen Dummkopf! + +(Burgess schmeichelnd:) Nein, dafür habe ich Sie nicht gehalten, ich-- + +(Morell ihn unterbrechend:) Ja, dafür hielten Sie mich! Und ich hielt +Sie für einen alten Schurken. + +(Burgess will diese schwere Selbstanklage Morells heftig abwehren:) +Nein, das haben Sie nicht getan, Jakob. Jetzt tun Sie sich selbst +unrecht. + +(Morell.) Doch, das tat ich. Na, das hat aber nicht gehindert, daß +wir ganz gut miteinander ausgekommen sind. Gott hat aus Ihnen das +gemacht, was ich einen Schurken nenne, und aus mir das, was Sie eben +einen Dummkopf nennen. (Diese Bemerkung erschüttert die Grundfesten +von Burgess' Moral. Ihm wird schwach, und während er Morell hilflos +anblickt, streckt er die Hand ängstlich aus, um sein Gleichgewicht zu +bewahren, als ob der Boden unter ihm wankte. Morell fährt im selben +Tone ruhiger Überzeugung fort:) Es ist in beiden Fällen nicht meine +Sache, mit Gott darüber zu rechten. Solange Sie offen als ein sich +selbst achtender, echter, überzeugter Schurke hierherkommen und, stolz +darauf, Ihre Schurkereien zu rechtfertigen versuchen, sind Sie +willkommen. Aber (und nun wird Morells Ton furchtbar; er erhebt sich +und stützt sich zur Bekräftigung mit der Faust auf die Rückenlehne des +Stuhles:) ich mag Sie hier nicht herumschnüffeln haben, wenn Sie so +tun, als ob Sie das Muster eines Arbeitgebers wären und ein bekehrter +Mann dazu, während Sie nur ein Abtrünniger sind, der seinen Rock nach +dem Winde trägt, um einen Vertrag mit der Behörde zustande zu bringen. +(Er nickt ihm zu, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, dann geht er +zum Kamin, wo er in bequemer Kommandostellung, mit dem Rücken gegen +das Feuer gekehrt, lehnt und fortfährt:) Nein, ich liebe es, wenn ein +Mensch wenigstens sich selber treu bleibt, selbst im Bösen! Also, +nehmen Sie jetzt entweder Ihren Hut und gehen Sie, oder setzen Sie +sich und geben Sie mir einen guten, schurkischen Grund dafür an, warum +Sie mein Freund sein wollen. (Burgess, dessen Erregung sich genügend +gelegt hat, um in einem Grinsen ausgedrückt werden zu können, fühlt +sich durch diesen konkreten Vorschlag sichtlich erleichtert. Er +überlegt einen Augenblick, und dann setzt er sich langsam und sehr +bescheiden in den Stuhl, den Morell eben verlassen hat.) So ist's +recht,--nun heraus damit. + +(Burgess kichernd gegen seinen Willen:) Nein, Sie sind wirklich ein +sonderbarer Kauz, Jakob! (Beinahe enthusiastisch:) Aber man muß Sie +gern haben, ob man will oder nicht. Außerdem nimmt man, wie ich schon +sagte, nicht jedes Wort eines Geistlichen für bare Münze, sonst müßte +die Welt untergehn. Habe ich nicht recht? (Er faßt sich, um einen +ernsteren Ton anzuschlagen, und die Augen auf Morell gerichtet, fährt +er mit eintönigem Ernste fort:) Nun, meinetwegen, da Sie es wünschen, +daß wir gegeneinander ehrlich sind, will ich Ihnen zugeben, daß ich +Sie--ein wenig--für einen Narren hielt; aber ich fange an zu glauben, +daß ich damals etwas hinter meiner Zeit zurückgeblieben war. + +(Morell frohlockend:) Aha, haben Sie das endlich herausgefunden? + +(Burgess bedeutungsvoll:) Ja, die Zeiten haben sich mehr verändert, +als man glauben sollte! Vor fünf Jahren noch hätte sich kein +vernünftiger Mensch mit Ihren Ideen abgegeben. Ich wunderte mich +sogar, daß man Sie auf Ihrem Posten als Pastor beließ. Ich kenne +einen Geistlichen, der durch den Bischof von London auf Jahre hinaus +seiner Funktionen enthoben wurde, obwohl der arme Teufel nicht einen +Funken mehr religiös war als Sie. Aber wenn heute jemand mit mir um +tausend Pfund wetten wollte, daß Sie selbst noch einmal als Bischof +enden werden, ich würde die Wette nicht anzunehmen wagen. (Sehr +eindrucksvoll:) Sie und Ihre Sippschaft werden täglich einflußreicher, +wie ich überall merke. Man wird Sie einmal irgendwie befördern müssen, +und wäre es bloß, um Ihnen den Mund zu stopfen. Sie haben doch den +richtigen Instinkt gehabt, Jakob! Der Weg, den Sie eingeschlagen +haben, ist der einträglichste für einen Mann Ihres Schlages. + +(Morell reicht ihm jetzt die Hand mit fester Entschlossenheit:) Hier +meine Hand, Burgess, jetzt reden Sie ehrlich. Ich glaube nicht, daß +man mich zum Bischof ernennen wird; aber wenn es geschieht, dann will +ich Sie mit den größten Spekulanten bekannt machen, die ich zu meinen +Diners bekommen kann. + +(Burgess der sich mit einem verschmitzten Grinsen erhoben und die +Freundschaftshand ergriffen hat:) Sie bleiben nun mal bei Ihrem Witz, +Jakob. Unser Streit ist jetzt beigelegt, nicht wahr? + +(Die Stimme einer Frau.) Sag "Ja", Jakob! + +(Erstaunt wenden sie sich um und bemerken, daß Candida eben +eingetreten ist und sie mit jener belustigten, mütterlichen Nachsicht +betrachtet, die ihr charakteristischer Gesichtsausdruck ist. Sie ist +eine Frau von dreiunddreißig Jahren, schön gewachsen, gut genährt. +Man errät, daß sie später eine Matrone sein wird, aber jetzt steht sie +noch in ihrer Blüte, mit dem Doppelreiz der Jugend und der +Mutterschaft. Ihr Benehmen ist das einer Frau, die erfahren hat, daß +sie die Menschen immer lenken kann, wenn sie ihre Neigung gewinnt, und +die dies unbekümmert offen und instinktiv tut. In diesem Punkte ist +sie wie jede andere hübsche Frau, die gerade klug genug ist, aus ihrer +weiblichen Anziehungskraft zu alltäglich selbsttüchtigen Zwecken so +viel Kapital wie möglich zu schlagen. Aber Candidas heitere Stirn und +ihre mutigen Augen, der schön geformte Mund und ihr Kinn kennzeichnen +umfassenden Geist und Würde des Charakters, der ihre Schlauheit im +Gewinnen von Neigungen adelt. Ein kluger Beobachter würde, sie +betrachtend, sofort erraten, daß wer das Bild der Assunta auch über +ihren Kamin gehängt haben mochte, ein seelisches Band zwischen den +beiden Frauengestalten geahnt hatte, obwohl er weder ihrem Manne, noch +ihr selbst den Gedanken zutraute, sie mit der Kunst Tizians irgendwie +in Zusammenhang zu bringen.--Sie ist in Hut und Mantel und hat eine +zusammengeschnürte Reisedecke, durch die ihr Schirm gesteckt ist, eine +Handtasche und eine Menge illustrierter Zeitungen in den Händen.) + +(Morell über seine Nachlässigkeit erschrocken:) Candida! Ei nun!--(Er +sieht auf seine Uhr und ist entsetzt, daß es schon so spät ist.) Mein +Schatz! (Er eilt ihr entgegen und nimmt ihr die Reisedecke ab, indem +er fortfährt, sein reumütiges Bedauern hervorzusprudeln:) Ich hatte +die Absicht, dich von der Bahn abzuholen, aber ich bemerkte nicht, daß +die Zeit schon um war, (die Reisedecke aufs Sofa werfend:) ich war so +sehr in Anspruch genommen--(Wieder zu ihr kommend:) daß ich das +vergaß--oh! (Er umarmt sie mit reumütiger Ergriffenheit.) + +(Burgess etwas beschämt und ungewiß, wie er von seiner Tochter +empfangen werden wird:) Wie geht es dir, Candy? (Candida, noch in +Morells Armen, bietet ihm ihre Wange, die er küßt:) Jakob und ich sind +zu einer Verständigung gekommen--zu einer ehrenvollen Verständigung. +Nicht wahr, Jakob? + +(Morell heftig:) Reden Sie nicht von unserer Verständigung! +Ihretwegen habe ich versäumt, Candida abzuholen. + +(Teilnahmsvoll:) Du arme Liebe, wie bist du nur mit deinem Gepäck +fertig geworden? Wie-- + +(Candida unterbricht ihn und macht sich los:) Na, na, na! ich war +nicht allein. Eugen ist mit uns gekommen--wir sind zusammen +hergefahren. + +(Morell erfreut:) Eugen?! + +(Candida.) Ja. Er plagt sich eben mit meinem Gepäck ab, der arme +Junge. Ich bitte dich, lieber Jakob, geh gleich hinunter, sonst +bezahlt er den Wagen, und das möchte ich nicht. (Morell eilt hinaus. +Candida stellt ihre Handtasche nieder, nimmt dann ihren Mantel und Hut +ab und legt sie auf das Sofa neben die Decke und plaudert inzwischen.) +Nun, Papa, wie geht's zu Hause? + +(Burgess.) Es lohnt sich nicht mehr, dort zu leben, seit du uns +verlassen hast, Candy. Ich wollte, du kämst einmal, um nachzusehn und +mit dem Mädchen zu sprechen.--Wer ist dieser Eugen, der dich begleitet +hat? + +(Candida.) Oh, Eugen ist eine von Jakobs Entdeckungen. Er fand ihn im +verflossenen Juni schlafend auf dem Kai. Hast du unser neues Bild +nicht bemerkt? (Ruf das Bild der Assunta zeigend:) Das haben wir von +ihm. + +(Burgess ungläubig:) Was soll das heißen? Willst du mir, deinem +eigenen Vater, etwa einreden, daß ein Landstreicher, den man schlafend +auf dem Kai findet, solche Bilder schenkt? (Strenge:) Betrüg mich +nicht, Candy; es ist ein katholisches Bild, und Jakob hat es selbst +gekauft. + +(Candida.) Du irrst. Eugen ist kein Landstreicher. + +(Burgess.) Was ist er denn? (Sarkastisch:) Ein Edelmann +wahrscheinlich? + +(Candida nickt belustigt:) Jawohl, sein Onkel ist ein Pair--ein +wirklicher, leibhaftiger Graf. + +(Burgess wagt es nicht, so eine gute Nachricht zu glauben:) Nein! + +(Candida.) Ja! Er trug einen Wechsel auf fünfundfünfzig +Pfund--zahlbar in acht Tagen--in der Tasche, als Jakob ihn am Kai fand. +Er dachte, daß er dafür kein Geld bekommen könnte, bevor die acht +Tage um wären, und er war zu schüchtern, Kredit zu verlangen. Oh, er +ist ein lieber Junge, wir haben ihn sehr gern. + +(Burgess der so tut, als verachte er die Aristokraten, aber mit +glänzenden Augen:) Hm, ich dachte mir's, daß der Neffe eines Pairs +nicht bei euch im Viktoriapark zu Besuch sein würde, wenn er nicht ein +bißchen verrückt wäre. (Er blickt wieder auf das Bild.) Ich bin +natürlich mit dem Vorwurf dieses Bildes, als strenggläubiger +Protestant, nicht einverstanden, Candy; aber daß es ein erstklassiges, +großes Kunstwerk ist, das habe ich sofort erkannt. Nicht wahr, du +stellst mich ihm vor, Candy? (Er sieht ängstlich auf seine Uhr.) Ich +kann aber höchstens noch zwei Minuten bleiben. + +(Morell kommt mit Eugen zurück, den Burgess mit feuchten Augen +begeistert anstarrt. Eugen ist ein seltsamer, scheuer Jüngling von +achtzehn Jahren, schlank, weibisch, mit einer zarten, kindlichen +Stimme, einem gehetzten, gequälten Ausdruck und mit einem Benehmen, +das die schmerzliche Empfindlichkeit sehr schnell und plötzlich +gereifter Knaben kennzeichnet, bevor ihr Charakter volle Festigkeit +erreicht hat. Erbärmlich unentschlossen, weiß er nie, wo er stehen +und was er tun soll. Burgess erschreckt ihn, und er möchte am +liebsten fort von ihm in die Einsamkeit laufen, wenn er es wagte. +Aber die Intensität, mit der er eine so ganz gewöhnliche Lage +empfindet, zeugt doch nur von seiner übergroßen nervösen Kraft; und +seine Nasenflügel, sein Mund und seine Augen verraten einen +leidenschaftlich ungestümen Eigensinn, über dessen äußersten Grad +seine Stirne, die schon vom Mitleid gefurcht ist, wieder beruhigt. Er +sieht absonderlich aus, beinahe wie nicht von dieser Welt--und +prosaische Leute sehen etwas Ungesundes in dieser überirdischen Art, +so wie poetische Menschen darin etwas Engelgleiches sehen. Seine +Kleidung ist ganz frei; er trägt ein altes Jakett aus blauem Serge, +aufgeknöpft, über einem wollenen Lawn-Tennis-Hemd, mit einem seidenen +Halstuch als Krawatte, zu dem Jackett passende Beinkleider und braune +Schuhe aus Segeltuch. In diesem Aufzuge hat er augenscheinlich im +Heidekraut gelegen und ist durch das Wasser gewatet; es ist auch nicht +ersichtlich, daß er die Kleider jemals abgebürstet hat. Da er beim +Eintritt einen Fremden sieht, hält er inne und drückt sich längs der +Wand nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers weiter.) + +(Morell beim Eintreten:) Kommen Sie. Sie haben sicher doch eine +Viertelstunde für uns übrig. Das ist mein Schwiegervater, Herr +Burgess--Herr Marchbanks. + +(Marchbanks weicht geängstigt gegen den Bücherschrank zurück:) Sehr +angenehm-- + +(Burgess geht mit großer Herzlichkeit auf ihn zu, während Morell vor +den Kamin zu Candida tritt:) Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, +Herr Marchbanks. (Nötigt ihn, ihm die Hand zu geben.) Wie geht es +Ihnen bei diesem Wetter? Ich hoffe, Jakob versucht nicht, Ihnen +verrückte Ideen in den Kopf zu setzen. + +(Marchbanks.) Verrückte Ideen? Ach, Sie meinen sozialistische? Nein, +o nein! + +(Burgess.) Das ist recht. (Sieht wieder auf seine Uhr.) Na, jetzt muß +ich aber gehen, da ist nichts zu machen. Haben Sie vielleicht +denselben Weg, Herr Marchbanks? + +(Marchbanks.) Nach welcher Richtung gehen Sie? + +(Burgess.) Station Viktoriapark. Um zwölf Uhr fünfundzwanzig geht ein +Zug nach der City. + +(Morell.) Unsinn, Eugen, Sie frühstücken doch hoffentlich mit uns! + +(Marchbanks sich ängstlich entschuldigend:) Nein, ich--ich-- + +(Burgess.) Nun, ich will Ihnen nicht zureden. Ich wette, daß Sie es +vorziehen, mit Candy zu frühstücken. Ich hoffe aber, dafür werden Sie +eines Abends im Bürgerklub in Norton Folgate mit mir dinieren,--bitte, +sagen Sie zu! + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, Herr Burgess. Wo ist Norton +Folgate?--Unten in Surrey, nicht wahr? + +(Burgess, unaussprechlich belustigt, fängt zu lachen an.) + +(Candida zu Hilfe kommend:) Du wirst deinen Zug versäumen, Papa, wenn +du nicht sofort gehst; komm am Nachmittag wieder und erkläre Herrn +Marchbanks dann, wie man nach dem Klub gelangt. + +(Burgess mit schallendem Gelächter:) In Surrey, ha ha, das ist nicht +schlecht! Nun, ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht +Norton Folgate gekannt hätte. + +(Betroffen über den Lärm seiner eigenen Stimme:) Leben Sie wohl, Herr +Marchbanks; ich weiß, Sie sind zu vornehm, um meinen Scherz schlecht +aufzufassen. (Er reicht ihm abermals die Hand.) + +(Marchbanks erfaßt sie mit nervösem Griff.) O bitte, bitte! + +(Burgess.) Adieu, adieu, Candy. Ich werde später wiederkommen--auf +Wiedersehen, Jakob. + +(Morell.) Müssen Sie wirklich gehen? + +(Burgess.) Laßt euch nicht stören. (Er gebt mit unverminderter +Herzlichkeit hinaus.) + +(Morelt.) Ich werde Sie hinausbegleiten. (Er folgt ihm, Eugen starrt +ihnen ängstlich nach und hält seinen Atem an, bis Burgess verschwunden +ist.) + +(Candida lachend:) Nun, Eugen? (Er wendet sich mit einem Ruck um und +kommt heftig auf sie zu, hält aber unschlüssig inne, als er ihren +belustigten Blick bemerkt.) Wie gefällt Ihnen mein Vater? + +(Marchbanks.) Ich--ich kenne ihn doch kaum,--er scheint ein sehr +lieber alter Herr zu sein. + +(Candida mit leiser Ironie:) Und Sie werden seine Einladung in den +Bürgerklub annehmen, nicht wahr? + +(Marchbanks unglücklich, es für Ernst nehmend:) Gerne, wenn Sie es +wünschen. + +(Candida gerührt:) Wissen Sie, daß Sie ein sehr lieber Junge sind, +Eugen, trotz all Ihrer Sonderlichkeiten. Wenn Sie meinen Vater +ausgelacht hätten, so wäre nichts dabei gewesen, aber es gefällt mir +um so besser von Ihnen, daß Sie nett zu ihm waren. + +(Marchbanks.) Hätte ich lachen sollen? Mir war, als ob er etwas +scherzhaftes sagte, aber ich fühle mich Fremden gegenüber so bedrückt, +und ich kann Witze nie verstehen. Es tut mir sehr leid. (Er setzt +sich auf das Sofa, die Ellbogen auf den Knien und die Schläfen +zwischen den Fäusten, mit dem Ausdruck hoffnungslosen Leidens.) + +(Candida heitert ihn gutmütig auf:) Oh, Sie großes Kind,--Sie sind +heute noch ärger als sonst. Warum waren Sie auf der Fahrt in der +Droschke so melancholisch? + +(Marchbanks.) Oh, das war nichts. Ich dachte darüber nach, wieviel +ich dem Kutscher geben sollte. Ich weiß, es ist äußerst dumm, aber +Sie wissen nicht, wie schrecklich mir solche Dinge sind,--wie ich mich +davor scheue, mit fremden Leuten zu unterhandeln. (Frisch und +beruhigend:) Aber jetzt ist alles gut. Er lachte mit dem ganzen +Gesicht und berührte seinen Hut, als Ihr Mann ihm zwei Schilling gab; +ich war im Begriff, ihm zehn zu bieten. (Candida lacht herzlich, +Morell kommt mit einigen Briefen und Zeitungen zurück, die mit der +Mittagspost gekommen sind.) + +(Candida.) Oh, lieber Jakob, denke nur, er wollte dem Kutscher zehn +Schilling geben,--zehn Schilling für eine Fahrt von drei Minuten, was +sagst du? + +(Morell vor dem Tisch die Briefe überfliegend:) Machen Sie sich nichts +daraus, Marchbanks. Der Trieb, zuviel zu bezahlen, ist ein Beweis von +Großmut und viel besser als der entgegengesetzte, und nicht so +gewöhnlich. + +(Marchbanks wieder in Niedergeschlagenheit verfallend:) Nein, Feigheit, +Untauglichkeit ist das. Frau Morell hat ganz recht. + +(Candida.) Gewiß hat sie recht. (Sie nimmt ihre Handtasche auf.) Und +nun muß ich Sie Jakob überlassen. Ich nehme an, Sie sind zu sehr Poet, +um sich den Zustand vorstellen zu können, in dem eine Frau ihr Haus +wiederfindet, wenn sie drei Wochen fortgewesen ist. Geben Sie mir +meine Decke. (Eugen nimmt die eingeschnallte Decke vom Sofa und gibt +sie ihr; sie nimmt sie in die linke Hand, da sie ihre Tasche in der +rechten hält.) Nun, bitte, hängen Sie mir den Mantel über den Arm. +(Er gehorcht.) Nun meinen Hut. (Er gibt ihn ihr in die Hand, die das +Gepäck hält.) Nun öffnen sie mir die Tür.--(Er läuft ihr voraus und +öffnet die Tür.) Danke. (Sie geht hinaus, und Marchbanks schließt sie +hinter ihr wieder.) + +(Morell noch am Tisch beschäftigt:) Sie bleiben selbstverständlich zum +Frühstück bei uns, Marchbanks. + +(Marchbanks erschreckt:) Ach, ich darf nicht. (Er sieht rasch nach +Morell hin, weicht aber plötzlich seinem vollen Blick aus und fügt mit +sichtlicher Unaufrichtigkeit hinzu:) Ich meine, ich kann nicht. + +(Morell.) Sie meinen, Sie wollen nicht. + +(Marchbanks ernst:) Nein, ich möchte wirklich gerne, ich danke Ihnen +sehr, aber--aber-- + +(Morell leichthin, beendigt seinen Brief und tritt dicht an Eugen +heran:) Aber--aber--aber--aber! Unsinn! Wenn Sie bleiben wollen, +dann bleiben Sie,--Sie werden mich doch nicht überzeugen wollen, daß +Sie irgend etwas anderes zu tun haben? Wenn Sie schüchtern sind, +machen Sie einen Spaziergang durch den Park und schreiben bis halb +zwei Uhr Gedichte, und dann kommen Sie wieder und essen tüchtig. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen. Ich würde das sehr gern tun, aber ich +darf wirklich nicht. Die Wahrheit ist, daß mir Frau Morell gesagt hat, +daß ich's lieber nicht tun sollte. Sie sagte, sie glaube nicht, daß +Sie mich zum Frühstück einladen würden, aber wenn Sie es täten, dann +wünschten Sie es doch nicht ernstlich. (Schmerzlich:) Sie sagte, ich +würde das schon verstehen, aber ich verstehe es nicht.--Bitte, sagen +Sie ihr nichts davon, daß ich es Ihnen wiedererzählt habe. + +(Morell belustigt:) Oh, ist das alles? Was halten Sie von meinem +Vorschlag, in den Park zu gehen und diese Frage damit zu erledigen? + +(Marchbanks.) Wie? + +(Morell in guter Laune herausplatzend:) Na, Sie Dummkopf. (Aber dies +geräuschvolle Wesen verletzt sowohl ihn selbst als auch Eugen. Er +hält inne und fährt mit liebevollem Ernst fort:) Nein, Scherz beiseite, +mein lieber Junge! in einer glücklichen Ehe wie die unsere ist die +Rückkehr der Frau in ihr Haus etwas sehr Heiliges. (Marchbanks sieht +ihn rasch an, und errät beinahe im voraus, was er sagen will.) Aber +ein lieber Freund, eine wirklich vornehme, sympathische Seele ist bei +einer solchen Gelegenheit nicht im Wege,--der erstbeste Besucher wäre +es allerdings. (Der gehetzte, erschreckte Ausdruck kommt plötzlich +und lebhaft in Eugens Gesicht, sowie er begreift. Morell, mit seinen +eigenen Gedanken beschäftigt, fährt, ohne es zu bemerken, fort:) +Candida dachte, ich würde Sie vielleicht lieber nicht hier haben, aber +sie hatte unrecht. Ich habe Sie sehr lieb, Eugen; und ich möchte es +auch Ihretwegen, daß Sie sehen, wie schön es ist, so glücklich +verheiratet zu sein wie ich. + +(Marchbanks.) Glücklich? Ihre Ehe? Das meinen Sie, das glauben Sie +wirklich? + +(Morell heiter:) Ich weiß es, mein Junge. Laroche-foucauld behauptet +zwar, daß es höchstens passende, aber keine glücklichen Ehen gäbe. +Sie können sich nicht vorstellen, wie wohl es tut, einen so +abgefeimten Lügner und verderbten Zyniker zu durchschauen! Ha, ha! +Nun aber fort in den Park und schreiben Sie Ihr Gedicht! und vergessen +Sie nicht: Punkt halb zwei Uhr! Wir warten niemals mit dem Essen auf +jemand. + +(Marchbanks wild:) Nein, halten Sie ein, Sie sollen es auch nicht! +Ich will alles ans Licht bringen. + +(Morell verwundert:) Wie? Was wollen Sie ans Licht bringen? + +(Marchbanks.) Ich muß mit Ihnen sprechen. Es gibt etwas, das zwischen +uns erledigt werden muß. + +(Morell mit einem belustigten Blick nach der Uhr:) Jetzt? + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Jawohl, jetzt. Ehe Sie dieses Zimmer +verlassen. (Er weicht ein paar Schritte zurück und steht so, als ob +er Morell den Weg zur Tür versperren wollte.) + +(Morell ernst, ohne sich zu rühren, da er begreift, daß es sich um +etwas Ernstes handelt:) Ich will es gar nicht verlassen. Ich dachte, +Sie wollten gehen.--(Eugen ist von seinem sicheren Ton verwirrt und +wendet ihm, sich krümmend vor Verdruß, den Rücken zu. Morell geht zu +ihm hin und legt die Hände auf seine Schultern, fest und gütig, ohne +Marchbanks Versuche, ihn abzuschütteln, zu beachten.) Na--setzen Sie +sich ruhig und erzählen Sie mir, was los ist. Und bedenken Sie eines: +wir sind Freunde und brauchen nicht zu fürchten, daß einer von uns +anders als geduldig und gütig zu dem andern sein werde, was wir +einander auch mögen zu sagen haben. + +(Marchbanks windet sich hin und her:) Oh, ich werde mich nicht +vergessen, ich bin nur (bedeckt sein Gesicht verzweifelt mit den +Händen:) außer mir vor Entsetzen! (Dann läßt er die Hände fallen, und +sich mutig vorwärts gegen Morell wendend, fährt er drohend fort:) Sie +werden ja sehen, ob Geduld und Güte da am Platz sind. (Morell, +unerschütterlich wie ein Felsen, sieht ihn nachsichtig an.) Betrachten +Sie mich nicht so selbstgefällig! Sie halten sich zwar für stärker +als mich, aber ich werde Sie aufrütteln, wenn Sie ein Herz im Leibe +haben. + +(Morell mit mächtigem Vertrauen:) Mich aufrütteln, mein Junge? Nur zu! +Nur zu! Heraus damit! + +(Marchbanks.) Zuerst-- + +(Morell.) Zuerst? + +(Marchbanks.) Ich liebe Ihre Frau! (Morell fährt zurück, und nachdem +er Eugen einen Augenblick äußerst erstaunt angestarrt hat, bricht er +in heftiges Lachen aus. Eugen wird stutzig, verliert aber seine +Fassung nicht und steht empört und verachtungsvoll da.) + +(Morell setzt sich, um sich auszulachen:) Aber, mein liebes Kind, +natürlich lieben Sie Candida. Jeder liebt sie, man kann nicht anders; +das freut mich nur, aber (er sieht seltsam zu ihm auf:) halten Sie +Ihren Fall für etwas, über das man auch nur zu sprechen braucht? Sie +sind unter zwanzig und Candida ist über dreißig,--sieht das nicht +einer Dummenjungenliebe ähnlich? + +(Marchbanks heftig:) Sie wagen, so von ihr zu sprechen! Sie glauben, +daß Ihre Frau diese Art Liebe einflößen kann!--Das ist eine +Beleidigung gegen sie! + +(Morell erhebt sich rasch und verändert den Ton:) Gegen sie? Nehmen +Sie sich in acht, Eugen. Ich war geduldig. Ich hoffe, geduldig zu +bleiben. Aber es gibt Dinge, die ich mir verbitten muß. Zwingen Sie +mich nicht, Ihnen die Nachsicht zu zeigen, die ich einem Kinde +gegenüber haben würde. Seien Sie ein Mann. + +(Marchbanks mit einer Bewegung, als würfe er etwas hinter sich:) Oh, +lassen Sie dieses Geschwätz beiseite. Ich bin entsetzt, wenn ich +denke, wieviel die Arme davon hat anhören müssen in den langen Jahren, +in denen Sie Candida selbstsüchtig und blind Ihrem Dünkel geopfert +haben! (Sich nach ihm umwendend:) Sie, der Sie nicht einen Gedanken, +nicht ein Gefühl mit ihr gemeinsam haben. + +(Morell mit philosophischer Ruhe:) Ihr scheint das alles aber recht +gut zu bekommen. (Ihm gerade ins Gesicht blickend:) Eugen, Sie machen +sich zum Narren--zu einem sehr großen Narren. Es ist zu Ihrem eigenen +Besten, wenn man Ihnen das offen und ehrlich sagt. + +(Marchbanks.) Oh, glauben Sie, ich wüßte das alles nicht? Glauben Sie, +daß die Dinge, über die Leute zu Narren werden, weniger wirklich und +wahr sind, als die, bei denen sie vernünftig bleiben? (Morells Blick +wird zum ersten Male unsicher, er wendet instinktiv sein Gesicht ab +und steht horchend, bestürzt und nachdenklich da.) Diese Dinge sind +noch viel wahrer, sie sind überhaupt die einzigen Dinge, die wahr sind. +Sie sind sehr ruhig und maßvoll und rücksichtsvoll gegen mich, weil +Sie sehen können, daß ich, was Ihre Frau betrifft, ein Narr bin. So +wie der alte Mann, der eben hier war, zweifellos sehr weise über Ihren +Sozialismus denkt, weil er sieht, daß Sie sich dabei zum Narren machen. +(Morell wird sichtlich immer bestürzter, und Eugen nützt seinen +Vorteil aus, ihn heftig mit Fragen bedrängend:) Beweist dies, daß Sie +unrecht haben? Beweist Ihre sichere Überlegenheit mir gegenüber, daß +ich unrecht habe? + +(Morell sich zu Eugen wendend, der seinen Platz behauptet:) Marchbanks, +irgendein Teufel hat Ihnen diese Worte in den Mund gelegt. Es ist +leicht, fürchterlich leicht, in einem Menschen den Glauben an sich +selbst zu erschüttern. Dies auszunützen, um eines Menschen Seele zu +verwirren, ist Teufelswerk. Hüten Sie sich davor! + +(Marchbanks unbarmherzig:) Das weiß ich! Es geschieht absichtlich. +Ich sagte Ihnen ja, ich würde Sie aufrütteln. (Sie sehen einander +einen Augenblick drohend in die Augen, dann findet Morell seine Würde +wieder.) + +(Morell mit edler Güte:) Eugen, hören Sie mich an. Ich hoffe und baue +darauf, daß Sie eines Tages ein glücklicher Mensch sein werden, wie +ich. (Eugen gibt durch eine zornige, ungeduldige Gebärde zu verstehen, +daß er an den Wert dieses Glückes nicht glaubt. Morell, tief +beleidigt, beherrscht sich mit aller Nachsicht und fährt mit großer +künstlerischer Beredsamkeit fort:) Sie werden verheiratet sein und mit +aller Macht und Ihrem besten Können daran arbeiten, jeden Erdenfleck, +den Sie betreten, so glücklich zu machen, wie Ihr eigenes Heim es sein +wird. Sie werden einer von denen sein, die das Himmelreich auf Erden +bereiten wollen, und--wer weiß?--Sie mögen ein Pionier oder ein +Baumeister werden, wo ich nur ein demütiger Arbeiter bin. Sie dürfen +nicht glauben, Eugen, daß ich in Ihnen, so jung Sie auch sind, nicht +jene Keime sehe, die Größeres versprechen, als ich jemals von mir +erwarten darf. Ich weiß ganz gut, daß der Geist, der in einem Dichter +wohnt, heilig--daß er geradezu göttlich ist. Sie sollten bei dem +Gedanken daran zittern, bei dem Gedanken, daß die schwere +Verpflichtung und die großen Gaben eines Dichters vielleicht einst auf +Ihren Schultern ruhen werden. + +(Marchbanks unberührt und reuelos; die knabenhafte Knappheit seiner +Worte sticht scharf gegen Morells Beredsamkeit ab:) Nicht davor +zittere ich! Der Mangel dieser Gaben bei anderen, der macht mich +zittern. + +(Morell verdoppelt die Kraft seiner Rede unter dem Einfluß seines +echten Gefühls und der Verstocktheit Eugens:) Dann tragen Sie dazu bei, +jene Gaben in andere und in mich zu pflanzen--und nicht, sie +auszurotten. Später einmal, wenn Sie so glücklich sein werden, wie +ich es bin, dann will ich Ihr treuer Glaubensbruder werden. Ich will +Sie zu dem Glauben führen, daß Gott uns eine Welt geschenkt hat, die +nur unserer eigenen Unvernunft wegen kein Paradies ist, und daß jeder +Federstrich Ihrer Arbeit Glück aussät für die große Ernte, die +alle--selbst die Geringsten--eines Tages einführen werden. Und +endlich will ich Ihnen nicht zum wenigsten zu dem Glauben verhelfen, +daß Ihre Frau Sie liebt und in ihrem Heim glücklich ist. Wir brauchen +solche Hilfe, Marchbanks, wir haben sie immer sehr nötig. Es gibt so +viele Dinge, die in uns Zweifel wecken, wenn wir uns erst einmal haben +unsern Glauben trüben lassen. Selbst zu Hause sitzen wir wie in einem +Kriegslager, umgeben von einer feindlichen Armee von Zweifeln. Wollen +Sie den Verräter spielen und sie zu mir einlassen? + +(Marchbanks sich umblickend:) Ist es für sie hier immer so gewesen? +Daß eine Frau mit einer großen Seele, die nach Wahrheit, Wirklichkeit +und Freiheit dürstet, bloß mit Metaphern, Predigten und abgedroschenen +Redensarten abgespeist wird? Glauben Sie, daß die Seele einer Frau +von Ihrem Predigertalent leben kann? + +(Morell tief verwundet:) Marchbanks, Sie machen es mir schwer, mich zu +beherrschen. Mein Talent gleicht dem Ihren, sofern es überhaupt einen +echten Wert besitzt: es ist die Gabe, göttliche Wahrheit in Worte zu +kleiden. + +(Marchbanks ungestüm:) Es ist die Gabe des Mundwerks, nicht mehr und +nicht weniger. Was hat Ihre Fertigkeit, schöne Reden zu halten, mit +der Wahrheit zu schaffen?--so wenig, wie das Orgelspiel mit ihr zu +schaffen hat. Ich war niemals in Ihrer Kirche, aber ich war in Ihren +politischen Versammlungen und habe Sie dort das tun sehen, was man die +Menge zum Enthusiasmus hinreißen nennt. Das heißt: die Leute regten +sich auf und benahmen sich, als ob sie betrunken wären. Ihre Frauen +sahen zu und merkten, was für Narren sie zu Männern hatten. Oh, das +ist eine alte Geschichte, Sie können sie schon in der Bibel finden. +--Mir scheint, König David in seinem Enthusiasmus war Ihnen sehr +ähnlich. (Ihm die Worte in die Seele hohrend:) "Aber sein Weib +verachtete ihn in ihrem Herzen!" + +(Morell wütend:) Verlassen Sie mein Haus! Hören Sie? (Er gebt +drohend auf ihn los.) + +(Marchbanks gegen das Sofa zurückweichend:) Lassen Sie mich in Frieden, +rühren Sie mich nicht an! + +(Morell faßt ihn kräftig am Aufschlag seines Rockes; er duckt sich auf +das Sofa nieder.) + +(Marchbanks schreit leidenschaftlich:) Halten Sie ein; wenn Sie mich +schlagen, so töte ich mich, ich würde es nicht ertragen! (Beinahe +hysterisch:) Lassen Sie mich los: nehmen Sie Ihre Hand fort! + +(Morell langsam, mit nachdrücklicher Geringschätzung:) Sie kleiner, +winselnder, feiger Hund! (Er läßt ihn los:) Gehen Sie, sonst fallen +Sie aus Angst in Ohnmacht. + +(Marchbanks auf dem Sofa nach Luft schnappend, aber befreit durch das +Zurückziehen von Morells Hand:) Ich fürchte mich nicht vor Ihnen, Sie +fürchten sich vor mir! + +(Modell ruhig, über ihn gebeugt:) Es sieht mir ganz danach aus! + +(Marchbanks mit dreister Heftigkeit:) Ja; es sieht so aus. (Morell +wendet sich verachtungsvoll ab, Eugen steht hastig auf und folgt ihm.) +Weil ich vor einer brutalen Behandlung zurückschrecke, weil (mit +Tränen in der Stimmt:) ich nichts anderes tun kann, als heulen vor Wut, +wenn mir Gewalt angetan wird--weil ich keinen schweren Koffer vom +Kutscherbock herabheben kann wie Sie--weil ich mit Ihnen nicht um Ihre +Frau raufen kann wie ein Arbeiter--deshalb glauben Sie, ich hätte +Angst vor Ihnen! Aber Sie irren. Besitze ich auch nicht Ihren +berühmten britischen Mut, so besitze ich doch auch nicht die britische +Feigheit. Ich fürchte mich vor den Ansichten eines Pastors nicht. +Ich will kämpfen gegen Ihre Ansichten. Ich will Candida von der +Sklaverei dieser Ansichten befreien, ich will meine eigenen Ansichten +den Ihren entgegenstellen. Sie jagen mich aus dem Hause, weil Sie es +nicht wagen, Candida zwischen meinen und Ihren Ansichten wählen zu +lassen! Sie fürchten sich vor einem Wiedersehen zwischen Ihrer Frau +und mir. (Morell wendet sich plötzlich zornig zu ihm; er flüchtet +nach der Tür in unfreiwilliger Angst:) Lassen Sie mich in Ruhe. Ich +gehe. + +(Morell mit kalter Verachtung:) Warten Sie einen Augenblick: ich werde +Sie nicht berühren, fürchten Sie sich nicht. Wenn meine Frau +zurückkommt, dürfte sie wissen wollen, warum Sie fortgegangen sind; +und wenn sie erfährt, daß Sie unsere Schwelle nie wieder überschreiten +werden, dann wird sie darüber Aufklärung verlangen. Nun möchte ich +sie nicht betrüben und ihr sagen, daß Sie sich wie ein Schuft benommen +haben. + +(Marchbanks kehrt mit erneuter Heftigkeit um:) Sie sollen es--Sie +müssen! Wenn Sie irgendeine andere Aufklärung als die wahre geben, so +sind Sie ein Lügner und ein Feigling. Sagen Sie ihr, was ich gesagt +habe, und wie Sie stark und männlich waren und mich zerzaust haben wie +ein Hund eine Ratte, und wie ich zurückwich und entsetzt war, und wie +Sie mich einen winselnden kleinen Hund nannten und mich aus dem Hause +jagten! Wenn Sie ihr das alles nicht sagen werden, so werde ich es +tun! Ich werd' es ihr schreiben. + +(Morell verblüfft:) Warum wollen Sie, daß sie das alles erfahren soll? + +(Marchbanks mit lyrischer Begeisterung:) Weil sie mich dann verstehen +und wissen wird, daß ich sie verstehe. Wenn Sie nur ein Wort von +alledem vor ihr verheimlichen--wenn Sie nicht bereit sind, ihr die +reine Wahrheit zu Füßen zu legen--wie ich--dann werden Sie bis an das +Ende Ihrer Tage wissen, daß sie in Wirklichkeit mir gehört und nicht +Ihnen. Leben Sie wohl. (Er wendet sich zum Geben.) + +(Morell in furchtbarer Unrube:) Halt! ich werde ihr das alles nicht +erzählen. + +(Marchbanks wieder nach der Tür, wendet sich um:) Sie müssen ihr +entweder die Wahrheit sagen, wenn ich gehe, oder eine Lüge. + +(Morell zögernd:) Marchbanks, es ist manchmal entschuldbar-- + +(Marchbanks ihn unterbrechend:) Zu lügen--ich weiß! Diesmal wïrd es +aber vergeblich sein! Leben Sie wohl, Herr Pfarrer! (Wie er sich +endlich zur Tür wendet, geht diese auf und Candida tritt in ibrem +Hauskleid ein.) + +(Candida.) Sie verlassen uns, Eugen? (Sieht ihn genauer an:) Aber, +Sie werden doch nicht in diesem Zustand auf die Straße gehen. Sie +sind ein Dichter, sicherlich! Sieh' ihn nur an, Jakob! (Sie faßt +Eugen am Rock und zieht ihn nach vorne, ihn Morell zeigend.) Sieh +diesen Kragen an und diese Krawatte und dieses Haar. (Zu Eugen:) Man +möchte glauben, daß jemand Sie hat erdrosseln wollen! (Die beiden +büten sich, ihr schlechtes Gewissen zu verraten.) Da,--halten Sie +still. (Sie knöpft ihm seinen Kragen, bindet sein Halstuch zu einer +Schleife und ordnet sein Haar.) So, so! Nun sehen Sie so nett aus, +daß ich es doch für besser hielte, Sie frühstückten mit uns, obwohl +Sie es eigentlich nicht sollten, wie ich Ihnen schon gesagt habe. In +einer halben Stunde wird das Essen bereit sein. (Sie glättet sein +Halstuch noch mit einer letzten Berübrung; er küßt ihr die Hand.) +Nicht dumm sein. + +(Marchbanks.) Ich möchte schon bleiben, gewiß--falls Ihr verehrter +Herr Gemahl, der Herr Pastor, nichts dagegen einzuwenden hat. + +(Candida.) Soll er bleiben, Jakob, wenn er verspricht, ein braver +Junge zu sein und mir beim Tischdecken zu helfen? (Marchbanks wendet +den Kopf und sieht Morell über die Schulter fest an, seine Antwort +herausfordernd.) + +(Morell kurz angebunden:) O ja, gewiß; es wäre mir lieb. (Er geht an +den Tisch und tut, als ob er mit den Papieren beschäftigt wäre.) + +(Marchbanks bietet Candida den Arm:) Decken wir den Tisch. (Sie nimmt +seinen Arm, dann wenden sie sich zusammen nach der Tür, im Hinausgehen.) +Nun bin ich der glücklichste Mensch von der Welt! + +(Morell.) Das war ich auch--vor einer Stunde. + +(Vorhang) + + + + +ZWEITER AKT + +(An demselben Tage, dasselbe Zimmer spät nachmittags. Der Stuhl für +Morells Besucher steht wieder an dem Tisch, der womöglich noch +unordentlicher aussiebt als vorhin. Marchbanks, allein und müßig, +versucht herauszukriegen, wie die Schreibmaschine arbeitet. +Er hört jemanden kommen und stiehlt sich schuldbewußt fort an +das Fenster und tut so, als ob er in die Aussiebt versunken +wäre. Proserpina Garnett tritt mit ihrem Notizblock ein, der +das Stenogramm von Morells Briefen enthält. Sie setzt sich an die +Schreibmaschine und will mit der Abschrift beginnen. Sie ist viel zu +sehr beschäftigt, um Eugen zu bemerken. Unglücklicherweise versagt +die erste Taste, auf die sie schlägt.) + +(Proserpina.) Himmel! Sie haben sich mit der Maschine zu schaffen +gemacht, Herr Marchbanks, und es hilft Ihnen nichts, wenn Sie auch +noch so ein unschuldiges Gesicht aufsetzen. + +(Marchbanks schüchtern:) Es tut mir sehr leid, Fräulein Garnett. Ich +wollte nur zu schreiben versuchen. + +(Proserpina.) Und dabei haben Sie diese Taste verdorben. + +(Marchbanks ernst:) Ich versichere Ihnen, daß ich die Tasten nicht +berührt habe. Wahrhaftig nicht. Ich habe nur ein kleines Rad gedreht. +(Er zeigt unschlüssig auf die Kurbel.) + +(Proserpina.) Oh, nun verstehe ich. (Sie bringt die Maschine in +Ordnung und schwatzt dabei ununterbrochen:) Mir scheint, Sie dachten, +es wäre eine Art Drehorgel. Man braucht nur die Kurbel da zu drehen, +und die Maschine schreibt einem den schönsten Liebesbrief glatt aufs +Papier, he? + +(Marchbanks ernst:) Ich kann mir vorstellen, daß eine Maschine +erfunden werden könnte, die Liebesbriefe schreibt.--Es sind ja immer +dieselben, nicht wahr? + +(Proserpina etwas aufgebracht, da jede derartige Unterhaltung--außer +scherzweise einmal--ihren Umgangsformen fernliegt:) Woher soll ich das +wissen? Warum fragen Sie mich? + +(Marchbanks.) Entschuldigen Sie. Ich dachte, daß gescheite +Leute--Leute, die Geschäfte besorgen, Briefe schreiben und ähnliche +Dinge verrichten können--auch immer Liebesangelegenheiten haben. + +(Proserpina erbebt sich beleidigt:) Herr Marchbanks! (Sie siebt ihn +strenge an und gebt sehr würdevoll zum Bücherschrank.) + +(Marchbanks nähert sich ihr demütig:) Ich hoffe, daß ich Sie nicht +beleidigt habe. Ich hätte vielleicht auf Ihre Liebesangelegenheiten +nicht anspielen sollen. + +(Proserpina nimmt ein blaues Buch aus einem Fach und wendet sich +scharf nach ihm um:) Ich habe keine Liebesangelegenheiten! Wie können +Sie es wagen, mir so etwas zu sagen? + +(Marchbanks naiv:) Wirklich? Oh, dann sind Sie auch schüchtern, wie +ich, nicht wahr? + +(Proserpina.) Ich bin gewiß nicht schüchtern: was meinen Sie damit? + +(Marchbanks geheimnisvoll:) Sie müssen es sein. Das ist der Grund, +warum es so wenig echte Liebesgeschichten in der Welt gibt. Wir gehen +alle umher und sehnen uns nach Liebe, sie ist die erste +Naturnotwendigkeit, das heißeste Gebet unseres Herzens, aber wir wagen +es nicht, unsere Wünsche zu äußern, wir sind zu schüchtern. (Sehr +ernst:) Oh, Fräulein Garnett, was würden Sie nicht darum geben, ohne +Furcht zu sein,--ohne Scham-- + +(Proserpina empört:) Nein, meiner Treu, das ist stark! + +(Marchbanks trotzig und ungeduldig:) Sagen Sie mir nicht solche +Albernheiten. Sie täuschen mich doch nicht. Wozu soll das sein? +Warum scheuen Sie sich, sich mir gegenüber so zu zeigen, wie Sie sind? +Ich bin ja selbst genau so wie Sie. + +(Proserpina.) Wie ich? Bitte, ich weiß nicht recht, wollen Sie damit +mir oder sich schmeicheln? (Sie wendet sich ab, um zur +Schreibmaschine zurückzugeben.) + +(Marchbanks tritt ihr geheimnisvoll in den Weg:) Still! Ich bin auf +der Suche nach Liebe, und ich finde sie in unermeßlichen Schätzen in +den Herzen anderer aufgespeichert. Aber ich wage es nicht, darum zu +bitten,--eine fürchterliche Schüchternheit schnürt mir die Kehle zu, +und ich stehe da, stumm, ärger als stumm, und rede sinnloses Zeug und +stammle törichte Lügen. Und ich sehe die Liebe, nach der ich +verschmachte, an Katzen und Hunde und verhätschelte Vögel vergeudet, +weil die kommen und darum bitten. (Beinahe flüsternd:) Man muß Liebe +verlangen,--sie ist wie ein Geist, sie kann nicht sprechen, bevor +nicht zu ihr gesprochen wird. (Mit seiner gewohnten Stimme, aber mit +tiefer Melancholie:) Alle Liebe in der Welt ringt nach Worten, aber +sie wagt es nicht, zu sprechen, weil sie zu schüchtern ist, zu +schüchtern, zu schüchtern! Das ist die Tragik des Lebens! (Mit einem +tiefen Seufzer setzt er sieb in den Besuchsstuhl und vergräbt sein +Gesicht in den Händen.) + +(Proserpina verwundert, aber ohne ihren gesunden Menschenverstand zu +verlieren,--ein Ehrenpunkt für sie im Verkehr mit fremden jungen +Männern:) Es gibt aber schlechte Menschen, die diese Schüchternheit +gelegentlich überwinden, nicht wahr? + +(Marchbanks fährt beinahe wütend auf:) Schlechte Menschen! Das heißt +Menschen, die ohne Liebe sind, deshalb sind sie auch ohne Scham! Sie +haben den Mut, Liebe zu verlangen, weil sie keine brauchen; sie haben +den Mut, sie anzubieten, weil sie keine zu geben haben! (Er sinkt in +seinen Stuhl und fügt traurig hinzu:) Aber wir, die wir Liebe haben +und danach brennen, sie mit anderen auszutauschen, wir können kein +Wort über die Lippen bringen. (Schüchtern:) Finden Sie das nicht auch? + +(Proserpina.) Nehmen Sie sich in acht. Wenn Sie nicht aufhören, so zu +reden, werde ich das Zimmer verlassen, Herr Marchbanks. Ich tue es +wirklich! Das gehört sich nicht. (Sie nimmt ihren Sitz vor der +Schreibmaschine wieder ein, öffnet das blaue Buch und macht sich +bereit, daraus etwas zu kopieren.) + +(Marchbanks hilflos:) Nichts gehört sich, was wert ist, daß man +darüber spricht! (Er erhebt sich und wandert verloren im Zimmer umher: +) Ich kann Sie nicht begreifen, Fräulein Garnett. Worüber soll ich +denn sprechen? + +(Proserpina fertigt ihn kurz ab:) Sprechen Sie über gleichgültige +Dinge. Sprechen Sie über das Wetter. + +(Marchbanks.) Würden Sie es ertragen, über gleichgültige Dinge zu +sprechen, wenn ein Kind neben Ihnen stünde, das vor Hunger bitterlich +weinte? + +(Proserpina.) Vermutlich nicht. + +(Marchbanks.) Nun, ich kann auch nicht über gleichgültige Dinge +sprechen, während mein Herz in seinem Hunger bitterlich weint. + +(Proserpina.) Dann--schweigen Sie. + +(Marchbanks.) Jawohl, darauf läuft's immer hinaus, wir schweigen. +Unterdrückt das den Schrei Ihres Herzens--denn es schreit, nicht wahr? +Es muß, wenn Sie überhaupt ein Herz haben. + +(Proserpina erhebt sich plötzlich und preßt ihre Hand aufs Herz.) Oh, +es ist vergeblich, arbeiten zu wollen, während Sie so reden. (Sie +verläßt ihren kleinen Tisch und setzt sich auf das Sofa. Ihre Gefühle +sind heftig aufgewühlt.) Es kümmert Sie gar nichts, ob mein Herz +schreit oder nicht, aber es ist mir so, als müßte ich nun doch über +all das zu Ihnen sprechen. + +(Marchbanks.) Das brauchen Sie nicht; ich weiß doch, daß es so ist. + +(Proserpina.) Merken Sie sich: wenn Sie jemals behaupten sollten, daß +ich derlei gesagt habe, dann werde ich es leugnen. + +(Marchbanks mitleidig:) Ja, das weiß ich. Deshalb finden Sie auch +nicht den Mut, es ihm zu sagen. + +(Proserpina aufspringend:) Ihm?! Wem?! + +(Marchbanks.) Wem es auch sei. Dem Manne, den Sie lieben. Irgend +jemandem. Dem Unterpfarrer Herrn Mill vielleicht. + +(Proserpina verachtungsvoll:) Herrn Mill? Wahrhaftig, das ist der +rechte Mann, mir das Herz zu brechen. Da wären Sie mir noch lieber. + +(Marchbanks zurückweichend:) Nein, wirklich! Es tut mit leid, aber +daran dürfen Sie nicht denken. Ich-- + +(Proserpina scharf, geht ans Feuer und bleibt davor stehen, ihm den +Rücken zuwendend:) Oh, fürchten Sie nichts, Sie sind es nicht. Es ist +gar keine bestimmte Person. + +(Marchbanks.) Ich verstehe. Sie fühlen, daß Sie jeden Mann lieben +könnten, der Ihnen sein Herz anböte-- + +(Proserpina außer sich:) Nein, das könnte ich nicht! Jeden, der mir +sein Herz anböte! Für was halten Sie mich? + +(Marchbanks entmutigt:) Es ist vergebens, Sie wollen mir keine +wirklichen Antworten geben, nur diese leeren Worte, die jedermann sagt. +(Er geht nach dem Sofa und setzt sich trostlos nieder.) + +(Proserpina die es wurmt, in den Augen eines Aristokraten manierlos zu +erscheinen:) Wenn Sie originelle Unterhaltung wünschen, dann ist es +besser, Sie sprechen mit sich selbst. + +(Marchbanks.) Das tun alle Dichter; sie sprechen laut mit sich selbst; +und die Welt überhört sie. Aber es ist furchtbar einsam, nicht +manchmal auch jemand anders sprechen zu hören. + +(Proserpina.) Warten Sie, bis Herr Morell kommt. Der wird schon mit +Ihnen reden. (Marchbanks schaudert.) Oh, Sie brauchen die Nase nicht +zu rümpfen, er kann besser sprechen als Sie. (Lebhaft:) Er wird Ihnen +den kleinen Kopf schon zurechtsetzen. (Sie ist im Begriff ärgerlich +an ihren Platz zurückzugeben, als er, plötzlich erleuchtet, aufspringt +und sie anhält.) + +(Marchbanks.) Ah, jetzt begreife ich! + +(Proserpina errötend:) Was begreifen Sie? + +(Marchbanks.) Ihr Geheimnis! Sagen Sie mir, ist es wirklich und +wahrhaftig möglich, daß eine Frau ihn liebt? + +(Proserpina als ob dies ihr über den Spaß ginge:) Genug! + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Nein, antworten Sie mir! Ich will es +wissen, ich muß es wissen, ich kann es nicht begreifen. Ich kann an +ihm nichts finden als Worte, fromme Vorsätze, was die Leute Güte +nennen! Sie können ihn deswegen doch nicht lieben! + +(Proserpina versucht, ihn durch ihr kühles Wesen stutzig zu machen:) +Ich weiß ganz einfach nicht, wovon Sie sprechen--ich verstehe Sie +nicht. + +(Marchbanks heftig:) Sie verstehen mich ganz gut. Sie lügen! + +(Proserpina.) Oh! + +(Marchbanks.) Sie verstehen, und Sie wissen. (Entschlossen, eine +Antwort zu bekommen:) Ist es möglich, daß eine Frau ihn lieben kann? +Ja oder nein! + +(Proserpina ihm gerade ins Gesicht blickend:) Ja! (Er bedeckt sein +Gesicht mit den Händen.) Was in aller Welt fehlt Ihnen denn? (Er +nimmt die Hände herab und sieht sie an. Erschreckt über das traurige +Gesicht, das sich ihr darbietet, eilt sie so weit wie möglich von ihm +fort, behält aber ihre Augen auf ihn gerichtet, bis er sich von ihr +abwendet und nach dem Kinderstuhl am Kamin geht, wo er sich in +tiefster Trostlosigkeit niederläßt. Proserpina eilt zur Tür, die Tür +geht auf und Burgess tritt ein. Als sie ihn erblickt, ruft sie aus:) +Gott sei Dank, es kommt jemand! (Setzt sich wieder beruhigt an ihren +Tisch. Sie legt einen neuen Bogen in die Maschine, während Burgess zu +Eugen hinübergebt.) + +(Burgess beflissen, sich um den vornehmen Besucher zu kümmern:) Na, +gehört sich das, wie man Sie hier sich selbst überläßt, Herr +Marchbanks? Ich bin gekommen, Ihnen Gesellschaft zu leisten. +(Marchbanks siebt zu ihm mit einer Bestürzung auf, die Burgess aber +gar nicht merkt.) Jakob empfängt eine Deputation im Speisezimmer, und +Candy ist oben und unterrichtet eine junge Näherin, für die sie sich +interessiert. Sie sitzt bei ihr und lehrt sie lesen, in einem frommen +Buche: die himmlischen Zwillinge. (Teilnahmsvoll:) Sie müssen es hier +recht langweilig finden, so ohne einen Menschen, mit dem Sie reden +können, außer der Schreiberin. + +(Proserpina äußerst erbittert:) Er wird sich jetzt ganz wohl fühlen, +da er das Glück hat, Ihre gebildete Unterhaltung zu genießen,--das ist +schon ein Trost. (Sie beginnt mit heftigem Geräusch zu schreiben.) + +(Burgess erstaunt über ihre Kühnheit:) Mit Ihnen hab' ich nicht +gesprochen, soviel ich weiß, Sie junges Ding! + +(Proserpina scharf zu Marchbanks:) Haben Sie jemals solche Manieren +gesehen, Herr Marchbanks? + +(Burgess mit wichtigtuendem Ernst:) Herr Marchbanks ist ein Edelmann, +der seine Stellung kennt; das ist mehr, als manche Leute von sich +sagen können. + +(Proserpina zornig:) Glücklicherweise gehören Sie und ich nicht zu den +"Damen" und "Herren"; ich würde Ihnen schon meine Meinung sagen, wenn +Herr Marchbanks nicht zugegen wäre. (Sie zieht den Brief so heftig +aus der Maschine heraus, daß er zerreißt.) So! nun habe ich den Brief +verdorben, jetzt kann ich noch mal von vorne anfangen. Oh, ich kann +mich nicht beherrschen.--Sie dummer alter Schafskopf, Sie! + +(Burgess erhebt sich, atemlos vor Entrüstung:) Was, ein dummer alter +Schafskopf bin ich?! Das ist stark! (Außer Atem:) Gut, gut! Warten +Sie nur, das werde ich Ihrem Prinzipal sagen--ich will Sie lehren--Sie +sollen es sehen! + +(Proserpina.) Ich-- + +(Burgess sie unterbrechend:) Genug, Ihr Reden nützt Ihnen nun nichts +mehr, Sie sollen mich kennen lernen! (Proserpina schiebt ihre Walze +mit einem zornigen Stoß herum und setzt verachtungsvoll ihre Arbeit +fort.) Nehmen Sie keine Notiz von ihr, Herr Marchbanks, sie ist es +nicht wert. (Er setzt sich stolz wieder hin.) + +(Marchbanks fürchterlich nervös und verlegen:) Wäre es nicht besser, +wir würden von etwas anderem sprechen. Ich--ich glaube nicht, daß +Fräulein Garnett es böse gemeint hat. + +(Proserpina mit fester Überzeugung:) Ob ich es böse gemeint habe! +Doch! + +(Burgess.) Ich will mich nicht so weit erniedrigen, von ihr überhaupt +noch Notiz zu nehmen. (Eine elektrische Klingel läutet zweimal.) + +(Proserpina rafft Notizhlock und Papier zusammen:) Das gilt mir! (Sie +eilt hinaus.) + +(Burgess ihr nachrufend:) Oh, wir können Sie entbehren. (Er freut +sich über den Triumph, das letzte Wort behalten zu haben, und doch +halb und halb geneigt, noch mehr zu sagen, sieht er ihr einen +Augenblick lang nach, dann läßt er sich auf seinen Platz neben Eugen +nieder und spricht sehr vertraulich zu ihm:) Jetzt, wo wir allein sind, +Herr Marchbanks, lassen Sie mich Ihnen einen freundlichen Wink geben, +den ich nicht jedermann geben würde. Wie lange kennen Sie meinen +Schwiegersohn Jakob schon? + +(Marchbanks.) Ich weiß nicht. Ich kann mir Daten niemals merken, +--vielleicht einige Monate. + +(Burgess.) Haben Sie nie etwas Sonderbares an ihm bemerkt? + +(Marchbanks.) Nicht daß ich wüßte. + +(Burgess ausdrucksvoll:) Das werden Sie auch schwerlich. Darin liegt +eben die Gefahr. Nun--er ist verrückt. + +(Marchbanks.) Verrückt?! + +(Burgess.) Total verrückt. Beobachten Sie ihn nur, und Sie werden es +selbst finden. + +(Marchbanks ängstlich:) Aber das scheint Ihnen gewiß nur so, weil +seine Ansichten-- + +(Burgess berührt Eugens Knie mit dem Zeigefinger und drückt es, um +seine Aufmerksamkeit zu erregen:) Genau dasselbe habe ich früher +gedacht, Heir Marchbanks. Ich glaubte lange genug, es wären nur seine +Ansichten, obwohl Ansichten zu sehr ernsten Angelegenheiten werden, +sobald Leute danach handeln, wie er; aber danach habe ich nicht +geurteilt. (Er siebt umher, um sich zu überzeugen, daß sie allein +sind, und neigt sich zu Eugens Ohr.) Was, glauben Sie, hat er heute +morgen in diesem Zimmer zu mir gesagt? + +(Marchbanks.) Was denn? + +(Burgess.) Er sagte mir, daß ich--so wahr, als wir hier sitzen--er +sagte ganz ruhig: "Ich bin ein Narr und Sie sind ein Schurke"... Ich +ein Schurke--bedenken Sie nur--und dann schüttelte er mir die Hand +dazu, als ob seine Meinung schmeichelhaft für mich wäre. Wollen Sie +behaupten, daß so ein Mensch nicht verrückt ist? + +(Morell von außen "Proserpina" rufend, während er die Tür öffnet:) +Schreiben Sie alle Namen und Adressen auf, Fräulein Garnett. + +(Proserpina aus der Entfernung:) Jawohl, Herr Pastor! (Morell tritt +ein, mit den Dokumenten der Deputation in der Hand.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Oh, da ist er. Beobachten Sie ihn +nur, Sie werden schon sehen. (Erhebt sich mit wichtiger Miene:) Ich +bedaure, Jakob, mich bei Ihnen beklagen zu müssen. Ich tue es nicht +gerne, aber ich fühle, daß es meine Pflicht und mein Recht ist. + +(Morell.) Was ist denn geschehen? + +(Burgess.) Herr Marchbanks wird es bestätigen, er war Zeuge. (Sehr +feierlich:) Ihre Schreiberin vergaß sich so weit, mich einen dummen +alten Schafskopf zu nennen. + +(Morell mit größter Herzlichkeit:) Oh, sieht das Prossi nicht ganz +ähnlich? Sie ist so aufrichtig, sie kann sich nicht beherrschen. +Arme Prossi, ha, ha! + +(Burgess zitternd vor Wut:) Und erwarten Sie, daß ich mir das von +ihresgleichen ruhig gefallen lasse? + +(Morell.) Bah, Unsinn. Nehmen Sie keine Notiz davon, lassen Sie's gut +sein. (Er geht an das Schreibpult und legt die Papiere in eines der +Schubfächer.) + +(Burgess.) Oh, ich mache mir nichts daraus. Ich bin über derlei +erhaben. Aber war es recht? Das ist es, was ich zu wissen wünsche! +--war es recht? + +(Morell.) Das ist eine Frage für die Kirche und nicht für Laien. +Wurde Ihnen dadurch irgendein Schaden zugefügt? danach müssen Sie +fragen--selbstverständlich "nein". Also denken Sie nicht mehr daran. +(Er läßt den Gegenstand fallen, geht nach seinem Platz an den Tisch +und beginnt an seiner Korrespondenz zu arbeiten.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Was habe ich Ihnen gesagt? Total +verrückt! (Er geht an den Tisch und fragt mit der Höflichkeit eines +Hungrigen:) Wann wird zu Tisch gegangen, Jakob? + +(Morell.) Erst nach einigen Stunden. + +(Burgess mit klagender Entsagung:) Dann geben Sie mir, bitte, ein +hübsches Buch, am Kamin zu lesen--sein Sie so gut, Jakob. + +(Morell.) Was für ein Buch,--ein gutes? + +(Burgess beinahe mit einem Aufschrei des Widerwillens:) Nein. Irgend +was Lustiges, womit man die Zeit totschlagen kann. + +(Morell nimmt eine illustrierte Zeitschrift vom Tisch und bietet sie +ihm an, er ergreift sie demütig:) Ich danke Ihnen, Jakob. (Er geht +zurück zum Kamin, läßt sich bequem in den großen Stuhl nieder und +liest.) + +(Morell während er schreibt:) Candida wird gleich kommen und Ihnen +Gesellschaft leisten. Sie ist jetzt fertig mit ihrer Schülerin und +füllt die Lampen. + +(Marchbanks fährt empor in wildem Entsetzen:) Aber das wird ihre Hände +beschmutzen,--das kann ich nicht dulden, Herr Pastor, das ist eine +Schande; ich werde die Lampen füllen. (Er wendet sich nach der Tür.) + +(Morell.) Lassen Sie es lieber sein. (Marchbanks bleibt unschlüssig +stehen: ) Sie würde Ihnen höchstens meine Schuhe zu putzen geben, um +mir die Arbeit zu ersparen, es morgen früh selbst zu tun. + +(Burgess mit großer Mißbilligung:) Halten Sie kein Mädchen mehr, Jakob? + +(Morell.) Ja, aber es ist keine Sklavin, und das Haus sieht aus, als +ob ich drei hielte. Daraus folgt, daß jeder mithelfen muß. Das geht +ganz gut. Prossi und ich können nach dem Frühstück, während wir +abwaschen, über unsere Geschäfte sprechen; das Abwaschen macht keine +Mühe, wenn es zwei besorgen. + +(Marchbanks gequält:) Glauben Sie, daß jede Frau so grobkörnig ist wie +Fräulein Garnett? + +(Burgess pathetisch:) Sie haben ganz recht, Herr Marchbanks, +vollkommen recht,--die ist grobkörnig! + +(Morell ruhig und bedeutungsvoll:) Marchbanks! + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Wie viele Dienstboten hält Ihr Vater? + +(Marchbanks.) Oh, ich weiß nicht. (Er gebt unbehaglich an das Sofa +zurück, als ob er sich so weit fort wie möglich vor Morells Fragen +retten möchte, setzt sich in großer Verstörtheit und denkt an das +Petroleum.) + +(Morell sehr ernst:) So viele, daß Sie es nicht einmal wissen. +(angriffsbereit:) Immerhin, wenn irgendeine grobkörnige Arbeit zu +verrichten ist, dann klingeln Sie und halsen sie jemand anders +auf--das ist eine der großen Tatsachen in Ihrem Dasein, nicht wahr? + +(Marchbanks.) Oh, quälen Sie mich nicht. Die eine große Tatsache hier +ist jetzt, daß die wundervollen Finger Ihrer Frau mit Petroleum +beschmutzt werden, während Sie bequem hier sitzen und darüber Reden +halten--endlose Reden und Predigten--Worte--Worte--nichts als Worte! + +(Burgess dem diese Erwiderung sehr gelegen kommt:) Hört, hört! Besser +konnte er's ihm nicht geben! (Strahlend:) Da haben Sie es, Jakob! +Ganz so ist es. (Candida trat ein, in einer reinen Schürze, mit einer +geputzten und gefüllten, zum Anzünden fertigen Arbeitslampe. Sie +stellt sie auf den Tisch neben Morell, damit er sie zur Hand hat.) + +(Candida reibt ihre Fingerspitzen gegeneinander, mit einem leichten +Krausziehen ihrer Nase:) Wenn Sie bei uns bleiben, Eugen, ich glaube, +dann werde ich Ihnen das Füllen der Lampe übertragen. + +(Marchbanks.) Ich werde überhaupt nur unter der Bedingung bleiben, daß +Sie mir alle grobe Arbeit übertragen. + +(Candida.) Das ist zwar sehr galant, aber ich möchte doch vorher +wissen, wie Sie sie machen. (Wendet sich zu Morell:) Jakob, du hast +in meiner Abwesenheit nicht gehörig nach dem Rechten gesehen. + +(Morell.) Was habe ich denn getan oder nicht getan, meine Liebe? + +(Candida ernstlich ärgerlich:) Meine eigene kleine +Lieblingsnagelbürste wurde zum Stiefelputzen verwendet. (Ein +herzzerreißender Klagelaut entringt sich Marchbanks' Brust. Burgess +sieht sich erstaunt um, Candida eilt ans Sofa:) Was ist los? Sind Sie +krank, Eugen? + +(Marchbanks.) Nein, nicht krank. Nur Jammer erfaßt mich, Jammer, +Jammer! (Er schlägt die Hände vor das Gesicht.) + +(Burgess erschreckt:) Was haben Sie, Herr Marchbanks? Oh, das ist +schlimm in Ihrem Alter; Sie müssen trachten, sich das Trinken nach und +nach abzugewöhnen. + +(Candida beruhigt:) Unsinn, Papa. Das ist nur poetischer Jammer. +Nicht wahr, Eugen? (Streichelt ihn.) + +(Burgess verlegen:) Oh, poetischen Jammer hat er,--verzeihen Sie, das +wußte ich nicht. (Er wendet sich wieder nach dem Feuer, seine +Unüberlegtheit bereuend.) + +(Candida.) Was ist's denn, Eugen? Wegen der Nagelbürste? (Er +schaudert.) Es ist ja nichts dabei, lassen Sie's gut sein. (Sie setzt +sich neben ihn.) Wollen Sie mir eine hübsche neue schenken, mit +Elfenbeinrücken und eingelegtem Perlmutter? + +(Marchbanks sanft und melodisch, aber traurig und schmachtend:) Nein, +keine Nagelbürste, aber ein Boot, eine kleine Schaluppe, um darin +fortzusegeln, weit fort von der Welt, dorthin, wo Marmorböden vom +Regen gewaschen und von der Sonne getrocknet werden, und wo der +Südwind die wundervoll grünen und purpurnen Teppiche fegt. Oder einen +Wagen möchte ich Ihnen schenken; uns hinaufzutragen in den Himmel, wo +die Lampen Sterne sind und nicht täglich mit Petroleum gefüllt werden +müssen. + +(Morell barsch:) Und wo es nichts anderes zu tun gibt, als faul, +selbstsüchtig und unnütz zu sein. + +(Candida unangenehm berührt:) Oh, Jakob, wie kannst du nur alles so +verderben! + +(Marchbanks feurig:) Ja: faul, selbstsüchtig und unnütz, das heißt +schön, frei und glücklich sein. Hat das nicht jeder Mann mit seiner +ganzen Seele für die Frau gewünscht, die er liebte? Das ist auch mein +Ideal. Was ist das Ihre und das all der entsetzlichen Menschen, die +in diesen fürchterlichen Häuserreihen wohnen? Predigten und +Schuhbürsten! Für Sie die Predigten und für Ihre Frau die Bürste! + +(Candida drollig:) Er putzt die Schuhe, Eugen. Morgen werden Sie sie +putzen müssen, weil Sie das von ihm gesagt haben. + +(Marchbanks.) Oh, sprechen Sie nicht von Schuhen; Ihre Füße würden +auch in einer Wildnis schön bleiben. + +(Candida.) Meine Füße würden auf der Hackneystraße ohne Schuhe nicht +sehr schön aussehn. + +(Burgess daran Anstoß nehmend:) Geh, Candy, sei nicht ordinär. Herr +Marchbanks ist daran nicht gewöhnt. Du hast ihm schon wieder Jammer +eingeflößt,--ich meine poetischen Jammer. (Morell schweigt, scheinbar +ist er mit seinen Briefen beschäftigt. Tatsächlich ist er aber über +seine neue und beunruhigende Erfahrung in sorgenvolle Gedanken +vertieft: je sicherer er seiner moralischen Ausfälle ist, desto +sicherer und wirkungsvoller pariert sie Eugen. Es schmerzt Morell +sehr, daß er einen Menschen zu fürchten anfängt, den er nicht achten +kann. Fräulein Garnett kommt mit einem Telegramm herein.) + +(Proserpina händigt das Telegramm Morell ein:) Rückantwort bezahlt, +der Bote wartet. (Zu Candida, während sie zu ihrer Maschine geht und +sich setzt:) Marie wartet auf Sie in der Küche, Frau Morell. (Candida +erhebt sich:) Die Zwiebeln sind gekommen. + +(Marchbanks krampfhaft:) Zwiebeln!? + +(Candida.) Ja, Zwiebeln, und nicht einmal spanische! garstige, kleine +rote Zwiebeln! Sie können mir helfen, sie zu zerschneiden; kommen Sie. +(Sie nimmt ihn am Handgelenk und läuft, ihn nachziehend, hinaus. +Burgess erhebt sich verblüfft und starrt ihnen, auf dem Kaminteppich +stehend, nach.) + +(Burgess.) Candy sollte den Neffen eines Pairs nicht so behandeln. +Das geht doch zu weit, Jakob. Hat er öfters solche komischen Anfälle? + +(Morell kurz, ein Telegramm schreibend:) Ich weiß nicht. + +(Burgess sentimental:) Er spricht sehr nett. Ich habe immer etwas +Sinn für Poesie gehabt. Candy schlägt mir darin nach. Ich mußte ihr +immer Märchen erzählen, als sie noch ein so kleines Mädchen war. (Er +hält die Hand ungefähr zwei Fuß hoch über den Fußboden.) + +(Morell beschäftigt:) So, wirklich? (Er löscht das Telegramm ab und +geht hinaus.) + +(Proserpina.) Haben Sie die Märchen, die Sie Ihrer Tochter erzählten, +selbst erfunden? + +(Burgess würdigt sie keiner Antwort und nimmt vor dem Kamin die +Stellung tiefster Verachtung gegen sie ein.) + +(Proserpina sehr ruhig:) Ich hätte nie gedacht, daß Sie derlei könnten. +Übrigens möchte ich Sie doch warnen, da Sie so großes Interesse +an Herrn Marchbanks nehmen. Er ist verrückt. + +(Burgess.) Verrückt! Was? Der auch? + +(Proserpina.) Total verrückt! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie +sehr er mich vorhin erschreckte--das kann ich Ihnen versichern, +gerade bevor Sie kamen.--Haben Sie das merkwürdige Zeug, das er sprach, +nicht gehört? + +(Burgess.) So, das ist also der poetische Jammer? Potztausend, es ist +mir selbst schon ein oder zweimal aufgefallen, daß es nicht ganz +richtig mit ihm ist. (Er durchschreitet das Zimmer und hebt seine +Stimme, während er geht:) Na, das ist ein hübsches Irrenhaus für einen +Menschen, der außer Ihnen niemanden hat, sich um ihn zu kümmern. + +(Proserpina während er bei ihr vorbeikommt:) Ja, wie fürchterlich wäre +es, wenn Ihnen da etwas zustieße. + +(Burgess hochmütig:) Erlauben Sie sich keine Bemerkungen! Sagen Sie +Ihrem Prinzipal, daß ich in den Garten gegangen bin, meine Pfeife zu +rauchen. + +(Proserpina spottend:) Oh!--(Ehe Burgess erwidern kann, kehrt Morell +zurück.) + +(Burgess gefühlvoll:) Ich gehe in den Garten, meine Pfeife zu rauchen, +Jakob. + +(Morell kurz angebunden:) Schon gut, schon gut! (Burgess geht +würdevoll hinaus, wie ein müder alter Mann. Morell steht vor dem +Tisch, wendet seine Papiere um und spricht zu Proserpina hinüber, halb +humorvoll, halb geistesabwesend.) + +(Morell.) Nun, Prossi, warum haben Sie meinen Schwiegervater mit +Schimpfnamen belegt? + +(Proserpina wird feuerrot und sieht rasch zu ihm auf, halb +vorwurfsvoll, halb erschrocken:) Ich--(Sie bricht in Tränen aus.) + +(Morell lehnt sich mit leisem Humor zu ihr hinüber und tröstet sie:) +Oh, lassen Sie, lassen Sie nur! es ist ja nichts dabei: er ist ein +alter Schafskopf, nicht wahr? (Mit einem krampfhaften Schluchzen +stürzt sie nach der Tür und verschwindet, die Tür zuschlagend. Morell +schüttelt resigniert den Kopf, seufzt und geht müde an seinen Stuhl, +wo er sich an die Arbeit setzt. Er sieht alt und vergrämt aus. +Candida kommt herein; sie hat ihre häusliche Arbeit beendet und die +Schürze abgenommen. Sie bemerkt sofort Morells niedergeschlagenes +Aussehen, setzt sich ruhig auf den Besuchsstuhl und betrachtet ihn +aufmerksam. Sie schweigt.) + +(Morell sieht auf, die Feder einen Moment absetzend:) Nun, wo ist +Eugen? + +(Candida.) Er wäscht sich die Hände in der Waschküche--unter der +Wasserleitung. Er wird ein ausgezeichneter Koch werden, wenn er nur +erst seine Furcht vor Marie überwunden hat. + +(Morell kurz:) Gewiß, zweifellos. (Er fängt wieder zu schreiben an.) + +(Candida geht näher und legt ihre Hände sanft auf die seinen, um ihn +aufzuhalten, und sagt:) Komm zu mir, mein Lieber. Laß dich anschauen. +(Er legt seine Feder weg und stellt sich ihr zur Verfügung; sie laßt +ihn aufstehen, zieht ihn ein wenig vom Tisch fort und betrachtet ihn +mit kritischen Blicken.) Wende dein Gesicht einmal gegen das Licht. +(Sie stellt ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.) Mein alter Junge +sieht nicht gut aus,--hat er sich überanstrengt? + +(Morell.) Nicht mehr als gewöhnlich. + +(Candida.) Er sieht sehr bleich und grau, runzelig und alt aus. +(Seine Melancholie nimmt zu und Candida faßt sie geflissentlich lustig +an.) Komm her. (Sie zieht ihn zum Lehnstuhl:) Du hast für heute genug +geschrieben. Überlaß Prossi alles Weitere, und wir wollen ein +bißchen plaudern. + +(Morell.) Aber-- + +(Candida nachdrücklich:) Ja, du mußt mit mir plaudern. (Sie zwingt +ihn, Platz zu nehmen, und setzt sich auf den Teppich zu seinen Füßen.) +Nun (seine Hände streichelnd:) fängst du schon an, besser auszusehen. +Warum gibst du alle diese ermüdenden Extraarbeiten nicht auf? Jeden +Abend gehst du aus, um zu predigen und zu reden. Freilich, was du +sagst, ist alles schön und gut; aber es nützt ja nichts: sie geben +nicht das geringste darauf. Sie sind natürlich deiner Ansicht--aber +was hat man davon, wenn Leute mit einem einverstanden sind und dann +hingehen und das Gegenteil von allem tun, sobald man den Rücken kehrt? +Denke nur an unsere Gemeinde in St. Dominik? Warum wollen sie dich +jeden Sonntag über Christentum reden hören? Nur weil sie mit ihren +Geschäften und Geldangelegenheiten sechs Tage lang so sehr beschäftigt +waren, daß sie am siebenten Tage nichts davon hören mögen. Da wollen +sie ruhen und sich erbauen, damit sie frisch zurückkehren und besser +als je dem Gelde nachjagen können. Du hilfst ihnen nur noch dabei, +anstatt sie daran zu hindern. + +(Morell mit energischem Ernst:) Du weißt sehr gut, Candida, daß ich +sie deswegen oft tüchtig ausschelte. Aber wenn ihr Kirchgang ihnen +nichts anderes bedeutet als Ruhe und Zerstreuung, warum wählen sie +dann nichts Lustigeres, Angenehmeres? Es muß doch etwas Gutes in der +Tatsache liegen, daß sie die Kirche am Sonntag schlimmeren Orten +vorziehen. + +(Candida.) Oh, die schlimmen Orte sind eben nicht offen, und selbst +wenn sie es wären, sie würden sich nicht trauen hinzugehen, aus Angst +gesehn zu werden. Überdies, lieber Jakob, predigst du so +wundervoll, daß es für sie so gut wie ein Schauspiel ist. Warum, +glaubst du, sind die Frauen alle so begeistert? + +(Morell verletzt:) Candida! + +(Candida.) Oh, ich weiß. Du Ahnungsloser, du glaubst, dein +Sozialismus und deine Religion machen es,--doch wenn's bloß das wäre, +dann würden sie tun, was du ihnen sagst, anstatt nur hinzugehen und +dich anzustarren;--sie haben alle Prossis Leiden. + +(Morell.) Prossis Leiden? Was meinst du damit, Candida? + +(Candida.) Ja, Prossis und das all der anderen Sekretärinnen, die du +hattest. Warum, meinst du, läßt sich Prossi herbei, abzuwaschen, +Kartoffeln zu schälen und sich auf alle mögliche Art zu erniedrigen, +da sie bei dir doch sechs Schillinge in der Woche weniger verdient, +als sie in einem Bureau in der City bekäme? Sie ist verliebt in dich, +das ist der Grund,--sie sind alle in dich verliebt. Und du bist ins +Predigen verliebt, weil du das so wundervoll kannst. Und du glaubst, +es sei alles Enthusiasmus für das Himmelreich auf Erden--und sie +glauben es auch--o du lieber Dummkopf, du! + +(Morell.) Candida, was ist das für ein schrecklicher, seelenmordender +Zynismus? Scherzest du oder--ist es möglich--bist du eifersüchtig? + +(Candida seltsam gedankenvoll:) Ja, manchmal bin ich etwas +eifersüchtig. + +(Morell ungläubig:) Auf Prossi? + +(Candida lachend:) Nein, nein, nein. Nicht eifersüchtig a u f +jemanden. Eifersüchtig f ü r jemanden, der n i c h t so geliebt wird, +wie er sollte. + +(Morell.) Bin ich das? + +(Candida.) Du? Nein. Du bist verwöhnt durch Liebe und Verehrung, +mehr, als für dich gut ist.--Nein, ich meine Eugen. + +(Morell betroffen:) Eugen? + +(Candida.) Es scheint mir ungerecht, daß du alle Liebe besitzen sollst +und er keine, obgleich er sie so viel nötiger hat als du. (Eine +krampfhafte Bewegung schüttelt ihn gegen seinen Willen.) Was ist dir, +quäle ich dich? + +(Morell rasch:) Durchaus nicht. (Er sieht sie mit unruhiger Spannung +an.) Du weißt, daß ich dir blindlings vertraue, Candida. + +(Candida.) Du eitler Mann. Bist du deiner Unwiderstehlichkeit so +sicher? + +(Morell.) Candida, du verletzest mich. Ich habe an +Unwiderstehlichkeit nie gedacht. Deiner Frömmigkeit, deiner Reinheit +vertraue ich. + +(Candida.) Was für häßliche, ungemütliche Dinge du mir da sagst,--oh, +du bist wirklich ein Pastor, Jakob, ein Pastor durch und durch! + +(Morell ins Herz getroffen, sich von ihr abwendend:) Das sagt Eugen +auch. + +(Candida neigt sich mit lebhaftem Interesse zu ihm, die Arme auf +seinen Knien:) Eugen hat immer recht. Er ist ein wundervoller Junge, +ich habe ihn lieber und lieber gewonnen während der ganzen Zeit, wo +ich fort war. Weißt du, Jakob, daß er, obwohl er selbst nicht die +leiseste Ahnung davon hat, im Begriff steht, sich wahnsinnig in mich +zu verlieben? + +(Morell grimmig:) Oh, er selbst hat nicht die leiseste Ahnung davon, +wirklich? + +(Candida.) Nicht die geringste. (Sie nimmt ihre Arme von seinen Knien +und wendet sich gedankenvoll ab, wobei sie eine bequeme Stellung +einnimmt, die Hände im Schoß.) Eines Tages wird er es wissen,--wenn er +erwachsen und erfahren sein wird wie du--da wird er erkannt haben, daß +ich es wissen mußte!--Ich bin neugierig, was er dann von mir denken +wird. + +(Morell.) Nichts Böses, Candida. Ich hoffe und vertraue, nichts Böses. + +(Candida zweifelnd:) Das wird davon abhängen... + +(Morell erschreckt:) Abhängen! + +(Candida ihn ansehend:) Ja, es wird davon abhängen, was er bis dahin +erleben wird. Er sieht sie verständnislos an. Begreifst du das +nicht? Es hängt ganz davon ab, wie und durch wen ihm bewußt wird, was +die Liebe eigentlich ist. Ich meine, es kommt auf die Frau an, die +ihn die Liebe lehren wird. + +(Morell ganz verwirrt:) Nein,--ja,--ich weiß nicht, was du meinst. + +(Candida erklärend:) Wenn eine gute Frau sie ihn lehrt, dann wird +alles gut und schön sein, dann wird er mir verzeihen. + +(Morell.) Verzeihen?! + +(Candida fortfahrend:) Aber gesetzt den Fall, daß eine schlechte Frau +sie ihn lehrt, wie dies vielen Männern, ganz besonders dichterisch +veranlagten, geschieht, die alle Frauen für Engel halten,--gesetzt den +Fall, sage ich, daß er den Wert der Liebe erst dann entdeckt, wenn er +sie fortgeworfen und sich in seiner Unwissenheit selbst erniedrigt hat, +--glaubst du, daß er mir dann auch verzeihen wird? + +(Morell.) Dir verzeihen? Weswegen? + +(Candida bemerkt, wie beschränkt er ist, fährt etwas enttäuscht, aber +sanft fort:) Verstehst du das nicht? (Er schüttelt den Kopf; sie +wendet sich wieder zu ihm, um es ihm mit zartester Vertraulichkeit zu +erklären.) Ich meine: wird er mir verzeihen, daß ich selbst ihn die +Liebe nicht gelehrt, sondern ihn schlechten Frauen überlassen habe? +meiner Frömmigkeit--meiner Reinheit wegen, wie du es nennst! Oh, +Jakob, wie wenig du mich doch verstehst, daß du nur immer von deinem +Vertrauen in meine Frömmigkeit und Reinheit sprichst. Ich würde sie +beide dem armen Eugen so gerne geben, wie einem frierenden Bettler +meinen Schal, wenn nichts anderes mich davon abhielte. Vertraue auf +meine Liebe zu dir; denn wenn die nicht wäre, aus deinen Predigten +würde ich mir sehr wenig machen--das sind bloß leere Phrasen, mit +denen du andere und dich selbst jeden Tag belügst. (Sie ist im +Begriff aufzustehen.) + +(Morell.) Seine Worte! + +(Candida schnell innehaltend, indem sie aufsteht:) Wessen Worte? + +(Morell.) Eugens! + +(Candida entzückt:) Er hat immer recht. Er versteht dich, er versteht +mich, er versteht Prossi; und du, Jakob, du verstehst nichts. (Sie +lacht und küßt ihn, um ihn zu trösten; er weicht wie gestochen zurück +und springt auf.) + +(Morell.) Wie kannst du mich küssen, während du--oh, Candida! (Mit +Schmerz in der Stimme:) Ich hätte vorgezogen, daß du mir einen +Widerhaken ins Herz gestoßen hättest, statt mir diesen Kuß zu geben. + +(Candida erhebt sich beunruhigt:) Mein Lieber, was ist denn mit dir? + +(Morell schüttelt sie wild ab:) Berühre mich nicht! + +(Candida erstaunt:) Jakob! Sie werden durch den Eintritt Marchbanks' +und Burgess' unterbrochen, der in der Nähe der Tür stehen bleibt und +sie anstarrt, während Eugen sich zwischen sie nach vorwärts drängt. + +(Marchbanks.) Ist etwas vorgefallen? + +(Morell totenbleich, mit eiserner Selbstbeherrschung:) Nichts, als daß +entweder Sie heute morgen recht hatten, oder daß Candida verrückt ist! + +(Burgess laut protestierend:) Was? Candy auch verrückt? Das ist +zuviel! (Er durchschreitet das Zimmer bis zum Kamin, protestiert +während des Gehens und klopft dort seine Pfeifenasche aus. Morell +setzt sich verzweifelt nieder, lehnt sich nach vorne, um sein Gesicht +zu verbergen, und verschlingt seine Finger krampfhaft, damit sie ruhig +bleiben.) + +(Candida zu Morell, erleichtert und lachend:) Oh, du bist nur +verletzt--ist das alles? Wie konventionell ihr unkonventionellen +Leute doch alle seid! + +(Burgess.) Benimm dich anständig, Candy. Was wird Herr Marchbanks von +dir denken? + +(Candida.) Das kommt davon, weil Jakob mir immer predigt, nur mir +selbst Rechenschaft abzulegen und nie darauf zu achten, was andere +Leute über mich denken könnten. Das ist außerordentlich schön und gut, +solange ich derselben Meinung bin wie er. Aber jetzt--weil ich +gerade etwas anderer Meinung war jetzt schau ihn dir an, schau nur! +(Sie weist auf Morell, höchst belustigt. Eugen beobachtet ihn und +preßt seine Hand heftig ans Herz, als wenn ihn irgendein Schmerz +getroffen hätte; er setzt sich auf das Sofa wie ein Mensch, der einer +Tragödie beiwohnt. Burgess auf dem Kaminteppich:) Sie hat recht, +Jakob, Sie sehen wirklich nicht so würdig aus wie gewöhnlich. + +(Morell mit einem Lachen, das ein halbes Schluchzen ist:) Das kann +schon sein, verzeiht mir alle,--ich wußte nicht, daß ich eine Störung +verursache. (Sich zusammenraffend:) Es ist schon gut, schon gut, +schon gut. (Er geht zurück nach seinem Platz am Tisch und setzt sich, +um an seinen Papieren wieder mit entschlossener Heiterkeit +weiterzuarbeiten.) + +(Candida geht nach dem Sofa und setzt sich neben Marchbanks, noch in +heiterster Stimmung:) Nun, Eugen, warum sind Sie traurig? Haben Sie +vom Zwiebelschälen geweint? (Morell kann sich nicht enthalten, sie zu +beobachten.) + +(Marchbanks beiseite zu ihr:) Ihre Grausamkeit ist es, die mich +traurig macht.--Ich hasse Grausamkeit. Es ist entsetzlich, +mitanzusehen, wie ein Mensch einem andern weh tut. + +(Candida ihn streichelnd, ironisch:) Armer Junge, war ich grausam? +Habe ich ihn kleine, rote, häßliche Zwiebel schälen lassen? + +(Marchbanks ernst:) Oh, halten Sie ein, halten Sie ein: ich meine +nicht mich! Er hat Ihretwegen furchtbar gelitten. Ich fühle seinen +Schmerz in meinem eigenen Herzen. Ich weiß, daß Sie nicht schuld +daran sind,--es ist etwas geschehen, was geschehen mußte; aber nehmen +Sie es nicht so leicht. Mich schaudert, wenn Sie ihn quälen und dabei +lachen. + +(Candida ungläubig:) Ich Jakob quälen?! Unsinn, Eugen; wie Sie +übertreiben! Torheit! (Sie blickt hinüber zu Jakob, der seine +Schreiberei hastig fortsetzt; sie gebt zu ihm und steht hinter seinem +Stuhl, sich über ihn beugend.) Arbeite nicht länger, mein Lieber, komm +und plaudere mit uns. + +(Morell liebevoll, aber bitter:) Ach nein: ich kann nicht plaudern, +ich kann nur predigen. + +(Candida ihn streichelnd:) Nun, dann komm und predige! + +(Burgess heftig widersprechend:) Ach nein, Candy! zum Henker mit dem +Predigen! (Alexander Mill kommt herein und sieht ängstlich und +wichtig aus.) + +(Mill beeilt sich, Candida zu begrüßen:) Wie geht es Ihnen, Frau +Morell? Wie freue ich mich, daß Sie wieder zurück sind. + +(Candida.) Ich danke Ihnen, Herr Mill. Sie kennen Eugen, nicht wahr? + +(Mill.) O ja! Wie geht es Ihnen, Marchbanks? + +(Marchbanks.) Danke, gut! + +(Mill zu Morell:) Ich komme eben aus der Gilde von Sankt Matthäus. +Die Leute sind furchtbar bestürzt über Ihr Telegramm. Es ist doch +hoffentlich nichts geschehen? + +(Candida.) Was hast du denn telegraphiert, Jakob? + +(Mill zu Candida:) Es war vereinbart, daß er heute abend dort sprechen +sollte, sie haben den großen Saal in der Marestraße gemietet und eine +Menge Geld für Plakate ausgegeben. Der Herr Pastor telegraphierte nun, +daß er nicht kommen könnte! Es traf sie wie ein Blitz aus heiterem +Himmel. + +(Candida überrascht, beginnt zu wittern, daß etwas nicht in Ordnung +ist:) Eine Gelegenheit, öffentlich zu sprechen, hast du ausgeschlagen? + +(Burgess.) Zum erstenmal in seinem Leben, das möchte ich wetten; +--nicht wahr, Candy? + +(Mill zu Morell:) Man hat beschlossen, Ihnen ein dringendes Telegramm +zu schicken, mit der Bitte, Ihren Entschluß zu ändern. Haben Sie es +erhalten? + +(Morell mit mühsam verhaltener Ungeduld:) Ja, ja, ich bekam es. + +(Mill.) Es war mit bezahlter Rückantwort. + +(Morell.) Ja, ich weiß. Ich habe es beantwortet. Ich kann nicht +kommen. + +(Candida.) Aber warum nicht, Jakob? + +(Morell beinahe heftig:) Weil ich nicht mag! Diese Leute vergessen, +daß ich auch ein Mensch bin; sie halten mich für eine Redemaschine, +die man jeden Abend zu seinem Vergnügen aufziehen kann. Darf ich +nicht auch einmal einen Abend zu Hause haben, mit meiner Frau und +meinen Freunden? (Sie sind alle über diesen Ausbruch erstaunt mit +Ausnahme von Eugen,--sein Ausdruck bleibt unverändert.) + +(Candida.) Oh, Jakob, du weißt es selbst: morgen wirst du dann +Gewissensbisse haben, und ich werde darunter leiden müssen. + +(Mill eingeschüchtert, aber dringend:) Ich weiß natürlich, daß diese +Menschen die unvernünftigsten Anforderungen an Sie stellen; aber sie +haben überallhin um einen anderen Redner telegraphiert und können +niemanden mehr bekommen als den Präsidenten des Agnostikerbundes. + +(Morell rasch:) Nun, das ist ein ausgezeichneter Mann,--was wollen sie +denn noch mehr? + +(Mill.) Aber er besteht immer so fest auf der Scheidung des +Sozialismus vom Christentum. Er wird all das Gute, das wir gestiftet +haben, zunichte machen,--natürlich, Sie müssen ja am besten wissen, +aber... + +(Er zögert.) + +(Candida schmeichelnd:) O bitte, geh' doch hin, Jakob. Wir kommen +alle mit. + +(Burgess brummend:) Schau, Candy, laß uns lieber gemütlich zu Hause am +Kamin sitzen. Er braucht ja nicht länger als zwei Stunden +wegzubleiben. + +(Candida.) Du wirst dich in der Versammlung genau so behaglich fühlen. +Wir werden alle auf dem Podium sitzen und wichtige Leute sein. + +(Marchbanks entsetzt:) Oh, bitte, nicht auf dem Podium; nein! Jeder +wird uns anstarren,--das hielte ich nicht aus. Ich werde im +Hintergrund des Saales bleiben. + +(Candida.) Fürchten Sie sich nicht. Man wird viel zu sehr damit +beschäftigt sein, Jakob anzustarren als daß man Sie bemerkte. + +(Morell wendet den Kopf und sieht Candida vielsagend über die Schulter +an:) Prossis Leiden, Candida,--nicht? + +(Candida lustig:) Jawohl. + +(Burgess neugierig:) Prossis Leiden? Was reden Sie da, Jakob? + +(Morell beachtet ihn nicht, erhebt sich, geht nach der Tür, öffnet und +ruft in befehlendem Ton hinaus:) Fräulein Garnett! + +(Proserpina aus der Entfernung:) Ja, Herr Pastor, ich komme schon. +(Sie warten alle mit Ausnahme von Burgess, der verstohlen zu Mill geht +und ihn beiseite zieht.) + +(Burgess.) Hören Sie, Herr Mill: worin besteht Prossis Leiden? Was +fehlt ihr? + +(Mill vertraulich:) Ja, ich weiß es nicht genau; aber sie sprach recht +seltsame Dinge heute früh;--ich fürchte, es ist manchmal nicht ganz +richtig mit ihr. + +(Burgess überwältigt:) Nein,--vier in demselben Haus! Es muß +ansteckend sein. (Er geht zurück an den Kamin, ganz in Gedanken +versunken über die Veränderlichkeit des menschlichen Verstandes in der +Umgebung eines Geistlichen.) + +(Proserpina erscheint auf der Schwelle:) Was wünschen Sie, Herr Pastor? + +(Morell.) Telegraphieren Sie nach der Gilde von Sankt Matthäus, daß +ich kommen werde. + +(Proserpina überrascht:) Werden Sie denn nicht erwartet? + +(Morell gebieterisch:) Tun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe. +(Proserpina setzt sich erschrocken an die Schreibmaschine und gehorcht.) + +(Morell geht hinüber zu Burgess. Candida beobachtet seine Bewegungen +die ganze Zeit über mit wachsender Verwunderung und Besorgnis.) +Burgess, Sie möchten lieber nicht mitkommen? + +(Burgess sich entschuldigend:) Oh, so dürfen Sie das nicht +auffassen--ich meine nur, wissen Sie--weil heute nicht Sonntag ist. + +(Morell.) Das ist schade, ich dachte, Sie würden gerne mit dem +Vorsitzenden bekannt werden. Er ist im Provinzialarbeitsausschuß und +hat einigen Einfluß bei Abschlüssen von Lieferungen. (Burgess wird +mit einem Male lebendig; Morell, der das erwartet hat, hält einen +Augenblick inne und sagt:) Sie wollen also doch mitkommen? + +(Burgess mit Enthusiasmus:) Das will ich meinen,--ob ich mitkomme, +Jakob! Es ist ja stets ein Genuß, Sie predigen zu hören! + +(Morell wendet sich zu Proserpina:) Ich werde Sie nötig haben, damit +Sie in der Versammlung einige Notizen machen können, Fräulein Garnett, +falls Sie nicht schon vergeben sind. (Sie nickt, aus Angst, sprechen +zu müssen.) Sie kommen doch auch mit, Lexi? + +(Mill.) Selbstverständlich. + +(Candida.) Wir kommen alle mit, Jakob. + +(Morell.) Nein! Du kommst nicht mit, und Eugen kommt nicht mit. Du +wirst zu Hause bleiben und dich mit ihm unterhalten, zur Feier deiner +Rückkehr. (Eugen erhebt sich atemlos.) + +(Candida.) Aber Jakob-- + +(Morell gebieterisch:) Ich bestehe darauf; Ihr habt beide keine Lust +zu kommen, weder er, noch du! (Candida will sich dagegen verwahren.) +Oh, denkt nicht an mich, ich werde auch ohne euch eine Menge Menschen +um mich versammelt sehen. Eure Stühle werden von unbekehrten Leuten +besetzt sein, die mich noch nie gehört haben. + +(Candida beunruhigt:) Eugen, möchten Sie nicht hingehen? + +(Morell.) Ich würde mich fürchten, mich vor Eugen hören zu lassen; er +ist Predigten gegenüber sehr kritisch. (Sieht ihn an.) Er weiß, daß +ich mich vor ihm fürchte, er hat mir's heute früh selbst gesagt. Nun +will ich ihm zeigen, wie sehr ich mich fürchte, indem ich ihn hier +allein in deiner Hut lasse, Candida. + +(Marchbanks zu sich selbst, mit lebhaftem Gefühl:) Das ist tapfer; das +ist schön. (Er setzt sich wieder und hört mit geöffneten Lippen zu.) + +(Candida mit ängstlicher Beunruhigung:) Aber, aber--Ist irgend etwas +geschehen, Jakob? (Sehr verwirrt:) Ich kann dich nicht begreifen. + +(Morell.) Ah, ich dachte, ich sei es, der nichts begreifen kann, meine +Liebe. (Er schließt sie zärtlich in die Arme und küßt sie auf die +Stirn, dann blickt er ruhig auf Marchbanks.) + +(Vorhang) + + + + +DRITTER AKT + +(Es ist nach zehn Uhr abends; die Vorhänge sind zugezogen und die +Lampe brennt. Die Schreibmaschine steht in ihrem Kasten. Der breite +Tisch ist geordnet worden; alles zeugt davon, daß das Tagewerk +vollbracht ist. Candida und Marchbanks sitzen am Feuer; die Leselampe +steht auf dem Kaminsims über Marchbanks, der in dem kleinen Stuhl +sitzt und laut liest. Auf dem Teppich neben ihm liegt ein kleiner +Haufen von Manuskripten und ein paar Bände Gedichte. Candida sitzt im +großen Stuhl und hält einen leichten Schürhaken aus Messing aufrecht +in der Hand; sie sitzt zurückgelehnt und sieht versonnen auf die +funkelnde Messingspitze. Sie hat die Füße gegen das Feuer hin +ausgestreckt und läßt ihre Fersen auf dem Kamingitter ruhen, sich +ihrer Erscheinung und ihrer Umgebung tief unbewußt.) + +(Marchbanks seine Vorlesung unterbrechend:) Jeder Dichter, der je +gelebt hat, hat aus diesem Gedanken ein Sonett gemacht. Er muß es, ob +er will oder nicht. (Er sieht Candida an, ob sie ihm zustimmt, und +bemerkt, daß sie auf den Schürhaken starrt.) Haben Sie nicht zugehört? +(Keine Antwort:) Frau Morell! + +(Candida auffahrend.) Wie!? + +(Marchbanks.) Haben Sie nicht zugehört? + +(Candida schuldbewußt, mit übertriebener Höflichkeit:) O ja. Es ist +sehr hübsch. Fahren Sie fort, Eugen. Ich bin begierig, zu hören, was +dem Engel passiert ist. + +(Marchbanks läßt das Manuskript aus der Hand auf den Boden fallen:) +Verzeihen Sie, daß ich Sie langweile! + +(Candida.) Aber Sie langweilen mich durchaus nicht, wirklich nicht. +Bitte, fahren Sie fort--bitte, Eugen. + +(Marchbanks.) Ich habe das Gedicht über den Engel vor einer +Viertelstunde beendet. Ich habe Ihnen seitdem schon verschiedenes +vorgelesen. + +(Candida reuevoll:) Das tut mir wirklich leid, Eugen. Mir scheint, +der Schürhaken hat mich behext. (Sie legt ihn nieder.) + +(Marchbanks.) Er hat mich fürchterlich gestört. + +(Candida.) Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte ihn sofort +weggelegt. + +(Marchbanks.) Ich fürchtete, Sie auch zu stören; er glich einer Waffe. +Wenn ich ein Held aus alten Tagen wäre, würde ich mein gezogenes +Schwert zwischen uns gelegt haben. Wenn Morell gekommen wäre, hätte +er geglaubt, daß Sie den Schürhaken ergriffen haben, weil kein Schwert +zwischen uns liegt. + +(Candida verwundert:) Was? (Sie sieht ihn mit verwirrten Blicken an:) +Das kann ich nicht recht verstehen. Ihre Sonette haben mich so sehr +verwirrt! Warum sollte ein Schwert zwischen uns sein? + +(Marchbanks ausweichend:) Oh, lassen wir das. (Er bückt sich, das +Manuskript aufzuheben.) + +(Candida.) Legen Sie das wieder hin, Eugen. Mein Hunger nach Poesie +hat Grenzen, selbst nach Ihrer Poesie. Sie haben mir länger als zwei +Stunden vorgelesen--seit mein Mann fort ist--, ich möchte lieber +plaudern. + +(Marchbanks erhebt sich, furchtsam:) Nein, ich darf nicht reden. (Er +sieht in seiner verlorenen Weise um sich und fügt plötzlich hinzu:) +Ich glaube, ich mache einen Spaziergang im Park. (Er will nach der +Tür.) + +(Candida.) Unsinn! er ist längst geschlossen. Setzen Sie sich auf den +Kaminteppich und plaudern wir, wie Sie es gewöhnlich tun! Ich will +unterhalten werden,--wollen Sie nicht? + +(Marchbanks halb entsetzt, halb hingerissen:) Ja. + +(Candida.) Dann kommen Sie her. (Sie rückt ihren Stuhl etwas zurück, +um Platz zu machen; er zögert, dann kauert er sich schüchtern hin vor +den Kamin, das Gesicht nach oben gekehrt, wirft seinen Kopf zurück auf +ihre Knie und sieht zu ihr empor.) + +(Marchbanks.) Oh, ich habe mich den ganzen Tag so unglücklich gefühlt, +weil ich getan habe, was recht war; und nun, wo ich unrecht tue, bin +ich so glücklich. + +(Candida zart, belustigt über ihn:) Ja; ich bin überzeugt, nun fühlen +Sie sich wie ein großer, erwachsener, böser Verführer--ganz stolz auf +sich, nicht wahr? + +(Marchbanks erhebt seinen Kopf rasch und wendet sich ein wenig, um sie +anzublicken:) Nehmen Sie sich in acht. Ich bin sogar um vieles +älter als Sie, Sie wissen es nur nicht. (Er wendet sich auf seinen +Knien ganz herum; mit gefalteten Händen und die Arme in ihrem Schoß, +spricht er mit wachsender Erregung--sein Blut fängt an zu wallen:) +Darf ich Ihnen ein paar schlimme Dinge sagen? + +(Candida ohne die leiseste Angst oder Kälte und mit vollkommener +Achtung vor seiner Leidenschaft, aber mit einem Schimmer ihres +klugkerzigen mütterlichen Humors:) Nein. Aber Sie dürfen alles +sagen, was Sie wirklich und wahrhaftig fühlen, was es auch sei, alles! +Ich fürchte mich nicht, solange Ihr wirkliches "Selbst" zu mir +spricht und nicht eine bloße Pose--eine galante oder eine gottlose, +oder selbst eine dichterische Pose. Das verlange ich von Ihnen, bei +Ihrer Ehre und Wahrhaftigkeit!--Nun sagen Sie, was Sie wollen. + +(Marchbanks der heiße Ausdruck verschwindet vollkommen von seinen +Lippen und Nasenflügeln, seine Augen flammen auf in begeistertem Feuer.) +Oh, jetzt kann ich nicht mehr alles sagen; denn alle Worte, die ich +weiß, gehören mehr oder weniger irgendeiner Pose an, alle--bis auf +eines. + +(Candida.) Welches Wort ist das? + +(Marchbanks sanft, sich dem melodischen Klang des Namens hingebend:) +"Candida, Candida, Candida, Candida, Candida"--das muß ich jetzt sagen, +da Sie mich bei meiner Ehre und Wahrhaftigkeit fragen, denn ich denke +und fühle niemals "Frau Morell", immer nur "Candida". + +(Candida.) Selbstverständlich! Und was haben Sie Candida zu sagen? + +(Marchbanks.) Nichts als Ihren Namen tausendmal zu wiederholen. +Fühlen Sie nicht, daß es jedesmal ein Gebet zu Ihnen ist? + +(Candida.) Macht es Sie nicht glücklich, daß Sie beten können? + +(Marchbanks.) Ja, sehr glücklich. + +(Candida.) Nun, dieses Glück ist die Antwort auf Ihr Gebet.--Wünschen +Sie sich etwas Besseres? + +(Marchbanks selig:) Nein, ich bin im Himmel, wo man wunschlos ist. +(Morell tritt ein; er bleibt an der Schwelle stehen und überschaut mit +einem Blick die ganze Szene.) + +(Morell ernst und mit Selbstbeherrschung:) Hoffentlich störe ich nicht. +(Candida fährt heftig auf, aber ohne die leiseste Verlegenheit. Sie +lacht über sich selbst. Eugen, noch auf den Knien, schützt sieh vor +dem Fallen dadurch, daß er seine Hände auf den Stuhlsitz legt; Morell +mit offenem Munde anstarrend, bleibt er in dieser Stellung.) + +(Candida im Aufstehen:) Oh, Jakob, wie du mich erschreckt hast; ich +war so mit Eugen beschäftigt, daß ich deinen Schlüssel nicht gehört +habe. Wie ist die Versammlung verlaufen? Hast du gut gesprochen? + +(Morell.) Ich habe in meinem ganzen Leben nicht besser gesprochen. + +(Candida.) Das ist ausgezeichnet! Wieviel ist eingegangen? + +(Morell.) Ich vergaß zu fragen. + +(Candida zu Eugen:) Er muß wundervoll gesprochen haben oder er hätte +das nicht vergessen. (Zu Morell:) Wo sind die andern? + +(Morell.) Sie verließen den Saal lange ehe ich fortkommen konnte; ich +glaube, sie essen irgendwo zur Nacht. + +(Candida in ihrer hausmütterlichen Art:) Oh, dann kann Marie zu Bette +gehn; ich will es ihr sagen. (Sie geht hinaus in die Küche.) + +(Morell blickt strenge auf Marchbanks nieder:) Nun? + +(Marchbanks läßt sich mit gekreuzten Beinen auf den Kaminteppich +nieder und fühlt sich Morell gegenüber ganz sicher, sogar voll +verschmitzten Humors:) Nun? + +(Morell.) Haben Sie mir etwas zu sagen? + +(Marchbanks.) Nur, daß ich mich hier heimlich zum Narren gemacht habe, +während Sie öffentlich dasselbe getan haben. + +(Morell.) Ich glaube, kaum auf dieselbe Art. + +(Marchbanks springt auf, eifrig:) Ganz genau auf dieselbe Art. Ich +habe eben ganz so wie Sie den braven Mann gespielt! ganz so wie Sie. +Als Sie Ihr Heldentum, mich hier mit Candida allein zu lassen, +begannen-- + +(Morell unwillkürlich:) Candida? + +(Marchbanks.) Ja, so weit bin ich schon. Heldentum ist ansteckend, +ich bekam die Krankheit von Ihnen und habe mir geschworen, Candida in +Ihrer Abwesenheit nichts zu sagen, was ich nicht schon vor einem Monat +in Ihrer Gegenwart gesagt hätte. + +(Morell.) Und haben Sie dieses Gelübde gehalten? + +(Marchbanks setzt sich plötzlich in grotesker Weise in den Lehnstuhl:) +Ich bin bis vor etwa zehn Minuten dumm genug gewesen, es zu halten. +Bis dahin habe ich ihr verzweifelt vorgelesen, meine eigenen +Gedichte--und andere--um einer Unterhaltung auszuweichen. Ich sah +das Himmelstor offen und weigerte mich, einzutreten.... Sie können +sich nicht vorstellen, wie heldenhaft das war und wie ungemütlich.... +Dann-- + +(Morell seine Ungeduld bezähmend:) Dann? + +(Marchbanks geht prosaisch in eine ganz gewöhnliche Stellung im +Lehnstuhl über:) Dann konnte sie das Vorlesen nicht mehr vertragen. + +(Morell.) Und da haben Sie sich dem Himmelstor schließlich genähert? + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Und dann? (Wild:) Sprechen Sie, Mensch! Haben Sie denn +kein Gefühl für mich! + +(Marchbanks sanft und melodisch:) Dann wurde sie ein Engel, und ein +Flammenschwert erschien, das mir jeden Zugang versperrte, so daß ich +nicht eintreten konnte und nun begriff, daß dieses Tor in Wahrheit das +Tor der Hölle war. + +(Morell triumphierend:) Sie hat Sie zurückgestoßen! + +(Marchbanks erhebt sich mit grimmigem Hohn:) Nein, Sie Narr! Wenn sie +das getan hätte, würde ich gar nicht gefühlt haben, daß ich schon im +Himmel war. Mich zurückgestoßen... glauben Sie, daß mich das gerettet +hätte?--Tugendhafte Entrüstung! Oh, Sie sind nicht wert, in einer +Welt mit ihr zu leben. (Er wendet sich verachtungsvoll von ihm ab +nach der anderen Seite des Zimmers.) + +(Morell der ihn ruhig beobachtet hat, ohne seinen Platz zu wechseln:) +Glauben Sie, daß Sie dadurch an Wert gewinnen, wenn Sie mich +beschimpfen, Eugen? + +(Marchbanks.) Hier endet der tausendunderste Text. Morell: ich halte +doch nicht viel von Ihrem Predigen. Ich glaube sogar, ich selbst +könnte das besser. Der Mann, den ich jetzt vor mir haben möchte, ist +der Mann, den Candida geheiratet hat. + +(Morell.) Der Mann, den... meinen Sie mich? + +(Marchbanks.) Ich meine nicht Hochwürden Jakob Mavor Morell, Moralist +und Schwätzer. Ich meine den wirklichen Menschen, den Hochwürden +Jakob irgendwo in seiner schwarzen Kutte versteckt haben muß, den Mann, +den Candida geliebt hat. Sie können die Liebe einer Frau wie Candida +nicht dadurch erreicht haben, daß Sie bloß Ihren Kragen hinten statt +vorne knöpfen. + +(Morell kühn und standhaft:) Als Candida einwilligte, mich zu heiraten, +da war ich derselbe Moralist und Schwätzer, den Sie jetzt vor sich +sehen. Ich trug meinen schwarzen Rock, und meinen Kragen knöpfte ich +hinten statt vorne. Glauben Sie, daß sie mich mehr geliebt hätte, +wenn ich unaufrichtig in meinem Beruf gewesen wäre? + +(Marchbanks auf dem Sofa, seine Knöchel umfassend:) Oh, sie hat Ihnen +vergeben, so wie sie mir vergibt, daß ich ein Feigling bin und ein +Schwächling, und was Sie einen kleinen winselnden Hund--und so +weiter--nennen. (Verträumt:) Eine Frau wie diese hat göttlichen +Einblick: sie liebt unsere Seele und nicht unsere Narrheiten und +Eitelkeiten und Illusionen, oder unsere Kragen und Röcke, oder die +andern Fetzen und Lappen, in die wir gehüllt sind. (Er denkt darüber +einen Augenblick nach, dann wendet er sich mit gespannter Erwartung um, +Morell zu befragen:) Was ich wissen möchte, ist, wie Sie an dem +Flammenschwerte, das mich zurückgeschreckt hat, vorbeigekommen sind! + +(Morell bedeutungsvoll:) Vielleicht weil ich nicht nach zehn Minuten +unterbrochen wurde. + +(Marchbanks verblüfft:) Was? + +(Morell.) Der Mensch kann auf die höchsten Gipfel steigen; aber er +kann nicht lange dort verweilen. + +(Marchbanks.) Das ist falsch. Dort kann er ewig verweilen! nur dort! +Anderswo findet er keine Ruhe und hat keinen Sinn für die stille +Schönheit des Lebens. Wo sollte ich meine seligsten Minuten verleben, +wenn nicht auf den Höhen? + +(Morell.) In der Küche, Zwiebeln schneidend und Lampen füllend. + +(Marchbanks.) Oder auf der Kanzel, Seelen scheuernd die aus billigem +Ton sind. + +(Morell.) Ja, das auch! Dort habe ich meinen goldenen Augenblick +geerntet und mit ihm das Recht, um Candidas Liebe zu werben. Ich habe +mir diese Stunde nicht erborgt, noch habe ich sie benützt, um das +Glück eines andern zu stehlen. + +(Marchbanks schreitet ziemlich angewidert dem Kamin zu:) Ich zweifle +nicht daran, daß Sie Ihre Verrichtungen so ehrenhaft erfüllt haben, +als ob Sie ein Pfund Käse abgewogen hätten. (Er hält vor dem Kamin +inne und fügt nachdenklich zu sich selbst, Morell den Rücken kehrend, +hinzu:) Ich konnte zu ihr nur als Bettler kommen. + +(Morell auffabrend:) Als ein frierender Bettler, der sie um ihren +Schal bat, nicht wahr? + +(Marchbanks wendet sich überrascht um:) Ich danke Ihnen, daß Sie sich +auf mein Gedicht beziehen. Ja, wenn Sie wollen: als ein frierender +Bettler, der sie um ihren Schal bat. + +(Morell erregt:) Und sie verweigerte ihn. Soll ich Ihnen sagen, warum +sie ihn verweigert hat? Ich kann es Ihnen sagen, mit ihrer eigenen +Erlaubnis: weil... + +(Marchbanks.) Sie hat ihn nicht verweigert! + +(Morell.) Nicht? + +(Marchbanks.) Sie bot mir alles, worum ich bat: ihren Schal, ihre +Flügel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer Hand, den +aufgehenden Mond zu ihren Füßen. + +(Morell ihn anpackend:) Heraus mit der Wahrheit, Mensch! Meine Frau +ist meine Frau: ich habe genug von Ihrem poetischen Flitterkram,--ich +weiß ganz gut, daß kein Gesetz Candida an mich binden würde, wenn ich +ihre Liebe an Sie verloren hätte! + +(Marchbanks bizarr, ohne Furcht oder Widerstand:) Packen Sie mich nur +beim Kragen: sie wird ihn dann wieder in Ordnung bringen wie heute +morgen. (Mit stiller Begeisterung:) Ich werde wieder die Berührung +ihrer Hände fühlen. + +(Morell:) Sie junger Fant, fühlen Sie nicht, wie gefährlich es ist, +mir das zu sagen! Oder (mit plötzilicher Befürchtung:) hat Sie irgend +etwas kühn gemacht? + +(Marchbanks.) Ich fürchte mich jetzt nicht mehr! Ich habe Sie bisher +nie leiden mögen, deshalb bin ich bei Ihren Berührung zusammengezuckt. +Aber heute erkannte ich--als Candida Sie quälites--daß Sie sie lieben. +Seitdem bin ich Ihr Freund! Jetzt können sie mich erwürgen, wenn +Sie wollen! + +(Morell ihn loslassend:) Eugen, wenn das keine herzlose Lüge ist--wenn +Sie noch einen Funken menschlichen Fühlens haben--so werden Sie mir +sagen, was im meiner Abwesenheit vergefallen ist! + +(Marchbanks:) Was vorgefallen ist? Nun, das Flamenmenschwere... +(Morell stampft ungeduldig mit dem Fuße;),--also im ganz einfacher +Prosa: ich liebte sie so unendlich, daß ich nichts weiter wünschte als +das Glück, so lieben zu für ich und bevor ich--Zote fang vom höchsten +Grafen der Gefür herunterzutaumente--traten Sie ein. + +(Morell (scowen leidend:)) Leidenschaftlichem immer nicht erduldig-- +immer bleibt ihr noch die ehblines Zweifzig. + +(Marchbanks.) Quall und wünsche jetzt nichts mehr als Candidas +Glück. (Mit leidenschaftlichem Gefühl:) Oh, Morell, geben wir sie +beide auf! Warum soll sie wählen müssen zwischen einem elenden, +nervösen kleinen Kranken, wie ich es bin, und einem starrköpfigen +Pfarrer wie Sie? Gehen wir auf Pilgerschaft, Sie nach Osten und ich +nach Westen, auf der Suche nach einem würdigeren Liebhaber, einem +schönen Erzengel mit purpurnen Flügeln. + +(Morell.) Papperlapapp, dummes Zeug! Oh, wenn sie verrückt genug wäre, +mich Ihretwegen zu verlassen, wer sollte sie beschützen, wer sollte +ihr helfen, wer sollte für sie arbeiten, wer ihren Kindern ein Vater +sein! (Er setzt sich verstört auf das Sofa, seine Ellbogen auf die +Knie gestützt und den Kopf zwischen den geballten Fäusten.) + +(Marchbanks schnappt wild mit den Fingern:) Sie stellt nicht solche +törichte Fragen: sie braucht jemanden, den sie schützen und behüten, +für den sie arbeiten kann, jemanden, der ihr Kinder anvertraut, um sie +zu beschützen, ihnen zu helfen und für sie zu arbeiten, einen +erwachsenen Menschen, der wieder wie ein kleines Kind geworden ist. +Oh, Sie Narr, Sie Narr, Sie dreifacher Narr! Ich bin der Mann, Morell, +ich bin der Mann! (Er tanzt aufgeregt herum und schreit:) Sie +verstehen nicht, was eine Frau ist,--schicken Sie nach ihr, Morell, +schicken Sie nach ihr und lassen Sie sie wählen zwischen--(Die Tür +öffnet sich und Candida tritt ein; er hält wie versteinert inne.) + +(Candida erstaunt an der Schwelle:) Was um alles in der Welt machen +Sie da, Eugen? + +(Marchbanks drollig:) Ihr Mann und ich haben ein Wettpredigen +veranstaltet, und er verliert dabei. (Candida sieht rasch nach Morell, +und als sie bemerkt, daß er traurig ist, eilt sie hin zu ihm und +spricht sehr ärgerlich mit heftigem Vorwurf zu Marchbanks.) + +(Candida.) Sie haben ihn geärgert. Nein, das dulde ich nicht, Eugen, +hören Sie! (Sie legt ihre Hand auf Morells Schulter und vergißt in +ihrem Ärger ganz ihren weiblichen Takt:) Mein Liebling soll nicht +geärgert werden, ich werde ihn beschützen. + +(Morell sich stolz erhebend:) Beschützen? + +(Candida nicht auf ihn achtend, zu Eugen:) Was haben Sie ihm gesagt? + +(Marchbanks erschreckt:) Nichts. Ich-- + +(Candida.) Eugen, nichts? + +(Marchbanks jämmerlich:) Ich meine--ich--es tut mir sehr leid, ich +werde es nicht wieder tun, gewiß nicht, ich werde ihn in Ruhe lassen. + +(Morell empört mit einer angreifenden Bewegung gegen Eugen:) Mich in +Ruhe lassen! Sie junger-- + +(Candida ihm ins Wort fallend:) Sch, nicht doch! laß mich mit ihm +reden, Jakob. + +(Marchbanks.) Oh, Sie sind mir doch nicht böse? + +(Candida strenge:) O ja, ich bin--sehr böse. Ich hätte nicht übel +Lust, Sie aus dem Hause zu jagen. + +(Morell von Candidas Heftigkeit überrascht und durchaus nicht willens, +sich vor einem andern Mann durch sie retten zu lassen:) Sachte, +Candida, sachte. Ich kann mich schon selbst beschützen. + +(Candida ihn streichelnd:) Ja, Lieber, natürlich kannst du das. Aber +man darf dich nicht ärgern und quälen. + +(Marchbanks beinahe in Tränen, sich nach der Türe wendend:) Ich will +gehen. + +(Candida.) Oh, Sie brauchen nicht zu gehen, so spät kann ich Sie nicht +fortschicken. (Heftig:) Aber schämen Sie sich, schämen Sie sich! + +(Marchbanks verzweifelt:) Was habe ich denn getan? + +(Candida.) Ich weiß, was Sie getan haben, so genau, als ob ich die +ganze Zeit hier gewesen wäre.--Oh, es war unwürdig. Sie sind wie ein +kleines Kind, Sie können Ihren Mund nicht halten. + +(Marchbanks.) Ich würde lieber zehnfachen Tod erleiden, als Ihnen +einen Augenblick Kummer bereiten. + +(Candida mit größter Geringschätzung gegen diese Kinderei:) Ihr Tod +würde mir viel nützen! + +(Morell.) Liebste Candida, dieser Wortwechsel ist kaum am Platz. Es +handelt sich um eine Angelegenheit zwischen zwei Männern, und ich bin +dazu da, sie beizulegen. + +(Candida.) Zwei Männer? Nennst du das einen Mann? (Zu Eugen:) Sie +schlimmer junge, Sie! + +(Marchbanks wird wunderlich liebevoll und mutig, da er ausgezankt +wird:) Wenn ich mich auszanken lassen soll wie ein kleiner Junge, muß +ich mich auch wie ein kleiner Junge verteidigen dürfen. Er hat +angefangen und er ist größer als ich. + +(Candida verliert ein wenig ihre Sicherheit, da sie Morells Würde +bedroht sieht:) Das kann nicht wahr sein. (Zu Morell:) Du hast doch +nicht angefangen, Jakob, nicht wahr, nein? + +(Morell verachtungsvoll:) Nein. + +(Marchbanks entrüstet:) Oh! + +(Morell zu Eugen:) Sie haben angefangen,--heute früh. (Candida bringt +dies sofort in Zusammenhang mit der geheimnisvollen Bemerkung, die +Jakob nachmittag machte, als er ihr sagte, daß ihm Eugen am Morgen +etwas mitgeteilt habe. Sie sieht ihn mit raschem Verdachte forschend +an. Morell fährt fort mit dem Pathos der beleidigten Überlegenheit:) +Aber Ihre andere Bemerkung ist richtig. Ich bin gewiß der Größere von +uns beiden und, wie ich hoffe, Candida, auch der Stärkere! Es wäre +daher besser, du überließest die Sache mir. + +(Candida ihn wieder besänftigend:) Ja, Lieber--aber (verwirrt:) ich +verstehe das nicht wegen heute morgen. + +(Morell ein wenig auffahrend:) Das brauchst du auch nicht zu verstehen, +meine Liebe. + +(Candida.) Aber, Jakob, ich--(Die Hausglocke läutet:) Oh, wie dumm. +Da kommen sie alle! (Sie geht hinaus, sie einzulassen.) + +(Marchbanks läuft zu Morell:) Oh, Morell, ist das nicht schrecklich? +Sie ist böse auf uns, sie haßt mich,--was soll ich tun? + +(Morell in seltsamer Verzweiflung, sich in die Haare fahrend:) Eugen, +es dreht sich mir alles im Kopf, ich werde gleich zu lachen anfangen. +(Er geht in der Mitte des Zimmers auf und ab.) + +(Marchbanks folgt ihm ängstlich:) Nein, nein! Dann wird sie glauben, +ich hätte Sie hysterisch gemacht. Lachen Sie nicht! (Man hört +heftiges Stimmengewirr und Gelächter, das immer näher kommt. +Alexander Mill, dessen glänzende Augen und dessen ganzes Benehmen eine +ungewohnte angeregte Stimmung verraten, tritt mit Burgess ein, der +einen schmierigen und selbstgefälligen Eindruck macht, aber +vollständig Herr seiner Sinne ist. Fräulein Garnett folgt ihm mit +ihrem schönsten Hut und ihrer besten Jacke, aber obwohl ihre Augen +glänzender sind als früher, ist sie sichtlich in besorgter Stimmung. +Sie stellt sich mit dem Rücken gegen ihren Schreibmaschinentisch, mit +einer Hand sich darauf stützend, mit der anderen sich über die Stirne +fahrend, als ob sie etwas müde und schwindlig wäre. Marchbanks +verfällt wieder in Schüchternheit und schleicht weg in die Nähe des +Fensters, wo Morells Bücher sind.) + +(Mill begeistert:) Herr Pastor, ich *muß* Ihnen gratulieren, (seine +Hand fassend:)--was für eine edle, herrliche, von Gott eingehauchte +Ansprache Sie gehalten haben! Sie haben sich selbst übertroffen. + +(Burgess.) Ja, das haben Sie, Jakob. Ich bin bis zum letzten Worte +wach geblieben,--nicht wahr, Fräulein Garnett? + +(Proserpina ungeduldig:) Oh, ich habe Sie nicht beachtet, ich habe +mich bemüht, Notizen zu machen. (Sie nimmt ihre Notizen heraus, +blickt auf ihr Stenogramm und fängt beinahe zu weinen an.) + +(Morell.) Habe ich zu schnell gesprochen, Prossi? + +(Proserpina.) Viel zu schnell.--Sie wissen, ich kann nicht mehr als +neunzig Worte in der Minute schreiben. (Sie macht ihren Gefühlen Luft, +indem sie ihr Notizbuch ärgerlich neben die Maschine wirft, wo sie es +am nächsten Morgen bereit haben will.) + +(Morell besänftigend:) Nun, nun, das macht ja nichts. Habt ihr alle +schon zur Nacht gegessen? + +(Mill.) Herr Burgess war so liebenswürdig, uns in's Belgrave +Restaurant zu einem geradezu glänzenden Abendessen einzuladen. + +(Burgess mit überschwenglicher Großmut:) O bitte, bitte, Herr Mill. +(Bescheiden:) Sie waren mir bei meinem bescheidenen Feste herzlich +willkommen. + +(Proserpina.) Wir haben Champagner getrunken! Ich hatte noch niemals +welchen gekostet. Ich bin ganz schwindlig. + +(Morell überrascht:) Ein Champagnersouper! Das war sehr hübsch von +Ihnen. Ist meine Beredsamkeit schuld an dieser Verschwendung? + +(Mill mit Pathos:) Ihre Beredsamkeit und Herrn Burgess' Herzensgüte. +(Mit erneutem Gefühlsausbruch:) Was für ein herrlicher Mensch der +Vorsitzende war, Herr Morell; er hat auch mit uns gespeist. + +(Morell bedeutungsvoll Burgess anblickend:) So, so, der Vorsitzende! +--*jetzt* verstehe ich! (Burgess verbirgt hinter einem Hüsteln ein +Lächeln der Zufriedenheit über seine diplomatische Geschicklichkeit +und setzt sich an den Kamin. Mill verschränkt die Arme und lehnt sich +neben das Büchergestell in einer Stellung, die seine Begeisterung zum +Ausdruck bringt. Candida kommt mit Gläsern, Zitronen und heißem +Wasser auf einem Tablett herein.) + +(Candida.) Wer wünscht etwas Limonade? Sie kennen unsere Hausregel: +vollkommene Abstinenz! (Sie stellt das Tablett auf den Tisch, nimmt +den Zitronenpresser zur Hand und blickt fragend umher.) + +(Morell.) Du bemühst dich umsonst, meine Liebe, sie haben alle +Champagner getrunken, Prossi hat ihr Gelübde gebrochen. + +(Candida zu Proserpina:) Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie auch +Champagner getrunken haben? + +(Proserpina verstockt:) Ja, das hab' ich; ich bin nur eine Bier-, +keine Champagnerabstinenzlerin. Ich mag kein Bier.--Sind Briefe für +mich zur Beantwortung da, Herr Pastor? + +(Morell.) Nichts mehr für heute. + +(Proserpina.) Dann gute Nacht allerseits. + +(Mill galant:) Wäre es nicht geraten, daß ich Sie nach Hause begleite, +Fräulein Garnett? + +(Proserpina.) Nein, ich danke. Ich würde mich heute nacht niemandem +anvertrauen wollen! Hätte ich nur nichts von diesem Zeug getrunken! +Sie geht rasch hinaus. + +(Burgess empört:) Zeug! Dieses Mädel weiß nicht, was Champagner ist. +Pommery und Greno, zwölf Schilling sechs Pence die Flasche. Zwei +Gläser nacheinander hat sie geleert. + +(Morell etwas besorgt:) Gehen Sie, Lexi, und sehen Sie nach ihr! + +(Mill beunruhigt:) Aber wenn sie wirklich... bedenken Sie, wenn sie in +den Straßen zu singen anfängt oder dergleichen! + +(Morell.) Eben darum wäre es besser, Sie brächten sie sicher nach +Hause. + +(Candida.) Tun Sie es, Lexi, als guter Kamerad! (Sie reicht ihm die +Hand und schiebt ihn sanft nach der Tür.) + +(Mill.) Es ist selbstverständlich meine Pflicht, mit ihr zu gehen. +Ich hoffe aber, es wird nicht nötig gewesen sein. Gute Nacht, Frau +Morell. (Zu den übrigen:) Gute Nacht. (Er geht, Candida schließt die +Tür hinter ihm.) + +(Burgess.) Er war selbst ganz aus dem Häuschen in lauter Frömmigkeit +nach dem zweiten Glas. Heutzutage können die Leute nicht mehr trinken +wie früher. (Den Gegenstand fallen lassend, geht er vom Kamin fort.) +Nun, Jakob, es ist Zeit, das Haus zu schließen. Herr Marchbanks, +werden Sie mir auf dem Heimwege ein Stückchen das Vergnügen Ihrer +Gesellschaft schenken? + +(Marchbanks erschrocken:) Ja, es ist besser, ich gehe. (Er eilt nach +der Tür, aber Candida stellt sich ihm in den Weg.) + +(Candida mit ruhiger Würde:) Sie setzen sich noch, Sie werden noch +nicht gehen! + +(Marchbanks eingeschüchtert:) Nein,--ich--ich wollte ja auch nicht. +(Er kommt zurück in das Zimmer und setzt sich gehorsam auf das Sofa.) + +(Candida.) Herr Marchbanks bleibt heute nacht bei uns, Papa. + +(Burgess.) Na, dann sage ich gute Nacht. Auf Wiedersehn, Jakob. (Er +schüttelt Morell die Hand und geht hinüber zu Eugen.) Lassen Sie sich +ein Nachtlicht an Ihr Bett stellen, Herr Marchbanks, es wird Sie +beruhigen, falls Sie in der Nacht einen Anfall Ihres Leidens bekommen +sollten! Gute Nacht. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, es soll geschehn. Gute Nacht, Herr +Burgess. (Sie geben einander die Hände, Burgess geht zur Tür.) + +(Candida hält Morell zurück, der Burgess begleiten will:) Bleib' hier, +mein Lieber, ich werde Papa seinen Rock anziehen helfen. (Sie geht +mit Burgess hinaus.) + + +(Marchbanks.) Herr Pastor, es wird eine schreckliche Szene geben. +Haben Sie keine Angst? + +(Morell.) Nicht die geringste. + +(Marchbanks.) Ich habe Sie bisher nie um Ihren Mut beneidet. (Er +erhebt sich schüchtern und berührt mit seiner Hand flehend Morells +Unterarm:) Stehen Sie mir bei,--wollen Sie? + +(Morell schüttelt ihn sanft, aber entschieden ab:) Jeder für sich, +Eugen! Sie--muß nun zwischen uns wählen. (Er gebt beim Eintritt +Candidas auf die andere Seite des Zimmers, Eugen setzt sich mit seinem +besten Benehmen wie ein schuldbewußter Schulknabe auf das Sofa.) + +(Candida zwischen den beiden, sich zu Eugen wendend:) Tut es Ihnen +leid? + +(Marchbanks ernst:) Ja, unendlich. + +(Candida.) Gut, dann ist Ihnen verziehen. Nun gehen Sie wie ein +braver kleiner Junge zu Bett, ich möchte mit Jakob über Sie sprechen. + +(Marchbanks erhebt sich mit größter Bestürzung:) Oh, das kann ich +nicht.--Herr Pastor, ich muß hierbleiben. Ich will nicht fortgehen. +Sagen Sie es ihr! + +(Candida die ihren Verdacht bestätigt sieht:) Was soll er mir sagen? +(Seine Augen vermeiden die ihrigen, sie wendet sich um und überträgt +ihre Frage stumm auf Morell.) + +(Morell wappnet sich für die Katastrophe:) Ich habe ihr nichts zu +sagen, ausgenommen--(dabei sinkt seine Stimme zu maßvoller, trauriger +Zärtlichkeit herab:) daß sie mein größter Schatz auf Erden ist--wenn +sie mir wirklich gehört. + +(Candida kalt, verletzt, daß er seinem Rednerinstinkt nachgibt und sie +behandelt, als ob sie sich unter den Zuhörern der Gilde von St. +Matthäus befände:) Ich bin überzeugt, daß Eugen nicht weniger sagen +kann, wenn das alles ist. + +(Marchbanks entmutigt:) Morell, sie lacht uns aus. + +(Morell auffahrend:) Es gibt da nichts zu lachen. Lachst du uns aus, +Candida? + +(Candida mit stillem Ärger:) Eugen ist sehr witzig, ich hoffe, daß ich +lachen werde--aber vorläufig fürchte ich, mich ärgern zu müssen. (Sie +geht an den Kamin und bleibt dort stehen, ihren Arm auf dem Gesims und +ihren Fuß auf dem Gitter, während Eugen sich zu Morell hinstiehlt und +ihn beim Arm faßt.) + +(Marchbanks flüsternd:) Halten Sie ein, Herr Pastor; sagen wir nichts +mehr. + +(Morell stößt Eugen fort, ohne ihn eines Blickes zu würdigen:) Ich +hoffe, daß du mir nicht drohen willst, Candida. + +(Candida mit feierlicher Warnung:) Nimm dich in acht, Jakob!--Eugen, +ich habe gewünscht, daß Sie gehen sollen,--gehen Sie oder nicht? + +(Morell mit dem Fuße stampfend:) Er wird nicht gehen; ich wünsche, daß +er bleibt. + +(Marchbanks.) Ich will gehen. Ich tue, was Sie wollen. (Er wendet +sich zur Tür.) + +(Candida.) Bleiben Sie. (Er gehorcht.) Haben Sie nicht gehört, daß +Jakob wünscht, daß Sie bleiben sollen? Jakob ist hier der Herr, +wissen Sie das nicht? + +(Marchbanks errötend, mit der Wut eines jungen Dichters gegen Tyrannei:) +Was gibt ihm das Recht dazu? + +(Candida ruhig:) Sag es ihm, Jakob. + +(Morell bestürzt:) Meine Liebe, ich bin mir keines Rechtes bewußt, das +mich zum Herrn macht; ich bestehe auf keinem solchen Rechte. + +(Candida mit schwerem Vorwurf:) Du weißt es nicht? O Jakob, Jakob! +(Zu Eugen nachdenklich:) Ich wüßte gern, ob Sie das verstehen, Eugen... +Nein, Sie sind zu jung. Nun, ich erlaube Ihnen, zu bleiben und zu +lernen. (Sie geht von Kamin fort und stellt sich zwischen die beiden.) +Also, Jakob, was ist's? Komm und sag' es mir. + +(Marchbanks flüstert ihm ängstlich zu:) Sagen Sie ihr lieber nichts. + +(Candida.) Bitte!--Heraus damit! + +(Morell langsam:) Ich wollte dich sorgfältig vorbereiten, Candida, um +jedes Mißverständnis zu vermeiden. + +(Candida.) Ja, Lieber, das wolltest du gewiß; aber sei unbesorgt, ich +werde nichts mißverstehen. + +(Morell.) Nun denn, es--(Er zögert, unfähig, die lange Erklärung zu +finden, die er für nötig hält.) + +(Candida.) Nun? + +(Morell klipp und klar:) Eugen behauptet, daß du ihn liebst. + +(Marchbanks außer sich:) Nein, nein, nein, nein, niemals, das habe ich +nicht behauptet, Frau Morell, es ist nicht wahr! Ich sagte, daß ich +Sie liebe und er nicht. Ich sagte, daß ich Sie verstehe und daß er es +nicht kann. Und nicht infolgedessen, was sich hier am Kamin +zugetragen hat, habe ich das gesagt,--ganz gewiß nicht, auf mein Wort! +schon heute morgen hab' ich es ihm gesagt! + +(Candida erleuchtet:) Heute morgen?! + +(Marchbanks.) Ja! (Er siebt sie um Glauben bittend an und fügt dann +einfach hinzu:) Das war auch der Grund, warum mein Kragen in Unordnung +geriet. + +(Candida nach einer Pause, weil sie nicht gleich begreift, was er +meint:) Ihr Kragen! (Sie wendet sich erschrocken zu Morell, verletzt:) +O Jakob, hast du ihn--? (Sie hält inne.) + +(Morell beschämt:) Du weißt, Candida, daß ich mit meinem Temperament +zu kämpfen habe, und er sagte, (schauernd:) daß du mich verachtest in +deinem Herzen. + +(Candida wendet sich rasch zu Eugen:) Haben Sie das gesagt? + +(Marchbanks geängstigt:) Nein! + +(Candida strenge:) Dann hat mich also Jakob eben angelogen. Wollen +Sie das behaupten? + +(Marchbanks.) Nein, nein: ich--ich... (herausplatzend mit der +verzweifelten Erklärung:)--es war die Rede von Davids Frau, nicht bei +ihm zu Hause, sondern als sie ihn tanzen sah vor allen Leuten. + +(Morell nimmt diesen Fingerzeig mit der Geschicklichkeit eines +Wortkämpfers auf:) Ja, als er vor dem ganzen Volke tanzte, Candida, in +der Meinung, daß er ihre Herzen dadurch rührte, während sie nur an +Prossis Leiden litten. (Sie ist im Begriff zu protestieren, er winkt +ihr mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und fährt fort:) +Tue nicht als ob du entrüstet wärest, Candida. + +(Candida.) Tun als ob?! + +(Morell fortfahrend:) Eugen hatte recht! Wie du mir einige Stunden +später klarmachtest, hat er immer recht. Er sagte nichts, was du +nicht viel besser selbst gesagt hättest. Er ist der Dichter, der +alles sieht; und ich bin der arme Pastor, der nichts versteht. + +(Candida reuevoll:) Ärgert dich, was ein närrischer junge gesagt hat, +weil ich im Scherz etwas Ähnliches sagte? + +(Morell.) Der närrische Junge kann mit der Begeisterung eines Kindes +und mit der Verschlagenheit einer Schlange sprechen. Er hat behauptet, +daß du ihm gehörst und nicht mir, und, ob mit Recht oder Unrecht, ich +beginne zu fürchten, daß es wahr sein könnte. Ich will nicht +umhergehen von Zweifeln und Verdächtigungen gequält. Ich will nicht +mit dir leben und ein Geheimnis vor dir haben. Ich will nicht die +entwürdigende Qual der Eifersucht erdulden. Deshalb haben wir +beschlossen--er und ich--daß du jetzt zwischen uns wählen sollst! Ich +erwarte deine Entscheidung. + +(Candida weicht langsam einen Schritt zurück, verletzt über sein +Pathos, trotz des aufrichtigen Gefühls, das sie heraushört:) Oh, ich +muß also wählen? Ich nehme an, daß eines vollkommen feststeht: daß +ich einem o d e r dem andern gehören muß. + +(Morell entschlossen:) Vollkommen; du mußt endgültig wählen. + +(Marchbanks ängstlich:) Herr Pastor,--Sie verstehen nicht: sie meint, +daß sie sich selbst gehört. + +(Candida sich zu ihm wendend:) ja, das meine ich, Junker Eugen, und +noch sehr viel mehr, wie Ihr beide sofort herausfinden werdet. Und +ich frage, meine Herren und Gebieter, was habt Ihr für meine Wahl zu +geben? Es scheint, daß ich versteigert werden soll. Wieviel bietest +du, Jakob? + +(Modell vorwurfsvoll:) Cand.... (Er bricht zusammen, seine Augen +füllen sich mit Tränen, und seine Kehle schnürt sich zu, der Redner +wird zu einem verwundeten Tier.) Ich kann nicht sprechen. + +(Candida geht impulsiv zu ihm hin:) O Liebster! + +(Marchbanks in wildem Aufruhr:) Halten Sie ein, das ist nicht gerecht. +Sie dürfen ihr nicht zeigen, daß Sie leiden, Morell.--Ich bin auch +auf der Folter, aber ich weine nicht. + +(Morell nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Ja, Sie haben recht. Es +ist nicht Mitleid, worum ich bitte. (Er befreit sich von Candida.) + +(Candida zieht sich frostig zurück:) Entschuldige, Jakob, ich hatte +nicht die Absicht, dich zu berühren. Ich warte auf dein Angebot. + +(Morell mit stolzer Demut:) Ich habe dir nichts zu bieten als meine +Kraft zu deinem Schutze, mein ehrliches Wollen für deine Ruhe, meine +Tüchtigkeit und Arbeit für deinen Unterhalt und mein Ansehen und meine +Stellung für deine Würde. Das ist alles, was einem Manne ansteht, +einer Frau zu bieten. + +(Candida ganz ruhig:) Und Sie, Eugen, was bieten Sie? + +(Marchbanks.) Meine Schwäche! meine Trostlosigkeit! meine Herzensnot! + +(Candida gerührt:) Das ist ein gutes Angebot, Eugen; nun weiß ich, wie +ich meine Wahl zu treffen habe. (Sie hält inne und blickt seltsam von +einem zum andern, als ob sie beide abschätzte. Morell, dessen +hochtmütiges Zutrauen sich in herzzerreißende Angst bei Eugens Gebot +verwandelt hat, verliert alle Beherrschung, und kann seine Angst nicht +verbergen. Eugen dagegen, mit äußerst angespannter Kraft, zuckt mit +keiner Wimper.) + +(Morell mit halb erstickter Stimme--ein Hilferuf entringt sich den +Tiefen seiner Verzweiflung:) Candida! + +(Marchbanks beiseite mit einem Aufwallen der Verachtung:) Feigling! + +(Candida bedeutsam:) Ich gebe mich dem Schwächeren von beiden. (Eugen +errät ihre Meinung sofort; sein Gesicht wird weiß wie scbmelzender +Stahl.) + +(Morell neigt seinen Kopf mit der Ruhe der Gebrochenheit:) Ich nehme +deine Entscheidung an, Candida. + +(Candida.) Verstehen Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Oh, ich fühle, ich bin verloren. Er könnte die Last +nicht ertragen! + +(Morell ungläubig, hebt seinen Kopf empor, mit prosaischer Stumpfheit:) +Meinst du mich, Candida? + +(Candida lächelt ein wenig:) Setzen wir uns und plaudern wir gemütlich +darüber wie drei Freunde. (Zu Morell:) Setze dich, mein Lieber. +(Morell nimmt den Stuhl vom Kamin--den Kindersessel.) Bringen Sie mir +diesen Stuhl, Eugen. (Sie weist auf den Lehnstuhl, er holt ihn +schweigend, sogar mit etwas wie kühler Beherrschung und setzt ihn +neben Morell, etwas hinter ihn. Sie setzt sich, er geht an das Sofa +und läßt sich dort nieder, noch immer schweigsam und unergründlich. +Als sie alle sitzen, beginnt Candida,--einen Hauch von Ruhe um sich +breitend, mit ihrer sanften, gesunden, zärtlichen Stimme:) Sie +erinnern sich doch, was Sie mir über sich selbst erzählten, Eugen: wie +sich niemand um Sie gekümmert hat, seit Ihre alte Amme starb. Wie +Ihre gescheiten, vornehmen Schwestern und erfolgreichen Brüder die +Lieblinge Ihrer Eltern waren, wie elend es Ihnen in Eton erging, wie +Ihr Vater Sie durch Entbehrungen zwingen will, nach Oxford +zurückzukehren, wie Sie leben mußten ohne Behaglichkeit oder +Willkommen, ohne Zufluchtsstätte, immer einsam und fast immer ungern +gesehen und mißverstanden! Sie armer Junge! + +(Marchbanks der Größe seines Schicksals würdig:) Ich hatte meine +Bücher. Ich hatte die Natur. Und endlich bin ich Ihnen begegnet. + +(Candida.) Lassen wir das im Augenblick beiseite. Nun möchte ich, daß +Sie sich diesen andern Jungen hier betrachten,--meinen verwöhnten +Jungen,--verwöhnt von seiner Wiege an. Einmal alle vierzehn Tage +besuchen wir seine Eltern. Da sollten Sie mit uns kommen, Eugen, und +die Bilder des Helden dieser Familie sehen. Jakob als Baby, das +wundervollste aller Babys! Jakob, als er seinen ersten Schulpreis +erhielt, gewonnen im reifen Alter von acht Jahren! Jakob als der +Führer seiner Mitschüler beim Cricketspiel! Jakob in seinem ersten +schwarzen Anzug! Jakob in allen möglichen ruhmvollen Posen. Sie +wissen, wie stark er ist--ich hoffe, er hat Ihnen nicht weh getan--wie +gescheit er ist--wie glücklich! (Mit wachsendem Ernst:) Fragen Sie +Jakobs Mutter und seine drei Schwestern, was es sie gekostet hat, +Jakob die Mühe zu ersparen, irgend etwas zu tun, als stark, gescheit +und glücklich zu sein. Fragen Sie mich, was es mich kostet, Jakobs +Mutter und seine drei Schwestern und seine Frau und Mutter seiner +Kinder--alles in einer Person--zu sein! Fragen Sie Prossi und Marie, +wieviel Arbeit das Haus gibt, selbst wenn wir keine Besucher haben, +die uns helfen Zwiebeln schneiden. Fragen Sie die Geschäftsleute, die +Jakob stören und seine prachtvollen Predigten gefährden wollen, wer es +ist, der sie abschüttelt! Wenn Geld zu geben ist, so gibt er es; wenn +Geld zu verweigern ist, so verweigere ich es. Ich habe ihm ein Schloß +von Behaglichkeit, Nachsicht und Liebe erbaut und stehe immer +Schildwache davor, um all den täglichen kleinen Lebenssorgen den +Eintritt zu verwehren. Ich mache ihn hier zum Herrn, obwohl er es +nicht weiß und Ihnen vor einem Augenblicke nicht sagen konnte, wie er +dazu gekommen ist, es zu sein. (Mit süßer Ironie:) Und als er dachte, +ich könnte mit Ihnen fortgehen, da war seine einzige Sorge, was aus +mir werden würde; und um mich zum Bleiben zu bewegen, bot er mir-- +(sie neigt sich vor und streicht ihm bei jedem Satze über das Haar) +seine Kraft zu meinem Schutze, seine Arbeit für meinen Unterhalt, +seine Stellung für meine Würde, seine (zögernd:) ah, ich +verwechsle deine wunderschönen Sätze und verderbe sie, nicht +wahr, Liebling? + +(Morell kniet ganz überwältigt neben ihren Stuhl und umschlingt sie +mit knabenhafter Leidenschaft:) Alles ist wahr, jedes Wort. Was ich +bin, hast du aus mir gemacht, durch die Arbeit deiner Hände und die +Liebe deines Herzens. Du bist mein Weib, meine Mutter, meine +Schwester,--du bist die Summe aller Liebessorgen für mich. + +(Candida in seinen Armen, lächelnd zu Marchbanks:) Bin ich Ihnen auch +Mutter und Schwester, Eugen? + +(Marchbanks erhebt sich mit einer heftigen Bewegung des Ekels:) Oh, +niemals! Hinaus denn in die Nacht mit mir! + +(Candida erhebt sich rasch und unterbricht ihn:) sie werden nicht so +von uns gehn, Eugen! + +(Marchbanks mit dem Tonfall eines entschlossenen Mannes, nicht mit der +Stimme eines Knaben:) Ich weiß, wann die Stunde geschlagen hat. Ich +bin ungeduldig zu tun, was getan werden muß. + +(Morell erhebt sich von seinen Knien, beunruhigt:) Candida, laß ihn +nichts Übereiltes begehen! + +(Candida lächelt Eugen vertrauensvoll an:) Oh, sei unbesorgt, er hat +gelernt, ohne Glück zu leben. + +(Marchbanks.) Ich ersehne nicht mehr Glück; das Leben kann Höheres +bieten. Pastor Jakob, ich gebe Ihnen mein Glück mit beiden Händen hin; +ich liebe Sie, weil Sie das Herz der Frau, ganz ausgefüllt haben, die +ich liebte. Leben Sie wohl! (Er geht zur Tür.) + +(Candida.) Ein letztes Wort. (Er hält inne, aber ohne sich nach ihr +umzuwenden.) Wie alt sind Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Jetzt bin ich so alt wie die Welt. Heute morgen war ich +achtzehn Jahre! + +(Candida geht zu ihm hin und steht hinter ihm, eine Hand liebkosend +auf seiner Schulter:) Achtzehn... Wollen Sie mir zuliebe ein kleines +Gedicht aus zwei Zeilen machen, die ich Ihnen sagen will? Und wollen +Sie mir versprechen, sich's immer vorzusagen, so oft Sie an mich +denken. + +(Marchbanks ohne sich zu rühren:) Sagen Sie die beiden Zeilen. + +(Candida.) Wenn ich dreißig sein werde, dann wird sie fünfundvierzig +sein; wenn ich sechzig sein werde, dann wird sie fünfundsiebzig sein. + +(Marchbanks wendet sich nach ihr um:) In hundert Jahren werden wir +gleich alt sein! Aber ich trage ein besseres Geheimnis als das in +meinem Herzen! Lassen Sie mich jetzt gehen, die Nacht wächst draußen +ungeduldig. + +(Candida.) Leben Sie wohl! (Sie nimmt sein Gesicht in die Hände, und +da er ihre Absicht errät und sein Knie beugt, küßt sie ihn auf die +Stirne, dann flieht er hinaus in die Nacht.--Sie wendet sich zu Morell, +mit ausgebreiteten Armen:) O Jakob! (Sie umarmen einander. Aber das +Geheimnis in des Dichters Herzen, das kennen sie nicht.) + +(Vorhang) + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes CANDIDA, von George Bernard Shaw. + + + + + + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Candida, by George Bernard Shaw + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK CANDIDA *** + +***** This file should be named 9491-8.txt or 9491-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/9/4/9/9491/ + +Produced by Michalina Makowska +Updated editions will replace the previous one--the old editions will +be renamed. + +Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright +law means that no one owns a United States copyright in these works, +so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United +States without permission and without paying copyright +royalties. 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Anyone seeking to utilize +this eBook outside of the United States should confirm copyright +status under the laws that apply to them. diff --git a/README.md b/README.md new file mode 100644 index 0000000..6ac309f --- /dev/null +++ b/README.md @@ -0,0 +1,2 @@ +Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for +eBook #9491 (https://www.gutenberg.org/ebooks/9491) diff --git a/old/7cndg10.txt b/old/7cndg10.txt new file mode 100644 index 0000000..dcbef8f --- /dev/null +++ b/old/7cndg10.txt @@ -0,0 +1,3710 @@ +The Project Gutenberg EBook of Candida, by George Bernard Shaw + +Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the +copyright laws for your country before downloading or redistributing +this or any other Project Gutenberg eBook. + +This header should be the first thing seen when viewing this Project +Gutenberg file. Please do not remove it. 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In +diesem ausgedehnten Bezirk sind die Seitengaesschen viel weniger schmal, +schmutzig, uebelriechend und stickig als in dem viele Meilen +entfernten London von Mayfair und St. James. Hier spielt sich +besonders das unelegante Leben der Mittelklassen ab. Die breiten, +dichtbevoelkerten Strassen sind mit haesslichen eisernen +Beduerfnisanstalten, radikalen Klubs und Trambahnlinien, auf denen +Ketten von gelben Wagen endlos einziehen, reichlich versehn. Doch +sind die Hauptverkehrsadern mit grasbewachsenen Vorgaertchen verziert, +von denen man nur den kleinen Streifen betritt, der vom Pfoertchen zur +Haustuer fuehrt. Jene Strassen werden durch die stumm geduldete +Eintoenigkeit sich meilenweit erstreckender haesslicher Ziegelbauten, +schwarzer Eisengitter, Steinpflaster und Schieferdaecher arg entstellt. +Anstaendig aber unmodern oder gemein und aermlicb gekleidete Leute, die +an dieses Viertel gewoehnt sind und sich zumeist in aufreibender Weise +fuer andere plagen muessen, ohne sich fuer ihre Arbeit zu interessieren, +bilden ihre Bewohner. Das bisschen ihnen gebliebene Energie und Eifer +gipfelt in der Habgier des Londoner Cockneys und in der Begierde, ihr +Geschaeft vorwaerts zu bringen. Selbst die Schutzleute und die Kapellen +sind nicht selten genug, die Eintoenigkeit zu unterbrechen. Die Sonne +scheint klar, es ist nicht neblig, und obgleich der Rauch sowohl die +Gesichter und Haende als auch die Mauern aus Ziegelstein und Moertel +verhindert, frisch und rein zu sein, so ist er doch nicht schwarz und +schwer genug, um einen Londoner zu belaestigen.) + +(Diese reizlose Wueste hat ihre Oase. Am aeussersten Ende der +Hackneystrasse ist ein durch ein hoelzernes Pfahlwerk abgeschlossener +Park von 270 Morgen angelegt. Er enthaelt Rasenplaetze, Baeume, einen +Teich zum Baden, Blumenbeete, die Triumphe der vielbewunderten +Cockney-Kunst der Teppichgaertnerei sind, und eine Sandgrube, die +urspruenglich zur Belustigung der Kinder vom Meeresufer importiert, +aber schleunigst verlassen wurde, als sie sich in eine natuerliche +Ungezieferbrutstaette fuer die ganz kleine Fauna von Kingsland, Hackney +und Hoxton verwandelte. Ein Orchester, ein kleines Forum fuer +religioese, antireligioese und politische Redner, Cricketplaetze, +ein Turnplatz und ein altmodischer Steinkiosk bilden die +Hauptanziehungspunkte. Wo die Aussicht von Baeumen oder gruenen Anhoehen +begrenzt wird, ist es ein huebscher Aufenthaltsort. Wo sich aber der +Boden flach bis zu dem grauen Lattenzaun hinzieht und man Ziegel und +Moertel, Reklameschilder, zusammengedraengte Schornsteine und Rauch +gewahrt muss die Gegend (im Jahre 1894), trostlos und haesslich genannt +werden.) + +(Die beste Aussicht auf den Viktoriapark gewinnt man von den +Frontfenstern der St. Dominikpfarre; von dort sieht man auf keinerlei +Mauerwerk. Das Pfarrhaus steht halb frei, mit einem Vorgarten und +einer Vorhalle. Besucher benuetzen die Stufen, die auf die Veranda +fuehren, Geschaeftsleute und Familienmitglieder geben durch eine Tuer +unterhalb der Treppe in das Erdgeschoss, wo ein Fruehstueckszimmer nach +vorne liegt, das zu allen Mahlzeiten dient; die Kueche liegt hinten. +Oben, auf einem Niveau mit der Flurtuer, befindet sich das +Empfangszimmer mit seinem breiten Fenster aus geschliffenem Glas, das +auf den Park hinausfuehrt.) + +(Hier, in dem einzigen Raume, der von den Familienmahlzeiten und den +Kindern verschont bleibt, vollbringt der Pfarrer, Reverend Jakob Mavor +Morell, sein Tagewerk. Er sitzt in einem starken drehbaren Stuhl mit +runder Lehne am Ende eines langen Tisches, der dem Fenster +gegenuebersteht, so dass er sich durch einen Blick ueber die linke +Schulter an der Aussicht auf den Park erfreuen kann. Am Ende des +Tisches, an diesen anstossend, befindet sich ein zweiter Tisch, der nur +halb so breit ist und eine Schreibmaschine traegt.--Seine Schreiberin +sitzt davor mit dem Ruecken gegen das Fenster. Der grosse Tisch ist +unordentlich mit Zeitungen, Broschueren, Briefen, Schubladeeinsaetzen, +einem Notizheft, einer Briefwage und aehnlichen Dingen bedeckt. In der +Mitte steht ein uebriger Stuhl fuer die Besucher, die mit dem Pfarrer +geschaeftlich zu tun haben. Seiner Hand erreichbar steht eine +Papierkassette und eine Photographie in einem Rahmen. Die Wand hinter +ihm ist mit Buecherregalen zugestellt. Die theologische Richtung des +Pfarrers kann ein Sachverstaendiger an: Maurices "Theologischen Essays" +und einer vollstaendigen Ausgabe der Browningschen Gedichte erkennen, +seine politischen Reformideen an einem gelbrueckigen Band "Fortschritt +und Armut", den "Essays der Fabier", dem "Traum John Bulls" von +William Morris, dem "Kapital" von Marx und einem halben Dutzend +anderer grundlegender sozialistischer Buecher. Dem Pfarrer gegenueber, +auf der andern Seite des Zimmers in der Naehe der Schreibmaschine, ist +die Tuer. Weiter hinten, dem Kamin gegenueber, steht ein Buecherbrett +auf einem Spind, daneben ein Sofa. Ein starkes Feuer brennt im Kamin +und davor steht ein bequemer Lehnstuhl, ferner ein schwarz lackierter, +blumenbemalter Kohleneimer auf der einen Seite und ein Kindersessel +fuer einen Knaben oder ein Maedchen auf der anderen. Der hoelzerne +Kaminsims ist lackiert, und in den kleinen Feldern der nett geformten +Faecher sind winzige Spiegelglaeser eingelegt, und eine Reiseuhr in +einem Lederetui (das unvermeidliche Hochzeitsgeschenk) steht darauf. +An der Wand darueber haengt eine grosse Autotypie der Hauptfigur aus +Tizians Assunta. So sieht der Kamin sehr einladend aus. Im ganzen +gesehen ist es das Zimmer einer guten Hausfrau, die, was des Pastors +Arbeitstisch betrifft, an etwas Unordnung gewoehnt ist, aber trotzdem +die Situation vollkommen beherrscht. Die Einrichtung verraet in ihrem +ornamentalen Aussehen den Stil der in den Zeitungen annoncierten +"Saloneinrichtung" des unternehmenden Vorstadtmoebelhaendlers; aber es +ist nichts Zweckloses oder Aufdringliches in dem Zimmer. Die Tapeten +und die Taefelung sind dunkel und lassen das grosse helle Fenster und +den Park draussen kraeftig hervortreten.) + +(Hochwuerden Jakob Mavor Morell ist ein christlich-sozialer Geistlicher +der anglikanischen Kirche und ein aktives Mitglied der Gilde von +"Sankt Matthaeus" und der "Christlich Socialen Union". Ein starker, +freundlicher, allgemein geachteter Mann von vierzig fahren, kraeftig +und huebsch, voll Energie und mit liebenswuerdigen, herzlichen, +ruecksichtsvollen Manieren, mit einer gesunden, natuerlichen Stimme, die +er mit der wirkungsvollen Betonung eines geuebten Redners benutzt. Er +verfuegt ueber einen grossen Wortschatz, den er vollkommen beherrscht. +Er ist ein vorzueglicher Geistlicher, faehig, was er will zu wem er will +zu sagen und die Leute abzukanzeln, ohne sich ueber sie zu aergern, +ihnen seine Autoritaet aufzudraengen, ohne sie zu demuetigen und, wenn es +sein muss, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen, ohne dabei zu +verletzen. Die Quelle seiner Begeisterung und seines Mitgefuehls +versiegt niemals auch nur fuer einen Augenblick; er isst und schlaeft +noch immer ausgiebig genug, um die taegliche Schlacht zwischen +Erschoepfung und Erholung glaenzend zu gewinnen. Dabei ist er ein +grosses Kind, verzeihlicherweise eitel auf seine Faehigkeiten und +unbewust selbstgefaellig. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, eine +schoene Stirn mit etwas plumpen Augenbrauen, glaenzende und lebhafte +Augen, einen energischen Mund, der nicht besonders schoen geschnitten +ist, und eine kraeftige Nase mit den beweglichen, sich blaehenden +Nasenfluegeln des dramatischen Redners, die aber wie alle seine Zuege +der Feinheit entbehrt.) + +(Die Maschinenschreiberin, Fraeulein Proserpina Garnett, ist eine flinke +kleine Person von ungefaehr dreissig Jahren, sie gehoert der unteren +Mittelklasse an, ist nett, aber billig mit einem schwarzen Wollrock +und einer Bluse bekleidet, ziemlich vorlaut und naseweis und nicht +sehr hoeflich in ihrem Benehmen, aber empfindungsfaehig und +teilnahmsvoll. Sie klappert emsig auf ihrer Maschine drauf los, +waehrend Morell den letzten Brief seiner Morgenpost oeffnet. Er +durchfliegt seinen Inhalt mit einem komischen Stoehnen der Verzweiflung.) + +(Proserpina.) Wieder ein Vortrag? + +(Morell.) Ja. Ich soll naechsten Sonntagvormittag fuer die +Freiheitsgruppe von Hoxton sprechen. (Er betont mit grosser +Wichtigkeit "Sonntag", weil das der unvernuenftige Teil des Verlangens +ist.) Was sind das fuer Leute? + +(Proserpina.) Ich glaube, kommunistische Anarchisten. + +(Morell.) Es sieht den Anarchisten aehnlich, nicht zu wissen, dass sie +am Sonntag keinen Pastor haben koennen. Schreiben Sie ihnen, sie +sollen in die Kirche kommen, wenn sie mich hoeren wollen, das kann +ihnen nicht schaden! Und fuegen Sie hinzu, dass ich nur Montags und +Donnerstags frei bin. Haben Sie das Vormerkbuch da? + +(Proserpina hebt das Vormerkbuch auf:) Ja! + +(Morell.) Ist irgendeine Vorlesung fuer naechsten Montag angesetzt? + +(Proserpina im Vormerkbuch nachschlagend:) Der radikale Klub von Tower +Hamlet. + +(Morell) Nun, und Donnerstag? + +(Proserpina.) Die englische Bodenreform-Liga. + +(Morell.) Was dann? + +(Proserpina.) In der Gilde von Sankt Matthaeus am Montag. In der +unabhaengigen Arbeitervereinigung, Abteilung Greenwich, am Donnerstag; +am Montag darauf in der soziademokratischen Foederation, Abteilung Mile +End; am folgenden Donnerstag ist die erste Konfirmationsklasse. +(Ungeduldig:) Ach, ich will lieber schreiben, dass Sie ueberhaupt nicht +kommen koennen; es sind doch nur ein halbes Dutzend unwissende und +eingebildete Hausierer, die miteinander keine fuenf Schilling haben. + +(Morell belustigt:) Ah, aber bedenken Sie, es sind nahe Verwandte von +mir, Fraeulein Garnett. + +(Proserpina ihn anstarrend:) Verwandte von Ihnen? + +(Morell.) Ja! Wir haben denselben Vater--im Himmel. + +(Proserpina erleichtert:) Oh, weiter nichts? + +(Morell mit einer Melancholie, die einem Manne Genuss ist, dessen +Stimme sie schon so schoen auszudruecken vermag:) Ah, Sie glauben das +auch nicht,--jedermann sagt es, niemand glaubt es, niemand! (Schnell +zu seinem Gegenstande zurueckkehrend:) Gut, gut! Na, Fraeulein +Proserpina, koennen Sie keinen Tag fuer die Hausierer finden, wie ist's +mit dem fuenfundzwanzigsten,--der war noch vorgestern frei. + +(Proserpina aus dem Vormerkbuch:) Auch vergeben--an die Fabier. + +(Morell.) Hol' der Geier die Fabier! Ist der achtundzwanzigste +gleichfalls vergeben? + +(Proserpina.) Bankett in der City. Sie sind von den Huettenbesitzern +zum Speisen eingeladen. + +(Morell.) Das geht, ich werde eben statt dessen nach Hoxton gehen. +(Sie traegt diese Verpflichtung schweigend ein, mit unerschuetterlicher +Verachtung gegen diese Hoxtoner Anarchisten, die sich in jeder Linie +ihres Gesichtes spiegelt. Morell reisst das Streifband eines Exemplars +des "Church Reformer" ab, das mit der Post angekommen ist, und +ueberfliegt den Leitartikel Stewart Hedlams und die Mitteilungen der +Gilde von Sankt Matthaeus. Diese Vorgaenge werden alsbald durch das +Erscheinen des Unterpfarrers Morells, Alexander Mill, unterbrochen. +Er ist ein junger Mensch, den Morell von der naechsten Missionstelle +der Universitaet bezogen hat, wohin er von Oxford gekommen war, um dem +East-End von London die Wohltat seiner akademischen Bildung angedeihen +zu lassen. Er ist ein eingebildeter, gutgesinnter, unreifer Mann, von +enthusiastischer Natur. Nichts absolut Unausstehliches ist in seinem +Wesen ausser der Gewohnheit, um eine gezierte Sprache zu erzielen, mit +sorgsam geschlossenen Lippen zu reden und eine Menge Vokale schlecht +auszusprechen, als ob dies das Hauptmittel waere, die Bildung Oxfords +unter den Poebel Hackneys zu tragen.) + +(Morell, den er durch eine huendische Unterwuerfigkeit fuer sich gewann, +blickt nachsichtig von seiner Lektuere im "Church Reformer" auf und +bemerkt:) Nun, Lexi, wieder verschlafen, wie gewoehnlich? + +(Mill.) Leider ja. Ich wollte, ich koennte des Morgens leichter +aufstehen. + +(Morell freut sich der eigenen Energie:) Ha, ha! (launig:) "Wache und +bete", Lexi, "wache und bete". + +(Mill.) Ich weiss. (Er benuetzt diese Gelegenheit sofort, um einen Witz +zu machen.) Aber wie kann ich wachen und beten, wenn ich schlafe; +--hab' ich nicht recht, Fraeulein Prossi? + +(Proserpina scharf:) Fraeulein Garnett, wenn ich bitten darf. + +(Mill.) Entschuldigen Sie, Fraeulein Garnett. + +(Proserpina.) Sie muessen heute alle Arbeit allein erledigen. (Mill.) +Warum? + +(Proserpina.) Fragen Sie nicht, warum. Es wird Ihnen wohl bekommen, +Ihr Abendbrot einmal zu verdienen, bevor Sie es essen, wie ich es +taeglich tue. Los, troedeln Sie nicht. Sie sollten schon seit einer +halben Stunde unterwegs sein. + +(Mill starr:) Spricht sie im Ernst, Herr Pastor? + +(Morell in bester Laune--seine Augen glaenzen:) Ja. Heute werd' ich +einmal bummeln. + +(Mill.) Sie? Sie wissen ja nicht, wie man das macht. + +(Morell herzlich:) Ha, ha! Weissichdasnicht? Diesen Tag will ich ganz +fuer mich haben, oder doch wenigstens den Vormittag! Meine Frau kommt +naemlich zurueck, um elf Uhr fuenfundvierzig soll sie hier eintreffen. + +(Mill erstaunt:) Schon zurueck--mit den Kindern? Ich dachte, sie +wollte bis Ende des Monats fortbleiben. + +(Morell.) So ist es. Sie kommt nur fuer zwei Tage her, um fuer Jimmy +etwas Flanellwaesche einzukaufen und um zu sehen, wie wir hier ohne sie +fertig werden. + +(Mill aengstlich:) Aber lieber Herr Morell, wenn das, was Jimmy und +Flussy gefehlt hat, wirklich Scharlach war, halten Sie es fuer klug?-- + +(Morell.) Unsinn, Scharlach! Masern waren es, ich habe sie selbst von +der Pycroftstrasse aus der Schule nach Hause gebracht; ein Pastor ist +wie ein Arzt, mein Lieber, er muss der Ansteckung ins Auge sehen koennen +wie ein Soldat den Kugeln. (Er erbebt sich und schlaegt Mill auf die +Schultern.) Trachten Sie, Masern zu bekommen, wenn Sie koennen; Candida +wird Sie dann pflegen, und was fuer ein Gluecksfall waere das fuer Sie, +--was? + +(Mill unsicher laechelnd:) Es ist schwer, Sie zu verstehen, wenn Sie +ueber Frau Morell sprechen.-- + +(Morell weich:) Mein lieber Junge, seien Sie erst verheiratet! +Verheiratet mit einer guten Frau, und dann werden Sie mich verstehen. +Es ist ein Vorgeschmack von dem Besten, was uns in dem himmlischen +Reich erwartet, das wir uns auf Erden zu gruenden versuchen. Dann +werden Sie sich schon das Bummeln abgewoehnen! Ein braver Mann fuehlt, +dass er dem Himmel fuer jede Stunde des Gluecks ein hartes Stueck +selbstloser Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen schuldig ist. Wir +haben ebensowenig das Recht, Glueck zu verbrauchen, ohne es zu erzeugen, +als Reichtum zu verbrauchen, ohne ihn zu erwerben. Suchen Sie sich +eine Frau wie meine Candida, und Sie werden immer Schuldner sein, +wieviel Sie auch abzahlen. (Er klopft Mill liebevoll auf den Ruecken +und ist im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als Mill ihn zurueckruft.) + +(Mill.) Oh, warten Sie einen Augenblick, ich vergass... (Morell bleibt +stehen und wendet sich um, die Tuerklinke in der Hand.) Ihr Herr +Schwiegervater wird hierherkommen, er hat mit Ihnen zu sprechen. +(Morell schliesst die Tuer wieder, mit vollkommen veraendertem Wesen.) + +(Morell ueberrascht und nicht erfreut:) Burgess? + +(Mill.) Ja! Ich traf ihn mit jemandem im Park, in eifrigem Gespraech. +Er sprach mich an und bat mich, Sie wissen zu lassen, dass er +hierherkommt. + +(Moroll halb unglaeubig:) Aber er ist seit Jahren nicht hier gewesen. +Sind Sie sicher, Lexi? Sie scherzen doch nicht etwa?-- + +(Mill ernst:) Nein, Herr Pastor, ganz bestimmt nicht! + +(Morell nachdenklich:) Hm, hm, er haelt es an der Zeit, sich wieder +einmal nach Candida umzusehen, ehe sie gaenzlich aus seinem Gedaechtnis +verschwindet. (Er fuegt sich in das Unvermeidliche und geht hinaus; +Mill sieht ihm mit begeisterter, naerrischer Verehrung nach. Fraeulein +Garnett, die Mill nicht schuetteln kann, wie sie moechte, laesst ihre +Gefuehle an der Schreibmaschine aus.) + +(Mill.) Was fuer ein vortrefflicher Mann, welch ein tiefes liebevolles +Gemuet! (Er nimmt Morells Platz am Tisch ein und macht es sich bequem, +indem er eine Zigarette hervorzieht.) + + +(Proserpina ungeduldig, nimmt den Brief, den sie auf der Maschine +geschrieben hat, und faltet ihn zusammen:) Ach! ein Mann sollte seine +Frau lieben koennen, ohne einen Narren aus sich zu machen. + +(Mill erregt:) Aber Fraeulein Proserpina! + +(Proserpina geschaeftig aufstehend, holt ein Kuvert aus dem Pulte, in +das sie, waehrend sie spricht, den Brief hineinlegt:) Candida hin und +Candida her und Candida ueberall. (Sie leckt das Kuvert.) Es kann +einen ausser Rand und Band bringen! (Haemmert das Kuvert, um es fest zu +schliessen.) Hoeren zu muessen, wie eine ganz gewoehnliche Frau in dieser +laecherlichen Weise vergoettert wird, bloss weil sie schoenes Haar und +eine leidliche Figur hat. + +(Mill mit vorwurfsvollem Ernst:) Ich finde sie ungewoehnlich schoen, +Fraeulein Garnett. (Er nimmt die Photographie zur Hand betrachtet sie +und fuegt mit noch tieferem Ausdruck hinzu:) Wunderbar schoen,--was fuer +herrliche Augen sie hat! + +(Proserpina.) Candidas Augen sind durchaus nicht schoener als meine, +(Mill stellt die Photograpbie fort und sieht sie strenge an,) und ich +weiss ganz gut, dass Sie mich fuer ein gewoehnliches und untergeordnetes +Geschoepf halten. + +(Mill erbebt sich majestaetisch:) Gott behuete, dass ich von irgendeinem +Geschoepf Gottes in dieser Weise daechte. (Er geht steif von ihr fort +bis in die Naehe des Buecherschranks.) + +(Proserpina mit bitterem Spott:) Ich danke Ihnen, das ist sehr nett +und troestlich. + +(Mill traurig ueber ihre Verstocktheit:) Ich hatte keine Ahnung, dass +Sie etwas gegen Frau Morell haben. + +(Proserpina entruestet:) Ich habe durchaus nichts gegen sie. Sie ist +sehr liebenswuerdig und sehr gutherzig, ich habe sie sehr gern und weiss +ihre wirklich guten Eigenschaften weit besser zu wuerdigen, als +irgendein Mann es koennte. (Mill schuettelt traurig den Kopf, wendet +sich zum Buecherschrank und sucht die Reihen entlang nach einem Bande. +Sie folgt ihm mit heftiger Leidenschaftlichkeit.) Sie glauben mir +nicht? (Er wendet sich um und blickt ihr ins Gesicht. Sie faellt ihn +mit Heftigkeit an:) Sie halten mich fuer eifersuechtig? Was fuer eine +tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens Sie haben, Herr Alexander Mill! +Wie gut Sie die Schwaechen der Frauen kennen, nicht wahr? Wie schoen +es sein muss, ein Mann zu sein und einen scharfen durchdringenden +Verstand zu haben, statt blosse Gefuehle, wie wir Frauen, und zu wissen, +dass die Ursache, warum wir ihr Vernarrtsein in eine Frau nicht teilen, +nur in gegenseitiger Eifersucht zu suchen sein kann. (Sie wendet sich +mit einer Bewegung ihrer Schultern von ihm ab und geht an das Feuer, +ihre Haende zu waermen.) + +(Mill.) Ach, wenn Ihr Frauen nur ebenso leicht den Schluessel zur +Staerke des Mannes faendet wie zu seiner Schwaeche, es gaebe keine +Frauenfrage. + +(Proserpina ueber ihre Schulter, waehrend sie die Haende vor die Flammen +haelt:) Wo haben Sie das von Herrn Morell gehoert? Sie selbst haben es +nicht erfunden,--Sie sind dazu nicht gescheit genug. + +(Mill.) Das ist ganz richtig. Ich schaeme mich durchaus nicht, ihm +diesen Ausspruch zu verdanken, wo ich ihm schon so viele andere +geistige Wahrheiten verdanke! Er tat ihn bei der Jahresversammlung +der freien Frauenvereinigung. Erlauben Sie mir hinzuzufuegen, dass ich, +obwohl bloss ein Mann, im Gegensatz zu jenen Frauen diesen Ausspruch zu +schaetzen wusste! (Er wendet sich wieder an den Buecherschrank in der +Hoffnung, dass diese Worte sie vernichtet haben.) + +(Proserpina ordnet ihr Haar vor den kleinen Spiegeln des Kamins:) Wenn +Sie mit mir sprechen, sagen Sie mir gefaelligst Ihre eigenen Gedanken, +soviel sie eben wert sind, und nicht die Pastor Morells. Sie geben +niemals eine traurigere Figur ab, als wenn Sie versuchen, ihn +nachzumachen. + +(Mill gekraenkt:) Ich versuche seinem Beispiel zu folgen, aber nicht, +ihn nachzumachen. + +(Proserpina kommt wieder an ihn heran auf dem Rueckwege zu ihrer Arbeit:) +Jawohl, Sie machen ihn nach. Warum stecken Sie Ihren Schirm unter +den linken Arm, statt ihn in der Hand zu tragen wie jeder andere? +Warum gehen Sie mit vorgeschobenem Kinn und warum eilen Sie vorwaerts +mit diesem eifrigen Ausdruck in den Augen,--Sie, der Sie nie vor halb +zehn Uhr morgens aufstehen? Warum sagen Sie in der Kirche "Aandacht", +obwohl Sie im Leben "Andacht" sagen? Bah--glauben Sie, ich weiss das +nicht? (Geht zurueck zur Schreibmaschine.) Da kommen Sie her und +machen Sie sich endlich an Ihre Arbeit; wir haben heute Morgen genug +Zeit verloren. Hier ist eine Abschrift der Tageseinteilung fuer heute. +(Sie reicht ihm ein Memorandum. Mill schwer beleidigt:) Ich danke +Ihnen. (Er nimmt das Papier und steht mit dem Ruecken gegen sie an den +Tisch gelehnt und liest.) Sie faengt an, auf der Schreibmaschine ihre +stenographischen Aufzeichnungen zu uebertragen, ohne auf Mills Gefuehle +zu achten. + +(Burgess tritt unangemeldet ein.) Er ist ein Mann von sechzig Jahren, +derb und filzig geworden durch die notwendige Selbstsucht des kleinen +Kraemers, die sich spaeter durch Ueberfuetterung und geschaeftlichen Erfolg +zu traeger Aufgeblasenheit milderte. Ein gemeiner, unwissender, +unmaessiger Mensch, beleidigend und hochnasig Leuten gegenueber, deren +Arbeit wohlfeil ist, ehrfuerchtig gegen Menschen von Reichtum und Rang, +aber beiden gegenueber ganz aufrichtig und ohne Groll oder Neid. Da +sie ihn ohne besondere Faehigkeiten sah, hat ihm die Welt keine andere +gut bezahlte Arbeit zu bieten gewusst, als unnoble Arbeit, und er wurde +infolgedessen etwas erbaermlich, hat aber keine Ahnung, dass er so +beschaffen ist, und betrachtet seinen kommerziellen Wohlstand ganz +ehrlich als den unvermeidlichen und sozial berechtigten Triumph der +Geschicklichkeit, Tuechtigkeit, Faehigkeit und Erfahrung eines Mannes, +der im Privatleben uebertrieben, leichtsinnig, liebenswuerdig und +leutselig ist. Koerperlich ist er kurz und dick, mit einer +schnauzenaehnlichen Nase in der Mitte eines flachen, breiten Gesichtes; +unter dem Kinn ein staubfarbener Bart mit einem grauen Fleck in der +Mitte; er hat waesserige blaue Augen mit klagend sentimentalem Ausdruck, +der sich durch die Gewohnheit, seine Saetze wichtigtuend zu singen, +auch leicht auf seine Stimme uebertraegt. + +(Burgess bleibt an der Schwelle stehen und blickt umher:) Man sagte +mir, Herr Morell sei hier. + +(Proserpina sich erhebend:) Er ist oben, ich will ihn holen. + +(Burgess sie frech anstarrend:) Sie sind nicht dieselbe junge Dame, +die sonst fuer ihn schrieb. + +(Proserpina.) Nein. + +(Burgess beistimmend:) Nein, die war juenger. (Fraeulein Garnett starrt +ihn an, dann gebt sie mit grosser Wuerde hinaus. Er nimmt dies +gleichgueltig entgegen und geht an den Kaminteppich, wo er sich +umwendet und sich breitspurig aufpflanzt, den Ruecken dem Feuer +zugekehrt.) + +(Burgess.) Sind Sie im Begriff Ihren Rundgang zu machen, Herr Mill? + +(Mill faltet sein Papier und steckt es in die Tasche:) Jawohl, ich muss +gleich fort. + +(Burgess wichtig:) Lassen Sie sich nicht aufhalten; was ich mit Herrn +Morell zu besprechen habe, ist ganz privater Natur. + +(Mill aufgeblasen:) Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich +einzumengen, verlassen Sie sich darauf, Herr Burgess. Guten Morgen! + +(Burgess herablassend:) Guten Morgen, guten Morgen! + +(Morell kommt zurueck, waehrend Mill sich zur Tuer wendet.) + +(Morell zu Mill:) Sie gehen an die Arbeit? + +(Mill.) Jawohl, Herr Pastor. + +(Morell klopft ihn liebenswuerdig auf die Schulter:) Da, nehmen Sie +mein Seidentuch um den Hals, es geht ein kalter Wind draussen. Aber +jetzt machen Sie, dass Sie fortkommen. (Mill, mehr als getroestet ueber +Burgess' Schroffheit, freut sich und geht hinaus.) + +(Burgess.) Guten Morgen, Jakob. Sie verwoehnen Ihren Unterpfarrer wie +immer. Wenn ich einen Mann bezahle und einer auf meine Kosten lebt, +dann weise ich ihm gehoerig seinen Platz an. + +(Morell etwas kurz angebunden:) Ich weise meinem Unterpfarrer immer +seinen Platz an, naemlich an meiner Seite als meinem Helfer und +Kameraden. Wenn es Ihnen gelingt, so viel Arbeit aus Ihren Kommis und +Angestellten herauszukriegen wie ich aus meinem Unterpfarrer, dann +muessen Sie ziemlich rasch reich werden. Bitte, setzen Sie sich in +Ihren gewohnten Stuhl. (Er weist mit trockener Autoritaet auf den +Armstuhl neben dem Kamin, dann ergreift er einen freien Stuhl und +setzt sich in zurueckhaltender Entfernung von seinem Besucher.) + +(Burgess ohne sich zu ruehren:) Sie sind ganz der alte, Jakob. + +(Morell.) Als Sie mich das letztemal besuchten--ich glaube, es war vor +drei Jahren--da sagten Sie genau dasselbe. Nur etwas aufrichtiger. +Ihr woertlicher Ausspruch war damals: "Derselbe Narr wie immer, Jakob." + +(Burgess sich rechtfertigend:) Vielleicht sagte ich das, aber (mit +versoehnender Heiterkeit:) ich meinte nichts Beleidigendes damit. Ein +Geistlicher hat das Privilegium, ein wenig naerrisch sein zu +duerfen--wissen Sie, das liegt schon in seinem Beruf. Einerlei, ich +bin nicht hergekommen, um alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwaermen, +sondern um die Vergangenheit vergessen sein zu lassen. (Er wird +ploetzlich sehr feierlich und naehert sich Morell.) Jakob, vor drei +Jahren haben Sie mir uebel mitgespielt. Sie haben mich um meine +Lieferungen gebracht, und als ich Ihnen in meiner erklaerlichen +Verzweiflung boese Worte gab, brachten Sie meine Tochter gegen mich auf. +Nun, ich bin gekommen, um Ihnen zu zeigen, dass ich ein guter Christ +bin. (Ihm seine Hand darreichend:) Ich verzeihe Ihnen, Jakob. + +(Morell auffahrend:) Verdammt frech! + +(Burgess weicht zurueck mit fast schluchzendem Vorwurf ueber diese +Behandlung:) Ziemt diese Sprache einem Pastor, Jakob? Und besonders +Ihnen? + +(Morell bitzig:) Nein, sie ziemt ihm nicht, ich habe das falsche Wort +gebraucht,--ich haette sagen sollen: "Der Teufel soll Ihre Frechheit +holen!" Das wuerde Ihnen der heilige Paulus und jeder andere brave +Priester gesagt haben. Glauben Sie, ich habe Ihr Anerbieten vergessen, +als Sie fuer das Armenhaus vertragsmaessig Kleider liefern sollten? + +(Burgess in hoechster Erbitterung, weil ihm seine Forderung nur recht +und billig erscheint:) Ich habe im Interesse der Steuerzahler +gehandelt, Jakob,--es war das niedrigste Angebot, das koennen Sie nicht +leugnen. + +(Morell.) Jawohl, das niedrigste, weil Sie schlechtere Loehne zahlten +als irgendein anderer Unternehmer--Hungerloehne,--ach, aerger als +Hungerloehne war die Bezahlung, die Sie den Frauen fuer ihre Naeharbeit +geboten haben. Ihre Loehne haetten die Armen auf die Strasse getrieben, +um Leib und Seele zu verkaufen. (Immer wuetender werdend:) Jene Frauen +waren aus meinem Kirchsprengel, ich habe die Armenpfleger dazu +gebracht, dass sie sich schaemten, Ihr Angebot anzunehmen, ich habe die +Steuerzahler dazu gebracht, dass sie sich schaemten, es zuzulassen, ich +habe jeden bis auf Sie dazu gebracht, sich deswegen zu schaemen. +(Ueberschaeumend vor Wut:) Wie koennen Sie es wagen, Herr, +hierherzukommen und mir etwas vergeben zu wollen und ueber Ihre Tochter +zu sprechen und... + +(Burgess.) Beruhigen Sie sich, Jakob,--still, still, regen Sie sich +nicht fuer nichts und wieder nichts so auf. Ich habe ja zugegeben, dass +ich unrecht hatte. + +(Morell wuetend:) Haben Sie das? Ich habe nichts davon bemerkt! + +(Burgess.) Natuerlich gab ich's zu, so wie ich's noch jetzt zugebe. Na, +ich bitte Sie um Verzeihung wegen des Briefes, den ich Ihnen +geschrieben habe,--genuegt Ihnen das? + +(Morell mit den Fingern schnalzend:) Ganz und gar nicht! Haben Sie +die Loehne erhoeht? + +(Burgess triumphierend:) Ja! + +(Morell verbluefft innehaltend:) Was? + +(Burgess salbungsvoll:) Ich bin das Muster eines Arbeitgebers geworden. +Ich beschaeftige keine Frauen mehr, sie haben alle den Laufpass +bekommen, und die Arbeit wird jetzt durch Maschinen verrichtet. Nicht +ein Mann verdient jetzt weniger als sechs Pence die Stunde, und die +alten geuebten Arbeiter bekommen die von den Gewerkschaften +festgesetzten Loehne. (Stolz:) Was sagen Sie jetzt? + +(Morell ueberwaeltigt:) Ist das moeglich? Na, es ist mehr Freude im +Himmel ueber einen Suender, der Busse tut--(Er geht auf Burgess zu mit +einem Ausbruch entschuldigender Herzlichkeit.) Mein lieber Burgess, +ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, +die ich von Ihnen hatte. (Seine Hand fassend:) Und fuehlen Sie sich +nicht wohler nach dieser Veraenderung? Gestehen Sie es! Sie sind +gluecklicher, Sie sehen gluecklicher aus. + +(Burgess klaeglich:) Na ja, vielleicht fuehle ich mich jetzt gluecklicher, +ich muss wohl, da Sie es bemerken. Tatsache ist, dass mein Angebot von +der Behoerde angenommen wurde. (Wild:) Sie wollte nichts mit mir zu +schaffen haben, ehe ich anstaendige Loehne zahlte--der Teufel soll +diese verdammten Narren holen, die ihre Nase in alles stecken muessen! + +(Morell laesst seine Hand fahren, aufs tiefste entmutigt:) Das ist also +der Grund, warum Sie die Loehne erhoeht haben! (Er setzt sich +niedergeschlagen.) + +(Burgess streng, anmassend, lauter werdend:) Weswegen sollt' ich es +sonst getan haben? Wohin anders fuehrt es, als zu Trunksucht und +Ausschweifungen? (Er setzt sich wie ein Richter in den grossen +Lehnstuhl.) Das ist alles sehr schoen und gut fuer Sie: es bringt Sie in +die Zeitungen und macht Sie zu einem beruehmten Manne; aber Sie denken +nie an den Schaden, den Sie anrichten, indem Sie die Taschen der +Arbeiter mit Geld anfuellen, das sie doch nicht vernuenftig auszugeben +verstehen, waehrend Sie es Leuten fortnehmen, die gute Verwendung dafuer +haetten. + +(Morell nach einem schweren Seufzer, mit kalter Hoeflichkeit:) Was +wollen Sie also heute von mir? Ich bilde mir nicht ein, dass nur +verwandtschaftliche Gefuehle Sie herfuehren. + +(Burgess hartnaeckig:) Doch--gerade verwandtschaftliche Gefuehle und +nichts anderes! + +(Morell mit mueder Ruhe:) Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess springt drohend auf:) Sagen Sie mir das nicht ein zweites Mal, +Jakob Morell! + +(Morell unerschuetterlich:) Ich werde es genau so oft sagen, als es +noetig ist, Sie davon zu ueberzeugen.--Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess versinkt in einen Zustand von tief verwundetem Gefuehl:) Nun +gut, wenn Sie durchaus unfreundlich sein wollen, dann ist es wohl am +besten, ich gehe. (Er bewegt sich zoegernd gegen die Tuer, Morell gibt +kein Zeichen. Burgess zoegert noch.) Ich habe nicht erwartet, Sie +unversoehnlich zu finden, Jakob. (Da Morell noch immer nicht antwortet, +macht er noch einige zoegernde Schritte nach der Tuer, dann kommt er +zurueck, jammernd:) Wir haben uns doch immer ganz gut vertragen, trotz +unserer verschiedenen Anschauungen, warum sind Sie mir gegenueber jetzt +so veraendert? Ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich bloss aus Freundschaft +hergekommen bin und nicht, um mich mit dem Manne meiner eigenen +Tochter auf schlechten Fuss zu stellen. Seien Sie doch ein Christ, +Jakob, reichen Sie mir Ihre Hand. (Er legt seine Hand sentimental auf +Morells Schulter.) + +(Morell blickt nachdenklich zu ihm auf.) Schauen Sie, Burgess, wollen +Sie hier ebenso willkommen sein, wie Sie es waren, ehe Sie Ihren +Vertrag verloren? + +(Burgess.) Jawohl, Jakob, das moechte ich wirklich. + +(Morell.) Warum benehmen Sie sich dann nicht wie damals? + +(Burgess nimmt seine Hand behutsam weg:) Wie meinen Sie das? + +(Morell.) Das will ich Ihnen sagen. Damals hielten Sie mich fuer einen +jungen Dummkopf! + +(Burgess schmeichelnd:) Nein, dafuer habe ich Sie nicht gehalten, ich-- + +(Morell ihn unterbrechend:) Ja, dafuer hielten Sie mich! Und ich hielt +Sie fuer einen alten Schurken. + +(Burgess will diese schwere Selbstanklage Morells heftig abwehren:) +Nein, das haben Sie nicht getan, Jakob. Jetzt tun Sie sich selbst +unrecht. + +(Morell.) Doch, das tat ich. Na, das hat aber nicht gehindert, dass +wir ganz gut miteinander ausgekommen sind. Gott hat aus Ihnen das +gemacht, was ich einen Schurken nenne, und aus mir das, was Sie eben +einen Dummkopf nennen. (Diese Bemerkung erschuettert die Grundfesten +von Burgess' Moral. Ihm wird schwach, und waehrend er Morell hilflos +anblickt, streckt er die Hand aengstlich aus, um sein Gleichgewicht zu +bewahren, als ob der Boden unter ihm wankte. Morell faehrt im selben +Tone ruhiger Ueberzeugung fort:) Es ist in beiden Faellen nicht meine +Sache, mit Gott darueber zu rechten. Solange Sie offen als ein sich +selbst achtender, echter, ueberzeugter Schurke hierherkommen und, stolz +darauf, Ihre Schurkereien zu rechtfertigen versuchen, sind Sie +willkommen. Aber (und nun wird Morells Ton furchtbar; er erhebt sich +und stuetzt sich zur Bekraeftigung mit der Faust auf die Rueckenlehne des +Stuhles:) ich mag Sie hier nicht herumschnueffeln haben, wenn Sie so +tun, als ob Sie das Muster eines Arbeitgebers waeren und ein bekehrter +Mann dazu, waehrend Sie nur ein Abtruenniger sind, der seinen Rock nach +dem Winde traegt, um einen Vertrag mit der Behoerde zustande zu bringen. +(Er nickt ihm zu, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, dann geht er +zum Kamin, wo er in bequemer Kommandostellung, mit dem Ruecken gegen +das Feuer gekehrt, lehnt und fortfaehrt:) Nein, ich liebe es, wenn ein +Mensch wenigstens sich selber treu bleibt, selbst im Boesen! Also, +nehmen Sie jetzt entweder Ihren Hut und gehen Sie, oder setzen Sie +sich und geben Sie mir einen guten, schurkischen Grund dafuer an, warum +Sie mein Freund sein wollen. (Burgess, dessen Erregung sich genuegend +gelegt hat, um in einem Grinsen ausgedrueckt werden zu koennen, fuehlt +sich durch diesen konkreten Vorschlag sichtlich erleichtert. Er +ueberlegt einen Augenblick, und dann setzt er sich langsam und sehr +bescheiden in den Stuhl, den Morell eben verlassen hat.) So ist's +recht,--nun heraus damit. + +(Burgess kichernd gegen seinen Willen:) Nein, Sie sind wirklich ein +sonderbarer Kauz, Jakob! (Beinahe enthusiastisch:) Aber man muss Sie +gern haben, ob man will oder nicht. Ausserdem nimmt man, wie ich schon +sagte, nicht jedes Wort eines Geistlichen fuer bare Muenze, sonst muesste +die Welt untergehn. Habe ich nicht recht? (Er fasst sich, um einen +ernsteren Ton anzuschlagen, und die Augen auf Morell gerichtet, faehrt +er mit eintoenigem Ernste fort:) Nun, meinetwegen, da Sie es wuenschen, +dass wir gegeneinander ehrlich sind, will ich Ihnen zugeben, dass ich +Sie--ein wenig--fuer einen Narren hielt; aber ich fange an zu glauben, +dass ich damals etwas hinter meiner Zeit zurueckgeblieben war. + +(Morell frohlockend:) Aha, haben Sie das endlich herausgefunden? + +(Burgess bedeutungsvoll:) Ja, die Zeiten haben sich mehr veraendert, +als man glauben sollte! Vor fuenf Jahren noch haette sich kein +vernuenftiger Mensch mit Ihren Ideen abgegeben. Ich wunderte mich +sogar, dass man Sie auf Ihrem Posten als Pastor beliess. Ich kenne +einen Geistlichen, der durch den Bischof von London auf Jahre hinaus +seiner Funktionen enthoben wurde, obwohl der arme Teufel nicht einen +Funken mehr religioes war als Sie. Aber wenn heute jemand mit mir um +tausend Pfund wetten wollte, dass Sie selbst noch einmal als Bischof +enden werden, ich wuerde die Wette nicht anzunehmen wagen. (Sehr +eindrucksvoll:) Sie und Ihre Sippschaft werden taeglich einflussreicher, +wie ich ueberall merke. Man wird Sie einmal irgendwie befoerdern muessen, +und waere es bloss, um Ihnen den Mund zu stopfen. Sie haben doch den +richtigen Instinkt gehabt, Jakob! Der Weg, den Sie eingeschlagen +haben, ist der eintraeglichste fuer einen Mann Ihres Schlages. + +(Morell reicht ihm jetzt die Hand mit fester Entschlossenheit:) Hier +meine Hand, Burgess, jetzt reden Sie ehrlich. Ich glaube nicht, dass +man mich zum Bischof ernennen wird; aber wenn es geschieht, dann will +ich Sie mit den groessten Spekulanten bekannt machen, die ich zu meinen +Diners bekommen kann. + +(Burgess der sich mit einem verschmitzten Grinsen erhoben und die +Freundschaftshand ergriffen hat:) Sie bleiben nun mal bei Ihrem Witz, +Jakob. Unser Streit ist jetzt beigelegt, nicht wahr? + +(Die Stimme einer Frau.) Sag "Ja", Jakob! + +(Erstaunt wenden sie sich um und bemerken, dass Candida eben +eingetreten ist und sie mit jener belustigten, muetterlichen Nachsicht +betrachtet, die ihr charakteristischer Gesichtsausdruck ist. Sie ist +eine Frau von dreiunddreissig Jahren, schoen gewachsen, gut genaehrt. +Man erraet, dass sie spaeter eine Matrone sein wird, aber jetzt steht sie +noch in ihrer Bluete, mit dem Doppelreiz der Jugend und der +Mutterschaft. Ihr Benehmen ist das einer Frau, die erfahren hat, dass +sie die Menschen immer lenken kann, wenn sie ihre Neigung gewinnt, und +die dies unbekuemmert offen und instinktiv tut. In diesem Punkte ist +sie wie jede andere huebsche Frau, die gerade klug genug ist, aus ihrer +weiblichen Anziehungskraft zu alltaeglich selbsttuechtigen Zwecken so +viel Kapital wie moeglich zu schlagen. Aber Candidas heitere Stirn und +ihre mutigen Augen, der schoen geformte Mund und ihr Kinn kennzeichnen +umfassenden Geist und Wuerde des Charakters, der ihre Schlauheit im +Gewinnen von Neigungen adelt. Ein kluger Beobachter wuerde, sie +betrachtend, sofort erraten, dass wer das Bild der Assunta auch ueber +ihren Kamin gehaengt haben mochte, ein seelisches Band zwischen den +beiden Frauengestalten geahnt hatte, obwohl er weder ihrem Manne, noch +ihr selbst den Gedanken zutraute, sie mit der Kunst Tizians irgendwie +in Zusammenhang zu bringen.--Sie ist in Hut und Mantel und hat eine +zusammengeschnuerte Reisedecke, durch die ihr Schirm gesteckt ist, eine +Handtasche und eine Menge illustrierter Zeitungen in den Haenden.) + +(Morell ueber seine Nachlaessigkeit erschrocken:) Candida! Ei nun!--(Er +sieht auf seine Uhr und ist entsetzt, dass es schon so spaet ist.) Mein +Schatz! (Er eilt ihr entgegen und nimmt ihr die Reisedecke ab, indem +er fortfaehrt, sein reumuetiges Bedauern hervorzusprudeln:) Ich hatte +die Absicht, dich von der Bahn abzuholen, aber ich bemerkte nicht, dass +die Zeit schon um war, (die Reisedecke aufs Sofa werfend:) ich war so +sehr in Anspruch genommen--(Wieder zu ihr kommend:) dass ich das +vergass--oh! (Er umarmt sie mit reumuetiger Ergriffenheit.) + +(Burgess etwas beschaemt und ungewiss, wie er von seiner Tochter +empfangen werden wird:) Wie geht es dir, Candy? (Candida, noch in +Morells Armen, bietet ihm ihre Wange, die er kuesst:) Jakob und ich sind +zu einer Verstaendigung gekommen--zu einer ehrenvollen Verstaendigung. +Nicht wahr, Jakob? + +(Morell heftig:) Reden Sie nicht von unserer Verstaendigung! +Ihretwegen habe ich versaeumt, Candida abzuholen. + +(Teilnahmsvoll:) Du arme Liebe, wie bist du nur mit deinem Gepaeck +fertig geworden? Wie-- + +(Candida unterbricht ihn und macht sich los:) Na, na, na! ich war +nicht allein. Eugen ist mit uns gekommen--wir sind zusammen +hergefahren. + +(Morell erfreut:) Eugen?! + +(Candida.) Ja. Er plagt sich eben mit meinem Gepaeck ab, der arme +Junge. Ich bitte dich, lieber Jakob, geh gleich hinunter, sonst +bezahlt er den Wagen, und das moechte ich nicht. (Morell eilt hinaus. +Candida stellt ihre Handtasche nieder, nimmt dann ihren Mantel und Hut +ab und legt sie auf das Sofa neben die Decke und plaudert inzwischen.) +Nun, Papa, wie geht's zu Hause? + +(Burgess.) Es lohnt sich nicht mehr, dort zu leben, seit du uns +verlassen hast, Candy. Ich wollte, du kaemst einmal, um nachzusehn und +mit dem Maedchen zu sprechen.--Wer ist dieser Eugen, der dich begleitet +hat? + +(Candida.) Oh, Eugen ist eine von Jakobs Entdeckungen. Er fand ihn im +verflossenen Juni schlafend auf dem Kai. Hast du unser neues Bild +nicht bemerkt? (Ruf das Bild der Assunta zeigend:) Das haben wir von +ihm. + +(Burgess unglaeubig:) Was soll das heissen? Willst du mir, deinem +eigenen Vater, etwa einreden, dass ein Landstreicher, den man schlafend +auf dem Kai findet, solche Bilder schenkt? (Strenge:) Betrueg mich +nicht, Candy; es ist ein katholisches Bild, und Jakob hat es selbst +gekauft. + +(Candida.) Du irrst. Eugen ist kein Landstreicher. + +(Burgess.) Was ist er denn? (Sarkastisch:) Ein Edelmann +wahrscheinlich? + +(Candida nickt belustigt:) Jawohl, sein Onkel ist ein Pair--ein +wirklicher, leibhaftiger Graf. + +(Burgess wagt es nicht, so eine gute Nachricht zu glauben:) Nein! + +(Candida.) Ja! Er trug einen Wechsel auf fuenfundfuenfzig +Pfund--zahlbar in acht Tagen--in der Tasche, als Jakob ihn am Kai fand. +Er dachte, dass er dafuer kein Geld bekommen koennte, bevor die acht +Tage um waeren, und er war zu schuechtern, Kredit zu verlangen. Oh, er +ist ein lieber Junge, wir haben ihn sehr gern. + +(Burgess der so tut, als verachte er die Aristokraten, aber mit +glaenzenden Augen:) Hm, ich dachte mir's, dass der Neffe eines Pairs +nicht bei euch im Viktoriapark zu Besuch sein wuerde, wenn er nicht ein +bisschen verrueckt waere. (Er blickt wieder auf das Bild.) Ich bin +natuerlich mit dem Vorwurf dieses Bildes, als strengglaeubiger +Protestant, nicht einverstanden, Candy; aber dass es ein erstklassiges, +grosses Kunstwerk ist, das habe ich sofort erkannt. Nicht wahr, du +stellst mich ihm vor, Candy? (Er sieht aengstlich auf seine Uhr.) Ich +kann aber hoechstens noch zwei Minuten bleiben. + +(Morell kommt mit Eugen zurueck, den Burgess mit feuchten Augen +begeistert anstarrt. Eugen ist ein seltsamer, scheuer Juengling von +achtzehn Jahren, schlank, weibisch, mit einer zarten, kindlichen +Stimme, einem gehetzten, gequaelten Ausdruck und mit einem Benehmen, +das die schmerzliche Empfindlichkeit sehr schnell und ploetzlich +gereifter Knaben kennzeichnet, bevor ihr Charakter volle Festigkeit +erreicht hat. Erbaermlich unentschlossen, weiss er nie, wo er stehen +und was er tun soll. Burgess erschreckt ihn, und er moechte am +liebsten fort von ihm in die Einsamkeit laufen, wenn er es wagte. +Aber die Intensitaet, mit der er eine so ganz gewoehnliche Lage +empfindet, zeugt doch nur von seiner uebergrossen nervoesen Kraft; und +seine Nasenfluegel, sein Mund und seine Augen verraten einen +leidenschaftlich ungestuemen Eigensinn, ueber dessen aeussersten Grad +seine Stirne, die schon vom Mitleid gefurcht ist, wieder beruhigt. Er +sieht absonderlich aus, beinahe wie nicht von dieser Welt--und +prosaische Leute sehen etwas Ungesundes in dieser ueberirdischen Art, +so wie poetische Menschen darin etwas Engelgleiches sehen. Seine +Kleidung ist ganz frei; er traegt ein altes Jakett aus blauem Serge, +aufgeknoepft, ueber einem wollenen Lawn-Tennis-Hemd, mit einem seidenen +Halstuch als Krawatte, zu dem Jackett passende Beinkleider und braune +Schuhe aus Segeltuch. In diesem Aufzuge hat er augenscheinlich im +Heidekraut gelegen und ist durch das Wasser gewatet; es ist auch nicht +ersichtlich, dass er die Kleider jemals abgebuerstet hat. Da er beim +Eintritt einen Fremden sieht, haelt er inne und drueckt sich laengs der +Wand nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers weiter.) + +(Morell beim Eintreten:) Kommen Sie. Sie haben sicher doch eine +Viertelstunde fuer uns uebrig. Das ist mein Schwiegervater, Herr +Burgess--Herr Marchbanks. + +(Marchbanks weicht geaengstigt gegen den Buecherschrank zurueck:) Sehr +angenehm-- + +(Burgess geht mit grosser Herzlichkeit auf ihn zu, waehrend Morell vor +den Kamin zu Candida tritt:) Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, +Herr Marchbanks. (Noetigt ihn, ihm die Hand zu geben.) Wie geht es +Ihnen bei diesem Wetter? Ich hoffe, Jakob versucht nicht, Ihnen +verrueckte Ideen in den Kopf zu setzen. + +(Marchbanks.) Verrueckte Ideen? Ach, Sie meinen sozialistische? Nein, +o nein! + +(Burgess.) Das ist recht. (Sieht wieder auf seine Uhr.) Na, jetzt muss +ich aber gehen, da ist nichts zu machen. Haben Sie vielleicht +denselben Weg, Herr Marchbanks? + +(Marchbanks.) Nach welcher Richtung gehen Sie? + +(Burgess.) Station Viktoriapark. Um zwoelf Uhr fuenfundzwanzig geht ein +Zug nach der City. + +(Morell.) Unsinn, Eugen, Sie fruehstuecken doch hoffentlich mit uns! + +(Marchbanks sich aengstlich entschuldigend:) Nein, ich--ich-- + +(Burgess.) Nun, ich will Ihnen nicht zureden. Ich wette, dass Sie es +vorziehen, mit Candy zu fruehstuecken. Ich hoffe aber, dafuer werden Sie +eines Abends im Buergerklub in Norton Folgate mit mir dinieren,--bitte, +sagen Sie zu! + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, Herr Burgess. Wo ist Norton +Folgate?--Unten in Surrey, nicht wahr? + +(Burgess, unaussprechlich belustigt, faengt zu lachen an.) + +(Candida zu Hilfe kommend:) Du wirst deinen Zug versaeumen, Papa, wenn +du nicht sofort gehst; komm am Nachmittag wieder und erklaere Herrn +Marchbanks dann, wie man nach dem Klub gelangt. + +(Burgess mit schallendem Gelaechter:) In Surrey, ha ha, das ist nicht +schlecht! Nun, ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht +Norton Folgate gekannt haette. + +(Betroffen ueber den Laerm seiner eigenen Stimme:) Leben Sie wohl, Herr +Marchbanks; ich weiss, Sie sind zu vornehm, um meinen Scherz schlecht +aufzufassen. (Er reicht ihm abermals die Hand.) + +(Marchbanks erfasst sie mit nervoesem Griff.) O bitte, bitte! + +(Burgess.) Adieu, adieu, Candy. Ich werde spaeter wiederkommen--auf +Wiedersehen, Jakob. + +(Morell.) Muessen Sie wirklich gehen? + +(Burgess.) Lasst euch nicht stoeren. (Er gebt mit unverminderter +Herzlichkeit hinaus.) + +(Morelt.) Ich werde Sie hinausbegleiten. (Er folgt ihm, Eugen starrt +ihnen aengstlich nach und haelt seinen Atem an, bis Burgess verschwunden +ist.) + +(Candida lachend:) Nun, Eugen? (Er wendet sich mit einem Ruck um und +kommt heftig auf sie zu, haelt aber unschluessig inne, als er ihren +belustigten Blick bemerkt.) Wie gefaellt Ihnen mein Vater? + +(Marchbanks.) Ich--ich kenne ihn doch kaum,--er scheint ein sehr +lieber alter Herr zu sein. + +(Candida mit leiser Ironie:) Und Sie werden seine Einladung in den +Buergerklub annehmen, nicht wahr? + +(Marchbanks ungluecklich, es fuer Ernst nehmend:) Gerne, wenn Sie es +wuenschen. + +(Candida geruehrt:) Wissen Sie, dass Sie ein sehr lieber Junge sind, +Eugen, trotz all Ihrer Sonderlichkeiten. Wenn Sie meinen Vater +ausgelacht haetten, so waere nichts dabei gewesen, aber es gefaellt mir +um so besser von Ihnen, dass Sie nett zu ihm waren. + +(Marchbanks.) Haette ich lachen sollen? Mir war, als ob er etwas +scherzhaftes sagte, aber ich fuehle mich Fremden gegenueber so bedrueckt, +und ich kann Witze nie verstehen. Es tut mir sehr leid. (Er setzt +sich auf das Sofa, die Ellbogen auf den Knien und die Schlaefen +zwischen den Faeusten, mit dem Ausdruck hoffnungslosen Leidens.) + +(Candida heitert ihn gutmuetig auf:) Oh, Sie grosses Kind,--Sie sind +heute noch aerger als sonst. Warum waren Sie auf der Fahrt in der +Droschke so melancholisch? + +(Marchbanks.) Oh, das war nichts. Ich dachte darueber nach, wieviel +ich dem Kutscher geben sollte. Ich weiss, es ist aeusserst dumm, aber +Sie wissen nicht, wie schrecklich mir solche Dinge sind,--wie ich mich +davor scheue, mit fremden Leuten zu unterhandeln. (Frisch und +beruhigend:) Aber jetzt ist alles gut. Er lachte mit dem ganzen +Gesicht und beruehrte seinen Hut, als Ihr Mann ihm zwei Schilling gab; +ich war im Begriff, ihm zehn zu bieten. (Candida lacht herzlich, +Morell kommt mit einigen Briefen und Zeitungen zurueck, die mit der +Mittagspost gekommen sind.) + +(Candida.) Oh, lieber Jakob, denke nur, er wollte dem Kutscher zehn +Schilling geben,--zehn Schilling fuer eine Fahrt von drei Minuten, was +sagst du? + +(Morell vor dem Tisch die Briefe ueberfliegend:) Machen Sie sich nichts +daraus, Marchbanks. Der Trieb, zuviel zu bezahlen, ist ein Beweis von +Grossmut und viel besser als der entgegengesetzte, und nicht so +gewoehnlich. + +(Marchbanks wieder in Niedergeschlagenheit verfallend:) Nein, Feigheit, +Untauglichkeit ist das. Frau Morell hat ganz recht. + +(Candida.) Gewiss hat sie recht. (Sie nimmt ihre Handtasche auf.) Und +nun muss ich Sie Jakob ueberlassen. Ich nehme an, Sie sind zu sehr Poet, +um sich den Zustand vorstellen zu koennen, in dem eine Frau ihr Haus +wiederfindet, wenn sie drei Wochen fortgewesen ist. Geben Sie mir +meine Decke. (Eugen nimmt die eingeschnallte Decke vom Sofa und gibt +sie ihr; sie nimmt sie in die linke Hand, da sie ihre Tasche in der +rechten haelt.) Nun, bitte, haengen Sie mir den Mantel ueber den Arm. +(Er gehorcht.) Nun meinen Hut. (Er gibt ihn ihr in die Hand, die das +Gepaeck haelt.) Nun oeffnen sie mir die Tuer.--(Er laeuft ihr voraus und +oeffnet die Tuer.) Danke. (Sie geht hinaus, und Marchbanks schliesst sie +hinter ihr wieder.) + +(Morell noch am Tisch beschaeftigt:) Sie bleiben selbstverstaendlich zum +Fruehstueck bei uns, Marchbanks. + +(Marchbanks erschreckt:) Ach, ich darf nicht. (Er sieht rasch nach +Morell hin, weicht aber ploetzlich seinem vollen Blick aus und fuegt mit +sichtlicher Unaufrichtigkeit hinzu:) Ich meine, ich kann nicht. + +(Morell.) Sie meinen, Sie wollen nicht. + +(Marchbanks ernst:) Nein, ich moechte wirklich gerne, ich danke Ihnen +sehr, aber--aber-- + +(Morell leichthin, beendigt seinen Brief und tritt dicht an Eugen +heran:) Aber--aber--aber--aber! Unsinn! Wenn Sie bleiben wollen, +dann bleiben Sie,--Sie werden mich doch nicht ueberzeugen wollen, dass +Sie irgend etwas anderes zu tun haben? Wenn Sie schuechtern sind, +machen Sie einen Spaziergang durch den Park und schreiben bis halb +zwei Uhr Gedichte, und dann kommen Sie wieder und essen tuechtig. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen. Ich wuerde das sehr gern tun, aber ich +darf wirklich nicht. Die Wahrheit ist, dass mir Frau Morell gesagt hat, +dass ich's lieber nicht tun sollte. Sie sagte, sie glaube nicht, dass +Sie mich zum Fruehstueck einladen wuerden, aber wenn Sie es taeten, dann +wuenschten Sie es doch nicht ernstlich. (Schmerzlich:) Sie sagte, ich +wuerde das schon verstehen, aber ich verstehe es nicht.--Bitte, sagen +Sie ihr nichts davon, dass ich es Ihnen wiedererzaehlt habe. + +(Morell belustigt:) Oh, ist das alles? Was halten Sie von meinem +Vorschlag, in den Park zu gehen und diese Frage damit zu erledigen? + +(Marchbanks.) Wie? + +(Morell in guter Laune herausplatzend:) Na, Sie Dummkopf. (Aber dies +geraeuschvolle Wesen verletzt sowohl ihn selbst als auch Eugen. Er +haelt inne und faehrt mit liebevollem Ernst fort:) Nein, Scherz beiseite, +mein lieber Junge! in einer gluecklichen Ehe wie die unsere ist die +Rueckkehr der Frau in ihr Haus etwas sehr Heiliges. (Marchbanks sieht +ihn rasch an, und erraet beinahe im voraus, was er sagen will.) Aber +ein lieber Freund, eine wirklich vornehme, sympathische Seele ist bei +einer solchen Gelegenheit nicht im Wege,--der erstbeste Besucher waere +es allerdings. (Der gehetzte, erschreckte Ausdruck kommt ploetzlich +und lebhaft in Eugens Gesicht, sowie er begreift. Morell, mit seinen +eigenen Gedanken beschaeftigt, faehrt, ohne es zu bemerken, fort:) +Candida dachte, ich wuerde Sie vielleicht lieber nicht hier haben, aber +sie hatte unrecht. Ich habe Sie sehr lieb, Eugen; und ich moechte es +auch Ihretwegen, dass Sie sehen, wie schoen es ist, so gluecklich +verheiratet zu sein wie ich. + +(Marchbanks.) Gluecklich? Ihre Ehe? Das meinen Sie, das glauben Sie +wirklich? + +(Morell heiter:) Ich weiss es, mein Junge. Laroche-foucauld behauptet +zwar, dass es hoechstens passende, aber keine gluecklichen Ehen gaebe. +Sie koennen sich nicht vorstellen, wie wohl es tut, einen so +abgefeimten Luegner und verderbten Zyniker zu durchschauen! Ha, ha! +Nun aber fort in den Park und schreiben Sie Ihr Gedicht! und vergessen +Sie nicht: Punkt halb zwei Uhr! Wir warten niemals mit dem Essen auf +jemand. + +(Marchbanks wild:) Nein, halten Sie ein, Sie sollen es auch nicht! +Ich will alles ans Licht bringen. + +(Morell verwundert:) Wie? Was wollen Sie ans Licht bringen? + +(Marchbanks.) Ich muss mit Ihnen sprechen. Es gibt etwas, das zwischen +uns erledigt werden muss. + +(Morell mit einem belustigten Blick nach der Uhr:) Jetzt? + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Jawohl, jetzt. Ehe Sie dieses Zimmer +verlassen. (Er weicht ein paar Schritte zurueck und steht so, als ob +er Morell den Weg zur Tuer versperren wollte.) + +(Morell ernst, ohne sich zu ruehren, da er begreift, dass es sich um +etwas Ernstes handelt:) Ich will es gar nicht verlassen. Ich dachte, +Sie wollten gehen.--(Eugen ist von seinem sicheren Ton verwirrt und +wendet ihm, sich kruemmend vor Verdruss, den Ruecken zu. Morell geht zu +ihm hin und legt die Haende auf seine Schultern, fest und guetig, ohne +Marchbanks Versuche, ihn abzuschuetteln, zu beachten.) Na--setzen Sie +sich ruhig und erzaehlen Sie mir, was los ist. Und bedenken Sie eines: +wir sind Freunde und brauchen nicht zu fuerchten, dass einer von uns +anders als geduldig und guetig zu dem andern sein werde, was wir +einander auch moegen zu sagen haben. + +(Marchbanks windet sich hin und her:) Oh, ich werde mich nicht +vergessen, ich bin nur (bedeckt sein Gesicht verzweifelt mit den +Haenden:) ausser mir vor Entsetzen! (Dann laesst er die Haende fallen, +und sich mutig vorwaerts gegen Morell wendend, faehrt er drohend fort:) +Sie werden ja sehen, ob Geduld und Guete da am Platz sind. (Morell, +unerschuetterlich wie ein Felsen, sieht ihn nachsichtig an.) Betrachten +Sie mich nicht so selbstgefaellig! Sie halten sich zwar fuer staerker +als mich, aber ich werde Sie aufruetteln, wenn Sie ein Herz im Leibe +haben. + +(Morell mit maechtigem Vertrauen:) Mich aufruetteln, mein Junge? Nur zu! +Nur zu! Heraus damit! + +(Marchbanks.) Zuerst-- + +(Morell.) Zuerst? + +(Marchbanks.) Ich liebe Ihre Frau! (Morell faehrt zurueck, und nachdem +er Eugen einen Augenblick aeusserst erstaunt angestarrt hat, bricht er +in heftiges Lachen aus. Eugen wird stutzig, verliert aber seine +Fassung nicht und steht empoert und verachtungsvoll da.) + +(Morell setzt sich, um sich auszulachen:) Aber, mein liebes Kind, +natuerlich lieben Sie Candida. Jeder liebt sie, man kann nicht anders; +das freut mich nur, aber (er sieht seltsam zu ihm auf:) halten Sie +Ihren Fall fuer etwas, ueber das man auch nur zu sprechen braucht? Sie +sind unter zwanzig und Candida ist ueber dreissig,--sieht das nicht +einer Dummenjungenliebe aehnlich? + +(Marchbanks heftig:) Sie wagen, so von ihr zu sprechen! Sie glauben, +dass Ihre Frau diese Art Liebe einfloessen kann!--Das ist eine +Beleidigung gegen sie! + +(Morell erhebt sich rasch und veraendert den Ton:) Gegen sie? Nehmen +Sie sich in acht, Eugen. Ich war geduldig. Ich hoffe, geduldig zu +bleiben. Aber es gibt Dinge, die ich mir verbitten muss. Zwingen Sie +mich nicht, Ihnen die Nachsicht zu zeigen, die ich einem Kinde +gegenueber haben wuerde. Seien Sie ein Mann. + +(Marchbanks mit einer Bewegung, als wuerfe er etwas hinter sich:) Oh, +lassen Sie dieses Geschwaetz beiseite. Ich bin entsetzt, wenn ich +denke, wieviel die Arme davon hat anhoeren muessen in den langen Jahren, +in denen Sie Candida selbstsuechtig und blind Ihrem Duenkel geopfert +haben! (Sich nach ihm umwendend:) Sie, der Sie nicht einen Gedanken, +nicht ein Gefuehl mit ihr gemeinsam haben. + +(Morell mit philosophischer Ruhe:) Ihr scheint das alles aber recht +gut zu bekommen. (Ihm gerade ins Gesicht blickend:) Eugen, Sie machen +sich zum Narren--zu einem sehr grossen Narren. Es ist zu Ihrem eigenen +Besten, wenn man Ihnen das offen und ehrlich sagt. + +(Marchbanks.) Oh, glauben Sie, ich wuesste das alles nicht? Glauben Sie, +dass die Dinge, ueber die Leute zu Narren werden, weniger wirklich und +wahr sind, als die, bei denen sie vernuenftig bleiben? (Morells Blick +wird zum ersten Male unsicher, er wendet instinktiv sein Gesicht ab +und steht horchend, bestuerzt und nachdenklich da.) Diese Dinge sind +noch viel wahrer, sie sind ueberhaupt die einzigen Dinge, die wahr sind. +Sie sind sehr ruhig und massvoll und ruecksichtsvoll gegen mich, weil +Sie sehen koennen, dass ich, was Ihre Frau betrifft, ein Narr bin. So +wie der alte Mann, der eben hier war, zweifellos sehr weise ueber Ihren +Sozialismus denkt, weil er sieht, dass Sie sich dabei zum Narren machen. +(Morell wird sichtlich immer bestuerzter, und Eugen nuetzt seinen +Vorteil aus, ihn heftig mit Fragen bedraengend:) Beweist dies, dass Sie +unrecht haben? Beweist Ihre sichere Ueberlegenheit mir gegenueber, dass +ich unrecht habe? + +(Morell sich zu Eugen wendend, der seinen Platz behauptet:) Marchbanks, +irgendein Teufel hat Ihnen diese Worte in den Mund gelegt. Es ist +leicht, fuerchterlich leicht, in einem Menschen den Glauben an sich +selbst zu erschuettern. Dies auszunuetzen, um eines Menschen Seele zu +verwirren, ist Teufelswerk. Hueten Sie sich davor! + +(Marchbanks unbarmherzig:) Das weiss ich! Es geschieht absichtlich. +Ich sagte Ihnen ja, ich wuerde Sie aufruetteln. (Sie sehen einander +einen Augenblick drohend in die Augen, dann findet Morell seine Wuerde +wieder.) + +(Morell mit edler Guete:) Eugen, hoeren Sie mich an. Ich hoffe und baue +darauf, dass Sie eines Tages ein gluecklicher Mensch sein werden, wie +ich. (Eugen gibt durch eine zornige, ungeduldige Gebaerde zu verstehen, +dass er an den Wert dieses Glueckes nicht glaubt. Morell, tief +beleidigt, beherrscht sich mit aller Nachsicht und faehrt mit grosser +kuenstlerischer Beredsamkeit fort:) Sie werden verheiratet sein und mit +aller Macht und Ihrem besten Koennen daran arbeiten, jeden Erdenfleck, +den Sie betreten, so gluecklich zu machen, wie Ihr eigenes Heim es sein +wird. Sie werden einer von denen sein, die das Himmelreich auf Erden +bereiten wollen, und--wer weiss?--Sie moegen ein Pionier oder ein +Baumeister werden, wo ich nur ein demuetiger Arbeiter bin. Sie duerfen +nicht glauben, Eugen, dass ich in Ihnen, so jung Sie auch sind, nicht +jene Keime sehe, die Groesseres versprechen, als ich jemals von mir +erwarten darf. Ich weiss ganz gut, dass der Geist, der in einem Dichter +wohnt, heilig--dass er geradezu goettlich ist. Sie sollten bei dem +Gedanken daran zittern, bei dem Gedanken, dass die schwere +Verpflichtung und die grossen Gaben eines Dichters vielleicht einst auf +Ihren Schultern ruhen werden. + +(Marchbanks unberuehrt und reuelos; die knabenhafte Knappheit seiner +Worte sticht scharf gegen Morells Beredsamkeit ab:) Nicht davor +zittere ich! Der Mangel dieser Gaben bei anderen, der macht mich +zittern. + +(Morell verdoppelt die Kraft seiner Rede unter dem Einfluss seines +echten Gefuehls und der Verstocktheit Eugens:) Dann tragen Sie dazu bei, +jene Gaben in andere und in mich zu pflanzen--und nicht, sie +auszurotten. Spaeter einmal, wenn Sie so gluecklich sein werden, wie +ich es bin, dann will ich Ihr treuer Glaubensbruder werden. Ich will +Sie zu dem Glauben fuehren, dass Gott uns eine Welt geschenkt hat, die +nur unserer eigenen Unvernunft wegen kein Paradies ist, und dass jeder +Federstrich Ihrer Arbeit Glueck aussaet fuer die grosse Ernte, die +alle--selbst die Geringsten--eines Tages einfuehren werden. Und +endlich will ich Ihnen nicht zum wenigsten zu dem Glauben verhelfen, +dass Ihre Frau Sie liebt und in ihrem Heim gluecklich ist. Wir brauchen +solche Hilfe, Marchbanks, wir haben sie immer sehr noetig. Es gibt so +viele Dinge, die in uns Zweifel wecken, wenn wir uns erst einmal haben +unsern Glauben trueben lassen. Selbst zu Hause sitzen wir wie in einem +Kriegslager, umgeben von einer feindlichen Armee von Zweifeln. Wollen +Sie den Verraeter spielen und sie zu mir einlassen? + +(Marchbanks sich umblickend:) Ist es fuer sie hier immer so gewesen? +Dass eine Frau mit einer grossen Seele, die nach Wahrheit, Wirklichkeit +und Freiheit duerstet, bloss mit Metaphern, Predigten und abgedroschenen +Redensarten abgespeist wird? Glauben Sie, dass die Seele einer Frau +von Ihrem Predigertalent leben kann? + +(Morell tief verwundet:) Marchbanks, Sie machen es mir schwer, mich zu +beherrschen. Mein Talent gleicht dem Ihren, sofern es ueberhaupt einen +echten Wert besitzt: es ist die Gabe, goettliche Wahrheit in Worte zu +kleiden. + +(Marchbanks ungestuem:) Es ist die Gabe des Mundwerks, nicht mehr und +nicht weniger. Was hat Ihre Fertigkeit, schoene Reden zu halten, mit +der Wahrheit zu schaffen?--so wenig, wie das Orgelspiel mit ihr zu +schaffen hat. Ich war niemals in Ihrer Kirche, aber ich war in Ihren +politischen Versammlungen und habe Sie dort das tun sehen, was man die +Menge zum Enthusiasmus hinreissen nennt. Das heisst: die Leute regten +sich auf und benahmen sich, als ob sie betrunken waeren. Ihre Frauen +sahen zu und merkten, was fuer Narren sie zu Maennern hatten. Oh, das +ist eine alte Geschichte, Sie koennen sie schon in der Bibel finden. +--Mir scheint, Koenig David in seinem Enthusiasmus war Ihnen sehr +aehnlich. (Ihm die Worte in die Seele hohrend:) "Aber sein Weib +verachtete ihn in ihrem Herzen!" + +(Morell wuetend:) Verlassen Sie mein Haus! Hoeren Sie? (Er gebt +drohend auf ihn los.) + +(Marchbanks gegen das Sofa zurueckweichend:) Lassen Sie mich in Frieden, +ruehren Sie mich nicht an! + +(Morell fasst ihn kraeftig am Aufschlag seines Rockes; er duckt sich auf +das Sofa nieder.) + +(Marchbanks schreit leidenschaftlich:) Halten Sie ein; wenn Sie mich +schlagen, so toete ich mich, ich wuerde es nicht ertragen! (Beinahe +hysterisch:) Lassen Sie mich los: nehmen Sie Ihre Hand fort! + +(Morell langsam, mit nachdruecklicher Geringschaetzung:) Sie kleiner, +winselnder, feiger Hund! (Er laesst ihn los:) Gehen Sie, sonst fallen +Sie aus Angst in Ohnmacht. + +(Marchbanks auf dem Sofa nach Luft schnappend, aber befreit durch das +Zurueckziehen von Morells Hand:) Ich fuerchte mich nicht vor Ihnen, Sie +fuerchten sich vor mir! + +(Modell ruhig, ueber ihn gebeugt:) Es sieht mir ganz danach aus! + +(Marchbanks mit dreister Heftigkeit:) Ja; es sieht so aus. (Morell +wendet sich verachtungsvoll ab, Eugen steht hastig auf und folgt ihm.) +Weil ich vor einer brutalen Behandlung zurueckschrecke, weil (mit +Traenen in der Stimmt:) ich nichts anderes tun kann, als heulen vor Wut, +wenn mir Gewalt angetan wird--weil ich keinen schweren Koffer vom +Kutscherbock herabheben kann wie Sie--weil ich mit Ihnen nicht um Ihre +Frau raufen kann wie ein Arbeiter--deshalb glauben Sie, ich haette +Angst vor Ihnen! Aber Sie irren. Besitze ich auch nicht Ihren +beruehmten britischen Mut, so besitze ich doch auch nicht die britische +Feigheit. Ich fuerchte mich vor den Ansichten eines Pastors nicht. +Ich will kaempfen gegen Ihre Ansichten. Ich will Candida von der +Sklaverei dieser Ansichten befreien, ich will meine eigenen Ansichten +den Ihren entgegenstellen. Sie jagen mich aus dem Hause, weil Sie es +nicht wagen, Candida zwischen meinen und Ihren Ansichten waehlen zu +lassen! Sie fuerchten sich vor einem Wiedersehen zwischen Ihrer Frau +und mir. (Morell wendet sich ploetzlich zornig zu ihm; er fluechtet +nach der Tuer in unfreiwilliger Angst:) Lassen Sie mich in Ruhe. Ich +gehe. + +(Morell mit kalter Verachtung:) Warten Sie einen Augenblick: ich werde +Sie nicht beruehren, fuerchten Sie sich nicht. Wenn meine Frau +zurueckkommt, duerfte sie wissen wollen, warum Sie fortgegangen sind; +und wenn sie erfaehrt, dass Sie unsere Schwelle nie wieder ueberschreiten +werden, dann wird sie darueber Aufklaerung verlangen. Nun moechte ich +sie nicht betrueben und ihr sagen, dass Sie sich wie ein Schuft benommen +haben. + +(Marchbanks kehrt mit erneuter Heftigkeit um:) Sie sollen es--Sie +muessen! Wenn Sie irgendeine andere Aufklaerung als die wahre geben, so +sind Sie ein Luegner und ein Feigling. Sagen Sie ihr, was ich gesagt +habe, und wie Sie stark und maennlich waren und mich zerzaust haben wie +ein Hund eine Ratte, und wie ich zurueckwich und entsetzt war, und wie +Sie mich einen winselnden kleinen Hund nannten und mich aus dem Hause +jagten! Wenn Sie ihr das alles nicht sagen werden, so werde ich es +tun! Ich werd' es ihr schreiben. + +(Morell verbluefft:) Warum wollen Sie, dass sie das alles erfahren soll? + +(Marchbanks mit lyrischer Begeisterung:) Weil sie mich dann verstehen +und wissen wird, dass ich sie verstehe. Wenn Sie nur ein Wort von +alledem vor ihr verheimlichen--wenn Sie nicht bereit sind, ihr die +reine Wahrheit zu Fuessen zu legen--wie ich--dann werden Sie bis an das +Ende Ihrer Tage wissen, dass sie in Wirklichkeit mir gehoert und nicht +Ihnen. Leben Sie wohl. (Er wendet sich zum Geben.) + +(Morell in furchtbarer Unrube:) Halt! ich werde ihr das alles nicht +erzaehlen. + +(Marchbanks wieder nach der Tuer, wendet sich um:) Sie muessen ihr +entweder die Wahrheit sagen, wenn ich gehe, oder eine Luege. + +(Morell zoegernd:) Marchbanks, es ist manchmal entschuldbar-- + +(Marchbanks ihn unterbrechend:) Zu luegen--ich weiss! Diesmal wird es +aber vergeblich sein! Leben Sie wohl, Herr Pfarrer! (Wie er sich +endlich zur Tuer wendet, geht diese auf und Candida tritt in ibrem +Hauskleid ein.) + +(Candida.) Sie verlassen uns, Eugen? (Sieht ihn genauer an:) Aber, +Sie werden doch nicht in diesem Zustand auf die Strasse gehen. Sie +sind ein Dichter, sicherlich! Sieh' ihn nur an, Jakob! (Sie fasst +Eugen am Rock und zieht ihn nach vorne, ihn Morell zeigend.) Sieh +diesen Kragen an und diese Krawatte und dieses Haar. (Zu Eugen:) Man +moechte glauben, dass jemand Sie hat erdrosseln wollen! (Die beiden +bueten sich, ihr schlechtes Gewissen zu verraten.) Da,--halten Sie +still. (Sie knoepft ihm seinen Kragen, bindet sein Halstuch zu einer +Schleife und ordnet sein Haar.) So, so! Nun sehen Sie so nett aus, +dass ich es doch fuer besser hielte, Sie fruehstueckten mit uns, obwohl +Sie es eigentlich nicht sollten, wie ich Ihnen schon gesagt habe. In +einer halben Stunde wird das Essen bereit sein. (Sie glaettet sein +Halstuch noch mit einer letzten Beruebrung; er kuesst ihr die Hand.) +Nicht dumm sein. + +(Marchbanks.) Ich moechte schon bleiben, gewiss--falls Ihr verehrter +Herr Gemahl, der Herr Pastor, nichts dagegen einzuwenden hat. + +(Candida.) Soll er bleiben, Jakob, wenn er verspricht, ein braver +Junge zu sein und mir beim Tischdecken zu helfen? (Marchbanks wendet +den Kopf und sieht Morell ueber die Schulter fest an, seine Antwort +herausfordernd.) + +(Morell kurz angebunden:) O ja, gewiss; es waere mir lieb. (Er geht an +den Tisch und tut, als ob er mit den Papieren beschaeftigt waere.) + +(Marchbanks bietet Candida den Arm:) Decken wir den Tisch. (Sie nimmt +seinen Arm, dann wenden sie sich zusammen nach der Tuer, im Hinausgehen.) +Nun bin ich der gluecklichste Mensch von der Welt! + +(Morell.) Das war ich auch--vor einer Stunde. + +(Vorhang) + + + + +ZWEITER AKT + +(An demselben Tage, dasselbe Zimmer spaet nachmittags. Der Stuhl fuer +Morells Besucher steht wieder an dem Tisch, der womoeglich noch +unordentlicher aussiebt als vorhin. Marchbanks, allein und muessig, +versucht herauszukriegen, wie die Schreibmaschine arbeitet. Er hoert +jemanden kommen und stiehlt sich schuldbewusst fort an das Fenster +und tut so, als ob er in die Aussiebt versunken waere. Proserpina +Garnett tritt mit ihrem Notizblock ein, der das Stenogramm von +Morells Briefen enthaelt. Sie setzt sich an die Schreibmaschine +und will mit der Abschrift beginnen. Sie ist viel zu sehr +beschaeftigt, um Eugen zu bemerken. Ungluecklicherweise versagt +die erste Taste, auf die sie schlaegt.) + +(Proserpina.) Himmel! Sie haben sich mit der Maschine zu schaffen +gemacht, Herr Marchbanks, und es hilft Ihnen nichts, wenn Sie auch +noch so ein unschuldiges Gesicht aufsetzen. + +(Marchbanks schuechtern:) Es tut mir sehr leid, Fraeulein Garnett. Ich +wollte nur zu schreiben versuchen. + +(Proserpina.) Und dabei haben Sie diese Taste verdorben. + +(Marchbanks ernst:) Ich versichere Ihnen, dass ich die Tasten nicht +beruehrt habe. Wahrhaftig nicht. Ich habe nur ein kleines Rad gedreht. +(Er zeigt unschluessig auf die Kurbel.) + +(Proserpina.) Oh, nun verstehe ich. (Sie bringt die Maschine in +Ordnung und schwatzt dabei ununterbrochen:) Mir scheint, Sie dachten, +es waere eine Art Drehorgel. Man braucht nur die Kurbel da zu drehen, +und die Maschine schreibt einem den schoensten Liebesbrief glatt aufs +Papier, he? + +(Marchbanks ernst:) Ich kann mir vorstellen, dass eine Maschine +erfunden werden koennte, die Liebesbriefe schreibt.--Es sind ja immer +dieselben, nicht wahr? + +(Proserpina etwas aufgebracht, da jede derartige Unterhaltung--ausser +scherzweise einmal--ihren Umgangsformen fernliegt:) Woher soll ich das +wissen? Warum fragen Sie mich? + +(Marchbanks.) Entschuldigen Sie. Ich dachte, dass gescheite +Leute--Leute, die Geschaefte besorgen, Briefe schreiben und aehnliche +Dinge verrichten koennen--auch immer Liebesangelegenheiten haben. + +(Proserpina erbebt sich beleidigt:) Herr Marchbanks! (Sie siebt ihn +strenge an und gebt sehr wuerdevoll zum Buecherschrank.) + +(Marchbanks naehert sich ihr demuetig:) Ich hoffe, dass ich Sie nicht +beleidigt habe. Ich haette vielleicht auf Ihre Liebesangelegenheiten +nicht anspielen sollen. + +(Proserpina nimmt ein blaues Buch aus einem Fach und wendet sich +scharf nach ihm um:) Ich habe keine Liebesangelegenheiten! Wie koennen +Sie es wagen, mir so etwas zu sagen? + +(Marchbanks naiv:) Wirklich? Oh, dann sind Sie auch schuechtern, wie +ich, nicht wahr? + +(Proserpina.) Ich bin gewiss nicht schuechtern: was meinen Sie damit? + +(Marchbanks geheimnisvoll:) Sie muessen es sein. Das ist der Grund, +warum es so wenig echte Liebesgeschichten in der Welt gibt. Wir gehen +alle umher und sehnen uns nach Liebe, sie ist die erste +Naturnotwendigkeit, das heisseste Gebet unseres Herzens, aber wir wagen +es nicht, unsere Wuensche zu aeussern, wir sind zu schuechtern. (Sehr +ernst:) Oh, Fraeulein Garnett, was wuerden Sie nicht darum geben, ohne +Furcht zu sein,--ohne Scham-- + +(Proserpina empoert:) Nein, meiner Treu, das ist stark! + +(Marchbanks trotzig und ungeduldig:) Sagen Sie mir nicht solche +Albernheiten. Sie taeuschen mich doch nicht. Wozu soll das sein? +Warum scheuen Sie sich, sich mir gegenueber so zu zeigen, wie Sie sind? +Ich bin ja selbst genau so wie Sie. + +(Proserpina.) Wie ich? Bitte, ich weiss nicht recht, wollen Sie damit +mir oder sich schmeicheln? (Sie wendet sich ab, um zur +Schreibmaschine zurueckzugeben.) + +(Marchbanks tritt ihr geheimnisvoll in den Weg:) Still! Ich bin auf +der Suche nach Liebe, und ich finde sie in unermesslichen Schaetzen in +den Herzen anderer aufgespeichert. Aber ich wage es nicht, darum zu +bitten,--eine fuerchterliche Schuechternheit schnuert mir die Kehle zu, +und ich stehe da, stumm, aerger als stumm, und rede sinnloses Zeug und +stammle toerichte Luegen. Und ich sehe die Liebe, nach der ich +verschmachte, an Katzen und Hunde und verhaetschelte Voegel vergeudet, +weil die kommen und darum bitten. (Beinahe fluesternd:) Man muss Liebe +verlangen,--sie ist wie ein Geist, sie kann nicht sprechen, bevor +nicht zu ihr gesprochen wird. (Mit seiner gewohnten Stimme, aber mit +tiefer Melancholie:) Alle Liebe in der Welt ringt nach Worten, aber +sie wagt es nicht, zu sprechen, weil sie zu schuechtern ist, zu +schuechtern, zu schuechtern! Das ist die Tragik des Lebens! (Mit einem +tiefen Seufzer setzt er sieb in den Besuchsstuhl und vergraebt sein +Gesicht in den Haenden.) + +(Proserpina verwundert, aber ohne ihren gesunden Menschenverstand zu +verlieren,--ein Ehrenpunkt fuer sie im Verkehr mit fremden jungen +Maennern:) Es gibt aber schlechte Menschen, die diese Schuechternheit +gelegentlich ueberwinden, nicht wahr? + +(Marchbanks faehrt beinahe wuetend auf:) Schlechte Menschen! Das heisst +Menschen, die ohne Liebe sind, deshalb sind sie auch ohne Scham! Sie +haben den Mut, Liebe zu verlangen, weil sie keine brauchen; sie haben +den Mut, sie anzubieten, weil sie keine zu geben haben! (Er sinkt in +seinen Stuhl und fuegt traurig hinzu:) Aber wir, die wir Liebe haben +und danach brennen, sie mit anderen auszutauschen, wir koennen kein +Wort ueber die Lippen bringen. (Schuechtern:) Finden Sie das nicht auch? + +(Proserpina.) Nehmen Sie sich in acht. Wenn Sie nicht aufhoeren, so zu +reden, werde ich das Zimmer verlassen, Herr Marchbanks. Ich tue es +wirklich! Das gehoert sich nicht. (Sie nimmt ihren Sitz vor der +Schreibmaschine wieder ein, oeffnet das blaue Buch und macht sich +bereit, daraus etwas zu kopieren.) + +(Marchbanks hilflos:) Nichts gehoert sich, was wert ist, dass man +darueber spricht! (Er erhebt sich und wandert verloren im Zimmer umher: +) Ich kann Sie nicht begreifen, Fraeulein Garnett. Worueber soll ich +denn sprechen? + +(Proserpina fertigt ihn kurz ab:) Sprechen Sie ueber gleichgueltige +Dinge. Sprechen Sie ueber das Wetter. + +(Marchbanks.) Wuerden Sie es ertragen, ueber gleichgueltige Dinge zu +sprechen, wenn ein Kind neben Ihnen stuende, das vor Hunger bitterlich +weinte? + +(Proserpina.) Vermutlich nicht. + +(Marchbanks.) Nun, ich kann auch nicht ueber gleichgueltige Dinge +sprechen, waehrend mein Herz in seinem Hunger bitterlich weint. + +(Proserpina.) Dann--schweigen Sie. + +(Marchbanks.) Jawohl, darauf laeuft's immer hinaus, wir schweigen. +Unterdrueckt das den Schrei Ihres Herzens--denn es schreit, nicht wahr? +Es muss, wenn Sie ueberhaupt ein Herz haben. + +(Proserpina erhebt sich ploetzlich und presst ihre Hand aufs Herz.) Oh, +es ist vergeblich, arbeiten zu wollen, waehrend Sie so reden. (Sie +verlaesst ihren kleinen Tisch und setzt sich auf das Sofa. Ihre Gefuehle +sind heftig aufgewuehlt.) Es kuemmert Sie gar nichts, ob mein Herz +schreit oder nicht, aber es ist mir so, als muesste ich nun doch ueber +all das zu Ihnen sprechen. + +(Marchbanks.) Das brauchen Sie nicht; ich weiss doch, dass es so ist. + +(Proserpina.) Merken Sie sich: wenn Sie jemals behaupten sollten, dass +ich derlei gesagt habe, dann werde ich es leugnen. + +(Marchbanks mitleidig:) Ja, das weiss ich. Deshalb finden Sie auch +nicht den Mut, es ihm zu sagen. + +(Proserpina aufspringend:) Ihm?! Wem?! + +(Marchbanks.) Wem es auch sei. Dem Manne, den Sie lieben. Irgend +jemandem. Dem Unterpfarrer Herrn Mill vielleicht. + +(Proserpina verachtungsvoll:) Herrn Mill? Wahrhaftig, das ist der +rechte Mann, mir das Herz zu brechen. Da waeren Sie mir noch lieber. + +(Marchbanks zurueckweichend:) Nein, wirklich! Es tut mit leid, aber +daran duerfen Sie nicht denken. Ich-- + +(Proserpina scharf, geht ans Feuer und bleibt davor stehen, ihm den +Ruecken zuwendend:) Oh, fuerchten Sie nichts, Sie sind es nicht. Es ist +gar keine bestimmte Person. + +(Marchbanks.) Ich verstehe. Sie fuehlen, dass Sie jeden Mann lieben +koennten, der Ihnen sein Herz anboete-- + +(Proserpina ausser sich:) Nein, das koennte ich nicht! Jeden, der mir +sein Herz anboete! Fuer was halten Sie mich? + +(Marchbanks entmutigt:) Es ist vergebens, Sie wollen mir keine +wirklichen Antworten geben, nur diese leeren Worte, die jedermann sagt. +(Er geht nach dem Sofa und setzt sich trostlos nieder.) + +(Proserpina die es wurmt, in den Augen eines Aristokraten manierlos zu +erscheinen:) Wenn Sie originelle Unterhaltung wuenschen, dann ist es +besser, Sie sprechen mit sich selbst. + +(Marchbanks.) Das tun alle Dichter; sie sprechen laut mit sich selbst; +und die Welt ueberhoert sie. Aber es ist furchtbar einsam, nicht +manchmal auch jemand anders sprechen zu hoeren. + +(Proserpina.) Warten Sie, bis Herr Morell kommt. Der wird schon mit +Ihnen reden. (Marchbanks schaudert.) Oh, Sie brauchen die Nase nicht +zu ruempfen, er kann besser sprechen als Sie. (Lebhaft:) Er wird Ihnen +den kleinen Kopf schon zurechtsetzen. (Sie ist im Begriff aergerlich +an ihren Platz zurueckzugeben, als er, ploetzlich erleuchtet, aufspringt +und sie anhaelt.) + +(Marchbanks.) Ah, jetzt begreife ich! + +(Proserpina erroetend:) Was begreifen Sie? + +(Marchbanks.) Ihr Geheimnis! Sagen Sie mir, ist es wirklich und +wahrhaftig moeglich, dass eine Frau ihn liebt? + +(Proserpina als ob dies ihr ueber den Spass ginge:) Genug! + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Nein, antworten Sie mir! Ich will es +wissen, ich muss es wissen, ich kann es nicht begreifen. Ich kann an +ihm nichts finden als Worte, fromme Vorsaetze, was die Leute Guete +nennen! Sie koennen ihn deswegen doch nicht lieben! + +(Proserpina versucht, ihn durch ihr kuehles Wesen stutzig zu machen:) +Ich weiss ganz einfach nicht, wovon Sie sprechen--ich verstehe Sie +nicht. + +(Marchbanks heftig:) Sie verstehen mich ganz gut. Sie luegen! + +(Proserpina.) Oh! + +(Marchbanks.) Sie verstehen, und Sie wissen. (Entschlossen, eine +Antwort zu bekommen:) Ist es moeglich, dass eine Frau ihn lieben kann? +Ja oder nein! + +(Proserpina ihm gerade ins Gesicht blickend:) Ja! (Er bedeckt sein +Gesicht mit den Haenden.) Was in aller Welt fehlt Ihnen denn? (Er +nimmt die Haende herab und sieht sie an. Erschreckt ueber das traurige +Gesicht, das sich ihr darbietet, eilt sie so weit wie moeglich von ihm +fort, behaelt aber ihre Augen auf ihn gerichtet, bis er sich von ihr +abwendet und nach dem Kinderstuhl am Kamin geht, wo er sich in +tiefster Trostlosigkeit niederlaesst. Proserpina eilt zur Tuer, die Tuer +geht auf und Burgess tritt ein. Als sie ihn erblickt, ruft sie aus:) +Gott sei Dank, es kommt jemand! (Setzt sich wieder beruhigt an ihren +Tisch. Sie legt einen neuen Bogen in die Maschine, waehrend Burgess zu +Eugen hinuebergebt.) + +(Burgess beflissen, sich um den vornehmen Besucher zu kuemmern:) Na, +gehoert sich das, wie man Sie hier sich selbst ueberlaesst, Herr +Marchbanks? Ich bin gekommen, Ihnen Gesellschaft zu leisten. +(Marchbanks siebt zu ihm mit einer Bestuerzung auf, die Burgess aber +gar nicht merkt.) Jakob empfaengt eine Deputation im Speisezimmer, und +Candy ist oben und unterrichtet eine junge Naeherin, fuer die sie sich +interessiert. Sie sitzt bei ihr und lehrt sie lesen, in einem frommen +Buche: die himmlischen Zwillinge. (Teilnahmsvoll:) Sie muessen es hier +recht langweilig finden, so ohne einen Menschen, mit dem Sie reden +koennen, ausser der Schreiberin. + +(Proserpina aeusserst erbittert:) Er wird sich jetzt ganz wohl fuehlen, +da er das Glueck hat, Ihre gebildete Unterhaltung zu geniessen,--das ist +schon ein Trost. (Sie beginnt mit heftigem Geraeusch zu schreiben.) + +(Burgess erstaunt ueber ihre Kuehnheit:) Mit Ihnen hab' ich nicht +gesprochen, soviel ich weiss, Sie junges Ding! + +(Proserpina scharf zu Marchbanks:) Haben Sie jemals solche Manieren +gesehen, Herr Marchbanks? + +(Burgess mit wichtigtuendem Ernst:) Herr Marchbanks ist ein Edelmann, +der seine Stellung kennt; das ist mehr, als manche Leute von sich +sagen koennen. + +(Proserpina zornig:) Gluecklicherweise gehoeren Sie und ich nicht zu den +"Damen" und "Herren"; ich wuerde Ihnen schon meine Meinung sagen, wenn +Herr Marchbanks nicht zugegen waere. (Sie zieht den Brief so heftig +aus der Maschine heraus, dass er zerreisst.) So! nun habe ich den Brief +verdorben, jetzt kann ich noch mal von vorne anfangen. Oh, ich kann +mich nicht beherrschen.--Sie dummer alter Schafskopf, Sie! + +(Burgess erhebt sich, atemlos vor Entruestung:) Was, ein dummer alter +Schafskopf bin ich?! Das ist stark! (Ausser Atem:) Gut, gut! Warten +Sie nur, das werde ich Ihrem Prinzipal sagen--ich will Sie lehren--Sie +sollen es sehen! + +(Proserpina.) Ich-- + +(Burgess sie unterbrechend:) Genug, Ihr Reden nuetzt Ihnen nun nichts +mehr, Sie sollen mich kennen lernen! (Proserpina schiebt ihre Walze +mit einem zornigen Stoss herum und setzt verachtungsvoll ihre Arbeit +fort.) Nehmen Sie keine Notiz von ihr, Herr Marchbanks, sie ist es +nicht wert. (Er setzt sich stolz wieder hin.) + +(Marchbanks fuerchterlich nervoes und verlegen:) Waere es nicht besser, +wir wuerden von etwas anderem sprechen. Ich--ich glaube nicht, dass +Fraeulein Garnett es boese gemeint hat. + +(Proserpina mit fester Ueberzeugung:) Ob ich es boese gemeint habe! +Doch! + +(Burgess.) Ich will mich nicht so weit erniedrigen, von ihr ueberhaupt +noch Notiz zu nehmen. (Eine elektrische Klingel laeutet zweimal.) + +(Proserpina rafft Notizhlock und Papier zusammen:) Das gilt mir! (Sie +eilt hinaus.) + +(Burgess ihr nachrufend:) Oh, wir koennen Sie entbehren. (Er freut +sich ueber den Triumph, das letzte Wort behalten zu haben, und doch +halb und halb geneigt, noch mehr zu sagen, sieht er ihr einen +Augenblick lang nach, dann laesst er sich auf seinen Platz neben Eugen +nieder und spricht sehr vertraulich zu ihm:) Jetzt, wo wir allein sind, +Herr Marchbanks, lassen Sie mich Ihnen einen freundlichen Wink geben, +den ich nicht jedermann geben wuerde. Wie lange kennen Sie meinen +Schwiegersohn Jakob schon? + +(Marchbanks.) Ich weiss nicht. Ich kann mir Daten niemals merken, +--vielleicht einige Monate. + +(Burgess.) Haben Sie nie etwas Sonderbares an ihm bemerkt? + +(Marchbanks.) Nicht dass ich wuesste. + +(Burgess ausdrucksvoll:) Das werden Sie auch schwerlich. Darin liegt +eben die Gefahr. Nun--er ist verrueckt. + +(Marchbanks.) Verrueckt?! + +(Burgess.) Total verrueckt. Beobachten Sie ihn nur, und Sie werden es +selbst finden. + +(Marchbanks aengstlich:) Aber das scheint Ihnen gewiss nur so, weil +seine Ansichten-- + +(Burgess beruehrt Eugens Knie mit dem Zeigefinger und drueckt es, um +seine Aufmerksamkeit zu erregen:) Genau dasselbe habe ich frueher +gedacht, Heir Marchbanks. Ich glaubte lange genug, es waeren nur seine +Ansichten, obwohl Ansichten zu sehr ernsten Angelegenheiten werden, +sobald Leute danach handeln, wie er; aber danach habe ich nicht +geurteilt. (Er siebt umher, um sich zu ueberzeugen, dass sie allein +sind, und neigt sich zu Eugens Ohr.) Was, glauben Sie, hat er heute +morgen in diesem Zimmer zu mir gesagt? + +(Marchbanks.) Was denn? + +(Burgess.) Er sagte mir, dass ich--so wahr, als wir hier sitzen--er +sagte ganz ruhig: "Ich bin ein Narr und Sie sind ein Schurke"... Ich +ein Schurke--bedenken Sie nur--und dann schuettelte er mir die Hand +dazu, als ob seine Meinung schmeichelhaft fuer mich waere. Wollen Sie +behaupten, dass so ein Mensch nicht verrueckt ist? + +(Morell von aussen "Proserpina" rufend, waehrend er die Tuer oeffnet:) +Schreiben Sie alle Namen und Adressen auf, Fraeulein Garnett. + +(Proserpina aus der Entfernung:) Jawohl, Herr Pastor! (Morell tritt +ein, mit den Dokumenten der Deputation in der Hand.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Oh, da ist er. Beobachten Sie ihn +nur, Sie werden schon sehen. (Erhebt sich mit wichtiger Miene:) Ich +bedaure, Jakob, mich bei Ihnen beklagen zu muessen. Ich tue es nicht +gerne, aber ich fuehle, dass es meine Pflicht und mein Recht ist. + +(Morell.) Was ist denn geschehen? + +(Burgess.) Herr Marchbanks wird es bestaetigen, er war Zeuge. (Sehr +feierlich:) Ihre Schreiberin vergass sich so weit, mich einen dummen +alten Schafskopf zu nennen. + +(Morell mit groesster Herzlichkeit:) Oh, sieht das Prossi nicht ganz +aehnlich? Sie ist so aufrichtig, sie kann sich nicht beherrschen. +Arme Prossi, ha, ha! + +(Burgess zitternd vor Wut:) Und erwarten Sie, dass ich mir das von +ihresgleichen ruhig gefallen lasse? + +(Morell.) Bah, Unsinn. Nehmen Sie keine Notiz davon, lassen Sie's gut +sein. (Er geht an das Schreibpult und legt die Papiere in eines der +Schubfaecher.) + +(Burgess.) Oh, ich mache mir nichts daraus. Ich bin ueber derlei +erhaben. Aber war es recht? Das ist es, was ich zu wissen wuensche! +--war es recht? + +(Morell.) Das ist eine Frage fuer die Kirche und nicht fuer Laien. +Wurde Ihnen dadurch irgendein Schaden zugefuegt? danach muessen Sie +fragen--selbstverstaendlich "nein". Also denken Sie nicht mehr daran. +(Er laesst den Gegenstand fallen, geht nach seinem Platz an den Tisch +und beginnt an seiner Korrespondenz zu arbeiten.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Was habe ich Ihnen gesagt? Total +verrueckt! (Er geht an den Tisch und fragt mit der Hoeflichkeit eines +Hungrigen:) Wann wird zu Tisch gegangen, Jakob? + +(Morell.) Erst nach einigen Stunden. + +(Burgess mit klagender Entsagung:) Dann geben Sie mir, bitte, ein +huebsches Buch, am Kamin zu lesen--sein Sie so gut, Jakob. + +(Morell.) Was fuer ein Buch,--ein gutes? + +(Burgess beinahe mit einem Aufschrei des Widerwillens:) Nein. Irgend +was Lustiges, womit man die Zeit totschlagen kann. + +(Morell nimmt eine illustrierte Zeitschrift vom Tisch und bietet sie +ihm an, er ergreift sie demuetig:) Ich danke Ihnen, Jakob. (Er geht +zurueck zum Kamin, laesst sich bequem in den grossen Stuhl nieder und +liest.) + +(Morell waehrend er schreibt:) Candida wird gleich kommen und Ihnen +Gesellschaft leisten. Sie ist jetzt fertig mit ihrer Schuelerin und +fuellt die Lampen. + +(Marchbanks faehrt empor in wildem Entsetzen:) Aber das wird ihre Haende +beschmutzen,--das kann ich nicht dulden, Herr Pastor, das ist eine +Schande; ich werde die Lampen fuellen. (Er wendet sich nach der Tuer.) + +(Morell.) Lassen Sie es lieber sein. (Marchbanks bleibt unschluessig +stehen: ) Sie wuerde Ihnen hoechstens meine Schuhe zu putzen geben, um +mir die Arbeit zu ersparen, es morgen frueh selbst zu tun. + +(Burgess mit grosser Missbilligung:) Halten Sie kein Maedchen mehr, Jakob? + +(Morell.) Ja, aber es ist keine Sklavin, und das Haus sieht aus, als +ob ich drei hielte. Daraus folgt, dass jeder mithelfen muss. Das geht +ganz gut. Prossi und ich koennen nach dem Fruehstueck, waehrend wir +abwaschen, ueber unsere Geschaefte sprechen; das Abwaschen macht keine +Muehe, wenn es zwei besorgen. + +(Marchbanks gequaelt:) Glauben Sie, dass jede Frau so grobkoernig ist wie +Fraeulein Garnett? + +(Burgess pathetisch:) Sie haben ganz recht, Herr Marchbanks, +vollkommen recht,--die ist grobkoernig! + +(Morell ruhig und bedeutungsvoll:) Marchbanks! + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Wie viele Dienstboten haelt Ihr Vater? + +(Marchbanks.) Oh, ich weiss nicht. (Er gebt unbehaglich an das Sofa +zurueck, als ob er sich so weit fort wie moeglich vor Morells Fragen +retten moechte, setzt sich in grosser Verstoertheit und denkt an das +Petroleum.) + +(Morell sehr ernst:) So viele, dass Sie es nicht einmal wissen. +(angriffsbereit:) Immerhin, wenn irgendeine grobkoernige Arbeit zu +verrichten ist, dann klingeln Sie und halsen sie jemand anders +auf--das ist eine der grossen Tatsachen in Ihrem Dasein, nicht wahr? + +(Marchbanks.) Oh, quaelen Sie mich nicht. Die eine grosse Tatsache hier +ist jetzt, dass die wundervollen Finger Ihrer Frau mit Petroleum +beschmutzt werden, waehrend Sie bequem hier sitzen und darueber Reden +halten--endlose Reden und Predigten--Worte--Worte--nichts als Worte! + +(Burgess dem diese Erwiderung sehr gelegen kommt:) Hoert, hoert! Besser +konnte er's ihm nicht geben! (Strahlend:) Da haben Sie es, Jakob! +Ganz so ist es. (Candida trat ein, in einer reinen Schuerze, mit einer +geputzten und gefuellten, zum Anzuenden fertigen Arbeitslampe. Sie +stellt sie auf den Tisch neben Morell, damit er sie zur Hand hat.) + +(Candida reibt ihre Fingerspitzen gegeneinander, mit einem leichten +Krausziehen ihrer Nase:) Wenn Sie bei uns bleiben, Eugen, ich glaube, +dann werde ich Ihnen das Fuellen der Lampe uebertragen. + +(Marchbanks.) Ich werde ueberhaupt nur unter der Bedingung bleiben, dass +Sie mir alle grobe Arbeit uebertragen. + +(Candida.) Das ist zwar sehr galant, aber ich moechte doch vorher +wissen, wie Sie sie machen. (Wendet sich zu Morell:) Jakob, du hast +in meiner Abwesenheit nicht gehoerig nach dem Rechten gesehen. + +(Morell.) Was habe ich denn getan oder nicht getan, meine Liebe? + +(Candida ernstlich aergerlich:) Meine eigene kleine +Lieblingsnagelbuerste wurde zum Stiefelputzen verwendet. (Ein +herzzerreissender Klagelaut entringt sich Marchbanks' Brust. Burgess +sieht sich erstaunt um, Candida eilt ans Sofa:) Was ist los? Sind Sie +krank, Eugen? + +(Marchbanks.) Nein, nicht krank. Nur Jammer erfasst mich, Jammer, +Jammer! (Er schlaegt die Haende vor das Gesicht.) + +(Burgess erschreckt:) Was haben Sie, Herr Marchbanks? Oh, das ist +schlimm in Ihrem Alter; Sie muessen trachten, sich das Trinken nach und +nach abzugewoehnen. + +(Candida beruhigt:) Unsinn, Papa. Das ist nur poetischer Jammer. +Nicht wahr, Eugen? (Streichelt ihn.) + +(Burgess verlegen:) Oh, poetischen Jammer hat er,--verzeihen Sie, das +wusste ich nicht. (Er wendet sich wieder nach dem Feuer, seine +Unueberlegtheit bereuend.) + +(Candida.) Was ist's denn, Eugen? Wegen der Nagelbuerste? (Er +schaudert.) Es ist ja nichts dabei, lassen Sie's gut sein. (Sie setzt +sich neben ihn.) Wollen Sie mir eine huebsche neue schenken, mit +Elfenbeinruecken und eingelegtem Perlmutter? + +(Marchbanks sanft und melodisch, aber traurig und schmachtend:) Nein, +keine Nagelbuerste, aber ein Boot, eine kleine Schaluppe, um darin +fortzusegeln, weit fort von der Welt, dorthin, wo Marmorboeden vom +Regen gewaschen und von der Sonne getrocknet werden, und wo der +Suedwind die wundervoll gruenen und purpurnen Teppiche fegt. Oder einen +Wagen moechte ich Ihnen schenken; uns hinaufzutragen in den Himmel, wo +die Lampen Sterne sind und nicht taeglich mit Petroleum gefuellt werden +muessen. + +(Morell barsch:) Und wo es nichts anderes zu tun gibt, als faul, +selbstsuechtig und unnuetz zu sein. + +(Candida unangenehm beruehrt:) Oh, Jakob, wie kannst du nur alles so +verderben! + +(Marchbanks feurig:) Ja: faul, selbstsuechtig und unnuetz, das heisst +schoen, frei und gluecklich sein. Hat das nicht jeder Mann mit seiner +ganzen Seele fuer die Frau gewuenscht, die er liebte? Das ist auch mein +Ideal. Was ist das Ihre und das all der entsetzlichen Menschen, die +in diesen fuerchterlichen Haeuserreihen wohnen? Predigten und +Schuhbuersten! Fuer Sie die Predigten und fuer Ihre Frau die Buerste! + +(Candida drollig:) Er putzt die Schuhe, Eugen. Morgen werden Sie sie +putzen muessen, weil Sie das von ihm gesagt haben. + +(Marchbanks.) Oh, sprechen Sie nicht von Schuhen; Ihre Fuesse wuerden +auch in einer Wildnis schoen bleiben. + +(Candida.) Meine Fuesse wuerden auf der Hackneystrasse ohne Schuhe nicht +sehr schoen aussehn. + +(Burgess daran Anstoss nehmend:) Geh, Candy, sei nicht ordinaer. Herr +Marchbanks ist daran nicht gewoehnt. Du hast ihm schon wieder Jammer +eingefloesst,--ich meine poetischen Jammer. (Morell schweigt, scheinbar +ist er mit seinen Briefen beschaeftigt. Tatsaechlich ist er aber ueber +seine neue und beunruhigende Erfahrung in sorgenvolle Gedanken +vertieft: je sicherer er seiner moralischen Ausfaelle ist, desto +sicherer und wirkungsvoller pariert sie Eugen. Es schmerzt Morell +sehr, dass er einen Menschen zu fuerchten anfaengt, den er nicht achten +kann. Fraeulein Garnett kommt mit einem Telegramm herein.) + +(Proserpina haendigt das Telegramm Morell ein:) Rueckantwort bezahlt, +der Bote wartet. (Zu Candida, waehrend sie zu ihrer Maschine geht und +sich setzt:) Marie wartet auf Sie in der Kueche, Frau Morell. (Candida +erhebt sich:) Die Zwiebeln sind gekommen. + +(Marchbanks krampfhaft:) Zwiebeln!? + +(Candida.) Ja, Zwiebeln, und nicht einmal spanische! garstige, kleine +rote Zwiebeln! Sie koennen mir helfen, sie zu zerschneiden; kommen Sie. +(Sie nimmt ihn am Handgelenk und laeuft, ihn nachziehend, hinaus. +Burgess erhebt sich verbluefft und starrt ihnen, auf dem Kaminteppich +stehend, nach.) + +(Burgess.) Candy sollte den Neffen eines Pairs nicht so behandeln. +Das geht doch zu weit, Jakob. Hat er oefters solche komischen Anfaelle? + +(Morell kurz, ein Telegramm schreibend:) Ich weiss nicht. + +(Burgess sentimental:) Er spricht sehr nett. Ich habe immer etwas +Sinn fuer Poesie gehabt. Candy schlaegt mir darin nach. Ich musste ihr +immer Maerchen erzaehlen, als sie noch ein so kleines Maedchen war. (Er +haelt die Hand ungefaehr zwei Fuss hoch ueber den Fussboden.) + +(Morell beschaeftigt:) So, wirklich? (Er loescht das Telegramm ab und +geht hinaus.) + +(Proserpina.) Haben Sie die Maerchen, die Sie Ihrer Tochter erzaehlten, +selbst erfunden? + +(Burgess wuerdigt sie keiner Antwort und nimmt vor dem Kamin die +Stellung tiefster Verachtung gegen sie ein.) + +(Proserpina sehr ruhig:) Ich haette nie gedacht, dass Sie derlei koennten. +Uebrigens moechte ich Sie doch warnen, da Sie so grosses Interesse +an Herrn Marchbanks nehmen. Er ist verrueckt. + +(Burgess.) Verrueckt! Was? Der auch? + +(Proserpina.) Total verrueckt! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie +sehr er mich vorhin erschreckte--das kann ich Ihnen versichern, +gerade bevor Sie kamen.--Haben Sie das merkwuerdige Zeug, das er sprach, +nicht gehoert? + +(Burgess.) So, das ist also der poetische Jammer? Potztausend, es ist +mir selbst schon ein oder zweimal aufgefallen, dass es nicht ganz +richtig mit ihm ist. (Er durchschreitet das Zimmer und hebt seine +Stimme, waehrend er geht:) Na, das ist ein huebsches Irrenhaus fuer einen +Menschen, der ausser Ihnen niemanden hat, sich um ihn zu kuemmern. + +(Proserpina waehrend er bei ihr vorbeikommt:) Ja, wie fuerchterlich waere +es, wenn Ihnen da etwas zustiesse. + +(Burgess hochmuetig:) Erlauben Sie sich keine Bemerkungen! Sagen Sie +Ihrem Prinzipal, dass ich in den Garten gegangen bin, meine Pfeife zu +rauchen. + +(Proserpina spottend:) Oh!--(Ehe Burgess erwidern kann, kehrt Morell +zurueck.) + +(Burgess gefuehlvoll:) Ich gehe in den Garten, meine Pfeife zu rauchen, +Jakob. + +(Morell kurz angebunden:) Schon gut, schon gut! (Burgess geht +wuerdevoll hinaus, wie ein mueder alter Mann. Morell steht vor dem +Tisch, wendet seine Papiere um und spricht zu Proserpina hinueber, halb +humorvoll, halb geistesabwesend.) + +(Morell.) Nun, Prossi, warum haben Sie meinen Schwiegervater mit +Schimpfnamen belegt? + +(Proserpina wird feuerrot und sieht rasch zu ihm auf, halb +vorwurfsvoll, halb erschrocken:) Ich--(Sie bricht in Traenen aus.) + +(Morell lehnt sich mit leisem Humor zu ihr hinueber und troestet sie:) +Oh, lassen Sie, lassen Sie nur! es ist ja nichts dabei: er ist ein +alter Schafskopf, nicht wahr? (Mit einem krampfhaften Schluchzen +stuerzt sie nach der Tuer und verschwindet, die Tuer zuschlagend. Morell +schuettelt resigniert den Kopf, seufzt und geht muede an seinen Stuhl, +wo er sich an die Arbeit setzt. Er sieht alt und vergraemt aus. +Candida kommt herein; sie hat ihre haeusliche Arbeit beendet und die +Schuerze abgenommen. Sie bemerkt sofort Morells niedergeschlagenes +Aussehen, setzt sich ruhig auf den Besuchsstuhl und betrachtet ihn +aufmerksam. Sie schweigt.) + +(Morell sieht auf, die Feder einen Moment absetzend:) Nun, wo ist +Eugen? + +(Candida.) Er waescht sich die Haende in der Waschkueche--unter der +Wasserleitung. Er wird ein ausgezeichneter Koch werden, wenn er nur +erst seine Furcht vor Marie ueberwunden hat. + +(Morell kurz:) Gewiss, zweifellos. (Er faengt wieder zu schreiben an.) + +(Candida geht naeher und legt ihre Haende sanft auf die seinen, um ihn +aufzuhalten, und sagt:) Komm zu mir, mein Lieber. Lass dich anschauen. +(Er legt seine Feder weg und stellt sich ihr zur Verfuegung; sie lasst +ihn aufstehen, zieht ihn ein wenig vom Tisch fort und betrachtet ihn +mit kritischen Blicken.) Wende dein Gesicht einmal gegen das Licht. +(Sie stellt ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.) Mein alter Junge +sieht nicht gut aus,--hat er sich ueberanstrengt? + +(Morell.) Nicht mehr als gewoehnlich. + +(Candida.) Er sieht sehr bleich und grau, runzelig und alt aus. +(Seine Melancholie nimmt zu und Candida fasst sie geflissentlich lustig +an.) Komm her. (Sie zieht ihn zum Lehnstuhl:) Du hast fuer heute genug +geschrieben. Ueberlass Prossi alles Weitere, und wir wollen ein +bisschen plaudern. + +(Morell.) Aber-- + +(Candida nachdruecklich:) Ja, du musst mit mir plaudern. (Sie zwingt +ihn, Platz zu nehmen, und setzt sich auf den Teppich zu seinen Fuessen.) +Nun (seine Haende streichelnd:) faengst du schon an, besser auszusehen. +Warum gibst du alle diese ermuedenden Extraarbeiten nicht auf? Jeden +Abend gehst du aus, um zu predigen und zu reden. Freilich, was du +sagst, ist alles schoen und gut; aber es nuetzt ja nichts: sie geben +nicht das geringste darauf. Sie sind natuerlich deiner Ansicht--aber +was hat man davon, wenn Leute mit einem einverstanden sind und dann +hingehen und das Gegenteil von allem tun, sobald man den Ruecken kehrt? +Denke nur an unsere Gemeinde in St. Dominik? Warum wollen sie dich +jeden Sonntag ueber Christentum reden hoeren? Nur weil sie mit ihren +Geschaeften und Geldangelegenheiten sechs Tage lang so sehr beschaeftigt +waren, dass sie am siebenten Tage nichts davon hoeren moegen. Da wollen +sie ruhen und sich erbauen, damit sie frisch zurueckkehren und besser +als je dem Gelde nachjagen koennen. Du hilfst ihnen nur noch dabei, +anstatt sie daran zu hindern. + +(Morell mit energischem Ernst:) Du weisst sehr gut, Candida, dass ich +sie deswegen oft tuechtig ausschelte. Aber wenn ihr Kirchgang ihnen +nichts anderes bedeutet als Ruhe und Zerstreuung, warum waehlen sie +dann nichts Lustigeres, Angenehmeres? Es muss doch etwas Gutes in der +Tatsache liegen, dass sie die Kirche am Sonntag schlimmeren Orten +vorziehen. + +(Candida.) Oh, die schlimmen Orte sind eben nicht offen, und selbst +wenn sie es waeren, sie wuerden sich nicht trauen hinzugehen, aus Angst +gesehn zu werden. Ueberdies, lieber Jakob, predigst du so +wundervoll, dass es fuer sie so gut wie ein Schauspiel ist. Warum, +glaubst du, sind die Frauen alle so begeistert? + +(Morell verletzt:) Candida! + +(Candida.) Oh, ich weiss. Du Ahnungsloser, du glaubst, dein +Sozialismus und deine Religion machen es,--doch wenn's bloss das waere, +dann wuerden sie tun, was du ihnen sagst, anstatt nur hinzugehen und +dich anzustarren;--sie haben alle Prossis Leiden. + +(Morell.) Prossis Leiden? Was meinst du damit, Candida? + +(Candida.) Ja, Prossis und das all der anderen Sekretaerinnen, die du +hattest. Warum, meinst du, laesst sich Prossi herbei, abzuwaschen, +Kartoffeln zu schaelen und sich auf alle moegliche Art zu erniedrigen, +da sie bei dir doch sechs Schillinge in der Woche weniger verdient, +als sie in einem Bureau in der City bekaeme? Sie ist verliebt in dich, +das ist der Grund,--sie sind alle in dich verliebt. Und du bist ins +Predigen verliebt, weil du das so wundervoll kannst. Und du glaubst, +es sei alles Enthusiasmus fuer das Himmelreich auf Erden--und sie +glauben es auch--o du lieber Dummkopf, du! + +(Morell.) Candida, was ist das fuer ein schrecklicher, seelenmordender +Zynismus? Scherzest du oder--ist es moeglich--bist du eifersuechtig? + +(Candida seltsam gedankenvoll:) Ja, manchmal bin ich etwas +eifersuechtig. + +(Morell unglaeubig:) Auf Prossi? + +(Candida lachend:) Nein, nein, nein. Nicht eifersuechtig a u f +jemanden. Eifersuechtig f ue r jemanden, der n i c h t so geliebt wird, +wie er sollte. + +(Morell.) Bin ich das? + +(Candida.) Du? Nein. Du bist verwoehnt durch Liebe und Verehrung, +mehr, als fuer dich gut ist.--Nein, ich meine Eugen. + +(Morell betroffen:) Eugen? + +(Candida.) Es scheint mir ungerecht, dass du alle Liebe besitzen sollst +und er keine, obgleich er sie so viel noetiger hat als du. (Eine +krampfhafte Bewegung schuettelt ihn gegen seinen Willen.) Was ist dir, +quaele ich dich? + +(Morell rasch:) Durchaus nicht. (Er sieht sie mit unruhiger Spannung +an.) Du weisst, dass ich dir blindlings vertraue, Candida. + +(Candida.) Du eitler Mann. Bist du deiner Unwiderstehlichkeit so +sicher? + +(Morell.) Candida, du verletzest mich. Ich habe an +Unwiderstehlichkeit nie gedacht. Deiner Froemmigkeit, deiner Reinheit +vertraue ich. + +(Candida.) Was fuer haessliche, ungemuetliche Dinge du mir da sagst,--oh, +du bist wirklich ein Pastor, Jakob, ein Pastor durch und durch! + +(Morell ins Herz getroffen, sich von ihr abwendend:) Das sagt Eugen +auch. + +(Candida neigt sich mit lebhaftem Interesse zu ihm, die Arme auf +seinen Knien:) Eugen hat immer recht. Er ist ein wundervoller Junge, +ich habe ihn lieber und lieber gewonnen waehrend der ganzen Zeit, wo +ich fort war. Weisst du, Jakob, dass er, obwohl er selbst nicht die +leiseste Ahnung davon hat, im Begriff steht, sich wahnsinnig in mich +zu verlieben? + +(Morell grimmig:) Oh, er selbst hat nicht die leiseste Ahnung davon, +wirklich? + +(Candida.) Nicht die geringste. (Sie nimmt ihre Arme von seinen Knien +und wendet sich gedankenvoll ab, wobei sie eine bequeme Stellung +einnimmt, die Haende im Schoss.) Eines Tages wird er es wissen,--wenn er +erwachsen und erfahren sein wird wie du--da wird er erkannt haben, dass +ich es wissen musste!--Ich bin neugierig, was er dann von mir denken +wird. + +(Morell.) Nichts Boeses, Candida. Ich hoffe und vertraue, nichts Boeses. + +(Candida zweifelnd:) Das wird davon abhaengen... + +(Morell erschreckt:) Abhaengen! + +(Candida ihn ansehend:) Ja, es wird davon abhaengen, was er bis dahin +erleben wird. Er sieht sie verstaendnislos an. Begreifst du das +nicht? Es haengt ganz davon ab, wie und durch wen ihm bewusst wird, was +die Liebe eigentlich ist. Ich meine, es kommt auf die Frau an, die +ihn die Liebe lehren wird. + +(Morell ganz verwirrt:) Nein,--ja,--ich weiss nicht, was du meinst. + +(Candida erklaerend:) Wenn eine gute Frau sie ihn lehrt, dann wird +alles gut und schoen sein, dann wird er mir verzeihen. + +(Morell.) Verzeihen?! + +(Candida fortfahrend:) Aber gesetzt den Fall, dass eine schlechte Frau +sie ihn lehrt, wie dies vielen Maennern, ganz besonders dichterisch +veranlagten, geschieht, die alle Frauen fuer Engel halten,--gesetzt den +Fall, sage ich, dass er den Wert der Liebe erst dann entdeckt, wenn er +sie fortgeworfen und sich in seiner Unwissenheit selbst erniedrigt hat, +--glaubst du, dass er mir dann auch verzeihen wird? + +(Morell.) Dir verzeihen? Weswegen? + +(Candida bemerkt, wie beschraenkt er ist, faehrt etwas enttaeuscht, aber +sanft fort:) Verstehst du das nicht? (Er schuettelt den Kopf; sie +wendet sich wieder zu ihm, um es ihm mit zartester Vertraulichkeit zu +erklaeren.) Ich meine: wird er mir verzeihen, dass ich selbst ihn die +Liebe nicht gelehrt, sondern ihn schlechten Frauen ueberlassen habe? +meiner Froemmigkeit--meiner Reinheit wegen, wie du es nennst! Oh, +Jakob, wie wenig du mich doch verstehst, dass du nur immer von deinem +Vertrauen in meine Froemmigkeit und Reinheit sprichst. Ich wuerde sie +beide dem armen Eugen so gerne geben, wie einem frierenden Bettler +meinen Schal, wenn nichts anderes mich davon abhielte. Vertraue auf +meine Liebe zu dir; denn wenn die nicht waere, aus deinen Predigten +wuerde ich mir sehr wenig machen--das sind bloss leere Phrasen, mit +denen du andere und dich selbst jeden Tag beluegst. (Sie ist im +Begriff aufzustehen.) + +(Morell.) Seine Worte! + +(Candida schnell innehaltend, indem sie aufsteht:) Wessen Worte? + +(Morell.) Eugens! + +(Candida entzueckt:) Er hat immer recht. Er versteht dich, er versteht +mich, er versteht Prossi; und du, Jakob, du verstehst nichts. (Sie +lacht und kuesst ihn, um ihn zu troesten; er weicht wie gestochen zurueck +und springt auf.) + +(Morell.) Wie kannst du mich kuessen, waehrend du--oh, Candida! (Mit +Schmerz in der Stimme:) Ich haette vorgezogen, dass du mir einen +Widerhaken ins Herz gestossen haettest, statt mir diesen Kuss zu geben. + +(Candida erhebt sich beunruhigt:) Mein Lieber, was ist denn mit dir? + +(Morell schuettelt sie wild ab:) Beruehre mich nicht! + +(Candida erstaunt:) Jakob! Sie werden durch den Eintritt Marchbanks' +und Burgess' unterbrochen, der in der Naehe der Tuer stehen bleibt und +sie anstarrt, waehrend Eugen sich zwischen sie nach vorwaerts draengt. + +(Marchbanks.) Ist etwas vorgefallen? + +(Morell totenbleich, mit eiserner Selbstbeherrschung:) Nichts, als dass +entweder Sie heute morgen recht hatten, oder dass Candida verrueckt ist! + +(Burgess laut protestierend:) Was? Candy auch verrueckt? Das ist +zuviel! (Er durchschreitet das Zimmer bis zum Kamin, protestiert +waehrend des Gehens und klopft dort seine Pfeifenasche aus. Morell +setzt sich verzweifelt nieder, lehnt sich nach vorne, um sein Gesicht +zu verbergen, und verschlingt seine Finger krampfhaft, damit sie ruhig +bleiben.) + +(Candida zu Morell, erleichtert und lachend:) Oh, du bist nur +verletzt--ist das alles? Wie konventionell ihr unkonventionellen +Leute doch alle seid! + +(Burgess.) Benimm dich anstaendig, Candy. Was wird Herr Marchbanks von +dir denken? + +(Candida.) Das kommt davon, weil Jakob mir immer predigt, nur mir +selbst Rechenschaft abzulegen und nie darauf zu achten, was andere +Leute ueber mich denken koennten. Das ist ausserordentlich schoen und gut, +solange ich derselben Meinung bin wie er. Aber jetzt--weil ich +gerade etwas anderer Meinung war jetzt schau ihn dir an, schau nur! +(Sie weist auf Morell, hoechst belustigt. Eugen beobachtet ihn und +presst seine Hand heftig ans Herz, als wenn ihn irgendein Schmerz +getroffen haette; er setzt sich auf das Sofa wie ein Mensch, der einer +Tragoedie beiwohnt. Burgess auf dem Kaminteppich:) Sie hat recht, +Jakob, Sie sehen wirklich nicht so wuerdig aus wie gewoehnlich. + +(Morell mit einem Lachen, das ein halbes Schluchzen ist:) Das kann +schon sein, verzeiht mir alle,--ich wusste nicht, dass ich eine Stoerung +verursache. (Sich zusammenraffend:) Es ist schon gut, schon gut, +schon gut. (Er geht zurueck nach seinem Platz am Tisch und setzt sich, +um an seinen Papieren wieder mit entschlossener Heiterkeit +weiterzuarbeiten.) + +(Candida geht nach dem Sofa und setzt sich neben Marchbanks, noch in +heiterster Stimmung:) Nun, Eugen, warum sind Sie traurig? Haben Sie +vom Zwiebelschaelen geweint? (Morell kann sich nicht enthalten, sie zu +beobachten.) + +(Marchbanks beiseite zu ihr:) Ihre Grausamkeit ist es, die mich +traurig macht.--Ich hasse Grausamkeit. Es ist entsetzlich, +mitanzusehen, wie ein Mensch einem andern weh tut. + +(Candida ihn streichelnd, ironisch:) Armer Junge, war ich grausam? +Habe ich ihn kleine, rote, haessliche Zwiebel schaelen lassen? + +(Marchbanks ernst:) Oh, halten Sie ein, halten Sie ein: ich meine +nicht mich! Er hat Ihretwegen furchtbar gelitten. Ich fuehle seinen +Schmerz in meinem eigenen Herzen. Ich weiss, dass Sie nicht schuld +daran sind,--es ist etwas geschehen, was geschehen musste; aber nehmen +Sie es nicht so leicht. Mich schaudert, wenn Sie ihn quaelen und dabei +lachen. + +(Candida unglaeubig:) Ich Jakob quaelen?! Unsinn, Eugen; wie Sie +uebertreiben! Torheit! (Sie blickt hinueber zu Jakob, der seine +Schreiberei hastig fortsetzt; sie gebt zu ihm und steht hinter seinem +Stuhl, sich ueber ihn beugend.) Arbeite nicht laenger, mein Lieber, komm +und plaudere mit uns. + +(Morell liebevoll, aber bitter:) Ach nein: ich kann nicht plaudern, +ich kann nur predigen. + +(Candida ihn streichelnd:) Nun, dann komm und predige! + +(Burgess heftig widersprechend:) Ach nein, Candy! zum Henker mit dem +Predigen! (Alexander Mill kommt herein und sieht aengstlich und +wichtig aus.) + +(Mill beeilt sich, Candida zu begruessen:) Wie geht es Ihnen, Frau +Morell? Wie freue ich mich, dass Sie wieder zurueck sind. + +(Candida.) Ich danke Ihnen, Herr Mill. Sie kennen Eugen, nicht wahr? + +(Mill.) O ja! Wie geht es Ihnen, Marchbanks? + +(Marchbanks.) Danke, gut! + +(Mill zu Morell:) Ich komme eben aus der Gilde von Sankt Matthaeus. +Die Leute sind furchtbar bestuerzt ueber Ihr Telegramm. Es ist doch +hoffentlich nichts geschehen? + +(Candida.) Was hast du denn telegraphiert, Jakob? + +(Mill zu Candida:) Es war vereinbart, dass er heute abend dort sprechen +sollte, sie haben den grossen Saal in der Marestrasse gemietet und eine +Menge Geld fuer Plakate ausgegeben. Der Herr Pastor telegraphierte nun, +dass er nicht kommen koennte! Es traf sie wie ein Blitz aus heiterem +Himmel. + +(Candida ueberrascht, beginnt zu wittern, dass etwas nicht in Ordnung +ist:) Eine Gelegenheit, oeffentlich zu sprechen, hast du ausgeschlagen? + +(Burgess.) Zum erstenmal in seinem Leben, das moechte ich wetten; +--nicht wahr, Candy? + +(Mill zu Morell:) Man hat beschlossen, Ihnen ein dringendes Telegramm +zu schicken, mit der Bitte, Ihren Entschluss zu aendern. Haben Sie es +erhalten? + +(Morell mit muehsam verhaltener Ungeduld:) Ja, ja, ich bekam es. + +(Mill.) Es war mit bezahlter Rueckantwort. + +(Morell.) Ja, ich weiss. Ich habe es beantwortet. Ich kann nicht +kommen. + +(Candida.) Aber warum nicht, Jakob? + +(Morell beinahe heftig:) Weil ich nicht mag! Diese Leute vergessen, +dass ich auch ein Mensch bin; sie halten mich fuer eine Redemaschine, +die man jeden Abend zu seinem Vergnuegen aufziehen kann. Darf ich +nicht auch einmal einen Abend zu Hause haben, mit meiner Frau und +meinen Freunden? (Sie sind alle ueber diesen Ausbruch erstaunt mit +Ausnahme von Eugen,--sein Ausdruck bleibt unveraendert.) + +(Candida.) Oh, Jakob, du weisst es selbst: morgen wirst du dann +Gewissensbisse haben, und ich werde darunter leiden muessen. + +(Mill eingeschuechtert, aber dringend:) Ich weiss natuerlich, dass diese +Menschen die unvernuenftigsten Anforderungen an Sie stellen; aber sie +haben ueberallhin um einen anderen Redner telegraphiert und koennen +niemanden mehr bekommen als den Praesidenten des Agnostikerbundes. + +(Morell rasch:) Nun, das ist ein ausgezeichneter Mann,--was wollen sie +denn noch mehr? + +(Mill.) Aber er besteht immer so fest auf der Scheidung des +Sozialismus vom Christentum. Er wird all das Gute, das wir gestiftet +haben, zunichte machen,--natuerlich, Sie muessen ja am besten wissen, +aber... + +(Er zoegert.) + +(Candida schmeichelnd:) O bitte, geh' doch hin, Jakob. Wir kommen +alle mit. + +(Burgess brummend:) Schau, Candy, lass uns lieber gemuetlich zu Hause am +Kamin sitzen. Er braucht ja nicht laenger als zwei Stunden +wegzubleiben. + +(Candida.) Du wirst dich in der Versammlung genau so behaglich fuehlen. +Wir werden alle auf dem Podium sitzen und wichtige Leute sein. + +(Marchbanks entsetzt:) Oh, bitte, nicht auf dem Podium; nein! Jeder +wird uns anstarren,--das hielte ich nicht aus. Ich werde im +Hintergrund des Saales bleiben. + +(Candida.) Fuerchten Sie sich nicht. Man wird viel zu sehr damit +beschaeftigt sein, Jakob anzustarren als dass man Sie bemerkte. + +(Morell wendet den Kopf und sieht Candida vielsagend ueber die Schulter +an:) Prossis Leiden, Candida,--nicht? + +(Candida lustig:) Jawohl. + +(Burgess neugierig:) Prossis Leiden? Was reden Sie da, Jakob? + +(Morell beachtet ihn nicht, erhebt sich, geht nach der Tuer, oeffnet und +ruft in befehlendem Ton hinaus:) Fraeulein Garnett! + +(Proserpina aus der Entfernung:) Ja, Herr Pastor, ich komme schon. +(Sie warten alle mit Ausnahme von Burgess, der verstohlen zu Mill geht +und ihn beiseite zieht.) + +(Burgess.) Hoeren Sie, Herr Mill: worin besteht Prossis Leiden? Was +fehlt ihr? + +(Mill vertraulich:) Ja, ich weiss es nicht genau; aber sie sprach recht +seltsame Dinge heute frueh;--ich fuerchte, es ist manchmal nicht ganz +richtig mit ihr. + +(Burgess ueberwaeltigt:) Nein,--vier in demselben Haus! Es muss +ansteckend sein. (Er geht zurueck an den Kamin, ganz in Gedanken +versunken ueber die Veraenderlichkeit des menschlichen Verstandes in der +Umgebung eines Geistlichen.) + +(Proserpina erscheint auf der Schwelle:) Was wuenschen Sie, Herr Pastor? + +(Morell.) Telegraphieren Sie nach der Gilde von Sankt Matthaeus, dass +ich kommen werde. + +(Proserpina ueberrascht:) Werden Sie denn nicht erwartet? + +(Morell gebieterisch:) Tun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe. +(Proserpina setzt sich erschrocken an die Schreibmaschine und gehorcht.) + +(Morell geht hinueber zu Burgess. Candida beobachtet seine Bewegungen +die ganze Zeit ueber mit wachsender Verwunderung und Besorgnis.) +Burgess, Sie moechten lieber nicht mitkommen? + +(Burgess sich entschuldigend:) Oh, so duerfen Sie das nicht +auffassen--ich meine nur, wissen Sie--weil heute nicht Sonntag ist. + +(Morell.) Das ist schade, ich dachte, Sie wuerden gerne mit dem +Vorsitzenden bekannt werden. Er ist im Provinzialarbeitsausschuss und +hat einigen Einfluss bei Abschluessen von Lieferungen. (Burgess wird +mit einem Male lebendig; Morell, der das erwartet hat, haelt einen +Augenblick inne und sagt:) Sie wollen also doch mitkommen? + +(Burgess mit Enthusiasmus:) Das will ich meinen,--ob ich mitkomme, +Jakob! Es ist ja stets ein Genuss, Sie predigen zu hoeren! + +(Morell wendet sich zu Proserpina:) Ich werde Sie noetig haben, damit +Sie in der Versammlung einige Notizen machen koennen, Fraeulein Garnett, +falls Sie nicht schon vergeben sind. (Sie nickt, aus Angst, sprechen +zu muessen.) Sie kommen doch auch mit, Lexi? + +(Mill.) Selbstverstaendlich. + +(Candida.) Wir kommen alle mit, Jakob. + +(Morell.) Nein! Du kommst nicht mit, und Eugen kommt nicht mit. Du +wirst zu Hause bleiben und dich mit ihm unterhalten, zur Feier deiner +Rueckkehr. (Eugen erhebt sich atemlos.) + +(Candida.) Aber Jakob-- + +(Morell gebieterisch:) Ich bestehe darauf; Ihr habt beide keine Lust +zu kommen, weder er, noch du! (Candida will sich dagegen verwahren.) +Oh, denkt nicht an mich, ich werde auch ohne euch eine Menge Menschen +um mich versammelt sehen. Eure Stuehle werden von unbekehrten Leuten +besetzt sein, die mich noch nie gehoert haben. + +(Candida beunruhigt:) Eugen, moechten Sie nicht hingehen? + +(Morell.) Ich wuerde mich fuerchten, mich vor Eugen hoeren zu lassen; er +ist Predigten gegenueber sehr kritisch. (Sieht ihn an.) Er weiss, dass +ich mich vor ihm fuerchte, er hat mir's heute frueh selbst gesagt. Nun +will ich ihm zeigen, wie sehr ich mich fuerchte, indem ich ihn hier +allein in deiner Hut lasse, Candida. + +(Marchbanks zu sich selbst, mit lebhaftem Gefuehl:) Das ist tapfer; das +ist schoen. (Er setzt sich wieder und hoert mit geoeffneten Lippen zu.) + +(Candida mit aengstlicher Beunruhigung:) Aber, aber--Ist irgend etwas +geschehen, Jakob? (Sehr verwirrt:) Ich kann dich nicht begreifen. + +(Morell.) Ah, ich dachte, ich sei es, der nichts begreifen kann, meine +Liebe. (Er schliesst sie zaertlich in die Arme und kuesst sie auf die +Stirn, dann blickt er ruhig auf Marchbanks.) + +(Vorhang) + + + + +DRITTER AKT + +(Es ist nach zehn Uhr abends; die Vorhaenge sind zugezogen und die +Lampe brennt. Die Schreibmaschine steht in ihrem Kasten. Der breite +Tisch ist geordnet worden; alles zeugt davon, dass das Tagewerk +vollbracht ist. Candida und Marchbanks sitzen am Feuer; die Leselampe +steht auf dem Kaminsims ueber Marchbanks, der in dem kleinen Stuhl +sitzt und laut liest. Auf dem Teppich neben ihm liegt ein kleiner +Haufen von Manuskripten und ein paar Baende Gedichte. Candida sitzt im +grossen Stuhl und haelt einen leichten Schuerhaken aus Messing aufrecht +in der Hand; sie sitzt zurueckgelehnt und sieht versonnen auf die +funkelnde Messingspitze. Sie hat die Fuesse gegen das Feuer hin +ausgestreckt und laesst ihre Fersen auf dem Kamingitter ruhen, sich +ihrer Erscheinung und ihrer Umgebung tief unbewusst.) + +(Marchbanks seine Vorlesung unterbrechend:) Jeder Dichter, der je +gelebt hat, hat aus diesem Gedanken ein Sonett gemacht. Er muss es, ob +er will oder nicht. (Er sieht Candida an, ob sie ihm zustimmt, und +bemerkt, dass sie auf den Schuerhaken starrt.) Haben Sie nicht zugehoert? +(Keine Antwort:) Frau Morell! + +(Candida auffahrend.) Wie!? + +(Marchbanks.) Haben Sie nicht zugehoert? + +(Candida schuldbewusst, mit uebertriebener Hoeflichkeit:) O ja. Es ist +sehr huebsch. Fahren Sie fort, Eugen. Ich bin begierig, zu hoeren, was +dem Engel passiert ist. + +(Marchbanks laesst das Manuskript aus der Hand auf den Boden fallen:) +Verzeihen Sie, dass ich Sie langweile! + +(Candida.) Aber Sie langweilen mich durchaus nicht, wirklich nicht. +Bitte, fahren Sie fort--bitte, Eugen. + +(Marchbanks.) Ich habe das Gedicht ueber den Engel vor einer +Viertelstunde beendet. Ich habe Ihnen seitdem schon verschiedenes +vorgelesen. + +(Candida reuevoll:) Das tut mir wirklich leid, Eugen. Mir scheint, +der Schuerhaken hat mich behext. (Sie legt ihn nieder.) + +(Marchbanks.) Er hat mich fuerchterlich gestoert. + +(Candida.) Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich haette ihn sofort +weggelegt. + +(Marchbanks.) Ich fuerchtete, Sie auch zu stoeren; er glich einer Waffe. +Wenn ich ein Held aus alten Tagen waere, wuerde ich mein gezogenes +Schwert zwischen uns gelegt haben. Wenn Morell gekommen waere, haette +er geglaubt, dass Sie den Schuerhaken ergriffen haben, weil kein Schwert +zwischen uns liegt. + +(Candida verwundert:) Was? (Sie sieht ihn mit verwirrten Blicken an:) +Das kann ich nicht recht verstehen. Ihre Sonette haben mich so sehr +verwirrt! Warum sollte ein Schwert zwischen uns sein? + +(Marchbanks ausweichend:) Oh, lassen wir das. (Er bueckt sich, das +Manuskript aufzuheben.) + +(Candida.) Legen Sie das wieder hin, Eugen. Mein Hunger nach Poesie +hat Grenzen, selbst nach Ihrer Poesie. Sie haben mir laenger als zwei +Stunden vorgelesen--seit mein Mann fort ist--, ich moechte lieber +plaudern. + +(Marchbanks erhebt sich, furchtsam:) Nein, ich darf nicht reden. (Er +sieht in seiner verlorenen Weise um sich und fuegt ploetzlich hinzu:) +Ich glaube, ich mache einen Spaziergang im Park. (Er will nach der +Tuer.) + +(Candida.) Unsinn! er ist laengst geschlossen. Setzen Sie sich auf den +Kaminteppich und plaudern wir, wie Sie es gewoehnlich tun! Ich will +unterhalten werden,--wollen Sie nicht? + +(Marchbanks halb entsetzt, halb hingerissen:) Ja. + +(Candida.) Dann kommen Sie her. (Sie rueckt ihren Stuhl etwas zurueck, +um Platz zu machen; er zoegert, dann kauert er sich schuechtern hin vor +den Kamin, das Gesicht nach oben gekehrt, wirft seinen Kopf zurueck auf +ihre Knie und sieht zu ihr empor.) + +(Marchbanks.) Oh, ich habe mich den ganzen Tag so ungluecklich gefuehlt, +weil ich getan habe, was recht war; und nun, wo ich unrecht tue, bin +ich so gluecklich. + +(Candida zart, belustigt ueber ihn:) Ja; ich bin ueberzeugt, nun fuehlen +Sie sich wie ein grosser, erwachsener, boeser Verfuehrer--ganz stolz auf +sich, nicht wahr? + +(Marchbanks erhebt seinen Kopf rasch und wendet sich ein wenig, um sie +anzublicken:) Nehmen Sie sich in acht. Ich bin sogar um vieles +aelter als Sie, Sie wissen es nur nicht. (Er wendet sich auf seinen +Knien ganz herum; mit gefalteten Haenden und die Arme in ihrem Schoss, +spricht er mit wachsender Erregung--sein Blut faengt an zu wallen:) +Darf ich Ihnen ein paar schlimme Dinge sagen? + +(Candida ohne die leiseste Angst oder Kaelte und mit vollkommener +Achtung vor seiner Leidenschaft, aber mit einem Schimmer ihres +klugkerzigen muetterlichen Humors:) Nein. Aber Sie duerfen alles +sagen, was Sie wirklich und wahrhaftig fuehlen, was es auch sei, alles! +Ich fuerchte mich nicht, solange Ihr wirkliches "Selbst" zu mir +spricht und nicht eine blosse Pose--eine galante oder eine gottlose, +oder selbst eine dichterische Pose. Das verlange ich von Ihnen, bei +Ihrer Ehre und Wahrhaftigkeit!--Nun sagen Sie, was Sie wollen. + +(Marchbanks der heisse Ausdruck verschwindet vollkommen von seinen +Lippen und Nasenfluegeln, seine Augen flammen auf in begeistertem Feuer.) +Oh, jetzt kann ich nicht mehr alles sagen; denn alle Worte, die ich +weiss, gehoeren mehr oder weniger irgendeiner Pose an, alle--bis auf +eines. + +(Candida.) Welches Wort ist das? + +(Marchbanks sanft, sich dem melodischen Klang des Namens hingebend:) +"Candida, Candida, Candida, Candida, Candida"--das muss ich jetzt sagen, +da Sie mich bei meiner Ehre und Wahrhaftigkeit fragen, denn ich denke +und fuehle niemals "Frau Morell", immer nur "Candida". + +(Candida.) Selbstverstaendlich! Und was haben Sie Candida zu sagen? + +(Marchbanks.) Nichts als Ihren Namen tausendmal zu wiederholen. +Fuehlen Sie nicht, dass es jedesmal ein Gebet zu Ihnen ist? + +(Candida.) Macht es Sie nicht gluecklich, dass Sie beten koennen? + +(Marchbanks.) Ja, sehr gluecklich. + +(Candida.) Nun, dieses Glueck ist die Antwort auf Ihr Gebet.--Wuenschen +Sie sich etwas Besseres? + +(Marchbanks selig:) Nein, ich bin im Himmel, wo man wunschlos ist. +(Morell tritt ein; er bleibt an der Schwelle stehen und ueberschaut mit +einem Blick die ganze Szene.) + +(Morell ernst und mit Selbstbeherrschung:) Hoffentlich stoere ich nicht. +(Candida faehrt heftig auf, aber ohne die leiseste Verlegenheit. Sie +lacht ueber sich selbst. Eugen, noch auf den Knien, schuetzt sieh vor +dem Fallen dadurch, dass er seine Haende auf den Stuhlsitz legt; Morell +mit offenem Munde anstarrend, bleibt er in dieser Stellung.) + +(Candida im Aufstehen:) Oh, Jakob, wie du mich erschreckt hast; ich +war so mit Eugen beschaeftigt, dass ich deinen Schluessel nicht gehoert +habe. Wie ist die Versammlung verlaufen? Hast du gut gesprochen? + +(Morell.) Ich habe in meinem ganzen Leben nicht besser gesprochen. + +(Candida.) Das ist ausgezeichnet! Wieviel ist eingegangen? + +(Morell.) Ich vergass zu fragen. + +(Candida zu Eugen:) Er muss wundervoll gesprochen haben oder er haette +das nicht vergessen. (Zu Morell:) Wo sind die andern? + +(Morell.) Sie verliessen den Saal lange ehe ich fortkommen konnte; ich +glaube, sie essen irgendwo zur Nacht. + +(Candida in ihrer hausmuetterlichen Art:) Oh, dann kann Marie zu Bette +gehn; ich will es ihr sagen. (Sie geht hinaus in die Kueche.) + +(Morell blickt strenge auf Marchbanks nieder:) Nun? + +(Marchbanks laesst sich mit gekreuzten Beinen auf den Kaminteppich +nieder und fuehlt sich Morell gegenueber ganz sicher, sogar voll +verschmitzten Humors:) Nun? + +(Morell.) Haben Sie mir etwas zu sagen? + +(Marchbanks.) Nur, dass ich mich hier heimlich zum Narren gemacht habe, +waehrend Sie oeffentlich dasselbe getan haben. + +(Morell.) Ich glaube, kaum auf dieselbe Art. + +(Marchbanks springt auf, eifrig:) Ganz genau auf dieselbe Art. Ich +habe eben ganz so wie Sie den braven Mann gespielt! ganz so wie Sie. +Als Sie Ihr Heldentum, mich hier mit Candida allein zu lassen, +begannen-- + +(Morell unwillkuerlich:) Candida? + +(Marchbanks.) Ja, so weit bin ich schon. Heldentum ist ansteckend, +ich bekam die Krankheit von Ihnen und habe mir geschworen, Candida in +Ihrer Abwesenheit nichts zu sagen, was ich nicht schon vor einem Monat +in Ihrer Gegenwart gesagt haette. + +(Morell.) Und haben Sie dieses Geluebde gehalten? + +(Marchbanks setzt sich ploetzlich in grotesker Weise in den Lehnstuhl:) +Ich bin bis vor etwa zehn Minuten dumm genug gewesen, es zu halten. +Bis dahin habe ich ihr verzweifelt vorgelesen, meine eigenen +Gedichte--und andere--um einer Unterhaltung auszuweichen. Ich sah +das Himmelstor offen und weigerte mich, einzutreten.... Sie koennen +sich nicht vorstellen, wie heldenhaft das war und wie ungemuetlich.... +Dann-- + +(Morell seine Ungeduld bezaehmend:) Dann? + +(Marchbanks geht prosaisch in eine ganz gewoehnliche Stellung im +Lehnstuhl ueber:) Dann konnte sie das Vorlesen nicht mehr vertragen. + +(Morell.) Und da haben Sie sich dem Himmelstor schliesslich genaehert? + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Und dann? (Wild:) Sprechen Sie, Mensch! Haben Sie denn +kein Gefuehl fuer mich! + +(Marchbanks sanft und melodisch:) Dann wurde sie ein Engel, und ein +Flammenschwert erschien, das mir jeden Zugang versperrte, so dass ich +nicht eintreten konnte und nun begriff, dass dieses Tor in Wahrheit das +Tor der Hoelle war. + +(Morell triumphierend:) Sie hat Sie zurueckgestossen! + +(Marchbanks erhebt sich mit grimmigem Hohn:) Nein, Sie Narr! Wenn sie +das getan haette, wuerde ich gar nicht gefuehlt haben, dass ich schon im +Himmel war. Mich zurueckgestossen... glauben Sie, dass mich das gerettet +haette?--Tugendhafte Entruestung! Oh, Sie sind nicht wert, in einer +Welt mit ihr zu leben. (Er wendet sich verachtungsvoll von ihm ab +nach der anderen Seite des Zimmers.) + +(Morell der ihn ruhig beobachtet hat, ohne seinen Platz zu wechseln:) +Glauben Sie, dass Sie dadurch an Wert gewinnen, wenn Sie mich +beschimpfen, Eugen? + +(Marchbanks.) Hier endet der tausendunderste Text. Morell: ich halte +doch nicht viel von Ihrem Predigen. Ich glaube sogar, ich selbst +koennte das besser. Der Mann, den ich jetzt vor mir haben moechte, ist +der Mann, den Candida geheiratet hat. + +(Morell.) Der Mann, den... meinen Sie mich? + +(Marchbanks.) Ich meine nicht Hochwuerden Jakob Mavor Morell, Moralist +und Schwaetzer. Ich meine den wirklichen Menschen, den Hochwuerden +Jakob irgendwo in seiner schwarzen Kutte versteckt haben muss, den Mann, +den Candida geliebt hat. Sie koennen die Liebe einer Frau wie Candida +nicht dadurch erreicht haben, dass Sie bloss Ihren Kragen hinten statt +vorne knoepfen. + +(Morell kuehn und standhaft:) Als Candida einwilligte, mich zu heiraten, +da war ich derselbe Moralist und Schwaetzer, den Sie jetzt vor sich +sehen. Ich trug meinen schwarzen Rock, und meinen Kragen knoepfte ich +hinten statt vorne. Glauben Sie, dass sie mich mehr geliebt haette, +wenn ich unaufrichtig in meinem Beruf gewesen waere? + +(Marchbanks auf dem Sofa, seine Knoechel umfassend:) Oh, sie hat Ihnen +vergeben, so wie sie mir vergibt, dass ich ein Feigling bin und ein +Schwaechling, und was Sie einen kleinen winselnden Hund--und so +weiter--nennen. (Vertraeumt:) Eine Frau wie diese hat goettlichen +Einblick: sie liebt unsere Seele und nicht unsere Narrheiten und +Eitelkeiten und Illusionen, oder unsere Kragen und Roecke, oder die +andern Fetzen und Lappen, in die wir gehuellt sind. (Er denkt darueber +einen Augenblick nach, dann wendet er sich mit gespannter Erwartung um, +Morell zu befragen:) Was ich wissen moechte, ist, wie Sie an dem +Flammenschwerte, das mich zurueckgeschreckt hat, vorbeigekommen sind! + +(Morell bedeutungsvoll:) Vielleicht weil ich nicht nach zehn Minuten +unterbrochen wurde. + +(Marchbanks verbluefft:) Was? + +(Morell.) Der Mensch kann auf die hoechsten Gipfel steigen; aber er +kann nicht lange dort verweilen. + +(Marchbanks.) Das ist falsch. Dort kann er ewig verweilen! nur dort! +Anderswo findet er keine Ruhe und hat keinen Sinn fuer die stille +Schoenheit des Lebens. Wo sollte ich meine seligsten Minuten verleben, +wenn nicht auf den Hoehen? + +(Morell.) In der Kueche, Zwiebeln schneidend und Lampen fuellend. + +(Marchbanks.) Oder auf der Kanzel, Seelen scheuernd die aus billigem +Ton sind. + +(Morell.) Ja, das auch! Dort habe ich meinen goldenen Augenblick +geerntet und mit ihm das Recht, um Candidas Liebe zu werben. Ich habe +mir diese Stunde nicht erborgt, noch habe ich sie benuetzt, um das +Glueck eines andern zu stehlen. + +(Marchbanks schreitet ziemlich angewidert dem Kamin zu:) Ich zweifle +nicht daran, dass Sie Ihre Verrichtungen so ehrenhaft erfuellt haben, +als ob Sie ein Pfund Kaese abgewogen haetten. (Er haelt vor dem Kamin +inne und fuegt nachdenklich zu sich selbst, Morell den Ruecken kehrend, +hinzu:) Ich konnte zu ihr nur als Bettler kommen. + +(Morell auffabrend:) Als ein frierender Bettler, der sie um ihren +Schal bat, nicht wahr? + +(Marchbanks wendet sich ueberrascht um:) Ich danke Ihnen, dass Sie sich +auf mein Gedicht beziehen. Ja, wenn Sie wollen: als ein frierender +Bettler, der sie um ihren Schal bat. + +(Morell erregt:) Und sie verweigerte ihn. Soll ich Ihnen sagen, warum +sie ihn verweigert hat? Ich kann es Ihnen sagen, mit ihrer eigenen +Erlaubnis: weil... + +(Marchbanks.) Sie hat ihn nicht verweigert! + +(Morell.) Nicht? + +(Marchbanks.) Sie bot mir alles, worum ich bat: ihren Schal, ihre +Fluegel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer Hand, den +aufgehenden Mond zu ihren Fuessen. + +(Morell ihn anpackend:) Heraus mit der Wahrheit, Mensch! Meine Frau +ist meine Frau: ich habe genug von Ihrem poetischen Flitterkram,--ich +weiss ganz gut, dass kein Gesetz Candida an mich binden wuerde, wenn ich +ihre Liebe an Sie verloren haette! + +(Marchbanks bizarr, ohne Furcht oder Widerstand:) Packen Sie mich nur +beim Kragen: sie wird ihn dann wieder in Ordnung bringen wie heute +morgen. (Mit stiller Begeisterung:) Ich werde wieder die Beruehrung +ihrer Haende fuehlen. + +(Morell:) Sie junger Fant, fuehlen Sie nicht, wie gefaehrlich es ist, +mir das zu sagen! Oder (mit ploetzilicher Befuerchtung:) hat Sie irgend +etwas kuehn gemacht? + +(Marchbanks.) Ich fuerchte mich jetzt nicht mehr! Ich habe Sie bisher +nie leiden moegen, deshalb bin ich bei Ihren Beruehrung zusammengezuckt. +Aber heute erkannte ich--als Candida Sie quaelites--dass Sie sie lieben. +Seitdem bin ich Ihr Freund! Jetzt koennen sie mich erwuergen, wenn +Sie wollen! + +(Morell ihn loslassend:) Eugen, wenn das keine herzlose Luege ist--wenn +Sie noch einen Funken menschlichen Fuehlens haben--so werden Sie mir +sagen, was im meiner Abwesenheit vergefallen ist! + +(Marchbanks:) Was vorgefallen ist? Nun, das Flamenmenschwere... +(Morell stampft ungeduldig mit dem Fusse;),--also im ganz einfacher +Prosa: ich liebte sie so unendlich, dass ich nichts weiter wuenschte als +das Glueck, so lieben zu fuer ich und bevor ich--Zote fang vom hoechsten +Grafen der Gefuer herunterzutaumente--traten Sie ein. + +(Morell (scowen leidend:)) Leidenschaftlichem immer nicht erduldig-- +immer bleibt ihr noch die ehblines Zweifzig. + +(Marchbanks.) Quall und wuensche jetzt nichts mehr als Candidas +Glueck. (Mit leidenschaftlichem Gefuehl:) Oh, Morell, geben wir sie +beide auf! Warum soll sie waehlen muessen zwischen einem elenden, +nervoesen kleinen Kranken, wie ich es bin, und einem starrkoepfigen +Pfarrer wie Sie? Gehen wir auf Pilgerschaft, Sie nach Osten und ich +nach Westen, auf der Suche nach einem wuerdigeren Liebhaber, einem +schoenen Erzengel mit purpurnen Fluegeln. + +(Morell.) Papperlapapp, dummes Zeug! Oh, wenn sie verrueckt genug waere, +mich Ihretwegen zu verlassen, wer sollte sie beschuetzen, wer sollte +ihr helfen, wer sollte fuer sie arbeiten, wer ihren Kindern ein Vater +sein! (Er setzt sich verstoert auf das Sofa, seine Ellbogen auf die +Knie gestuetzt und den Kopf zwischen den geballten Faeusten.) + +(Marchbanks schnappt wild mit den Fingern:) Sie stellt nicht solche +toerichte Fragen: sie braucht jemanden, den sie schuetzen und behueten, +fuer den sie arbeiten kann, jemanden, der ihr Kinder anvertraut, um sie +zu beschuetzen, ihnen zu helfen und fuer sie zu arbeiten, einen +erwachsenen Menschen, der wieder wie ein kleines Kind geworden ist. +Oh, Sie Narr, Sie Narr, Sie dreifacher Narr! Ich bin der Mann, Morell, +ich bin der Mann! (Er tanzt aufgeregt herum und schreit:) Sie +verstehen nicht, was eine Frau ist,--schicken Sie nach ihr, Morell, +schicken Sie nach ihr und lassen Sie sie waehlen zwischen--(Die Tuer +oeffnet sich und Candida tritt ein; er haelt wie versteinert inne.) + +(Candida erstaunt an der Schwelle:) Was um alles in der Welt machen +Sie da, Eugen? + +(Marchbanks drollig:) Ihr Mann und ich haben ein Wettpredigen +veranstaltet, und er verliert dabei. (Candida sieht rasch nach Morell, +und als sie bemerkt, dass er traurig ist, eilt sie hin zu ihm und +spricht sehr aergerlich mit heftigem Vorwurf zu Marchbanks.) + +(Candida.) Sie haben ihn geaergert. Nein, das dulde ich nicht, Eugen, +hoeren Sie! (Sie legt ihre Hand auf Morells Schulter und vergisst in +ihrem Aerger ganz ihren weiblichen Takt:) Mein Liebling soll nicht +geaergert werden, ich werde ihn beschuetzen. + +(Morell sich stolz erhebend:) Beschuetzen? + +(Candida nicht auf ihn achtend, zu Eugen:) Was haben Sie ihm gesagt? + +(Marchbanks erschreckt:) Nichts. Ich-- + +(Candida.) Eugen, nichts? + +(Marchbanks jaemmerlich:) Ich meine--ich--es tut mir sehr leid, ich +werde es nicht wieder tun, gewiss nicht, ich werde ihn in Ruhe lassen. + +(Morell empoert mit einer angreifenden Bewegung gegen Eugen:) Mich in +Ruhe lassen! Sie junger-- + +(Candida ihm ins Wort fallend:) Sch, nicht doch! lass mich mit ihm +reden, Jakob. + +(Marchbanks.) Oh, Sie sind mir doch nicht boese? + +(Candida strenge:) O ja, ich bin--sehr boese. Ich haette nicht uebel +Lust, Sie aus dem Hause zu jagen. + +(Morell von Candidas Heftigkeit ueberrascht und durchaus nicht willens, +sich vor einem andern Mann durch sie retten zu lassen:) Sachte, +Candida, sachte. Ich kann mich schon selbst beschuetzen. + +(Candida ihn streichelnd:) Ja, Lieber, natuerlich kannst du das. Aber +man darf dich nicht aergern und quaelen. + +(Marchbanks beinahe in Traenen, sich nach der Tuere wendend:) Ich will +gehen. + +(Candida.) Oh, Sie brauchen nicht zu gehen, so spaet kann ich Sie nicht +fortschicken. (Heftig:) Aber schaemen Sie sich, schaemen Sie sich! + +(Marchbanks verzweifelt:) Was habe ich denn getan? + +(Candida.) Ich weiss, was Sie getan haben, so genau, als ob ich die +ganze Zeit hier gewesen waere.--Oh, es war unwuerdig. Sie sind wie ein +kleines Kind, Sie koennen Ihren Mund nicht halten. + +(Marchbanks.) Ich wuerde lieber zehnfachen Tod erleiden, als Ihnen +einen Augenblick Kummer bereiten. + +(Candida mit groesster Geringschaetzung gegen diese Kinderei:) Ihr Tod +wuerde mir viel nuetzen! + +(Morell.) Liebste Candida, dieser Wortwechsel ist kaum am Platz. Es +handelt sich um eine Angelegenheit zwischen zwei Maennern, und ich bin +dazu da, sie beizulegen. + +(Candida.) Zwei Maenner? Nennst du das einen Mann? (Zu Eugen:) Sie +schlimmer junge, Sie! + +(Marchbanks wird wunderlich liebevoll und mutig, da er ausgezankt +wird:) Wenn ich mich auszanken lassen soll wie ein kleiner Junge, muss +ich mich auch wie ein kleiner Junge verteidigen duerfen. Er hat +angefangen und er ist groesser als ich. + +(Candida verliert ein wenig ihre Sicherheit, da sie Morells Wuerde +bedroht sieht:) Das kann nicht wahr sein. (Zu Morell:) Du hast doch +nicht angefangen, Jakob, nicht wahr, nein? + +(Morell verachtungsvoll:) Nein. + +(Marchbanks entruestet:) Oh! + +(Morell zu Eugen:) Sie haben angefangen,--heute frueh. (Candida bringt +dies sofort in Zusammenhang mit der geheimnisvollen Bemerkung, die +Jakob nachmittag machte, als er ihr sagte, dass ihm Eugen am Morgen +etwas mitgeteilt habe. Sie sieht ihn mit raschem Verdachte forschend +an. Morell faehrt fort mit dem Pathos der beleidigten Ueberlegenheit:) +Aber Ihre andere Bemerkung ist richtig. Ich bin gewiss der Groessere von +uns beiden und, wie ich hoffe, Candida, auch der Staerkere! Es waere +daher besser, du ueberliessest die Sache mir. + +(Candida ihn wieder besaenftigend:) Ja, Lieber--aber (verwirrt:) ich +verstehe das nicht wegen heute morgen. + +(Morell ein wenig auffahrend:) Das brauchst du auch nicht zu verstehen, +meine Liebe. + +(Candida.) Aber, Jakob, ich--(Die Hausglocke laeutet:) Oh, wie dumm. +Da kommen sie alle! (Sie geht hinaus, sie einzulassen.) + +(Marchbanks laeuft zu Morell:) Oh, Morell, ist das nicht schrecklich? +Sie ist boese auf uns, sie hasst mich,--was soll ich tun? + +(Morell in seltsamer Verzweiflung, sich in die Haare fahrend:) Eugen, +es dreht sich mir alles im Kopf, ich werde gleich zu lachen anfangen. +(Er geht in der Mitte des Zimmers auf und ab.) + +(Marchbanks folgt ihm aengstlich:) Nein, nein! Dann wird sie glauben, +ich haette Sie hysterisch gemacht. Lachen Sie nicht! (Man hoert +heftiges Stimmengewirr und Gelaechter, das immer naeher kommt. +Alexander Mill, dessen glaenzende Augen und dessen ganzes Benehmen eine +ungewohnte angeregte Stimmung verraten, tritt mit Burgess ein, der +einen schmierigen und selbstgefaelligen Eindruck macht, aber +vollstaendig Herr seiner Sinne ist. Fraeulein Garnett folgt ihm mit +ihrem schoensten Hut und ihrer besten Jacke, aber obwohl ihre Augen +glaenzender sind als frueher, ist sie sichtlich in besorgter Stimmung. +Sie stellt sich mit dem Ruecken gegen ihren Schreibmaschinentisch, mit +einer Hand sich darauf stuetzend, mit der anderen sich ueber die Stirne +fahrend, als ob sie etwas muede und schwindlig waere. Marchbanks +verfaellt wieder in Schuechternheit und schleicht weg in die Naehe des +Fensters, wo Morells Buecher sind.) + +(Mill begeistert:) Herr Pastor, ich *muss* Ihnen gratulieren, (seine +Hand fassend:)--was fuer eine edle, herrliche, von Gott eingehauchte +Ansprache Sie gehalten haben! Sie haben sich selbst uebertroffen. + +(Burgess.) Ja, das haben Sie, Jakob. Ich bin bis zum letzten Worte +wach geblieben,--nicht wahr, Fraeulein Garnett? + +(Proserpina ungeduldig:) Oh, ich habe Sie nicht beachtet, ich habe +mich bemueht, Notizen zu machen. (Sie nimmt ihre Notizen heraus, +blickt auf ihr Stenogramm und faengt beinahe zu weinen an.) + +(Morell.) Habe ich zu schnell gesprochen, Prossi? + +(Proserpina.) Viel zu schnell.--Sie wissen, ich kann nicht mehr als +neunzig Worte in der Minute schreiben. (Sie macht ihren Gefuehlen Luft, +indem sie ihr Notizbuch aergerlich neben die Maschine wirft, wo sie es +am naechsten Morgen bereit haben will.) + +(Morell besaenftigend:) Nun, nun, das macht ja nichts. Habt ihr alle +schon zur Nacht gegessen? + +(Mill.) Herr Burgess war so liebenswuerdig, uns in's Belgrave +Restaurant zu einem geradezu glaenzenden Abendessen einzuladen. + +(Burgess mit ueberschwenglicher Grossmut:) O bitte, bitte, Herr Mill. +(Bescheiden:) Sie waren mir bei meinem bescheidenen Feste herzlich +willkommen. + +(Proserpina.) Wir haben Champagner getrunken! Ich hatte noch niemals +welchen gekostet. Ich bin ganz schwindlig. + +(Morell ueberrascht:) Ein Champagnersouper! Das war sehr huebsch von +Ihnen. Ist meine Beredsamkeit schuld an dieser Verschwendung? + +(Mill mit Pathos:) Ihre Beredsamkeit und Herrn Burgess' Herzensguete. +(Mit erneutem Gefuehlsausbruch:) Was fuer ein herrlicher Mensch der +Vorsitzende war, Herr Morell; er hat auch mit uns gespeist. + +(Morell bedeutungsvoll Burgess anblickend:) So, so, der Vorsitzende! +--*jetzt* verstehe ich! (Burgess verbirgt hinter einem Huesteln ein +Laecheln der Zufriedenheit ueber seine diplomatische Geschicklichkeit +und setzt sich an den Kamin. Mill verschraenkt die Arme und lehnt sich +neben das Buechergestell in einer Stellung, die seine Begeisterung zum +Ausdruck bringt. Candida kommt mit Glaesern, Zitronen und heissem +Wasser auf einem Tablett herein.) + +(Candida.) Wer wuenscht etwas Limonade? Sie kennen unsere Hausregel: +vollkommene Abstinenz! (Sie stellt das Tablett auf den Tisch, nimmt +den Zitronenpresser zur Hand und blickt fragend umher.) + +(Morell.) Du bemuehst dich umsonst, meine Liebe, sie haben alle +Champagner getrunken, Prossi hat ihr Geluebde gebrochen. + +(Candida zu Proserpina:) Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie auch +Champagner getrunken haben? + +(Proserpina verstockt:) Ja, das hab' ich; ich bin nur eine Bier-, +keine Champagnerabstinenzlerin. Ich mag kein Bier.--Sind Briefe fuer +mich zur Beantwortung da, Herr Pastor? + +(Morell.) Nichts mehr fuer heute. + +(Proserpina.) Dann gute Nacht allerseits. + +(Mill galant:) Waere es nicht geraten, dass ich Sie nach Hause begleite, +Fraeulein Garnett? + +(Proserpina.) Nein, ich danke. Ich wuerde mich heute nacht niemandem +anvertrauen wollen! Haette ich nur nichts von diesem Zeug getrunken! +Sie geht rasch hinaus. + +(Burgess empoert:) Zeug! Dieses Maedel weiss nicht, was Champagner ist. +Pommery und Greno, zwoelf Schilling sechs Pence die Flasche. Zwei +Glaeser nacheinander hat sie geleert. + +(Morell etwas besorgt:) Gehen Sie, Lexi, und sehen Sie nach ihr! + +(Mill beunruhigt:) Aber wenn sie wirklich... bedenken Sie, wenn sie in +den Strassen zu singen anfaengt oder dergleichen! + +(Morell.) Eben darum waere es besser, Sie braechten sie sicher nach +Hause. + +(Candida.) Tun Sie es, Lexi, als guter Kamerad! (Sie reicht ihm die +Hand und schiebt ihn sanft nach der Tuer.) + +(Mill.) Es ist selbstverstaendlich meine Pflicht, mit ihr zu gehen. +Ich hoffe aber, es wird nicht noetig gewesen sein. Gute Nacht, Frau +Morell. (Zu den uebrigen:) Gute Nacht. (Er geht, Candida schliesst die +Tuer hinter ihm.) + +(Burgess.) Er war selbst ganz aus dem Haeuschen in lauter Froemmigkeit +nach dem zweiten Glas. Heutzutage koennen die Leute nicht mehr trinken +wie frueher. (Den Gegenstand fallen lassend, geht er vom Kamin fort.) +Nun, Jakob, es ist Zeit, das Haus zu schliessen. Herr Marchbanks, +werden Sie mir auf dem Heimwege ein Stueckchen das Vergnuegen Ihrer +Gesellschaft schenken? + +(Marchbanks erschrocken:) Ja, es ist besser, ich gehe. (Er eilt nach +der Tuer, aber Candida stellt sich ihm in den Weg.) + +(Candida mit ruhiger Wuerde:) Sie setzen sich noch, Sie werden noch +nicht gehen! + +(Marchbanks eingeschuechtert:) Nein,--ich--ich wollte ja auch nicht. +(Er kommt zurueck in das Zimmer und setzt sich gehorsam auf das Sofa.) + +(Candida.) Herr Marchbanks bleibt heute nacht bei uns, Papa. + +(Burgess.) Na, dann sage ich gute Nacht. Auf Wiedersehn, Jakob. (Er +schuettelt Morell die Hand und geht hinueber zu Eugen.) Lassen Sie sich +ein Nachtlicht an Ihr Bett stellen, Herr Marchbanks, es wird Sie +beruhigen, falls Sie in der Nacht einen Anfall Ihres Leidens bekommen +sollten! Gute Nacht. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, es soll geschehn. Gute Nacht, Herr +Burgess. (Sie geben einander die Haende, Burgess geht zur Tuer.) + +(Candida haelt Morell zurueck, der Burgess begleiten will:) Bleib' hier, +mein Lieber, ich werde Papa seinen Rock anziehen helfen. (Sie geht +mit Burgess hinaus.) + + +(Marchbanks.) Herr Pastor, es wird eine schreckliche Szene geben. +Haben Sie keine Angst? + +(Morell.) Nicht die geringste. + +(Marchbanks.) Ich habe Sie bisher nie um Ihren Mut beneidet. (Er +erhebt sich schuechtern und beruehrt mit seiner Hand flehend Morells +Unterarm:) Stehen Sie mir bei,--wollen Sie? + +(Morell schuettelt ihn sanft, aber entschieden ab:) Jeder fuer sich, +Eugen! Sie--muss nun zwischen uns waehlen. (Er gebt beim Eintritt +Candidas auf die andere Seite des Zimmers, Eugen setzt sich mit seinem +besten Benehmen wie ein schuldbewusster Schulknabe auf das Sofa.) + +(Candida zwischen den beiden, sich zu Eugen wendend:) Tut es Ihnen +leid? + +(Marchbanks ernst:) Ja, unendlich. + +(Candida.) Gut, dann ist Ihnen verziehen. Nun gehen Sie wie ein +braver kleiner Junge zu Bett, ich moechte mit Jakob ueber Sie sprechen. + +(Marchbanks erhebt sich mit groesster Bestuerzung:) Oh, das kann ich +nicht.--Herr Pastor, ich muss hierbleiben. Ich will nicht fortgehen. +Sagen Sie es ihr! + +(Candida die ihren Verdacht bestaetigt sieht:) Was soll er mir sagen? +(Seine Augen vermeiden die ihrigen, sie wendet sich um und uebertraegt +ihre Frage stumm auf Morell.) + +(Morell wappnet sich fuer die Katastrophe:) Ich habe ihr nichts zu +sagen, ausgenommen--(dabei sinkt seine Stimme zu massvoller, trauriger +Zaertlichkeit herab:) dass sie mein groesster Schatz auf Erden ist--wenn +sie mir wirklich gehoert. + +(Candida kalt, verletzt, dass er seinem Rednerinstinkt nachgibt und sie +behandelt, als ob sie sich unter den Zuhoerern der Gilde von St. +Matthaeus befaende:) Ich bin ueberzeugt, dass Eugen nicht weniger sagen +kann, wenn das alles ist. + +(Marchbanks entmutigt:) Morell, sie lacht uns aus. + +(Morell auffahrend:) Es gibt da nichts zu lachen. Lachst du uns aus, +Candida? + +(Candida mit stillem Aerger:) Eugen ist sehr witzig, ich hoffe, dass ich +lachen werde--aber vorlaeufig fuerchte ich, mich aergern zu muessen. (Sie +geht an den Kamin und bleibt dort stehen, ihren Arm auf dem Gesims und +ihren Fuss auf dem Gitter, waehrend Eugen sich zu Morell hinstiehlt und +ihn beim Arm fasst.) + +(Marchbanks fluesternd:) Halten Sie ein, Herr Pastor; sagen wir nichts +mehr. + +(Morell stoesst Eugen fort, ohne ihn eines Blickes zu wuerdigen:) Ich +hoffe, dass du mir nicht drohen willst, Candida. + +(Candida mit feierlicher Warnung:) Nimm dich in acht, Jakob!--Eugen, +ich habe gewuenscht, dass Sie gehen sollen,--gehen Sie oder nicht? + +(Morell mit dem Fusse stampfend:) Er wird nicht gehen; ich wuensche, dass +er bleibt. + +(Marchbanks.) Ich will gehen. Ich tue, was Sie wollen. (Er wendet +sich zur Tuer.) + +(Candida.) Bleiben Sie. (Er gehorcht.) Haben Sie nicht gehoert, dass +Jakob wuenscht, dass Sie bleiben sollen? Jakob ist hier der Herr, +wissen Sie das nicht? + +(Marchbanks erroetend, mit der Wut eines jungen Dichters gegen Tyrannei:) +Was gibt ihm das Recht dazu? + +(Candida ruhig:) Sag es ihm, Jakob. + +(Morell bestuerzt:) Meine Liebe, ich bin mir keines Rechtes bewusst, das +mich zum Herrn macht; ich bestehe auf keinem solchen Rechte. + +(Candida mit schwerem Vorwurf:) Du weisst es nicht? O Jakob, Jakob! +(Zu Eugen nachdenklich:) Ich wuesste gern, ob Sie das verstehen, Eugen... +Nein, Sie sind zu jung. Nun, ich erlaube Ihnen, zu bleiben und zu +lernen. (Sie geht von Kamin fort und stellt sich zwischen die beiden.) +Also, Jakob, was ist's? Komm und sag' es mir. + +(Marchbanks fluestert ihm aengstlich zu:) Sagen Sie ihr lieber nichts. + +(Candida.) Bitte!--Heraus damit! + +(Morell langsam:) Ich wollte dich sorgfaeltig vorbereiten, Candida, um +jedes Missverstaendnis zu vermeiden. + +(Candida.) Ja, Lieber, das wolltest du gewiss; aber sei unbesorgt, ich +werde nichts missverstehen. + +(Morell.) Nun denn, es--(Er zoegert, unfaehig, die lange Erklaerung zu +finden, die er fuer noetig haelt.) + +(Candida.) Nun? + +(Morell klipp und klar:) Eugen behauptet, dass du ihn liebst. + +(Marchbanks ausser sich:) Nein, nein, nein, nein, niemals, das habe ich +nicht behauptet, Frau Morell, es ist nicht wahr! Ich sagte, dass ich +Sie liebe und er nicht. Ich sagte, dass ich Sie verstehe und dass er es +nicht kann. Und nicht infolgedessen, was sich hier am Kamin +zugetragen hat, habe ich das gesagt,--ganz gewiss nicht, auf mein Wort! +schon heute morgen hab' ich es ihm gesagt! + +(Candida erleuchtet:) Heute morgen?! + +(Marchbanks.) Ja! (Er siebt sie um Glauben bittend an und fuegt dann +einfach hinzu:) Das war auch der Grund, warum mein Kragen in Unordnung +geriet. + +(Candida nach einer Pause, weil sie nicht gleich begreift, was er +meint:) Ihr Kragen! (Sie wendet sich erschrocken zu Morell, verletzt:) +O Jakob, hast du ihn--? (Sie haelt inne.) + +(Morell beschaemt:) Du weisst, Candida, dass ich mit meinem Temperament +zu kaempfen habe, und er sagte, (schauernd:) dass du mich verachtest in +deinem Herzen. + +(Candida wendet sich rasch zu Eugen:) Haben Sie das gesagt? + +(Marchbanks geaengstigt:) Nein! + +(Candida strenge:) Dann hat mich also Jakob eben angelogen. Wollen +Sie das behaupten? + +(Marchbanks.) Nein, nein: ich--ich... (herausplatzend mit der +verzweifelten Erklaerung:)--es war die Rede von Davids Frau, nicht bei +ihm zu Hause, sondern als sie ihn tanzen sah vor allen Leuten. + +(Morell nimmt diesen Fingerzeig mit der Geschicklichkeit eines +Wortkaempfers auf:) Ja, als er vor dem ganzen Volke tanzte, Candida, in +der Meinung, dass er ihre Herzen dadurch ruehrte, waehrend sie nur an +Prossis Leiden litten. (Sie ist im Begriff zu protestieren, er winkt +ihr mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und faehrt fort:) +Tue nicht als ob du entruestet waerest, Candida. + +(Candida.) Tun als ob?! + +(Morell fortfahrend:) Eugen hatte recht! Wie du mir einige Stunden +spaeter klarmachtest, hat er immer recht. Er sagte nichts, was du +nicht viel besser selbst gesagt haettest. Er ist der Dichter, der +alles sieht; und ich bin der arme Pastor, der nichts versteht. + +(Candida reuevoll:) Aergert dich, was ein naerrischer junge gesagt hat, +weil ich im Scherz etwas Aehnliches sagte? + +(Morell.) Der naerrische Junge kann mit der Begeisterung eines Kindes +und mit der Verschlagenheit einer Schlange sprechen. Er hat behauptet, +dass du ihm gehoerst und nicht mir, und, ob mit Recht oder Unrecht, ich +beginne zu fuerchten, dass es wahr sein koennte. Ich will nicht +umhergehen von Zweifeln und Verdaechtigungen gequaelt. Ich will nicht +mit dir leben und ein Geheimnis vor dir haben. Ich will nicht die +entwuerdigende Qual der Eifersucht erdulden. Deshalb haben wir +beschlossen--er und ich--dass du jetzt zwischen uns waehlen sollst! Ich +erwarte deine Entscheidung. + +(Candida weicht langsam einen Schritt zurueck, verletzt ueber sein +Pathos, trotz des aufrichtigen Gefuehls, das sie heraushoert:) Oh, ich +muss also waehlen? Ich nehme an, dass eines vollkommen feststeht: dass +ich einem o d e r dem andern gehoeren muss. + +(Morell entschlossen:) Vollkommen; du musst endgueltig waehlen. + +(Marchbanks aengstlich:) Herr Pastor,--Sie verstehen nicht: sie meint, +dass sie sich selbst gehoert. + +(Candida sich zu ihm wendend:) ja, das meine ich, Junker Eugen, und +noch sehr viel mehr, wie Ihr beide sofort herausfinden werdet. Und +ich frage, meine Herren und Gebieter, was habt Ihr fuer meine Wahl zu +geben? Es scheint, dass ich versteigert werden soll. Wieviel bietest +du, Jakob? + +(Modell vorwurfsvoll:) Cand.... (Er bricht zusammen, seine Augen +fuellen sich mit Traenen, und seine Kehle schnuert sich zu, der Redner +wird zu einem verwundeten Tier.) Ich kann nicht sprechen. + +(Candida geht impulsiv zu ihm hin:) O Liebster! + +(Marchbanks in wildem Aufruhr:) Halten Sie ein, das ist nicht gerecht. +Sie duerfen ihr nicht zeigen, dass Sie leiden, Morell.--Ich bin auch +auf der Folter, aber ich weine nicht. + +(Morell nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Ja, Sie haben recht. Es +ist nicht Mitleid, worum ich bitte. (Er befreit sich von Candida.) + +(Candida zieht sich frostig zurueck:) Entschuldige, Jakob, ich hatte +nicht die Absicht, dich zu beruehren. Ich warte auf dein Angebot. + +(Morell mit stolzer Demut:) Ich habe dir nichts zu bieten als meine +Kraft zu deinem Schutze, mein ehrliches Wollen fuer deine Ruhe, meine +Tuechtigkeit und Arbeit fuer deinen Unterhalt und mein Ansehen und meine +Stellung fuer deine Wuerde. Das ist alles, was einem Manne ansteht, +einer Frau zu bieten. + +(Candida ganz ruhig:) Und Sie, Eugen, was bieten Sie? + +(Marchbanks.) Meine Schwaeche! meine Trostlosigkeit! meine Herzensnot! + +(Candida geruehrt:) Das ist ein gutes Angebot, Eugen; nun weiss ich, wie +ich meine Wahl zu treffen habe. (Sie haelt inne und blickt seltsam von +einem zum andern, als ob sie beide abschaetzte. Morell, dessen +hochtmuetiges Zutrauen sich in herzzerreissende Angst bei Eugens Gebot +verwandelt hat, verliert alle Beherrschung, und kann seine Angst nicht +verbergen. Eugen dagegen, mit aeusserst angespannter Kraft, zuckt mit +keiner Wimper.) + +(Morell mit halb erstickter Stimme--ein Hilferuf entringt sich den +Tiefen seiner Verzweiflung:) Candida! + +(Marchbanks beiseite mit einem Aufwallen der Verachtung:) Feigling! + +(Candida bedeutsam:) Ich gebe mich dem Schwaecheren von beiden. (Eugen +erraet ihre Meinung sofort; sein Gesicht wird weiss wie scbmelzender +Stahl.) + +(Morell neigt seinen Kopf mit der Ruhe der Gebrochenheit:) Ich nehme +deine Entscheidung an, Candida. + +(Candida.) Verstehen Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Oh, ich fuehle, ich bin verloren. Er koennte die Last +nicht ertragen! + +(Morell unglaeubig, hebt seinen Kopf empor, mit prosaischer Stumpfheit:) +Meinst du mich, Candida? + +(Candida laechelt ein wenig:) Setzen wir uns und plaudern wir gemuetlich +darueber wie drei Freunde. (Zu Morell:) Setze dich, mein Lieber. +(Morell nimmt den Stuhl vom Kamin--den Kindersessel.) Bringen Sie mir +diesen Stuhl, Eugen. (Sie weist auf den Lehnstuhl, er holt ihn +schweigend, sogar mit etwas wie kuehler Beherrschung und setzt ihn +neben Morell, etwas hinter ihn. Sie setzt sich, er geht an das Sofa +und laesst sich dort nieder, noch immer schweigsam und unergruendlich. +Als sie alle sitzen, beginnt Candida,--einen Hauch von Ruhe um sich +breitend, mit ihrer sanften, gesunden, zaertlichen Stimme:) Sie +erinnern sich doch, was Sie mir ueber sich selbst erzaehlten, Eugen: wie +sich niemand um Sie gekuemmert hat, seit Ihre alte Amme starb. Wie +Ihre gescheiten, vornehmen Schwestern und erfolgreichen Brueder die +Lieblinge Ihrer Eltern waren, wie elend es Ihnen in Eton erging, wie +Ihr Vater Sie durch Entbehrungen zwingen will, nach Oxford +zurueckzukehren, wie Sie leben mussten ohne Behaglichkeit oder +Willkommen, ohne Zufluchtsstaette, immer einsam und fast immer ungern +gesehen und missverstanden! Sie armer Junge! + +(Marchbanks der Groesse seines Schicksals wuerdig:) Ich hatte meine +Buecher. Ich hatte die Natur. Und endlich bin ich Ihnen begegnet. + +(Candida.) Lassen wir das im Augenblick beiseite. Nun moechte ich, dass +Sie sich diesen andern Jungen hier betrachten,--meinen verwoehnten +Jungen,--verwoehnt von seiner Wiege an. Einmal alle vierzehn Tage +besuchen wir seine Eltern. Da sollten Sie mit uns kommen, Eugen, und +die Bilder des Helden dieser Familie sehen. Jakob als Baby, das +wundervollste aller Babys! Jakob, als er seinen ersten Schulpreis +erhielt, gewonnen im reifen Alter von acht Jahren! Jakob als der +Fuehrer seiner Mitschueler beim Cricketspiel! Jakob in seinem ersten +schwarzen Anzug! Jakob in allen moeglichen ruhmvollen Posen. Sie +wissen, wie stark er ist--ich hoffe, er hat Ihnen nicht weh getan--wie +gescheit er ist--wie gluecklich! (Mit wachsendem Ernst:) Fragen Sie +Jakobs Mutter und seine drei Schwestern, was es sie gekostet hat, +Jakob die Muehe zu ersparen, irgend etwas zu tun, als stark, gescheit +und gluecklich zu sein. Fragen Sie mich, was es mich kostet, Jakobs +Mutter und seine drei Schwestern und seine Frau und Mutter seiner +Kinder--alles in einer Person--zu sein! Fragen Sie Prossi und Marie, +wieviel Arbeit das Haus gibt, selbst wenn wir keine Besucher haben, +die uns helfen Zwiebeln schneiden. Fragen Sie die Geschaeftsleute, die +Jakob stoeren und seine prachtvollen Predigten gefaehrden wollen, wer es +ist, der sie abschuettelt! Wenn Geld zu geben ist, so gibt er es; wenn +Geld zu verweigern ist, so verweigere ich es. Ich habe ihm ein Schloss +von Behaglichkeit, Nachsicht und Liebe erbaut und stehe immer +Schildwache davor, um all den taeglichen kleinen Lebenssorgen den +Eintritt zu verwehren. Ich mache ihn hier zum Herrn, obwohl er es +nicht weiss und Ihnen vor einem Augenblicke nicht sagen konnte, wie er +dazu gekommen ist, es zu sein. (Mit suesser Ironie:) Und als er dachte, +ich koennte mit Ihnen fortgehen, da war seine einzige Sorge, was aus +mir werden wuerde; und um mich zum Bleiben zu bewegen, bot er mir-- +(sie neigt sich vor und streicht ihm bei jedem Satze ueber das Haar) +seine Kraft zu meinem Schutze, seine Arbeit fuer meinen Unterhalt, +seine Stellung fuer meine Wuerde, seine (zoegernd:) ah, ich +verwechsle deine wunderschoenen Saetze und verderbe sie, nicht wahr, +Liebling? + +(Morell kniet ganz ueberwaeltigt neben ihren Stuhl und umschlingt sie +mit knabenhafter Leidenschaft:) Alles ist wahr, jedes Wort. Was ich +bin, hast du aus mir gemacht, durch die Arbeit deiner Haende und die +Liebe deines Herzens. Du bist mein Weib, meine Mutter, meine +Schwester,--du bist die Summe aller Liebessorgen fuer mich. + +(Candida in seinen Armen, laechelnd zu Marchbanks:) Bin ich Ihnen auch +Mutter und Schwester, Eugen? + +(Marchbanks erhebt sich mit einer heftigen Bewegung des Ekels:) Oh, +niemals! Hinaus denn in die Nacht mit mir! + +(Candida erhebt sich rasch und unterbricht ihn:) sie werden nicht so +von uns gehn, Eugen! + +(Marchbanks mit dem Tonfall eines entschlossenen Mannes, nicht mit der +Stimme eines Knaben:) Ich weiss, wann die Stunde geschlagen hat. Ich +bin ungeduldig zu tun, was getan werden muss. + +(Morell erhebt sich von seinen Knien, beunruhigt:) Candida, lass ihn +nichts Uebereiltes begehen! + +(Candida laechelt Eugen vertrauensvoll an:) Oh, sei unbesorgt, er hat +gelernt, ohne Glueck zu leben. + +(Marchbanks.) Ich ersehne nicht mehr Glueck; das Leben kann Hoeheres +bieten. Pastor Jakob, ich gebe Ihnen mein Glueck mit beiden Haenden hin; +ich liebe Sie, weil Sie das Herz der Frau, ganz ausgefuellt haben, die +ich liebte. Leben Sie wohl! (Er geht zur Tuer.) + +(Candida.) Ein letztes Wort. (Er haelt inne, aber ohne sich nach ihr +umzuwenden.) Wie alt sind Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Jetzt bin ich so alt wie die Welt. Heute morgen war ich +achtzehn Jahre! + +(Candida geht zu ihm hin und steht hinter ihm, eine Hand liebkosend +auf seiner Schulter:) Achtzehn... Wollen Sie mir zuliebe ein kleines +Gedicht aus zwei Zeilen machen, die ich Ihnen sagen will? Und wollen +Sie mir versprechen, sich's immer vorzusagen, so oft Sie an mich +denken. + +(Marchbanks ohne sich zu ruehren:) Sagen Sie die beiden Zeilen. + +(Candida.) Wenn ich dreissig sein werde, dann wird sie fuenfundvierzig +sein; wenn ich sechzig sein werde, dann wird sie fuenfundsiebzig sein. + +(Marchbanks wendet sich nach ihr um:) In hundert Jahren werden wir +gleich alt sein! Aber ich trage ein besseres Geheimnis als das in +meinem Herzen! Lassen Sie mich jetzt gehen, die Nacht waechst draussen +ungeduldig. + +(Candida.) Leben Sie wohl! (Sie nimmt sein Gesicht in die Haende, und +da er ihre Absicht erraet und sein Knie beugt, kuesst sie ihn auf die +Stirne, dann flieht er hinaus in die Nacht.--Sie wendet sich zu Morell, +mit ausgebreiteten Armen:) O Jakob! (Sie umarmen einander. Aber das +Geheimnis in des Dichters Herzen, das kennen sie nicht.) + +(Vorhang) + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes CANDIDA, von George Bernard Shaw. + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, CANDIDA *** + +This file should be named 7cndg10.txt or 7cndg10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 7cndg11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 7cndg10a.txt + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A +preliminary version may often be posted for suggestion, comment +and editing by those who wish to do so. + +Most people start at our Web sites at: +http://gutenberg.net or +http://promo.net/pg + +These Web sites include award-winning information about Project +Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new +eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!). + + +Those of you who want to download any eBook before announcement +can get to them as follows, and just download by date. This is +also a good way to get them instantly upon announcement, as the +indexes our cataloguers produce obviously take a while after an +announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter. + +http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext05 or +ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext05 + +Or /etext04, 03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, +91 or 90 + +Just search by the first five letters of the filename you want, +as it appears in our Newsletters. + + +Information about Project Gutenberg (one page) + +We produce about two million dollars for each hour we work. The +time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours +to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright +searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our +projected audience is one hundred million readers. If the value +per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2 +million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text +files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+ +We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002 +If they reach just 1-2% of the world's population then the total +will reach over half a trillion eBooks given away by year's end. + +The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks! +This is ten thousand titles each to one hundred million readers, +which is only about 4% of the present number of computer users. + +Here is the briefest record of our progress (* means estimated): + +eBooks Year Month + + 1 1971 July + 10 1991 January + 100 1994 January + 1000 1997 August + 1500 1998 October + 2000 1999 December + 2500 2000 December + 3000 2001 November + 4000 2001 October/November + 6000 2002 December* + 9000 2003 November* +10000 2004 January* + + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created +to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium. + +We need your donations more than ever! + +As of February, 2002, contributions are being solicited from people +and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut, +Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois, +Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts, +Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New +Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio, +Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South +Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West +Virginia, Wisconsin, and Wyoming. + +We have filed in all 50 states now, but these are the only ones +that have responded. + +As the requirements for other states are met, additions to this list +will be made and fund raising will begin in the additional states. +Please feel free to ask to check the status of your state. + +In answer to various questions we have received on this: + +We are constantly working on finishing the paperwork to legally +request donations in all 50 states. 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In +diesem ausgedehnten Bezirk sind die Seitengässchen viel weniger +schmal, schmutzig, übelriechend und stickig als in dem viele +Meilen entfernten London von Mayfair und St. James. Hier spielt +sich besonders das unelegante Leben der Mittelklassen ab. Die +breiten, dichtbevölkerten Strassen sind mit hässlichen eisernen +Bedürfnisanstalten, radikalen Klubs und Trambahnlinien, auf denen +Ketten von gelben Wagen endlos einziehen, reichlich versehn. Doch +Sind die Hauptverkehrsadern mit grasbewachsenen Vorgärtchen verziert, +von denen man nur den kleinen Streifen betritt, der vom Pförtchen zur +Haustür führt. Jene Strassen werden durch die stumm geduldete +Eintönigkeit sich meilenweit erstreckender hässlicher Ziegelbauten, +schwarzer Eisengitter, Steinpflaster und Schieferdächer arg entstellt. +Anständig aber unmodern oder gemein und ärmlicb gekleidete Leute, die +an dieses Viertel gewöhnt sind und sich zumeist in aufreibender Weise +für andere plagen müssen, ohne sich für ihre Arbeit zu interessieren, +bilden ihre Bewohner. Das bisschen ihnen gebliebene Energie und Eifer +gipfelt in der Habgier des Londoner Cockneys und in der Begierde, ihr +Geschäft vorwärts zu bringen. Selbst die Schutzleute und die Kapellen +sind nicht selten genug, die Eintönigkeit zu unterbrechen. Die Sonne +scheint klar, es ist nicht neblig, und obgleich der Rauch sowohl die +Gesichter und Hände als auch die Mauern aus Ziegelstein und Mörtel +verhindert, frisch und rein zu sein, so ist er doch nicht schwarz und +schwer genug, um einen Londoner zu belästigen.) + +(Diese reizlose Wüste hat ihre Oase. Am äussersten Ende der +Hackneystrasse ist ein durch ein hölzernes Pfahlwerk abgeschlossener +Park von 270 Morgen angelegt. Er enthält Rasenplätze, Bäume, einen +Teich zum Baden, Blumenbeete, die Triumphe der vielbewunderten +Cockney-Kunst der Teppichgärtnerei sind, und eine Sandgrube, die +ursprünglich zur Belustigung der Kinder vom Meeresufer importiert, +aber schleunigst verlassen wurde, als sie sich in eine natürliche +Ungezieferbrutstätte für die ganz kleine Fauna von Kingsland, +Hackney und Hoxton verwandelte. Ein Orchester, ein kleines +Forum für religiöse, antireligiöse und politische Redner, +Cricketplätze, ein Turnplatz und ein altmodischer Steinkiosk bilden die +Hauptanziehungspunkte. Wo die Aussicht von Bäumen oder grünen Anhöhen +begrenzt wird, ist es ein hübscher Aufenthaltsort. Wo sich aber der +Boden flach bis zu dem grauen Lattenzaun hinzieht und man Ziegel und +Mörtel, Reklameschilder, zusammengedrängte Schornsteine und Rauch +gewahrt muss die Gegend (im Jahre 1894), trostlos und hässlich genannt +werden.) + +(Die beste Aussicht auf den Viktoriapark gewinnt man von den +Frontfenstern der St. Dominikpfarre; von dort sieht man auf keinerlei +Mauerwerk. Das Pfarrhaus steht halb frei, mit einem Vorgarten und +einer Vorhalle. Besucher benützen die Stufen, die auf die Veranda +führen, Geschäftsleute und Familienmitglieder geben durch eine Tür +unterhalb der Treppe in das Erdgeschoß, wo ein Frühstückszimmer nach +vorne liegt, das zu allen Mahlzeiten dient; die Küche liegt hinten. +Oben, auf einem Niveau mit der Flurtür, befindet sich das +Empfangszimmer mit seinem breiten Fenster aus geschliffenem Glas, das +auf den Park hinausführt.) + +(Hier, in dem einzigen Raume, der von den Familienmahlzeiten und den +Kindern verschont bleibt, vollbringt der Pfarrer, Reverend Jakob Mavor +Morell, sein Tagewerk. Er sitzt in einem starken drehbaren Stuhl mit +runder Lehne am Ende eines langen Tisches, der dem Fenster +gegenübersteht, so daß er sich durch einen Blick über die linke +Schulter an der Aussicht auf den Park erfreuen kann. Am Ende des +Tisches, an diesen anstoßend, befindet sich ein zweiter Tisch, der nur +halb so breit ist und eine Schreibmaschine trägt.--Seine Schreiberin +sitzt davor mit dem Rücken gegen das Fenster. Der große Tisch ist +unordentlich mit Zeitungen, Broschüren, Briefen, Schubladeeinsätzen, +einem Notizheft, einer Briefwage und ähnlichen Dingen bedeckt. In der +Mitte steht ein übriger Stuhl für die Besucher, die mit dem Pfarrer +geschäftlich zu tun haben. Seiner Hand erreichbar steht eine +Papierkassette und eine Photographie in einem Rahmen. Die Wand hinter +ihm ist mit Bücherregalen zugestellt. Die theologische Richtung des +Pfarrers kann ein Sachverständiger an: Maurices "Theologischen Essays" +und einer vollständigen Ausgabe der Browningschen Gedichte erkennen, +seine politischen Reformideen an einem gelbrückigen Band "Fortschritt +und Armut", den "Essays der Fabier", dem "Traum John Bulls" von +William Morris, dem "Kapital" von Marx und einem halben Dutzend +anderer grundlegender sozialistischer Bücher. Dem Pfarrer gegenüber, +auf der andern Seite des Zimmers in der Nähe der Schreibmaschine, ist +die Tür. Weiter hinten, dem Kamin gegenüber, steht ein Bücherbrett +auf einem Spind, daneben ein Sofa. Ein starkes Feuer brennt im Kamin +und davor steht ein bequemer Lehnstuhl, ferner ein schwarz lackierter, +blumenbemalter Kohleneimer auf der einen Seite und ein Kindersessel +für einen Knaben oder ein Mädchen auf der anderen. Der hölzerne +Kaminsims ist lackiert, und in den kleinen Feldern der nett geformten +Fächer sind winzige Spiegelgläser eingelegt, und eine Reiseuhr in +einem Lederetui (das unvermeidliche Hochzeitsgeschenk) steht darauf. +An der Wand darüber hängt eine große Autotypie der Hauptfigur aus +Tizians Assunta. So sieht der Kamin sehr einladend aus. Im ganzen +gesehen ist es das Zimmer einer guten Hausfrau, die, was des Pastors +Arbeitstisch betrifft, an etwas Unordnung gewöhnt ist, aber trotzdem +die Situation vollkommen beherrscht. Die Einrichtung verrät in ihrem +ornamentalen Aussehen den Stil der in den Zeitungen annoncierten +"Saloneinrichtung" des unternehmenden Vorstadtmöbelhändlers; aber es +ist nichts Zweckloses oder Aufdringliches in dem Zimmer. Die Tapeten +und die Täfelung sind dunkel und lassen das große helle Fenster und +den Park draußen kräftig hervortreten.) + +(Hochwürden Jakob Mavor Morell ist ein christlich-sozialer Geistlicher +der anglikanischen Kirche und ein aktives Mitglied der Gilde von +"Sankt Matthäus" und der "Christlich Socialen Union". Ein starker, +freundlicher, allgemein geachteter Mann von vierzig fahren, kräftig +und hübsch, voll Energie und mit liebenswürdigen, herzlichen, +rücksichtsvollen Manieren, mit einer gesunden, natürlichen Stimme, die +er mit der wirkungsvollen Betonung eines geübten Redners benutzt. Er +verfügt über einen großen Wortschatz, den er vollkommen beherrscht. +Er ist ein vorzüglicher Geistlicher, fähig, was er will zu wem er will +zu sagen und die Leute abzukanzeln, ohne sich über sie zu ärgern, +ihnen seine Autorität aufzudrängen, ohne sie zu demütigen und, wenn es +sein muß, sich in ihre Angelegenheiten zu mischen, ohne dabei zu +verletzen. Die Quelle seiner Begeisterung und seines Mitgefühls +versiegt niemals auch nur für einen Augenblick; er ißt und schläft +noch immer ausgiebig genug, um die tägliche Schlacht zwischen +Erschöpfung und Erholung glänzend zu gewinnen. Dabei ist er ein +großes Kind, verzeihlicherweise eitel auf seine Fähigkeiten und +unbewust selbstgefällig. Er hat eine gesunde Gesichtsfarbe, eine +schöne Stirn mit etwas plumpen Augenbrauen, glänzende und lebhafte +Augen, einen energischen Mund, der nicht besonders schön geschnitten +ist, und eine kräftige Nase mit den beweglichen, sich blähenden +Nasenflügeln des dramatischen Redners, die aber wie alle seine Züge +der Feinheit entbehrt.) + +(Die Maschinenschreiberin, Fräulein Proserpina Garnett, ist eine flinke +kleine Person von ungefähr dreißig Jahren, sie gehört der unteren +Mittelklasse an, ist nett, aber billig mit einem schwarzen Wollrock +und einer Bluse bekleidet, ziemlich vorlaut und naseweis und nicht +sehr höflich in ihrem Benehmen, aber empfindungsfähig und +teilnahmsvoll. Sie klappert emsig auf ihrer Maschine drauf los, +während Morell den letzten Brief seiner Morgenpost öffnet. Er +durchfliegt seinen Inhalt mit einem komischen Stöhnen der Verzweiflung.) + +(Proserpina.) Wieder ein Vortrag? + +(Morell.) Ja. Ich soll nächsten Sonntagvormittag für die +Freiheitsgruppe von Hoxton sprechen. (Er betont mit großer +Wichtigkeit "Sonntag", weil das der unvernünftige Teil des Verlangens +ist.) Was sind das für Leute? + +(Proserpina.) Ich glaube, kommunistische Anarchisten. + +(Morell.) Es sieht den Anarchisten ähnlich, nicht zu wissen, daß sie +am Sonntag keinen Pastor haben können. Schreiben Sie ihnen, sie +sollen in die Kirche kommen, wenn sie mich hören wollen, das kann +ihnen nicht schaden! Und fügen Sie hinzu, daß ich nur Montags und +Donnerstags frei bin. Haben Sie das Vormerkbuch da? + +(Proserpina hebt das Vormerkbuch auf:) Ja! + +(Morell.) Ist irgendeine Vorlesung für nächsten Montag angesetzt? + +(Proserpina im Vormerkbuch nachschlagend:) Der radikale Klub von Tower +Hamlet. + +(Morell) Nun, und Donnerstag? + +(Proserpina.) Die englische Bodenreform-Liga. + +(Morell.) Was dann? + +(Proserpina.) In der Gilde von Sankt Matthäus am Montag. In der +unabhängigen Arbeitervereinigung, Abteilung Greenwich, am Donnerstag; +am Montag darauf in der soziademokratischen Föderation, Abteilung Mile +End; am folgenden Donnerstag ist die erste Konfirmationsklasse. +(Ungeduldig:) Ach, ich will lieber schreiben, daß Sie überhaupt nicht +kommen können; es sind doch nur ein halbes Dutzend unwissende und +eingebildete Hausierer, die miteinander keine fünf Schilling haben. + +(Morell belustigt:) Ah, aber bedenken Sie, es sind nahe Verwandte von +mir, Fräulein Garnett. + +(Proserpina ihn anstarrend:) Verwandte von Ihnen? + +(Morell.) Ja! Wir haben denselben Vater--im Himmel. + +(Proserpina erleichtert:) Oh, weiter nichts? + +(Morell mit einer Melancholie, die einem Manne Genuß ist, dessen +Stimme sie schon so schön auszudrücken vermag:) Ah, Sie glauben das +auch nicht,--jedermann sagt es, niemand glaubt es, niemand! (Schnell +zu seinem Gegenstande zurückkehrend:) Gut, gut! Na, Fräulein +Proserpina, können Sie keinen Tag für die Hausierer finden, wie ist's +mit dem fünfundzwanzigsten,--der war noch vorgestern frei. + +(Proserpina aus dem Vormerkbuch:) Auch vergeben--an die Fabier. + +(Morell.) Hol' der Geier die Fabier! Ist der achtundzwanzigste +gleichfalls vergeben? + +(Proserpina.) Bankett in der City. Sie sind von den Hüttenbesitzern +zum Speisen eingeladen. + +(Morell.) Das geht, ich werde eben statt dessen nach Hoxton gehen. +(Sie trägt diese Verpflichtung schweigend ein, mit unerschütterlicher +Verachtung gegen diese Hoxtoner Anarchisten, die sich in jeder Linie +ihres Gesichtes spiegelt. Morell reißt das Streifband eines Exemplars +des "Church Reformer" ab, das mit der Post angekommen ist, und +überfliegt den Leitartikel Stewart Hedlams und die Mitteilungen der +Gilde von Sankt Matthäus. Diese Vorgänge werden alsbald durch das +Erscheinen des Unterpfarrers Morells, Alexander Mill, unterbrochen. +Er ist ein junger Mensch, den Morell von der nächsten Missionstelle +der Universität bezogen hat, wohin er von Oxford gekommen war, um dem +East-End von London die Wohltat seiner akademischen Bildung angedeihen +zu lassen. Er ist ein eingebildeter, gutgesinnter, unreifer Mann, von +enthusiastischer Natur. Nichts absolut Unausstehliches ist in seinem +Wesen außer der Gewohnheit, um eine gezierte Sprache zu erzielen, mit +sorgsam geschlossenen Lippen zu reden und eine Menge Vokale schlecht +auszusprechen, als ob dies das Hauptmittel wäre, die Bildung Oxfords +unter den Pöbel Hackneys zu tragen.) + +(Morell, den er durch eine hündische Unterwürfigkeit für sich gewann, +blickt nachsichtig von seiner Lektüre im "Church Reformer" auf und +bemerkt:) Nun, Lexi, wieder verschlafen, wie gewöhnlich? + +(Mill.) Leider ja. Ich wollte, ich könnte des Morgens leichter +aufstehen. + +(Morell freut sich der eigenen Energie:) Ha, ha! (launig:) "Wache und +bete", Lexi, "wache und bete". + +(Mill.) Ich weiß. (Er benützt diese Gelegenheit sofort, um einen Witz +zu machen.) Aber wie kann ich wachen und beten, wenn ich schlafe; +--hab' ich nicht recht, Fräulein Prossi? + +(Proserpina scharf:) Fräulein Garnett, wenn ich bitten darf. + +(Mill.) Entschuldigen Sie, Fräulein Garnett. + +(Proserpina.) Sie müssen heute alle Arbeit allein erledigen. (Mill.) +Warum? + +(Proserpina.) Fragen Sie nicht, warum. Es wird Ihnen wohl bekommen, +Ihr Abendbrot einmal zu verdienen, bevor Sie es essen, wie ich es +täglich tue. Los, trödeln Sie nicht. Sie sollten schon seit einer +halben Stunde unterwegs sein. + +(Mill starr:) Spricht sie im Ernst, Herr Pastor? + +(Morell in bester Laune--seine Augen glänzen:) Ja. Heute werd' ich +einmal bummeln. + +(Mill.) Sie? Sie wissen ja nicht, wie man das macht. + +(Morell herzlich:) Ha, ha! Weißichdasnicht? Diesen Tag will ich ganz +für mich haben, oder doch wenigstens den Vormittag! Meine Frau kommt +nämlich zurück, um elf Uhr fünfundvierzig soll sie hier eintreffen. + +(Mill erstaunt:) Schon zurück--mit den Kindern? Ich dachte, sie +wollte bis Ende des Monats fortbleiben. + +(Morell.) So ist es. Sie kommt nur für zwei Tage her, um für Jimmy +etwas Flanellwäsche einzukaufen und um zu sehen, wie wir hier ohne sie +fertig werden. + +(Mill ängstlich:) Aber lieber Herr Morell, wenn das, was Jimmy und +Flussy gefehlt hat, wirklich Scharlach war, halten Sie es für klug?-- + +(Morell.) Unsinn, Scharlach! Masern waren es, ich habe sie selbst von +der Pycroftstraße aus der Schule nach Hause gebracht; ein Pastor ist +wie ein Arzt, mein Lieber, er muß der Ansteckung ins Auge sehen können +wie ein Soldat den Kugeln. (Er erbebt sich und schlägt Mill auf die +Schultern.) Trachten Sie, Masern zu bekommen, wenn Sie können; Candida +wird Sie dann pflegen, und was für ein Glücksfall wäre das für Sie, +--was? + +(Mill unsicher lächelnd:) Es ist schwer, Sie zu verstehen, wenn Sie +über Frau Morell sprechen.-- + +(Morell weich:) Mein lieber Junge, seien Sie erst verheiratet! +Verheiratet mit einer guten Frau, und dann werden Sie mich verstehen. +Es ist ein Vorgeschmack von dem Besten, was uns in dem himmlischen +Reich erwartet, das wir uns auf Erden zu gründen versuchen. Dann +werden Sie sich schon das Bummeln abgewöhnen! Ein braver Mann fühlt, +daß er dem Himmel für jede Stunde des Glücks ein hartes Stück +selbstloser Arbeit zum Wohle seiner Mitmenschen schuldig ist. Wir +haben ebensowenig das Recht, Glück zu verbrauchen, ohne es zu erzeugen, +als Reichtum zu verbrauchen, ohne ihn zu erwerben. Suchen Sie sich +eine Frau wie meine Candida, und Sie werden immer Schuldner sein, +wieviel Sie auch abzahlen. (Er klopft Mill liebevoll auf den Rücken +und ist im Begriff, das Zimmer zu verlassen, als Mill ihn zurückruft.) + +(Mill.) Oh, warten Sie einen Augenblick, ich vergaß... (Morell bleibt +stehen und wendet sich um, die Türklinke in der Hand.) Ihr Herr +Schwiegervater wird hierherkommen, er hat mit Ihnen zu sprechen. +(Morell schließt die Tür wieder, mit vollkommen verändertem Wesen.) + +(Morell überrascht und nicht erfreut:) Burgess? + +(Mill.) Ja! Ich traf ihn mit jemandem im Park, in eifrigem Gespräch. +Er sprach mich an und bat mich, Sie wissen zu lassen, daß er +hierherkommt. + +(Moroll halb ungläubig:) Aber er ist seit Jahren nicht hier gewesen. +Sind Sie sicher, Lexi? Sie scherzen doch nicht etwa?-- + +(Mill ernst:) Nein, Herr Pastor, ganz bestimmt nicht! + +(Morell nachdenklich:) Hm, hm, er hält es an der Zeit, sich wieder +einmal nach Candida umzusehen, ehe sie gänzlich aus seinem Gedächtnis +verschwindet. (Er fügt sich in das Unvermeidliche und geht hinaus; +Mill sieht ihm mit begeisterter, närrischer Verehrung nach. Fräulein +Garnett, die Mill nicht schütteln kann, wie sie möchte, läßt ihre +Gefühle an der Schreibmaschine aus.) + +(Mill.) Was für ein vortrefflicher Mann, welch ein tiefes liebevolles +Gemüt! (Er nimmt Morells Platz am Tisch ein und macht es sich bequem, +indem er eine Zigarette hervorzieht.) + + +(Proserpina ungeduldig, nimmt den Brief, den sie auf der Maschine +geschrieben hat, und faltet ihn zusammen:) Ach! ein Mann sollte seine +Frau lieben können, ohne einen Narren aus sich zu machen. + +(Mill erregt:) Aber Fräulein Proserpina! + +(Proserpina geschäftig aufstehend, holt ein Kuvert aus dem Pulte, in +das sie, während sie spricht, den Brief hineinlegt:) Candida hin und +Candida her und Candida überall. (Sie leckt das Kuvert.) Es kann +einen außer Rand und Band bringen! (Hämmert das Kuvert, um es fest zu +schließen.) Hören zu müssen, wie eine ganz gewöhnliche Frau in dieser +lächerlichen Weise vergöttert wird, bloß weil sie schönes Haar und +eine leidliche Figur hat. + +(Mill mit vorwurfsvollem Ernst:) Ich finde sie ungewöhnlich schön, +Fräulein Garnett. (Er nimmt die Photographie zur Hand betrachtet sie +und fügt mit noch tieferem Ausdruck hinzu:) Wunderbar schön,--was für +herrliche Augen sie hat! + +(Proserpina.) Candidas Augen sind durchaus nicht schöner als meine, +(Mill stellt die Photograpbie fort und sieht sie strenge an,) und ich +weiß ganz gut, daß Sie mich für ein gewöhnliches und untergeordnetes +Geschöpf halten. + +(Mill erbebt sich majestätisch:) Gott behüte, daß ich von irgendeinem +Geschöpf Gottes in dieser Weise dächte. (Er geht steif von ihr fort +bis in die Nähe des Bücherschranks.) + +(Proserpina mit bitterem Spott:) Ich danke Ihnen, das ist sehr nett +und tröstlich. + +(Mill traurig über ihre Verstocktheit:) Ich hatte keine Ahnung, daß +Sie etwas gegen Frau Morell haben. + +(Proserpina entrüstet:) Ich habe durchaus nichts gegen sie. Sie ist +sehr liebenswürdig und sehr gutherzig, ich habe sie sehr gern und weiß +ihre wirklich guten Eigenschaften weit besser zu würdigen, als +irgendein Mann es könnte. (Mill schüttelt traurig den Kopf, wendet +sich zum Bücherschrank und sucht die Reihen entlang nach einem Bande. +Sie folgt ihm mit heftiger Leidenschaftlichkeit.) Sie glauben mir +nicht? (Er wendet sich um und blickt ihr ins Gesicht. Sie fällt ihn +mit Heftigkeit an:) Sie halten mich für eifersüchtig? Was für eine +tiefe Kenntnis des menschlichen Herzens Sie haben, Herr Alexander Mill! +Wie gut Sie die Schwächen der Frauen kennen, nicht wahr? Wie schön +es sein muß, ein Mann zu sein und einen scharfen durchdringenden +Verstand zu haben, statt bloße Gefühle, wie wir Frauen, und zu wissen, +daß die Ursache, warum wir ihr Vernarrtsein in eine Frau nicht teilen, +nur in gegenseitiger Eifersucht zu suchen sein kann. (Sie wendet sich +mit einer Bewegung ihrer Schultern von ihm ab und geht an das Feuer, +ihre Hände zu wärmen.) + +(Mill.) Ach, wenn Ihr Frauen nur ebenso leicht den Schlüssel zur +Stärke des Mannes fändet wie zu seiner Schwäche, es gäbe keine +Frauenfrage. + +(Proserpina über ihre Schulter, während sie die Hände vor die Flammen +hält:) Wo haben Sie das von Herrn Morell gehört? Sie selbst haben es +nicht erfunden,--Sie sind dazu nicht gescheit genug. + +(Mill.) Das ist ganz richtig. Ich schäme mich durchaus nicht, ihm +diesen Ausspruch zu verdanken, wo ich ihm schon so viele andere +geistige Wahrheiten verdanke! Er tat ihn bei der Jahresversammlung +der freien Frauenvereinigung. Erlauben Sie mir hinzuzufügen, daß ich, +obwohl bloß ein Mann, im Gegensatz zu jenen Frauen diesen Ausspruch zu +schätzen wußte! (Er wendet sich wieder an den Bücherschrank in der +Hoffnung, daß diese Worte sie vernichtet haben.) + +(Proserpina ordnet ihr Haar vor den kleinen Spiegeln des Kamins:) Wenn +Sie mit mir sprechen, sagen Sie mir gefälligst Ihre eigenen Gedanken, +soviel sie eben wert sind, und nicht die Pastor Morells. Sie geben +niemals eine traurigere Figur ab, als wenn Sie versuchen, ihn +nachzumachen. + +(Mill gekränkt:) Ich versuche seinem Beispiel zu folgen, aber nicht, +ihn nachzumachen. + +(Proserpina kommt wieder an ihn heran auf dem Rückwege zu ihrer Arbeit:) +Jawohl, Sie machen ihn nach. Warum stecken Sie Ihren Schirm unter +den linken Arm, statt ihn in der Hand zu tragen wie jeder andere? +Warum gehen Sie mit vorgeschobenem Kinn und warum eilen Sie vorwärts +mit diesem eifrigen Ausdruck in den Augen,--Sie, der Sie nie vor halb +zehn Uhr morgens aufstehen? Warum sagen Sie in der Kirche "Aandacht", +obwohl Sie im Leben "Andacht" sagen? Bah--glauben Sie, ich weiß das +nicht? (Geht zurück zur Schreibmaschine.) Da kommen Sie her und +machen Sie sich endlich an Ihre Arbeit; wir haben heute Morgen genug +Zeit verloren. Hier ist eine Abschrift der Tageseinteilung für heute. +(Sie reicht ihm ein Memorandum. Mill schwer beleidigt:) Ich danke +Ihnen. (Er nimmt das Papier und steht mit dem Rücken gegen sie an den +Tisch gelehnt und liest.) Sie fängt an, auf der Schreibmaschine ihre +stenographischen Aufzeichnungen zu übertragen, ohne auf Mills Gefühle +zu achten. + +(Burgess tritt unangemeldet ein.) Er ist ein Mann von sechzig Jahren, +derb und filzig geworden durch die notwendige Selbstsucht des kleinen +Krämers, die sich später durch Überfütterung und geschäftlichen Erfolg +zu träger Aufgeblasenheit milderte. Ein gemeiner, unwissender, +unmäßiger Mensch, beleidigend und hochnasig Leuten gegenüber, deren +Arbeit wohlfeil ist, ehrfürchtig gegen Menschen von Reichtum und Rang, +aber beiden gegenüber ganz aufrichtig und ohne Groll oder Neid. Da +sie ihn ohne besondere Fähigkeiten sah, hat ihm die Welt keine andere +gut bezahlte Arbeit zu bieten gewußt, als unnoble Arbeit, und er wurde +infolgedessen etwas erbärmlich, hat aber keine Ahnung, daß er so +beschaffen ist, und betrachtet seinen kommerziellen Wohlstand ganz +ehrlich als den unvermeidlichen und sozial berechtigten Triumph der +Geschicklichkeit, Tüchtigkeit, Fähigkeit und Erfahrung eines Mannes, +der im Privatleben übertrieben, leichtsinnig, liebenswürdig und +leutselig ist. Körperlich ist er kurz und dick, mit einer +schnauzenähnlichen Nase in der Mitte eines flachen, breiten Gesichtes; +unter dem Kinn ein staubfarbener Bart mit einem grauen Fleck in der +Mitte; er hat wässerige blaue Augen mit klagend sentimentalem Ausdruck, +der sich durch die Gewohnheit, seine Sätze wichtigtuend zu singen, +auch leicht auf seine Stimme überträgt. + +(Burgess bleibt an der Schwelle stehen und blickt umher:) Man sagte +mir, Herr Morell sei hier. + +(Proserpina sich erhebend:) Er ist oben, ich will ihn holen. + +(Burgess sie frech anstarrend:) Sie sind nicht dieselbe junge Dame, +die sonst für ihn schrieb. + +(Proserpina.) Nein. + +(Burgess beistimmend:) Nein, die war jünger. (Fräulein Garnett starrt +ihn an, dann gebt sie mit großer Würde hinaus. Er nimmt dies +gleichgültig entgegen und geht an den Kaminteppich, wo er sich +umwendet und sich breitspurig aufpflanzt, den Rücken dem Feuer +zugekehrt.) + +(Burgess.) Sind Sie im Begriff Ihren Rundgang zu machen, Herr Mill? + +(Mill faltet sein Papier und steckt es in die Tasche:) Jawohl, ich muß +gleich fort. + +(Burgess wichtig:) Lassen Sie sich nicht aufhalten; was ich mit Herrn +Morell zu besprechen habe, ist ganz privater Natur. + +(Mill aufgeblasen:) Ich habe durchaus nicht die Absicht, mich +einzumengen, verlassen Sie sich darauf, Herr Burgess. Guten Morgen! + +(Burgess herablassend:) Guten Morgen, guten Morgen! + +(Morell kommt zurück, während Mill sich zur Tür wendet.) + +(Morell zu Mill:) Sie gehen an die Arbeit? + +(Mill.) Jawohl, Herr Pastor. + +(Morell klopft ihn liebenswürdig auf die Schulter:) Da, nehmen Sie +mein Seidentuch um den Hals, es geht ein kalter Wind draußen. Aber +jetzt machen Sie, daß Sie fortkommen. (Mill, mehr als getröstet über +Burgess' Schroffheit, freut sich und geht hinaus.) + +(Burgess.) Guten Morgen, Jakob. Sie verwöhnen Ihren Unterpfarrer wie +immer. Wenn ich einen Mann bezahle und einer auf meine Kosten lebt, +dann weise ich ihm gehörig seinen Platz an. + +(Morell etwas kurz angebunden:) Ich weise meinem Unterpfarrer immer +seinen Platz an, nämlich an meiner Seite als meinem Helfer und +Kameraden. Wenn es Ihnen gelingt, so viel Arbeit aus Ihren Kommis und +Angestellten herauszukriegen wie ich aus meinem Unterpfarrer, dann +müssen Sie ziemlich rasch reich werden. Bitte, setzen Sie sich in +Ihren gewohnten Stuhl. (Er weist mit trockener Autorität auf den +Armstuhl neben dem Kamin, dann ergreift er einen freien Stuhl und +setzt sich in zurückhaltender Entfernung von seinem Besucher.) + +(Burgess ohne sich zu rühren:) Sie sind ganz der alte, Jakob. + +(Morell.) Als Sie mich das letztemal besuchten--ich glaube, es war vor +drei Jahren--da sagten Sie genau dasselbe. Nur etwas aufrichtiger. +Ihr wörtlicher Ausspruch war damals: "Derselbe Narr wie immer, Jakob." + +(Burgess sich rechtfertigend:) Vielleicht sagte ich das, aber (mit +versöhnender Heiterkeit:) ich meinte nichts Beleidigendes damit. Ein +Geistlicher hat das Privilegium, ein wenig närrisch sein zu +dürfen--wissen Sie, das liegt schon in seinem Beruf. Einerlei, ich +bin nicht hergekommen, um alte Meinungsverschiedenheiten aufzuwärmen, +sondern um die Vergangenheit vergessen sein zu lassen. (Er wird +plötzlich sehr feierlich und nähert sich Morell.) Jakob, vor drei +Jahren haben Sie mir übel mitgespielt. Sie haben mich um meine +Lieferungen gebracht, und als ich Ihnen in meiner erklärlichen +Verzweiflung böse Worte gab, brachten Sie meine Tochter gegen mich auf. +Nun, ich bin gekommen, um Ihnen zu zeigen, daß ich ein guter Christ +bin. (Ihm seine Hand darreichend:) Ich verzeihe Ihnen, Jakob. + +(Morell auffahrend:) Verdammt frech! + +(Burgess weicht zurück mit fast schluchzendem Vorwurf über diese +Behandlung:) Ziemt diese Sprache einem Pastor, Jakob? Und besonders +Ihnen? + +(Morell bitzig:) Nein, sie ziemt ihm nicht, ich habe das falsche Wort +gebraucht,--ich hätte sagen sollen: "Der Teufel soll Ihre Frechheit +holen!" Das würde Ihnen der heilige Paulus und jeder andere brave +Priester gesagt haben. Glauben Sie, ich habe Ihr Anerbieten vergessen, +als Sie für das Armenhaus vertragsmäßig Kleider liefern sollten? + +(Burgess in höchster Erbitterung, weil ihm seine Forderung nur recht +und billig erscheint:) Ich habe im Interesse der Steuerzahler +gehandelt, Jakob,--es war das niedrigste Angebot, das können Sie nicht +leugnen. + +(Morell.) Jawohl, das niedrigste, weil Sie schlechtere Löhne zahlten +als irgendein anderer Unternehmer--Hungerlöhne,--ach, ärger als +Hungerlöhne war die Bezahlung, die Sie den Frauen für ihre Näharbeit +geboten haben. Ihre Löhne hätten die Armen auf die Straße getrieben, +um Leib und Seele zu verkaufen. (Immer wütender werdend:) Jene Frauen +waren aus meinem Kirchsprengel, ich habe die Armenpfleger dazu +gebracht, daß sie sich schämten, Ihr Angebot anzunehmen, ich habe die +Steuerzahler dazu gebracht, daß sie sich schämten, es zuzulassen, ich +habe jeden bis auf Sie dazu gebracht, sich deswegen zu schämen. +(Überschäumend vor Wut:) Wie können Sie es wagen, Herr, +hierherzukommen und mir etwas vergeben zu wollen und über Ihre Tochter +zu sprechen und... + +(Burgess.) Beruhigen Sie sich, Jakob,--still, still, regen Sie sich +nicht für nichts und wieder nichts so auf. Ich habe ja zugegeben, daß +ich unrecht hatte. + +(Morell wütend:) Haben Sie das? Ich habe nichts davon bemerkt! + +(Burgess.) Natürlich gab ich's zu, so wie ich's noch jetzt zugebe. Na, +ich bitte Sie um Verzeihung wegen des Briefes, den ich Ihnen +geschrieben habe,--genügt Ihnen das? + +(Morell mit den Fingern schnalzend:) Ganz und gar nicht! Haben Sie +die Löhne erhöht? + +(Burgess triumphierend:) Ja! + +(Morell verblüfft innehaltend:) Was? + +(Burgess salbungsvoll:) Ich bin das Muster eines Arbeitgebers geworden. +Ich beschäftige keine Frauen mehr, sie haben alle den Laufpaß +bekommen, und die Arbeit wird jetzt durch Maschinen verrichtet. Nicht +ein Mann verdient jetzt weniger als sechs Pence die Stunde, und die +alten geübten Arbeiter bekommen die von den Gewerkschaften +festgesetzten Löhne. (Stolz:) Was sagen Sie jetzt? + +(Morell überwältigt:) Ist das möglich? Na, es ist mehr Freude im +Himmel über einen Sünder, der Buße tut--(Er geht auf Burgess zu mit +einem Ausbruch entschuldigender Herzlichkeit.) Mein lieber Burgess, +ich bitte Sie herzlichst um Verzeihung wegen der schlechten Meinung, +die ich von Ihnen hatte. (Seine Hand fassend:) Und fühlen Sie sich +nicht wohler nach dieser Veränderung? Gestehen Sie es! Sie sind +glücklicher, Sie sehen glücklicher aus. + +(Burgess kläglich:) Na ja, vielleicht fühle ich mich jetzt glücklicher, +ich muß wohl, da Sie es bemerken. Tatsache ist, daß mein Angebot von +der Behörde angenommen wurde. (Wild:) Sie wollte nichts mit mir zu +schaffen haben, ehe ich anständige Löhne zahlte--der Teufel soll +diese verdammten Narren holen, die ihre Nase in alles stecken müssen! + +(Morell läßt seine Hand fahren, aufs tiefste entmutigt:) Das ist also +der Grund, warum Sie die Löhne erhöht haben! (Er setzt sich +niedergeschlagen.) + +(Burgess streng, anmaßend, lauter werdend:) Weswegen sollt' ich es +sonst getan haben? Wohin anders führt es, als zu Trunksucht und +Ausschweifungen? (Er setzt sich wie ein Richter in den großen +Lehnstuhl.) Das ist alles sehr schön und gut für Sie: es bringt Sie in +die Zeitungen und macht Sie zu einem berühmten Manne; aber Sie denken +nie an den Schaden, den Sie anrichten, indem Sie die Taschen der +Arbeiter mit Geld anfüllen, das sie doch nicht vernünftig auszugeben +verstehen, während Sie es Leuten fortnehmen, die gute Verwendung dafür +hätten. + +(Morell nach einem schweren Seufzer, mit kalter Höflichkeit:) Was +wollen Sie also heute von mir? Ich bilde mir nicht ein, daß nur +verwandtschaftliche Gefühle Sie herführen. + +(Burgess hartnäckig:) Doch--gerade verwandtschaftliche Gefühle und +nichts anderes! + +(Morell mit müder Ruhe:) Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess springt drohend auf:) Sagen Sie mir das nicht ein zweites Mal, +Jakob Morell! + +(Morell unerschütterlich:) Ich werde es genau so oft sagen, als es +nötig ist, Sie davon zu überzeugen.--Das glaub' ich Ihnen nicht. + +(Burgess versinkt in einen Zustand von tief verwundetem Gefühl:) Nun +gut, wenn Sie durchaus unfreundlich sein wollen, dann ist es wohl am +besten, ich gehe. (Er bewegt sich zögernd gegen die Tür, Morell gibt +kein Zeichen. Burgess zögert noch.) Ich habe nicht erwartet, Sie +unversöhnlich zu finden, Jakob. (Da Morell noch immer nicht antwortet, +macht er noch einige zögernde Schritte nach der Tür, dann kommt er +zurück, jammernd:) Wir haben uns doch immer ganz gut vertragen, trotz +unserer verschiedenen Anschauungen, warum sind Sie mir gegenüber jetzt +so verändert? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich bloß aus Freundschaft +hergekommen bin und nicht, um mich mit dem Manne meiner eigenen +Tochter auf schlechten Fuß zu stellen. Seien Sie doch ein Christ, +Jakob, reichen Sie mir Ihre Hand. (Er legt seine Hand sentimental auf +Morells Schulter.) + +(Morell blickt nachdenklich zu ihm auf.) Schauen Sie, Burgess, wollen +Sie hier ebenso willkommen sein, wie Sie es waren, ehe Sie Ihren +Vertrag verloren? + +(Burgess.) Jawohl, Jakob, das möchte ich wirklich. + +(Morell.) Warum benehmen Sie sich dann nicht wie damals? + +(Burgess nimmt seine Hand behutsam weg:) Wie meinen Sie das? + +(Morell.) Das will ich Ihnen sagen. Damals hielten Sie mich für einen +jungen Dummkopf! + +(Burgess schmeichelnd:) Nein, dafür habe ich Sie nicht gehalten, ich-- + +(Morell ihn unterbrechend:) Ja, dafür hielten Sie mich! Und ich hielt +Sie für einen alten Schurken. + +(Burgess will diese schwere Selbstanklage Morells heftig abwehren:) +Nein, das haben Sie nicht getan, Jakob. Jetzt tun Sie sich selbst +unrecht. + +(Morell.) Doch, das tat ich. Na, das hat aber nicht gehindert, daß +wir ganz gut miteinander ausgekommen sind. Gott hat aus Ihnen das +gemacht, was ich einen Schurken nenne, und aus mir das, was Sie eben +einen Dummkopf nennen. (Diese Bemerkung erschüttert die Grundfesten +von Burgess' Moral. Ihm wird schwach, und während er Morell hilflos +anblickt, streckt er die Hand ängstlich aus, um sein Gleichgewicht zu +bewahren, als ob der Boden unter ihm wankte. Morell fährt im selben +Tone ruhiger Überzeugung fort:) Es ist in beiden Fällen nicht meine +Sache, mit Gott darüber zu rechten. Solange Sie offen als ein sich +selbst achtender, echter, überzeugter Schurke hierherkommen und, stolz +darauf, Ihre Schurkereien zu rechtfertigen versuchen, sind Sie +willkommen. Aber (und nun wird Morells Ton furchtbar; er erhebt sich +und stützt sich zur Bekräftigung mit der Faust auf die Rückenlehne des +Stuhles:) ich mag Sie hier nicht herumschnüffeln haben, wenn Sie so +tun, als ob Sie das Muster eines Arbeitgebers wären und ein bekehrter +Mann dazu, während Sie nur ein Abtrünniger sind, der seinen Rock nach +dem Winde trägt, um einen Vertrag mit der Behörde zustande zu bringen. +(Er nickt ihm zu, um seiner Rede Nachdruck zu verleihen, dann geht er +zum Kamin, wo er in bequemer Kommandostellung, mit dem Rücken gegen +das Feuer gekehrt, lehnt und fortfährt:) Nein, ich liebe es, wenn ein +Mensch wenigstens sich selber treu bleibt, selbst im Bösen! Also, +nehmen Sie jetzt entweder Ihren Hut und gehen Sie, oder setzen Sie +sich und geben Sie mir einen guten, schurkischen Grund dafür an, warum +Sie mein Freund sein wollen. (Burgess, dessen Erregung sich genügend +gelegt hat, um in einem Grinsen ausgedrückt werden zu können, fühlt +sich durch diesen konkreten Vorschlag sichtlich erleichtert. Er +überlegt einen Augenblick, und dann setzt er sich langsam und sehr +bescheiden in den Stuhl, den Morell eben verlassen hat.) So ist's +recht,--nun heraus damit. + +(Burgess kichernd gegen seinen Willen:) Nein, Sie sind wirklich ein +sonderbarer Kauz, Jakob! (Beinahe enthusiastisch:) Aber man muß Sie +gern haben, ob man will oder nicht. Außerdem nimmt man, wie ich schon +sagte, nicht jedes Wort eines Geistlichen für bare Münze, sonst müßte +die Welt untergehn. Habe ich nicht recht? (Er faßt sich, um einen +ernsteren Ton anzuschlagen, und die Augen auf Morell gerichtet, fährt +er mit eintönigem Ernste fort:) Nun, meinetwegen, da Sie es wünschen, +daß wir gegeneinander ehrlich sind, will ich Ihnen zugeben, daß ich +Sie--ein wenig--für einen Narren hielt; aber ich fange an zu glauben, +daß ich damals etwas hinter meiner Zeit zurückgeblieben war. + +(Morell frohlockend:) Aha, haben Sie das endlich herausgefunden? + +(Burgess bedeutungsvoll:) Ja, die Zeiten haben sich mehr verändert, +als man glauben sollte! Vor fünf Jahren noch hätte sich kein +vernünftiger Mensch mit Ihren Ideen abgegeben. Ich wunderte mich +sogar, daß man Sie auf Ihrem Posten als Pastor beließ. Ich kenne +einen Geistlichen, der durch den Bischof von London auf Jahre hinaus +seiner Funktionen enthoben wurde, obwohl der arme Teufel nicht einen +Funken mehr religiös war als Sie. Aber wenn heute jemand mit mir um +tausend Pfund wetten wollte, daß Sie selbst noch einmal als Bischof +enden werden, ich würde die Wette nicht anzunehmen wagen. (Sehr +eindrucksvoll:) Sie und Ihre Sippschaft werden täglich einflußreicher, +wie ich überall merke. Man wird Sie einmal irgendwie befördern müssen, +und wäre es bloß, um Ihnen den Mund zu stopfen. Sie haben doch den +richtigen Instinkt gehabt, Jakob! Der Weg, den Sie eingeschlagen +haben, ist der einträglichste für einen Mann Ihres Schlages. + +(Morell reicht ihm jetzt die Hand mit fester Entschlossenheit:) Hier +meine Hand, Burgess, jetzt reden Sie ehrlich. Ich glaube nicht, daß +man mich zum Bischof ernennen wird; aber wenn es geschieht, dann will +ich Sie mit den größten Spekulanten bekannt machen, die ich zu meinen +Diners bekommen kann. + +(Burgess der sich mit einem verschmitzten Grinsen erhoben und die +Freundschaftshand ergriffen hat:) Sie bleiben nun mal bei Ihrem Witz, +Jakob. Unser Streit ist jetzt beigelegt, nicht wahr? + +(Die Stimme einer Frau.) Sag "Ja", Jakob! + +(Erstaunt wenden sie sich um und bemerken, daß Candida eben +eingetreten ist und sie mit jener belustigten, mütterlichen Nachsicht +betrachtet, die ihr charakteristischer Gesichtsausdruck ist. Sie ist +eine Frau von dreiunddreißig Jahren, schön gewachsen, gut genährt. +Man errät, daß sie später eine Matrone sein wird, aber jetzt steht sie +noch in ihrer Blüte, mit dem Doppelreiz der Jugend und der +Mutterschaft. Ihr Benehmen ist das einer Frau, die erfahren hat, daß +sie die Menschen immer lenken kann, wenn sie ihre Neigung gewinnt, und +die dies unbekümmert offen und instinktiv tut. In diesem Punkte ist +sie wie jede andere hübsche Frau, die gerade klug genug ist, aus ihrer +weiblichen Anziehungskraft zu alltäglich selbsttüchtigen Zwecken so +viel Kapital wie möglich zu schlagen. Aber Candidas heitere Stirn und +ihre mutigen Augen, der schön geformte Mund und ihr Kinn kennzeichnen +umfassenden Geist und Würde des Charakters, der ihre Schlauheit im +Gewinnen von Neigungen adelt. Ein kluger Beobachter würde, sie +betrachtend, sofort erraten, daß wer das Bild der Assunta auch über +ihren Kamin gehängt haben mochte, ein seelisches Band zwischen den +beiden Frauengestalten geahnt hatte, obwohl er weder ihrem Manne, noch +ihr selbst den Gedanken zutraute, sie mit der Kunst Tizians irgendwie +in Zusammenhang zu bringen.--Sie ist in Hut und Mantel und hat eine +zusammengeschnürte Reisedecke, durch die ihr Schirm gesteckt ist, eine +Handtasche und eine Menge illustrierter Zeitungen in den Händen.) + +(Morell über seine Nachlässigkeit erschrocken:) Candida! Ei nun!--(Er +sieht auf seine Uhr und ist entsetzt, daß es schon so spät ist.) Mein +Schatz! (Er eilt ihr entgegen und nimmt ihr die Reisedecke ab, indem +er fortfährt, sein reumütiges Bedauern hervorzusprudeln:) Ich hatte +die Absicht, dich von der Bahn abzuholen, aber ich bemerkte nicht, daß +die Zeit schon um war, (die Reisedecke aufs Sofa werfend:) ich war so +sehr in Anspruch genommen--(Wieder zu ihr kommend:) daß ich das +vergaß--oh! (Er umarmt sie mit reumütiger Ergriffenheit.) + +(Burgess etwas beschämt und ungewiß, wie er von seiner Tochter +empfangen werden wird:) Wie geht es dir, Candy? (Candida, noch in +Morells Armen, bietet ihm ihre Wange, die er küßt:) Jakob und ich sind +zu einer Verständigung gekommen--zu einer ehrenvollen Verständigung. +Nicht wahr, Jakob? + +(Morell heftig:) Reden Sie nicht von unserer Verständigung! +Ihretwegen habe ich versäumt, Candida abzuholen. + +(Teilnahmsvoll:) Du arme Liebe, wie bist du nur mit deinem Gepäck +fertig geworden? Wie-- + +(Candida unterbricht ihn und macht sich los:) Na, na, na! ich war +nicht allein. Eugen ist mit uns gekommen--wir sind zusammen +hergefahren. + +(Morell erfreut:) Eugen?! + +(Candida.) Ja. Er plagt sich eben mit meinem Gepäck ab, der arme +Junge. Ich bitte dich, lieber Jakob, geh gleich hinunter, sonst +bezahlt er den Wagen, und das möchte ich nicht. (Morell eilt hinaus. +Candida stellt ihre Handtasche nieder, nimmt dann ihren Mantel und Hut +ab und legt sie auf das Sofa neben die Decke und plaudert inzwischen.) +Nun, Papa, wie geht's zu Hause? + +(Burgess.) Es lohnt sich nicht mehr, dort zu leben, seit du uns +verlassen hast, Candy. Ich wollte, du kämst einmal, um nachzusehn und +mit dem Mädchen zu sprechen.--Wer ist dieser Eugen, der dich begleitet +hat? + +(Candida.) Oh, Eugen ist eine von Jakobs Entdeckungen. Er fand ihn im +verflossenen Juni schlafend auf dem Kai. Hast du unser neues Bild +nicht bemerkt? (Ruf das Bild der Assunta zeigend:) Das haben wir von +ihm. + +(Burgess ungläubig:) Was soll das heißen? Willst du mir, deinem +eigenen Vater, etwa einreden, daß ein Landstreicher, den man schlafend +auf dem Kai findet, solche Bilder schenkt? (Strenge:) Betrüg mich +nicht, Candy; es ist ein katholisches Bild, und Jakob hat es selbst +gekauft. + +(Candida.) Du irrst. Eugen ist kein Landstreicher. + +(Burgess.) Was ist er denn? (Sarkastisch:) Ein Edelmann +wahrscheinlich? + +(Candida nickt belustigt:) Jawohl, sein Onkel ist ein Pair--ein +wirklicher, leibhaftiger Graf. + +(Burgess wagt es nicht, so eine gute Nachricht zu glauben:) Nein! + +(Candida.) Ja! Er trug einen Wechsel auf fünfundfünfzig +Pfund--zahlbar in acht Tagen--in der Tasche, als Jakob ihn am Kai fand. +Er dachte, daß er dafür kein Geld bekommen könnte, bevor die acht +Tage um wären, und er war zu schüchtern, Kredit zu verlangen. Oh, er +ist ein lieber Junge, wir haben ihn sehr gern. + +(Burgess der so tut, als verachte er die Aristokraten, aber mit +glänzenden Augen:) Hm, ich dachte mir's, daß der Neffe eines Pairs +nicht bei euch im Viktoriapark zu Besuch sein würde, wenn er nicht ein +bißchen verrückt wäre. (Er blickt wieder auf das Bild.) Ich bin +natürlich mit dem Vorwurf dieses Bildes, als strenggläubiger +Protestant, nicht einverstanden, Candy; aber daß es ein erstklassiges, +großes Kunstwerk ist, das habe ich sofort erkannt. Nicht wahr, du +stellst mich ihm vor, Candy? (Er sieht ängstlich auf seine Uhr.) Ich +kann aber höchstens noch zwei Minuten bleiben. + +(Morell kommt mit Eugen zurück, den Burgess mit feuchten Augen +begeistert anstarrt. Eugen ist ein seltsamer, scheuer Jüngling von +achtzehn Jahren, schlank, weibisch, mit einer zarten, kindlichen +Stimme, einem gehetzten, gequälten Ausdruck und mit einem Benehmen, +das die schmerzliche Empfindlichkeit sehr schnell und plötzlich +gereifter Knaben kennzeichnet, bevor ihr Charakter volle Festigkeit +erreicht hat. Erbärmlich unentschlossen, weiß er nie, wo er stehen +und was er tun soll. Burgess erschreckt ihn, und er möchte am +liebsten fort von ihm in die Einsamkeit laufen, wenn er es wagte. +Aber die Intensität, mit der er eine so ganz gewöhnliche Lage +empfindet, zeugt doch nur von seiner übergroßen nervösen Kraft; und +seine Nasenflügel, sein Mund und seine Augen verraten einen +leidenschaftlich ungestümen Eigensinn, über dessen äußersten Grad +seine Stirne, die schon vom Mitleid gefurcht ist, wieder beruhigt. Er +sieht absonderlich aus, beinahe wie nicht von dieser Welt--und +prosaische Leute sehen etwas Ungesundes in dieser überirdischen Art, +so wie poetische Menschen darin etwas Engelgleiches sehen. Seine +Kleidung ist ganz frei; er trägt ein altes Jakett aus blauem Serge, +aufgeknöpft, über einem wollenen Lawn-Tennis-Hemd, mit einem seidenen +Halstuch als Krawatte, zu dem Jackett passende Beinkleider und braune +Schuhe aus Segeltuch. In diesem Aufzuge hat er augenscheinlich im +Heidekraut gelegen und ist durch das Wasser gewatet; es ist auch nicht +ersichtlich, daß er die Kleider jemals abgebürstet hat. Da er beim +Eintritt einen Fremden sieht, hält er inne und drückt sich längs der +Wand nach der entgegengesetzten Seite des Zimmers weiter.) + +(Morell beim Eintreten:) Kommen Sie. Sie haben sicher doch eine +Viertelstunde für uns übrig. Das ist mein Schwiegervater, Herr +Burgess--Herr Marchbanks. + +(Marchbanks weicht geängstigt gegen den Bücherschrank zurück:) Sehr +angenehm-- + +(Burgess geht mit großer Herzlichkeit auf ihn zu, während Morell vor +den Kamin zu Candida tritt:) Es freut mich sehr, Sie kennen zu lernen, +Herr Marchbanks. (Nötigt ihn, ihm die Hand zu geben.) Wie geht es +Ihnen bei diesem Wetter? Ich hoffe, Jakob versucht nicht, Ihnen +verrückte Ideen in den Kopf zu setzen. + +(Marchbanks.) Verrückte Ideen? Ach, Sie meinen sozialistische? Nein, +o nein! + +(Burgess.) Das ist recht. (Sieht wieder auf seine Uhr.) Na, jetzt muß +ich aber gehen, da ist nichts zu machen. Haben Sie vielleicht +denselben Weg, Herr Marchbanks? + +(Marchbanks.) Nach welcher Richtung gehen Sie? + +(Burgess.) Station Viktoriapark. Um zwölf Uhr fünfundzwanzig geht ein +Zug nach der City. + +(Morell.) Unsinn, Eugen, Sie frühstücken doch hoffentlich mit uns! + +(Marchbanks sich ängstlich entschuldigend:) Nein, ich--ich-- + +(Burgess.) Nun, ich will Ihnen nicht zureden. Ich wette, daß Sie es +vorziehen, mit Candy zu frühstücken. Ich hoffe aber, dafür werden Sie +eines Abends im Bürgerklub in Norton Folgate mit mir dinieren,--bitte, +sagen Sie zu! + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, Herr Burgess. Wo ist Norton +Folgate?--Unten in Surrey, nicht wahr? + +(Burgess, unaussprechlich belustigt, fängt zu lachen an.) + +(Candida zu Hilfe kommend:) Du wirst deinen Zug versäumen, Papa, wenn +du nicht sofort gehst; komm am Nachmittag wieder und erkläre Herrn +Marchbanks dann, wie man nach dem Klub gelangt. + +(Burgess mit schallendem Gelächter:) In Surrey, ha ha, das ist nicht +schlecht! Nun, ich habe noch nie einen Menschen getroffen, der nicht +Norton Folgate gekannt hätte. + +(Betroffen über den Lärm seiner eigenen Stimme:) Leben Sie wohl, Herr +Marchbanks; ich weiß, Sie sind zu vornehm, um meinen Scherz schlecht +aufzufassen. (Er reicht ihm abermals die Hand.) + +(Marchbanks erfaßt sie mit nervösem Griff.) O bitte, bitte! + +(Burgess.) Adieu, adieu, Candy. Ich werde später wiederkommen--auf +Wiedersehen, Jakob. + +(Morell.) Müssen Sie wirklich gehen? + +(Burgess.) Laßt euch nicht stören. (Er gebt mit unverminderter +Herzlichkeit hinaus.) + +(Morelt.) Ich werde Sie hinausbegleiten. (Er folgt ihm, Eugen starrt +ihnen ängstlich nach und hält seinen Atem an, bis Burgess verschwunden +ist.) + +(Candida lachend:) Nun, Eugen? (Er wendet sich mit einem Ruck um und +kommt heftig auf sie zu, hält aber unschlüssig inne, als er ihren +belustigten Blick bemerkt.) Wie gefällt Ihnen mein Vater? + +(Marchbanks.) Ich--ich kenne ihn doch kaum,--er scheint ein sehr +lieber alter Herr zu sein. + +(Candida mit leiser Ironie:) Und Sie werden seine Einladung in den +Bürgerklub annehmen, nicht wahr? + +(Marchbanks unglücklich, es für Ernst nehmend:) Gerne, wenn Sie es +wünschen. + +(Candida gerührt:) Wissen Sie, daß Sie ein sehr lieber Junge sind, +Eugen, trotz all Ihrer Sonderlichkeiten. Wenn Sie meinen Vater +ausgelacht hätten, so wäre nichts dabei gewesen, aber es gefällt mir +um so besser von Ihnen, daß Sie nett zu ihm waren. + +(Marchbanks.) Hätte ich lachen sollen? Mir war, als ob er etwas +scherzhaftes sagte, aber ich fühle mich Fremden gegenüber so bedrückt, +und ich kann Witze nie verstehen. Es tut mir sehr leid. (Er setzt +sich auf das Sofa, die Ellbogen auf den Knien und die Schläfen +zwischen den Fäusten, mit dem Ausdruck hoffnungslosen Leidens.) + +(Candida heitert ihn gutmütig auf:) Oh, Sie großes Kind,--Sie sind +heute noch ärger als sonst. Warum waren Sie auf der Fahrt in der +Droschke so melancholisch? + +(Marchbanks.) Oh, das war nichts. Ich dachte darüber nach, wieviel +ich dem Kutscher geben sollte. Ich weiß, es ist äußerst dumm, aber +Sie wissen nicht, wie schrecklich mir solche Dinge sind,--wie ich mich +davor scheue, mit fremden Leuten zu unterhandeln. (Frisch und +beruhigend:) Aber jetzt ist alles gut. Er lachte mit dem ganzen +Gesicht und berührte seinen Hut, als Ihr Mann ihm zwei Schilling gab; +ich war im Begriff, ihm zehn zu bieten. (Candida lacht herzlich, +Morell kommt mit einigen Briefen und Zeitungen zurück, die mit der +Mittagspost gekommen sind.) + +(Candida.) Oh, lieber Jakob, denke nur, er wollte dem Kutscher zehn +Schilling geben,--zehn Schilling für eine Fahrt von drei Minuten, was +sagst du? + +(Morell vor dem Tisch die Briefe überfliegend:) Machen Sie sich nichts +daraus, Marchbanks. Der Trieb, zuviel zu bezahlen, ist ein Beweis von +Großmut und viel besser als der entgegengesetzte, und nicht so +gewöhnlich. + +(Marchbanks wieder in Niedergeschlagenheit verfallend:) Nein, Feigheit, +Untauglichkeit ist das. Frau Morell hat ganz recht. + +(Candida.) Gewiß hat sie recht. (Sie nimmt ihre Handtasche auf.) Und +nun muß ich Sie Jakob überlassen. Ich nehme an, Sie sind zu sehr Poet, +um sich den Zustand vorstellen zu können, in dem eine Frau ihr Haus +wiederfindet, wenn sie drei Wochen fortgewesen ist. Geben Sie mir +meine Decke. (Eugen nimmt die eingeschnallte Decke vom Sofa und gibt +sie ihr; sie nimmt sie in die linke Hand, da sie ihre Tasche in der +rechten hält.) Nun, bitte, hängen Sie mir den Mantel über den Arm. +(Er gehorcht.) Nun meinen Hut. (Er gibt ihn ihr in die Hand, die das +Gepäck hält.) Nun öffnen sie mir die Tür.--(Er läuft ihr voraus und +öffnet die Tür.) Danke. (Sie geht hinaus, und Marchbanks schließt sie +hinter ihr wieder.) + +(Morell noch am Tisch beschäftigt:) Sie bleiben selbstverständlich zum +Frühstück bei uns, Marchbanks. + +(Marchbanks erschreckt:) Ach, ich darf nicht. (Er sieht rasch nach +Morell hin, weicht aber plötzlich seinem vollen Blick aus und fügt mit +sichtlicher Unaufrichtigkeit hinzu:) Ich meine, ich kann nicht. + +(Morell.) Sie meinen, Sie wollen nicht. + +(Marchbanks ernst:) Nein, ich möchte wirklich gerne, ich danke Ihnen +sehr, aber--aber-- + +(Morell leichthin, beendigt seinen Brief und tritt dicht an Eugen +heran:) Aber--aber--aber--aber! Unsinn! Wenn Sie bleiben wollen, +dann bleiben Sie,--Sie werden mich doch nicht überzeugen wollen, daß +Sie irgend etwas anderes zu tun haben? Wenn Sie schüchtern sind, +machen Sie einen Spaziergang durch den Park und schreiben bis halb +zwei Uhr Gedichte, und dann kommen Sie wieder und essen tüchtig. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen. Ich würde das sehr gern tun, aber ich +darf wirklich nicht. Die Wahrheit ist, daß mir Frau Morell gesagt hat, +daß ich's lieber nicht tun sollte. Sie sagte, sie glaube nicht, daß +Sie mich zum Frühstück einladen würden, aber wenn Sie es täten, dann +wünschten Sie es doch nicht ernstlich. (Schmerzlich:) Sie sagte, ich +würde das schon verstehen, aber ich verstehe es nicht.--Bitte, sagen +Sie ihr nichts davon, daß ich es Ihnen wiedererzählt habe. + +(Morell belustigt:) Oh, ist das alles? Was halten Sie von meinem +Vorschlag, in den Park zu gehen und diese Frage damit zu erledigen? + +(Marchbanks.) Wie? + +(Morell in guter Laune herausplatzend:) Na, Sie Dummkopf. (Aber dies +geräuschvolle Wesen verletzt sowohl ihn selbst als auch Eugen. Er +hält inne und fährt mit liebevollem Ernst fort:) Nein, Scherz beiseite, +mein lieber Junge! in einer glücklichen Ehe wie die unsere ist die +Rückkehr der Frau in ihr Haus etwas sehr Heiliges. (Marchbanks sieht +ihn rasch an, und errät beinahe im voraus, was er sagen will.) Aber +ein lieber Freund, eine wirklich vornehme, sympathische Seele ist bei +einer solchen Gelegenheit nicht im Wege,--der erstbeste Besucher wäre +es allerdings. (Der gehetzte, erschreckte Ausdruck kommt plötzlich +und lebhaft in Eugens Gesicht, sowie er begreift. Morell, mit seinen +eigenen Gedanken beschäftigt, fährt, ohne es zu bemerken, fort:) +Candida dachte, ich würde Sie vielleicht lieber nicht hier haben, aber +sie hatte unrecht. Ich habe Sie sehr lieb, Eugen; und ich möchte es +auch Ihretwegen, daß Sie sehen, wie schön es ist, so glücklich +verheiratet zu sein wie ich. + +(Marchbanks.) Glücklich? Ihre Ehe? Das meinen Sie, das glauben Sie +wirklich? + +(Morell heiter:) Ich weiß es, mein Junge. Laroche-foucauld behauptet +zwar, daß es höchstens passende, aber keine glücklichen Ehen gäbe. +Sie können sich nicht vorstellen, wie wohl es tut, einen so +abgefeimten Lügner und verderbten Zyniker zu durchschauen! Ha, ha! +Nun aber fort in den Park und schreiben Sie Ihr Gedicht! und vergessen +Sie nicht: Punkt halb zwei Uhr! Wir warten niemals mit dem Essen auf +jemand. + +(Marchbanks wild:) Nein, halten Sie ein, Sie sollen es auch nicht! +Ich will alles ans Licht bringen. + +(Morell verwundert:) Wie? Was wollen Sie ans Licht bringen? + +(Marchbanks.) Ich muß mit Ihnen sprechen. Es gibt etwas, das zwischen +uns erledigt werden muß. + +(Morell mit einem belustigten Blick nach der Uhr:) Jetzt? + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Jawohl, jetzt. Ehe Sie dieses Zimmer +verlassen. (Er weicht ein paar Schritte zurück und steht so, als ob +er Morell den Weg zur Tür versperren wollte.) + +(Morell ernst, ohne sich zu rühren, da er begreift, daß es sich um +etwas Ernstes handelt:) Ich will es gar nicht verlassen. Ich dachte, +Sie wollten gehen.--(Eugen ist von seinem sicheren Ton verwirrt und +wendet ihm, sich krümmend vor Verdruß, den Rücken zu. Morell geht zu +ihm hin und legt die Hände auf seine Schultern, fest und gütig, ohne +Marchbanks Versuche, ihn abzuschütteln, zu beachten.) Na--setzen Sie +sich ruhig und erzählen Sie mir, was los ist. Und bedenken Sie eines: +wir sind Freunde und brauchen nicht zu fürchten, daß einer von uns +anders als geduldig und gütig zu dem andern sein werde, was wir +einander auch mögen zu sagen haben. + +(Marchbanks windet sich hin und her:) Oh, ich werde mich nicht +vergessen, ich bin nur (bedeckt sein Gesicht verzweifelt mit den +Händen:) außer mir vor Entsetzen! (Dann läßt er die Hände fallen, und +sich mutig vorwärts gegen Morell wendend, fährt er drohend fort:) Sie +werden ja sehen, ob Geduld und Güte da am Platz sind. (Morell, +unerschütterlich wie ein Felsen, sieht ihn nachsichtig an.) Betrachten +Sie mich nicht so selbstgefällig! Sie halten sich zwar für stärker +als mich, aber ich werde Sie aufrütteln, wenn Sie ein Herz im Leibe +haben. + +(Morell mit mächtigem Vertrauen:) Mich aufrütteln, mein Junge? Nur zu! +Nur zu! Heraus damit! + +(Marchbanks.) Zuerst-- + +(Morell.) Zuerst? + +(Marchbanks.) Ich liebe Ihre Frau! (Morell fährt zurück, und nachdem +er Eugen einen Augenblick äußerst erstaunt angestarrt hat, bricht er +in heftiges Lachen aus. Eugen wird stutzig, verliert aber seine +Fassung nicht und steht empört und verachtungsvoll da.) + +(Morell setzt sich, um sich auszulachen:) Aber, mein liebes Kind, +natürlich lieben Sie Candida. Jeder liebt sie, man kann nicht anders; +das freut mich nur, aber (er sieht seltsam zu ihm auf:) halten Sie +Ihren Fall für etwas, über das man auch nur zu sprechen braucht? Sie +sind unter zwanzig und Candida ist über dreißig,--sieht das nicht +einer Dummenjungenliebe ähnlich? + +(Marchbanks heftig:) Sie wagen, so von ihr zu sprechen! Sie glauben, +daß Ihre Frau diese Art Liebe einflößen kann!--Das ist eine +Beleidigung gegen sie! + +(Morell erhebt sich rasch und verändert den Ton:) Gegen sie? Nehmen +Sie sich in acht, Eugen. Ich war geduldig. Ich hoffe, geduldig zu +bleiben. Aber es gibt Dinge, die ich mir verbitten muß. Zwingen Sie +mich nicht, Ihnen die Nachsicht zu zeigen, die ich einem Kinde +gegenüber haben würde. Seien Sie ein Mann. + +(Marchbanks mit einer Bewegung, als würfe er etwas hinter sich:) Oh, +lassen Sie dieses Geschwätz beiseite. Ich bin entsetzt, wenn ich +denke, wieviel die Arme davon hat anhören müssen in den langen Jahren, +in denen Sie Candida selbstsüchtig und blind Ihrem Dünkel geopfert +haben! (Sich nach ihm umwendend:) Sie, der Sie nicht einen Gedanken, +nicht ein Gefühl mit ihr gemeinsam haben. + +(Morell mit philosophischer Ruhe:) Ihr scheint das alles aber recht +gut zu bekommen. (Ihm gerade ins Gesicht blickend:) Eugen, Sie machen +sich zum Narren--zu einem sehr großen Narren. Es ist zu Ihrem eigenen +Besten, wenn man Ihnen das offen und ehrlich sagt. + +(Marchbanks.) Oh, glauben Sie, ich wüßte das alles nicht? Glauben Sie, +daß die Dinge, über die Leute zu Narren werden, weniger wirklich und +wahr sind, als die, bei denen sie vernünftig bleiben? (Morells Blick +wird zum ersten Male unsicher, er wendet instinktiv sein Gesicht ab +und steht horchend, bestürzt und nachdenklich da.) Diese Dinge sind +noch viel wahrer, sie sind überhaupt die einzigen Dinge, die wahr sind. +Sie sind sehr ruhig und maßvoll und rücksichtsvoll gegen mich, weil +Sie sehen können, daß ich, was Ihre Frau betrifft, ein Narr bin. So +wie der alte Mann, der eben hier war, zweifellos sehr weise über Ihren +Sozialismus denkt, weil er sieht, daß Sie sich dabei zum Narren machen. +(Morell wird sichtlich immer bestürzter, und Eugen nützt seinen +Vorteil aus, ihn heftig mit Fragen bedrängend:) Beweist dies, daß Sie +unrecht haben? Beweist Ihre sichere Überlegenheit mir gegenüber, daß +ich unrecht habe? + +(Morell sich zu Eugen wendend, der seinen Platz behauptet:) Marchbanks, +irgendein Teufel hat Ihnen diese Worte in den Mund gelegt. Es ist +leicht, fürchterlich leicht, in einem Menschen den Glauben an sich +selbst zu erschüttern. Dies auszunützen, um eines Menschen Seele zu +verwirren, ist Teufelswerk. Hüten Sie sich davor! + +(Marchbanks unbarmherzig:) Das weiß ich! Es geschieht absichtlich. +Ich sagte Ihnen ja, ich würde Sie aufrütteln. (Sie sehen einander +einen Augenblick drohend in die Augen, dann findet Morell seine Würde +wieder.) + +(Morell mit edler Güte:) Eugen, hören Sie mich an. Ich hoffe und baue +darauf, daß Sie eines Tages ein glücklicher Mensch sein werden, wie +ich. (Eugen gibt durch eine zornige, ungeduldige Gebärde zu verstehen, +daß er an den Wert dieses Glückes nicht glaubt. Morell, tief +beleidigt, beherrscht sich mit aller Nachsicht und fährt mit großer +künstlerischer Beredsamkeit fort:) Sie werden verheiratet sein und mit +aller Macht und Ihrem besten Können daran arbeiten, jeden Erdenfleck, +den Sie betreten, so glücklich zu machen, wie Ihr eigenes Heim es sein +wird. Sie werden einer von denen sein, die das Himmelreich auf Erden +bereiten wollen, und--wer weiß?--Sie mögen ein Pionier oder ein +Baumeister werden, wo ich nur ein demütiger Arbeiter bin. Sie dürfen +nicht glauben, Eugen, daß ich in Ihnen, so jung Sie auch sind, nicht +jene Keime sehe, die Größeres versprechen, als ich jemals von mir +erwarten darf. Ich weiß ganz gut, daß der Geist, der in einem Dichter +wohnt, heilig--daß er geradezu göttlich ist. Sie sollten bei dem +Gedanken daran zittern, bei dem Gedanken, daß die schwere +Verpflichtung und die großen Gaben eines Dichters vielleicht einst auf +Ihren Schultern ruhen werden. + +(Marchbanks unberührt und reuelos; die knabenhafte Knappheit seiner +Worte sticht scharf gegen Morells Beredsamkeit ab:) Nicht davor +zittere ich! Der Mangel dieser Gaben bei anderen, der macht mich +zittern. + +(Morell verdoppelt die Kraft seiner Rede unter dem Einfluß seines +echten Gefühls und der Verstocktheit Eugens:) Dann tragen Sie dazu bei, +jene Gaben in andere und in mich zu pflanzen--und nicht, sie +auszurotten. Später einmal, wenn Sie so glücklich sein werden, wie +ich es bin, dann will ich Ihr treuer Glaubensbruder werden. Ich will +Sie zu dem Glauben führen, daß Gott uns eine Welt geschenkt hat, die +nur unserer eigenen Unvernunft wegen kein Paradies ist, und daß jeder +Federstrich Ihrer Arbeit Glück aussät für die große Ernte, die +alle--selbst die Geringsten--eines Tages einführen werden. Und +endlich will ich Ihnen nicht zum wenigsten zu dem Glauben verhelfen, +daß Ihre Frau Sie liebt und in ihrem Heim glücklich ist. Wir brauchen +solche Hilfe, Marchbanks, wir haben sie immer sehr nötig. Es gibt so +viele Dinge, die in uns Zweifel wecken, wenn wir uns erst einmal haben +unsern Glauben trüben lassen. Selbst zu Hause sitzen wir wie in einem +Kriegslager, umgeben von einer feindlichen Armee von Zweifeln. Wollen +Sie den Verräter spielen und sie zu mir einlassen? + +(Marchbanks sich umblickend:) Ist es für sie hier immer so gewesen? +Daß eine Frau mit einer großen Seele, die nach Wahrheit, Wirklichkeit +und Freiheit dürstet, bloß mit Metaphern, Predigten und abgedroschenen +Redensarten abgespeist wird? Glauben Sie, daß die Seele einer Frau +von Ihrem Predigertalent leben kann? + +(Morell tief verwundet:) Marchbanks, Sie machen es mir schwer, mich zu +beherrschen. Mein Talent gleicht dem Ihren, sofern es überhaupt einen +echten Wert besitzt: es ist die Gabe, göttliche Wahrheit in Worte zu +kleiden. + +(Marchbanks ungestüm:) Es ist die Gabe des Mundwerks, nicht mehr und +nicht weniger. Was hat Ihre Fertigkeit, schöne Reden zu halten, mit +der Wahrheit zu schaffen?--so wenig, wie das Orgelspiel mit ihr zu +schaffen hat. Ich war niemals in Ihrer Kirche, aber ich war in Ihren +politischen Versammlungen und habe Sie dort das tun sehen, was man die +Menge zum Enthusiasmus hinreißen nennt. Das heißt: die Leute regten +sich auf und benahmen sich, als ob sie betrunken wären. Ihre Frauen +sahen zu und merkten, was für Narren sie zu Männern hatten. Oh, das +ist eine alte Geschichte, Sie können sie schon in der Bibel finden. +--Mir scheint, König David in seinem Enthusiasmus war Ihnen sehr +ähnlich. (Ihm die Worte in die Seele hohrend:) "Aber sein Weib +verachtete ihn in ihrem Herzen!" + +(Morell wütend:) Verlassen Sie mein Haus! Hören Sie? (Er gebt +drohend auf ihn los.) + +(Marchbanks gegen das Sofa zurückweichend:) Lassen Sie mich in Frieden, +rühren Sie mich nicht an! + +(Morell faßt ihn kräftig am Aufschlag seines Rockes; er duckt sich auf +das Sofa nieder.) + +(Marchbanks schreit leidenschaftlich:) Halten Sie ein; wenn Sie mich +schlagen, so töte ich mich, ich würde es nicht ertragen! (Beinahe +hysterisch:) Lassen Sie mich los: nehmen Sie Ihre Hand fort! + +(Morell langsam, mit nachdrücklicher Geringschätzung:) Sie kleiner, +winselnder, feiger Hund! (Er läßt ihn los:) Gehen Sie, sonst fallen +Sie aus Angst in Ohnmacht. + +(Marchbanks auf dem Sofa nach Luft schnappend, aber befreit durch das +Zurückziehen von Morells Hand:) Ich fürchte mich nicht vor Ihnen, Sie +fürchten sich vor mir! + +(Modell ruhig, über ihn gebeugt:) Es sieht mir ganz danach aus! + +(Marchbanks mit dreister Heftigkeit:) Ja; es sieht so aus. (Morell +wendet sich verachtungsvoll ab, Eugen steht hastig auf und folgt ihm.) +Weil ich vor einer brutalen Behandlung zurückschrecke, weil (mit +Tränen in der Stimmt:) ich nichts anderes tun kann, als heulen vor Wut, +wenn mir Gewalt angetan wird--weil ich keinen schweren Koffer vom +Kutscherbock herabheben kann wie Sie--weil ich mit Ihnen nicht um Ihre +Frau raufen kann wie ein Arbeiter--deshalb glauben Sie, ich hätte +Angst vor Ihnen! Aber Sie irren. Besitze ich auch nicht Ihren +berühmten britischen Mut, so besitze ich doch auch nicht die britische +Feigheit. Ich fürchte mich vor den Ansichten eines Pastors nicht. +Ich will kämpfen gegen Ihre Ansichten. Ich will Candida von der +Sklaverei dieser Ansichten befreien, ich will meine eigenen Ansichten +den Ihren entgegenstellen. Sie jagen mich aus dem Hause, weil Sie es +nicht wagen, Candida zwischen meinen und Ihren Ansichten wählen zu +lassen! Sie fürchten sich vor einem Wiedersehen zwischen Ihrer Frau +und mir. (Morell wendet sich plötzlich zornig zu ihm; er flüchtet +nach der Tür in unfreiwilliger Angst:) Lassen Sie mich in Ruhe. Ich +gehe. + +(Morell mit kalter Verachtung:) Warten Sie einen Augenblick: ich werde +Sie nicht berühren, fürchten Sie sich nicht. Wenn meine Frau +zurückkommt, dürfte sie wissen wollen, warum Sie fortgegangen sind; +und wenn sie erfährt, daß Sie unsere Schwelle nie wieder überschreiten +werden, dann wird sie darüber Aufklärung verlangen. Nun möchte ich +sie nicht betrüben und ihr sagen, daß Sie sich wie ein Schuft benommen +haben. + +(Marchbanks kehrt mit erneuter Heftigkeit um:) Sie sollen es--Sie +müssen! Wenn Sie irgendeine andere Aufklärung als die wahre geben, so +sind Sie ein Lügner und ein Feigling. Sagen Sie ihr, was ich gesagt +habe, und wie Sie stark und männlich waren und mich zerzaust haben wie +ein Hund eine Ratte, und wie ich zurückwich und entsetzt war, und wie +Sie mich einen winselnden kleinen Hund nannten und mich aus dem Hause +jagten! Wenn Sie ihr das alles nicht sagen werden, so werde ich es +tun! Ich werd' es ihr schreiben. + +(Morell verblüfft:) Warum wollen Sie, daß sie das alles erfahren soll? + +(Marchbanks mit lyrischer Begeisterung:) Weil sie mich dann verstehen +und wissen wird, daß ich sie verstehe. Wenn Sie nur ein Wort von +alledem vor ihr verheimlichen--wenn Sie nicht bereit sind, ihr die +reine Wahrheit zu Füßen zu legen--wie ich--dann werden Sie bis an das +Ende Ihrer Tage wissen, daß sie in Wirklichkeit mir gehört und nicht +Ihnen. Leben Sie wohl. (Er wendet sich zum Geben.) + +(Morell in furchtbarer Unrube:) Halt! ich werde ihr das alles nicht +erzählen. + +(Marchbanks wieder nach der Tür, wendet sich um:) Sie müssen ihr +entweder die Wahrheit sagen, wenn ich gehe, oder eine Lüge. + +(Morell zögernd:) Marchbanks, es ist manchmal entschuldbar-- + +(Marchbanks ihn unterbrechend:) Zu lügen--ich weiß! Diesmal wïrd es +aber vergeblich sein! Leben Sie wohl, Herr Pfarrer! (Wie er sich +endlich zur Tür wendet, geht diese auf und Candida tritt in ibrem +Hauskleid ein.) + +(Candida.) Sie verlassen uns, Eugen? (Sieht ihn genauer an:) Aber, +Sie werden doch nicht in diesem Zustand auf die Straße gehen. Sie +sind ein Dichter, sicherlich! Sieh' ihn nur an, Jakob! (Sie faßt +Eugen am Rock und zieht ihn nach vorne, ihn Morell zeigend.) Sieh +diesen Kragen an und diese Krawatte und dieses Haar. (Zu Eugen:) Man +möchte glauben, daß jemand Sie hat erdrosseln wollen! (Die beiden +büten sich, ihr schlechtes Gewissen zu verraten.) Da,--halten Sie +still. (Sie knöpft ihm seinen Kragen, bindet sein Halstuch zu einer +Schleife und ordnet sein Haar.) So, so! Nun sehen Sie so nett aus, +daß ich es doch für besser hielte, Sie frühstückten mit uns, obwohl +Sie es eigentlich nicht sollten, wie ich Ihnen schon gesagt habe. In +einer halben Stunde wird das Essen bereit sein. (Sie glättet sein +Halstuch noch mit einer letzten Berübrung; er küßt ihr die Hand.) +Nicht dumm sein. + +(Marchbanks.) Ich möchte schon bleiben, gewiß--falls Ihr verehrter +Herr Gemahl, der Herr Pastor, nichts dagegen einzuwenden hat. + +(Candida.) Soll er bleiben, Jakob, wenn er verspricht, ein braver +Junge zu sein und mir beim Tischdecken zu helfen? (Marchbanks wendet +den Kopf und sieht Morell über die Schulter fest an, seine Antwort +herausfordernd.) + +(Morell kurz angebunden:) O ja, gewiß; es wäre mir lieb. (Er geht an +den Tisch und tut, als ob er mit den Papieren beschäftigt wäre.) + +(Marchbanks bietet Candida den Arm:) Decken wir den Tisch. (Sie nimmt +seinen Arm, dann wenden sie sich zusammen nach der Tür, im Hinausgehen.) +Nun bin ich der glücklichste Mensch von der Welt! + +(Morell.) Das war ich auch--vor einer Stunde. + +(Vorhang) + + + + +ZWEITER AKT + +(An demselben Tage, dasselbe Zimmer spät nachmittags. Der Stuhl für +Morells Besucher steht wieder an dem Tisch, der womöglich noch +unordentlicher aussiebt als vorhin. Marchbanks, allein und müßig, +versucht herauszukriegen, wie die Schreibmaschine arbeitet. +Er hört jemanden kommen und stiehlt sich schuldbewußt fort an +das Fenster und tut so, als ob er in die Aussiebt versunken +wäre. Proserpina Garnett tritt mit ihrem Notizblock ein, der +das Stenogramm von Morells Briefen enthält. Sie setzt sich an die +Schreibmaschine und will mit der Abschrift beginnen. Sie ist viel zu +sehr beschäftigt, um Eugen zu bemerken. Unglücklicherweise versagt +die erste Taste, auf die sie schlägt.) + +(Proserpina.) Himmel! Sie haben sich mit der Maschine zu schaffen +gemacht, Herr Marchbanks, und es hilft Ihnen nichts, wenn Sie auch +noch so ein unschuldiges Gesicht aufsetzen. + +(Marchbanks schüchtern:) Es tut mir sehr leid, Fräulein Garnett. Ich +wollte nur zu schreiben versuchen. + +(Proserpina.) Und dabei haben Sie diese Taste verdorben. + +(Marchbanks ernst:) Ich versichere Ihnen, daß ich die Tasten nicht +berührt habe. Wahrhaftig nicht. Ich habe nur ein kleines Rad gedreht. +(Er zeigt unschlüssig auf die Kurbel.) + +(Proserpina.) Oh, nun verstehe ich. (Sie bringt die Maschine in +Ordnung und schwatzt dabei ununterbrochen:) Mir scheint, Sie dachten, +es wäre eine Art Drehorgel. Man braucht nur die Kurbel da zu drehen, +und die Maschine schreibt einem den schönsten Liebesbrief glatt aufs +Papier, he? + +(Marchbanks ernst:) Ich kann mir vorstellen, daß eine Maschine +erfunden werden könnte, die Liebesbriefe schreibt.--Es sind ja immer +dieselben, nicht wahr? + +(Proserpina etwas aufgebracht, da jede derartige Unterhaltung--außer +scherzweise einmal--ihren Umgangsformen fernliegt:) Woher soll ich das +wissen? Warum fragen Sie mich? + +(Marchbanks.) Entschuldigen Sie. Ich dachte, daß gescheite +Leute--Leute, die Geschäfte besorgen, Briefe schreiben und ähnliche +Dinge verrichten können--auch immer Liebesangelegenheiten haben. + +(Proserpina erbebt sich beleidigt:) Herr Marchbanks! (Sie siebt ihn +strenge an und gebt sehr würdevoll zum Bücherschrank.) + +(Marchbanks nähert sich ihr demütig:) Ich hoffe, daß ich Sie nicht +beleidigt habe. Ich hätte vielleicht auf Ihre Liebesangelegenheiten +nicht anspielen sollen. + +(Proserpina nimmt ein blaues Buch aus einem Fach und wendet sich +scharf nach ihm um:) Ich habe keine Liebesangelegenheiten! Wie können +Sie es wagen, mir so etwas zu sagen? + +(Marchbanks naiv:) Wirklich? Oh, dann sind Sie auch schüchtern, wie +ich, nicht wahr? + +(Proserpina.) Ich bin gewiß nicht schüchtern: was meinen Sie damit? + +(Marchbanks geheimnisvoll:) Sie müssen es sein. Das ist der Grund, +warum es so wenig echte Liebesgeschichten in der Welt gibt. Wir gehen +alle umher und sehnen uns nach Liebe, sie ist die erste +Naturnotwendigkeit, das heißeste Gebet unseres Herzens, aber wir wagen +es nicht, unsere Wünsche zu äußern, wir sind zu schüchtern. (Sehr +ernst:) Oh, Fräulein Garnett, was würden Sie nicht darum geben, ohne +Furcht zu sein,--ohne Scham-- + +(Proserpina empört:) Nein, meiner Treu, das ist stark! + +(Marchbanks trotzig und ungeduldig:) Sagen Sie mir nicht solche +Albernheiten. Sie täuschen mich doch nicht. Wozu soll das sein? +Warum scheuen Sie sich, sich mir gegenüber so zu zeigen, wie Sie sind? +Ich bin ja selbst genau so wie Sie. + +(Proserpina.) Wie ich? Bitte, ich weiß nicht recht, wollen Sie damit +mir oder sich schmeicheln? (Sie wendet sich ab, um zur +Schreibmaschine zurückzugeben.) + +(Marchbanks tritt ihr geheimnisvoll in den Weg:) Still! Ich bin auf +der Suche nach Liebe, und ich finde sie in unermeßlichen Schätzen in +den Herzen anderer aufgespeichert. Aber ich wage es nicht, darum zu +bitten,--eine fürchterliche Schüchternheit schnürt mir die Kehle zu, +und ich stehe da, stumm, ärger als stumm, und rede sinnloses Zeug und +stammle törichte Lügen. Und ich sehe die Liebe, nach der ich +verschmachte, an Katzen und Hunde und verhätschelte Vögel vergeudet, +weil die kommen und darum bitten. (Beinahe flüsternd:) Man muß Liebe +verlangen,--sie ist wie ein Geist, sie kann nicht sprechen, bevor +nicht zu ihr gesprochen wird. (Mit seiner gewohnten Stimme, aber mit +tiefer Melancholie:) Alle Liebe in der Welt ringt nach Worten, aber +sie wagt es nicht, zu sprechen, weil sie zu schüchtern ist, zu +schüchtern, zu schüchtern! Das ist die Tragik des Lebens! (Mit einem +tiefen Seufzer setzt er sieb in den Besuchsstuhl und vergräbt sein +Gesicht in den Händen.) + +(Proserpina verwundert, aber ohne ihren gesunden Menschenverstand zu +verlieren,--ein Ehrenpunkt für sie im Verkehr mit fremden jungen +Männern:) Es gibt aber schlechte Menschen, die diese Schüchternheit +gelegentlich überwinden, nicht wahr? + +(Marchbanks fährt beinahe wütend auf:) Schlechte Menschen! Das heißt +Menschen, die ohne Liebe sind, deshalb sind sie auch ohne Scham! Sie +haben den Mut, Liebe zu verlangen, weil sie keine brauchen; sie haben +den Mut, sie anzubieten, weil sie keine zu geben haben! (Er sinkt in +seinen Stuhl und fügt traurig hinzu:) Aber wir, die wir Liebe haben +und danach brennen, sie mit anderen auszutauschen, wir können kein +Wort über die Lippen bringen. (Schüchtern:) Finden Sie das nicht auch? + +(Proserpina.) Nehmen Sie sich in acht. Wenn Sie nicht aufhören, so zu +reden, werde ich das Zimmer verlassen, Herr Marchbanks. Ich tue es +wirklich! Das gehört sich nicht. (Sie nimmt ihren Sitz vor der +Schreibmaschine wieder ein, öffnet das blaue Buch und macht sich +bereit, daraus etwas zu kopieren.) + +(Marchbanks hilflos:) Nichts gehört sich, was wert ist, daß man +darüber spricht! (Er erhebt sich und wandert verloren im Zimmer umher: +) Ich kann Sie nicht begreifen, Fräulein Garnett. Worüber soll ich +denn sprechen? + +(Proserpina fertigt ihn kurz ab:) Sprechen Sie über gleichgültige +Dinge. Sprechen Sie über das Wetter. + +(Marchbanks.) Würden Sie es ertragen, über gleichgültige Dinge zu +sprechen, wenn ein Kind neben Ihnen stünde, das vor Hunger bitterlich +weinte? + +(Proserpina.) Vermutlich nicht. + +(Marchbanks.) Nun, ich kann auch nicht über gleichgültige Dinge +sprechen, während mein Herz in seinem Hunger bitterlich weint. + +(Proserpina.) Dann--schweigen Sie. + +(Marchbanks.) Jawohl, darauf läuft's immer hinaus, wir schweigen. +Unterdrückt das den Schrei Ihres Herzens--denn es schreit, nicht wahr? +Es muß, wenn Sie überhaupt ein Herz haben. + +(Proserpina erhebt sich plötzlich und preßt ihre Hand aufs Herz.) Oh, +es ist vergeblich, arbeiten zu wollen, während Sie so reden. (Sie +verläßt ihren kleinen Tisch und setzt sich auf das Sofa. Ihre Gefühle +sind heftig aufgewühlt.) Es kümmert Sie gar nichts, ob mein Herz +schreit oder nicht, aber es ist mir so, als müßte ich nun doch über +all das zu Ihnen sprechen. + +(Marchbanks.) Das brauchen Sie nicht; ich weiß doch, daß es so ist. + +(Proserpina.) Merken Sie sich: wenn Sie jemals behaupten sollten, daß +ich derlei gesagt habe, dann werde ich es leugnen. + +(Marchbanks mitleidig:) Ja, das weiß ich. Deshalb finden Sie auch +nicht den Mut, es ihm zu sagen. + +(Proserpina aufspringend:) Ihm?! Wem?! + +(Marchbanks.) Wem es auch sei. Dem Manne, den Sie lieben. Irgend +jemandem. Dem Unterpfarrer Herrn Mill vielleicht. + +(Proserpina verachtungsvoll:) Herrn Mill? Wahrhaftig, das ist der +rechte Mann, mir das Herz zu brechen. Da wären Sie mir noch lieber. + +(Marchbanks zurückweichend:) Nein, wirklich! Es tut mit leid, aber +daran dürfen Sie nicht denken. Ich-- + +(Proserpina scharf, geht ans Feuer und bleibt davor stehen, ihm den +Rücken zuwendend:) Oh, fürchten Sie nichts, Sie sind es nicht. Es ist +gar keine bestimmte Person. + +(Marchbanks.) Ich verstehe. Sie fühlen, daß Sie jeden Mann lieben +könnten, der Ihnen sein Herz anböte-- + +(Proserpina außer sich:) Nein, das könnte ich nicht! Jeden, der mir +sein Herz anböte! Für was halten Sie mich? + +(Marchbanks entmutigt:) Es ist vergebens, Sie wollen mir keine +wirklichen Antworten geben, nur diese leeren Worte, die jedermann sagt. +(Er geht nach dem Sofa und setzt sich trostlos nieder.) + +(Proserpina die es wurmt, in den Augen eines Aristokraten manierlos zu +erscheinen:) Wenn Sie originelle Unterhaltung wünschen, dann ist es +besser, Sie sprechen mit sich selbst. + +(Marchbanks.) Das tun alle Dichter; sie sprechen laut mit sich selbst; +und die Welt überhört sie. Aber es ist furchtbar einsam, nicht +manchmal auch jemand anders sprechen zu hören. + +(Proserpina.) Warten Sie, bis Herr Morell kommt. Der wird schon mit +Ihnen reden. (Marchbanks schaudert.) Oh, Sie brauchen die Nase nicht +zu rümpfen, er kann besser sprechen als Sie. (Lebhaft:) Er wird Ihnen +den kleinen Kopf schon zurechtsetzen. (Sie ist im Begriff ärgerlich +an ihren Platz zurückzugeben, als er, plötzlich erleuchtet, aufspringt +und sie anhält.) + +(Marchbanks.) Ah, jetzt begreife ich! + +(Proserpina errötend:) Was begreifen Sie? + +(Marchbanks.) Ihr Geheimnis! Sagen Sie mir, ist es wirklich und +wahrhaftig möglich, daß eine Frau ihn liebt? + +(Proserpina als ob dies ihr über den Spaß ginge:) Genug! + +(Marchbanks leidenschaftlich:) Nein, antworten Sie mir! Ich will es +wissen, ich muß es wissen, ich kann es nicht begreifen. Ich kann an +ihm nichts finden als Worte, fromme Vorsätze, was die Leute Güte +nennen! Sie können ihn deswegen doch nicht lieben! + +(Proserpina versucht, ihn durch ihr kühles Wesen stutzig zu machen:) +Ich weiß ganz einfach nicht, wovon Sie sprechen--ich verstehe Sie +nicht. + +(Marchbanks heftig:) Sie verstehen mich ganz gut. Sie lügen! + +(Proserpina.) Oh! + +(Marchbanks.) Sie verstehen, und Sie wissen. (Entschlossen, eine +Antwort zu bekommen:) Ist es möglich, daß eine Frau ihn lieben kann? +Ja oder nein! + +(Proserpina ihm gerade ins Gesicht blickend:) Ja! (Er bedeckt sein +Gesicht mit den Händen.) Was in aller Welt fehlt Ihnen denn? (Er +nimmt die Hände herab und sieht sie an. Erschreckt über das traurige +Gesicht, das sich ihr darbietet, eilt sie so weit wie möglich von ihm +fort, behält aber ihre Augen auf ihn gerichtet, bis er sich von ihr +abwendet und nach dem Kinderstuhl am Kamin geht, wo er sich in +tiefster Trostlosigkeit niederläßt. Proserpina eilt zur Tür, die Tür +geht auf und Burgess tritt ein. Als sie ihn erblickt, ruft sie aus:) +Gott sei Dank, es kommt jemand! (Setzt sich wieder beruhigt an ihren +Tisch. Sie legt einen neuen Bogen in die Maschine, während Burgess zu +Eugen hinübergebt.) + +(Burgess beflissen, sich um den vornehmen Besucher zu kümmern:) Na, +gehört sich das, wie man Sie hier sich selbst überläßt, Herr +Marchbanks? Ich bin gekommen, Ihnen Gesellschaft zu leisten. +(Marchbanks siebt zu ihm mit einer Bestürzung auf, die Burgess aber +gar nicht merkt.) Jakob empfängt eine Deputation im Speisezimmer, und +Candy ist oben und unterrichtet eine junge Näherin, für die sie sich +interessiert. Sie sitzt bei ihr und lehrt sie lesen, in einem frommen +Buche: die himmlischen Zwillinge. (Teilnahmsvoll:) Sie müssen es hier +recht langweilig finden, so ohne einen Menschen, mit dem Sie reden +können, außer der Schreiberin. + +(Proserpina äußerst erbittert:) Er wird sich jetzt ganz wohl fühlen, +da er das Glück hat, Ihre gebildete Unterhaltung zu genießen,--das ist +schon ein Trost. (Sie beginnt mit heftigem Geräusch zu schreiben.) + +(Burgess erstaunt über ihre Kühnheit:) Mit Ihnen hab' ich nicht +gesprochen, soviel ich weiß, Sie junges Ding! + +(Proserpina scharf zu Marchbanks:) Haben Sie jemals solche Manieren +gesehen, Herr Marchbanks? + +(Burgess mit wichtigtuendem Ernst:) Herr Marchbanks ist ein Edelmann, +der seine Stellung kennt; das ist mehr, als manche Leute von sich +sagen können. + +(Proserpina zornig:) Glücklicherweise gehören Sie und ich nicht zu den +"Damen" und "Herren"; ich würde Ihnen schon meine Meinung sagen, wenn +Herr Marchbanks nicht zugegen wäre. (Sie zieht den Brief so heftig +aus der Maschine heraus, daß er zerreißt.) So! nun habe ich den Brief +verdorben, jetzt kann ich noch mal von vorne anfangen. Oh, ich kann +mich nicht beherrschen.--Sie dummer alter Schafskopf, Sie! + +(Burgess erhebt sich, atemlos vor Entrüstung:) Was, ein dummer alter +Schafskopf bin ich?! Das ist stark! (Außer Atem:) Gut, gut! Warten +Sie nur, das werde ich Ihrem Prinzipal sagen--ich will Sie lehren--Sie +sollen es sehen! + +(Proserpina.) Ich-- + +(Burgess sie unterbrechend:) Genug, Ihr Reden nützt Ihnen nun nichts +mehr, Sie sollen mich kennen lernen! (Proserpina schiebt ihre Walze +mit einem zornigen Stoß herum und setzt verachtungsvoll ihre Arbeit +fort.) Nehmen Sie keine Notiz von ihr, Herr Marchbanks, sie ist es +nicht wert. (Er setzt sich stolz wieder hin.) + +(Marchbanks fürchterlich nervös und verlegen:) Wäre es nicht besser, +wir würden von etwas anderem sprechen. Ich--ich glaube nicht, daß +Fräulein Garnett es böse gemeint hat. + +(Proserpina mit fester Überzeugung:) Ob ich es böse gemeint habe! +Doch! + +(Burgess.) Ich will mich nicht so weit erniedrigen, von ihr überhaupt +noch Notiz zu nehmen. (Eine elektrische Klingel läutet zweimal.) + +(Proserpina rafft Notizhlock und Papier zusammen:) Das gilt mir! (Sie +eilt hinaus.) + +(Burgess ihr nachrufend:) Oh, wir können Sie entbehren. (Er freut +sich über den Triumph, das letzte Wort behalten zu haben, und doch +halb und halb geneigt, noch mehr zu sagen, sieht er ihr einen +Augenblick lang nach, dann läßt er sich auf seinen Platz neben Eugen +nieder und spricht sehr vertraulich zu ihm:) Jetzt, wo wir allein sind, +Herr Marchbanks, lassen Sie mich Ihnen einen freundlichen Wink geben, +den ich nicht jedermann geben würde. Wie lange kennen Sie meinen +Schwiegersohn Jakob schon? + +(Marchbanks.) Ich weiß nicht. Ich kann mir Daten niemals merken, +--vielleicht einige Monate. + +(Burgess.) Haben Sie nie etwas Sonderbares an ihm bemerkt? + +(Marchbanks.) Nicht daß ich wüßte. + +(Burgess ausdrucksvoll:) Das werden Sie auch schwerlich. Darin liegt +eben die Gefahr. Nun--er ist verrückt. + +(Marchbanks.) Verrückt?! + +(Burgess.) Total verrückt. Beobachten Sie ihn nur, und Sie werden es +selbst finden. + +(Marchbanks ängstlich:) Aber das scheint Ihnen gewiß nur so, weil +seine Ansichten-- + +(Burgess berührt Eugens Knie mit dem Zeigefinger und drückt es, um +seine Aufmerksamkeit zu erregen:) Genau dasselbe habe ich früher +gedacht, Heir Marchbanks. Ich glaubte lange genug, es wären nur seine +Ansichten, obwohl Ansichten zu sehr ernsten Angelegenheiten werden, +sobald Leute danach handeln, wie er; aber danach habe ich nicht +geurteilt. (Er siebt umher, um sich zu überzeugen, daß sie allein +sind, und neigt sich zu Eugens Ohr.) Was, glauben Sie, hat er heute +morgen in diesem Zimmer zu mir gesagt? + +(Marchbanks.) Was denn? + +(Burgess.) Er sagte mir, daß ich--so wahr, als wir hier sitzen--er +sagte ganz ruhig: "Ich bin ein Narr und Sie sind ein Schurke"... Ich +ein Schurke--bedenken Sie nur--und dann schüttelte er mir die Hand +dazu, als ob seine Meinung schmeichelhaft für mich wäre. Wollen Sie +behaupten, daß so ein Mensch nicht verrückt ist? + +(Morell von außen "Proserpina" rufend, während er die Tür öffnet:) +Schreiben Sie alle Namen und Adressen auf, Fräulein Garnett. + +(Proserpina aus der Entfernung:) Jawohl, Herr Pastor! (Morell tritt +ein, mit den Dokumenten der Deputation in der Hand.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Oh, da ist er. Beobachten Sie ihn +nur, Sie werden schon sehen. (Erhebt sich mit wichtiger Miene:) Ich +bedaure, Jakob, mich bei Ihnen beklagen zu müssen. Ich tue es nicht +gerne, aber ich fühle, daß es meine Pflicht und mein Recht ist. + +(Morell.) Was ist denn geschehen? + +(Burgess.) Herr Marchbanks wird es bestätigen, er war Zeuge. (Sehr +feierlich:) Ihre Schreiberin vergaß sich so weit, mich einen dummen +alten Schafskopf zu nennen. + +(Morell mit größter Herzlichkeit:) Oh, sieht das Prossi nicht ganz +ähnlich? Sie ist so aufrichtig, sie kann sich nicht beherrschen. +Arme Prossi, ha, ha! + +(Burgess zitternd vor Wut:) Und erwarten Sie, daß ich mir das von +ihresgleichen ruhig gefallen lasse? + +(Morell.) Bah, Unsinn. Nehmen Sie keine Notiz davon, lassen Sie's gut +sein. (Er geht an das Schreibpult und legt die Papiere in eines der +Schubfächer.) + +(Burgess.) Oh, ich mache mir nichts daraus. Ich bin über derlei +erhaben. Aber war es recht? Das ist es, was ich zu wissen wünsche! +--war es recht? + +(Morell.) Das ist eine Frage für die Kirche und nicht für Laien. +Wurde Ihnen dadurch irgendein Schaden zugefügt? danach müssen Sie +fragen--selbstverständlich "nein". Also denken Sie nicht mehr daran. +(Er läßt den Gegenstand fallen, geht nach seinem Platz an den Tisch +und beginnt an seiner Korrespondenz zu arbeiten.) + +(Burgess beiseite zu Marchbanks:) Was habe ich Ihnen gesagt? Total +verrückt! (Er geht an den Tisch und fragt mit der Höflichkeit eines +Hungrigen:) Wann wird zu Tisch gegangen, Jakob? + +(Morell.) Erst nach einigen Stunden. + +(Burgess mit klagender Entsagung:) Dann geben Sie mir, bitte, ein +hübsches Buch, am Kamin zu lesen--sein Sie so gut, Jakob. + +(Morell.) Was für ein Buch,--ein gutes? + +(Burgess beinahe mit einem Aufschrei des Widerwillens:) Nein. Irgend +was Lustiges, womit man die Zeit totschlagen kann. + +(Morell nimmt eine illustrierte Zeitschrift vom Tisch und bietet sie +ihm an, er ergreift sie demütig:) Ich danke Ihnen, Jakob. (Er geht +zurück zum Kamin, läßt sich bequem in den großen Stuhl nieder und +liest.) + +(Morell während er schreibt:) Candida wird gleich kommen und Ihnen +Gesellschaft leisten. Sie ist jetzt fertig mit ihrer Schülerin und +füllt die Lampen. + +(Marchbanks fährt empor in wildem Entsetzen:) Aber das wird ihre Hände +beschmutzen,--das kann ich nicht dulden, Herr Pastor, das ist eine +Schande; ich werde die Lampen füllen. (Er wendet sich nach der Tür.) + +(Morell.) Lassen Sie es lieber sein. (Marchbanks bleibt unschlüssig +stehen: ) Sie würde Ihnen höchstens meine Schuhe zu putzen geben, um +mir die Arbeit zu ersparen, es morgen früh selbst zu tun. + +(Burgess mit großer Mißbilligung:) Halten Sie kein Mädchen mehr, Jakob? + +(Morell.) Ja, aber es ist keine Sklavin, und das Haus sieht aus, als +ob ich drei hielte. Daraus folgt, daß jeder mithelfen muß. Das geht +ganz gut. Prossi und ich können nach dem Frühstück, während wir +abwaschen, über unsere Geschäfte sprechen; das Abwaschen macht keine +Mühe, wenn es zwei besorgen. + +(Marchbanks gequält:) Glauben Sie, daß jede Frau so grobkörnig ist wie +Fräulein Garnett? + +(Burgess pathetisch:) Sie haben ganz recht, Herr Marchbanks, +vollkommen recht,--die ist grobkörnig! + +(Morell ruhig und bedeutungsvoll:) Marchbanks! + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Wie viele Dienstboten hält Ihr Vater? + +(Marchbanks.) Oh, ich weiß nicht. (Er gebt unbehaglich an das Sofa +zurück, als ob er sich so weit fort wie möglich vor Morells Fragen +retten möchte, setzt sich in großer Verstörtheit und denkt an das +Petroleum.) + +(Morell sehr ernst:) So viele, daß Sie es nicht einmal wissen. +(angriffsbereit:) Immerhin, wenn irgendeine grobkörnige Arbeit zu +verrichten ist, dann klingeln Sie und halsen sie jemand anders +auf--das ist eine der großen Tatsachen in Ihrem Dasein, nicht wahr? + +(Marchbanks.) Oh, quälen Sie mich nicht. Die eine große Tatsache hier +ist jetzt, daß die wundervollen Finger Ihrer Frau mit Petroleum +beschmutzt werden, während Sie bequem hier sitzen und darüber Reden +halten--endlose Reden und Predigten--Worte--Worte--nichts als Worte! + +(Burgess dem diese Erwiderung sehr gelegen kommt:) Hört, hört! Besser +konnte er's ihm nicht geben! (Strahlend:) Da haben Sie es, Jakob! +Ganz so ist es. (Candida trat ein, in einer reinen Schürze, mit einer +geputzten und gefüllten, zum Anzünden fertigen Arbeitslampe. Sie +stellt sie auf den Tisch neben Morell, damit er sie zur Hand hat.) + +(Candida reibt ihre Fingerspitzen gegeneinander, mit einem leichten +Krausziehen ihrer Nase:) Wenn Sie bei uns bleiben, Eugen, ich glaube, +dann werde ich Ihnen das Füllen der Lampe übertragen. + +(Marchbanks.) Ich werde überhaupt nur unter der Bedingung bleiben, daß +Sie mir alle grobe Arbeit übertragen. + +(Candida.) Das ist zwar sehr galant, aber ich möchte doch vorher +wissen, wie Sie sie machen. (Wendet sich zu Morell:) Jakob, du hast +in meiner Abwesenheit nicht gehörig nach dem Rechten gesehen. + +(Morell.) Was habe ich denn getan oder nicht getan, meine Liebe? + +(Candida ernstlich ärgerlich:) Meine eigene kleine +Lieblingsnagelbürste wurde zum Stiefelputzen verwendet. (Ein +herzzerreißender Klagelaut entringt sich Marchbanks' Brust. Burgess +sieht sich erstaunt um, Candida eilt ans Sofa:) Was ist los? Sind Sie +krank, Eugen? + +(Marchbanks.) Nein, nicht krank. Nur Jammer erfaßt mich, Jammer, +Jammer! (Er schlägt die Hände vor das Gesicht.) + +(Burgess erschreckt:) Was haben Sie, Herr Marchbanks? Oh, das ist +schlimm in Ihrem Alter; Sie müssen trachten, sich das Trinken nach und +nach abzugewöhnen. + +(Candida beruhigt:) Unsinn, Papa. Das ist nur poetischer Jammer. +Nicht wahr, Eugen? (Streichelt ihn.) + +(Burgess verlegen:) Oh, poetischen Jammer hat er,--verzeihen Sie, das +wußte ich nicht. (Er wendet sich wieder nach dem Feuer, seine +Unüberlegtheit bereuend.) + +(Candida.) Was ist's denn, Eugen? Wegen der Nagelbürste? (Er +schaudert.) Es ist ja nichts dabei, lassen Sie's gut sein. (Sie setzt +sich neben ihn.) Wollen Sie mir eine hübsche neue schenken, mit +Elfenbeinrücken und eingelegtem Perlmutter? + +(Marchbanks sanft und melodisch, aber traurig und schmachtend:) Nein, +keine Nagelbürste, aber ein Boot, eine kleine Schaluppe, um darin +fortzusegeln, weit fort von der Welt, dorthin, wo Marmorböden vom +Regen gewaschen und von der Sonne getrocknet werden, und wo der +Südwind die wundervoll grünen und purpurnen Teppiche fegt. Oder einen +Wagen möchte ich Ihnen schenken; uns hinaufzutragen in den Himmel, wo +die Lampen Sterne sind und nicht täglich mit Petroleum gefüllt werden +müssen. + +(Morell barsch:) Und wo es nichts anderes zu tun gibt, als faul, +selbstsüchtig und unnütz zu sein. + +(Candida unangenehm berührt:) Oh, Jakob, wie kannst du nur alles so +verderben! + +(Marchbanks feurig:) Ja: faul, selbstsüchtig und unnütz, das heißt +schön, frei und glücklich sein. Hat das nicht jeder Mann mit seiner +ganzen Seele für die Frau gewünscht, die er liebte? Das ist auch mein +Ideal. Was ist das Ihre und das all der entsetzlichen Menschen, die +in diesen fürchterlichen Häuserreihen wohnen? Predigten und +Schuhbürsten! Für Sie die Predigten und für Ihre Frau die Bürste! + +(Candida drollig:) Er putzt die Schuhe, Eugen. Morgen werden Sie sie +putzen müssen, weil Sie das von ihm gesagt haben. + +(Marchbanks.) Oh, sprechen Sie nicht von Schuhen; Ihre Füße würden +auch in einer Wildnis schön bleiben. + +(Candida.) Meine Füße würden auf der Hackneystraße ohne Schuhe nicht +sehr schön aussehn. + +(Burgess daran Anstoß nehmend:) Geh, Candy, sei nicht ordinär. Herr +Marchbanks ist daran nicht gewöhnt. Du hast ihm schon wieder Jammer +eingeflößt,--ich meine poetischen Jammer. (Morell schweigt, scheinbar +ist er mit seinen Briefen beschäftigt. Tatsächlich ist er aber über +seine neue und beunruhigende Erfahrung in sorgenvolle Gedanken +vertieft: je sicherer er seiner moralischen Ausfälle ist, desto +sicherer und wirkungsvoller pariert sie Eugen. Es schmerzt Morell +sehr, daß er einen Menschen zu fürchten anfängt, den er nicht achten +kann. Fräulein Garnett kommt mit einem Telegramm herein.) + +(Proserpina händigt das Telegramm Morell ein:) Rückantwort bezahlt, +der Bote wartet. (Zu Candida, während sie zu ihrer Maschine geht und +sich setzt:) Marie wartet auf Sie in der Küche, Frau Morell. (Candida +erhebt sich:) Die Zwiebeln sind gekommen. + +(Marchbanks krampfhaft:) Zwiebeln!? + +(Candida.) Ja, Zwiebeln, und nicht einmal spanische! garstige, kleine +rote Zwiebeln! Sie können mir helfen, sie zu zerschneiden; kommen Sie. +(Sie nimmt ihn am Handgelenk und läuft, ihn nachziehend, hinaus. +Burgess erhebt sich verblüfft und starrt ihnen, auf dem Kaminteppich +stehend, nach.) + +(Burgess.) Candy sollte den Neffen eines Pairs nicht so behandeln. +Das geht doch zu weit, Jakob. Hat er öfters solche komischen Anfälle? + +(Morell kurz, ein Telegramm schreibend:) Ich weiß nicht. + +(Burgess sentimental:) Er spricht sehr nett. Ich habe immer etwas +Sinn für Poesie gehabt. Candy schlägt mir darin nach. Ich mußte ihr +immer Märchen erzählen, als sie noch ein so kleines Mädchen war. (Er +hält die Hand ungefähr zwei Fuß hoch über den Fußboden.) + +(Morell beschäftigt:) So, wirklich? (Er löscht das Telegramm ab und +geht hinaus.) + +(Proserpina.) Haben Sie die Märchen, die Sie Ihrer Tochter erzählten, +selbst erfunden? + +(Burgess würdigt sie keiner Antwort und nimmt vor dem Kamin die +Stellung tiefster Verachtung gegen sie ein.) + +(Proserpina sehr ruhig:) Ich hätte nie gedacht, daß Sie derlei könnten. +Übrigens möchte ich Sie doch warnen, da Sie so großes Interesse +an Herrn Marchbanks nehmen. Er ist verrückt. + +(Burgess.) Verrückt! Was? Der auch? + +(Proserpina.) Total verrückt! Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie +sehr er mich vorhin erschreckte--das kann ich Ihnen versichern, +gerade bevor Sie kamen.--Haben Sie das merkwürdige Zeug, das er sprach, +nicht gehört? + +(Burgess.) So, das ist also der poetische Jammer? Potztausend, es ist +mir selbst schon ein oder zweimal aufgefallen, daß es nicht ganz +richtig mit ihm ist. (Er durchschreitet das Zimmer und hebt seine +Stimme, während er geht:) Na, das ist ein hübsches Irrenhaus für einen +Menschen, der außer Ihnen niemanden hat, sich um ihn zu kümmern. + +(Proserpina während er bei ihr vorbeikommt:) Ja, wie fürchterlich wäre +es, wenn Ihnen da etwas zustieße. + +(Burgess hochmütig:) Erlauben Sie sich keine Bemerkungen! Sagen Sie +Ihrem Prinzipal, daß ich in den Garten gegangen bin, meine Pfeife zu +rauchen. + +(Proserpina spottend:) Oh!--(Ehe Burgess erwidern kann, kehrt Morell +zurück.) + +(Burgess gefühlvoll:) Ich gehe in den Garten, meine Pfeife zu rauchen, +Jakob. + +(Morell kurz angebunden:) Schon gut, schon gut! (Burgess geht +würdevoll hinaus, wie ein müder alter Mann. Morell steht vor dem +Tisch, wendet seine Papiere um und spricht zu Proserpina hinüber, halb +humorvoll, halb geistesabwesend.) + +(Morell.) Nun, Prossi, warum haben Sie meinen Schwiegervater mit +Schimpfnamen belegt? + +(Proserpina wird feuerrot und sieht rasch zu ihm auf, halb +vorwurfsvoll, halb erschrocken:) Ich--(Sie bricht in Tränen aus.) + +(Morell lehnt sich mit leisem Humor zu ihr hinüber und tröstet sie:) +Oh, lassen Sie, lassen Sie nur! es ist ja nichts dabei: er ist ein +alter Schafskopf, nicht wahr? (Mit einem krampfhaften Schluchzen +stürzt sie nach der Tür und verschwindet, die Tür zuschlagend. Morell +schüttelt resigniert den Kopf, seufzt und geht müde an seinen Stuhl, +wo er sich an die Arbeit setzt. Er sieht alt und vergrämt aus. +Candida kommt herein; sie hat ihre häusliche Arbeit beendet und die +Schürze abgenommen. Sie bemerkt sofort Morells niedergeschlagenes +Aussehen, setzt sich ruhig auf den Besuchsstuhl und betrachtet ihn +aufmerksam. Sie schweigt.) + +(Morell sieht auf, die Feder einen Moment absetzend:) Nun, wo ist +Eugen? + +(Candida.) Er wäscht sich die Hände in der Waschküche--unter der +Wasserleitung. Er wird ein ausgezeichneter Koch werden, wenn er nur +erst seine Furcht vor Marie überwunden hat. + +(Morell kurz:) Gewiß, zweifellos. (Er fängt wieder zu schreiben an.) + +(Candida geht näher und legt ihre Hände sanft auf die seinen, um ihn +aufzuhalten, und sagt:) Komm zu mir, mein Lieber. Laß dich anschauen. +(Er legt seine Feder weg und stellt sich ihr zur Verfügung; sie laßt +ihn aufstehen, zieht ihn ein wenig vom Tisch fort und betrachtet ihn +mit kritischen Blicken.) Wende dein Gesicht einmal gegen das Licht. +(Sie stellt ihn mit dem Gesicht gegen das Fenster.) Mein alter Junge +sieht nicht gut aus,--hat er sich überanstrengt? + +(Morell.) Nicht mehr als gewöhnlich. + +(Candida.) Er sieht sehr bleich und grau, runzelig und alt aus. +(Seine Melancholie nimmt zu und Candida faßt sie geflissentlich lustig +an.) Komm her. (Sie zieht ihn zum Lehnstuhl:) Du hast für heute genug +geschrieben. Überlaß Prossi alles Weitere, und wir wollen ein +bißchen plaudern. + +(Morell.) Aber-- + +(Candida nachdrücklich:) Ja, du mußt mit mir plaudern. (Sie zwingt +ihn, Platz zu nehmen, und setzt sich auf den Teppich zu seinen Füßen.) +Nun (seine Hände streichelnd:) fängst du schon an, besser auszusehen. +Warum gibst du alle diese ermüdenden Extraarbeiten nicht auf? Jeden +Abend gehst du aus, um zu predigen und zu reden. Freilich, was du +sagst, ist alles schön und gut; aber es nützt ja nichts: sie geben +nicht das geringste darauf. Sie sind natürlich deiner Ansicht--aber +was hat man davon, wenn Leute mit einem einverstanden sind und dann +hingehen und das Gegenteil von allem tun, sobald man den Rücken kehrt? +Denke nur an unsere Gemeinde in St. Dominik? Warum wollen sie dich +jeden Sonntag über Christentum reden hören? Nur weil sie mit ihren +Geschäften und Geldangelegenheiten sechs Tage lang so sehr beschäftigt +waren, daß sie am siebenten Tage nichts davon hören mögen. Da wollen +sie ruhen und sich erbauen, damit sie frisch zurückkehren und besser +als je dem Gelde nachjagen können. Du hilfst ihnen nur noch dabei, +anstatt sie daran zu hindern. + +(Morell mit energischem Ernst:) Du weißt sehr gut, Candida, daß ich +sie deswegen oft tüchtig ausschelte. Aber wenn ihr Kirchgang ihnen +nichts anderes bedeutet als Ruhe und Zerstreuung, warum wählen sie +dann nichts Lustigeres, Angenehmeres? Es muß doch etwas Gutes in der +Tatsache liegen, daß sie die Kirche am Sonntag schlimmeren Orten +vorziehen. + +(Candida.) Oh, die schlimmen Orte sind eben nicht offen, und selbst +wenn sie es wären, sie würden sich nicht trauen hinzugehen, aus Angst +gesehn zu werden. Überdies, lieber Jakob, predigst du so +wundervoll, daß es für sie so gut wie ein Schauspiel ist. Warum, +glaubst du, sind die Frauen alle so begeistert? + +(Morell verletzt:) Candida! + +(Candida.) Oh, ich weiß. Du Ahnungsloser, du glaubst, dein +Sozialismus und deine Religion machen es,--doch wenn's bloß das wäre, +dann würden sie tun, was du ihnen sagst, anstatt nur hinzugehen und +dich anzustarren;--sie haben alle Prossis Leiden. + +(Morell.) Prossis Leiden? Was meinst du damit, Candida? + +(Candida.) Ja, Prossis und das all der anderen Sekretärinnen, die du +hattest. Warum, meinst du, läßt sich Prossi herbei, abzuwaschen, +Kartoffeln zu schälen und sich auf alle mögliche Art zu erniedrigen, +da sie bei dir doch sechs Schillinge in der Woche weniger verdient, +als sie in einem Bureau in der City bekäme? Sie ist verliebt in dich, +das ist der Grund,--sie sind alle in dich verliebt. Und du bist ins +Predigen verliebt, weil du das so wundervoll kannst. Und du glaubst, +es sei alles Enthusiasmus für das Himmelreich auf Erden--und sie +glauben es auch--o du lieber Dummkopf, du! + +(Morell.) Candida, was ist das für ein schrecklicher, seelenmordender +Zynismus? Scherzest du oder--ist es möglich--bist du eifersüchtig? + +(Candida seltsam gedankenvoll:) Ja, manchmal bin ich etwas +eifersüchtig. + +(Morell ungläubig:) Auf Prossi? + +(Candida lachend:) Nein, nein, nein. Nicht eifersüchtig a u f +jemanden. Eifersüchtig f ü r jemanden, der n i c h t so geliebt wird, +wie er sollte. + +(Morell.) Bin ich das? + +(Candida.) Du? Nein. Du bist verwöhnt durch Liebe und Verehrung, +mehr, als für dich gut ist.--Nein, ich meine Eugen. + +(Morell betroffen:) Eugen? + +(Candida.) Es scheint mir ungerecht, daß du alle Liebe besitzen sollst +und er keine, obgleich er sie so viel nötiger hat als du. (Eine +krampfhafte Bewegung schüttelt ihn gegen seinen Willen.) Was ist dir, +quäle ich dich? + +(Morell rasch:) Durchaus nicht. (Er sieht sie mit unruhiger Spannung +an.) Du weißt, daß ich dir blindlings vertraue, Candida. + +(Candida.) Du eitler Mann. Bist du deiner Unwiderstehlichkeit so +sicher? + +(Morell.) Candida, du verletzest mich. Ich habe an +Unwiderstehlichkeit nie gedacht. Deiner Frömmigkeit, deiner Reinheit +vertraue ich. + +(Candida.) Was für häßliche, ungemütliche Dinge du mir da sagst,--oh, +du bist wirklich ein Pastor, Jakob, ein Pastor durch und durch! + +(Morell ins Herz getroffen, sich von ihr abwendend:) Das sagt Eugen +auch. + +(Candida neigt sich mit lebhaftem Interesse zu ihm, die Arme auf +seinen Knien:) Eugen hat immer recht. Er ist ein wundervoller Junge, +ich habe ihn lieber und lieber gewonnen während der ganzen Zeit, wo +ich fort war. Weißt du, Jakob, daß er, obwohl er selbst nicht die +leiseste Ahnung davon hat, im Begriff steht, sich wahnsinnig in mich +zu verlieben? + +(Morell grimmig:) Oh, er selbst hat nicht die leiseste Ahnung davon, +wirklich? + +(Candida.) Nicht die geringste. (Sie nimmt ihre Arme von seinen Knien +und wendet sich gedankenvoll ab, wobei sie eine bequeme Stellung +einnimmt, die Hände im Schoß.) Eines Tages wird er es wissen,--wenn er +erwachsen und erfahren sein wird wie du--da wird er erkannt haben, daß +ich es wissen mußte!--Ich bin neugierig, was er dann von mir denken +wird. + +(Morell.) Nichts Böses, Candida. Ich hoffe und vertraue, nichts Böses. + +(Candida zweifelnd:) Das wird davon abhängen... + +(Morell erschreckt:) Abhängen! + +(Candida ihn ansehend:) Ja, es wird davon abhängen, was er bis dahin +erleben wird. Er sieht sie verständnislos an. Begreifst du das +nicht? Es hängt ganz davon ab, wie und durch wen ihm bewußt wird, was +die Liebe eigentlich ist. Ich meine, es kommt auf die Frau an, die +ihn die Liebe lehren wird. + +(Morell ganz verwirrt:) Nein,--ja,--ich weiß nicht, was du meinst. + +(Candida erklärend:) Wenn eine gute Frau sie ihn lehrt, dann wird +alles gut und schön sein, dann wird er mir verzeihen. + +(Morell.) Verzeihen?! + +(Candida fortfahrend:) Aber gesetzt den Fall, daß eine schlechte Frau +sie ihn lehrt, wie dies vielen Männern, ganz besonders dichterisch +veranlagten, geschieht, die alle Frauen für Engel halten,--gesetzt den +Fall, sage ich, daß er den Wert der Liebe erst dann entdeckt, wenn er +sie fortgeworfen und sich in seiner Unwissenheit selbst erniedrigt hat, +--glaubst du, daß er mir dann auch verzeihen wird? + +(Morell.) Dir verzeihen? Weswegen? + +(Candida bemerkt, wie beschränkt er ist, fährt etwas enttäuscht, aber +sanft fort:) Verstehst du das nicht? (Er schüttelt den Kopf; sie +wendet sich wieder zu ihm, um es ihm mit zartester Vertraulichkeit zu +erklären.) Ich meine: wird er mir verzeihen, daß ich selbst ihn die +Liebe nicht gelehrt, sondern ihn schlechten Frauen überlassen habe? +meiner Frömmigkeit--meiner Reinheit wegen, wie du es nennst! Oh, +Jakob, wie wenig du mich doch verstehst, daß du nur immer von deinem +Vertrauen in meine Frömmigkeit und Reinheit sprichst. Ich würde sie +beide dem armen Eugen so gerne geben, wie einem frierenden Bettler +meinen Schal, wenn nichts anderes mich davon abhielte. Vertraue auf +meine Liebe zu dir; denn wenn die nicht wäre, aus deinen Predigten +würde ich mir sehr wenig machen--das sind bloß leere Phrasen, mit +denen du andere und dich selbst jeden Tag belügst. (Sie ist im +Begriff aufzustehen.) + +(Morell.) Seine Worte! + +(Candida schnell innehaltend, indem sie aufsteht:) Wessen Worte? + +(Morell.) Eugens! + +(Candida entzückt:) Er hat immer recht. Er versteht dich, er versteht +mich, er versteht Prossi; und du, Jakob, du verstehst nichts. (Sie +lacht und küßt ihn, um ihn zu trösten; er weicht wie gestochen zurück +und springt auf.) + +(Morell.) Wie kannst du mich küssen, während du--oh, Candida! (Mit +Schmerz in der Stimme:) Ich hätte vorgezogen, daß du mir einen +Widerhaken ins Herz gestoßen hättest, statt mir diesen Kuß zu geben. + +(Candida erhebt sich beunruhigt:) Mein Lieber, was ist denn mit dir? + +(Morell schüttelt sie wild ab:) Berühre mich nicht! + +(Candida erstaunt:) Jakob! Sie werden durch den Eintritt Marchbanks' +und Burgess' unterbrochen, der in der Nähe der Tür stehen bleibt und +sie anstarrt, während Eugen sich zwischen sie nach vorwärts drängt. + +(Marchbanks.) Ist etwas vorgefallen? + +(Morell totenbleich, mit eiserner Selbstbeherrschung:) Nichts, als daß +entweder Sie heute morgen recht hatten, oder daß Candida verrückt ist! + +(Burgess laut protestierend:) Was? Candy auch verrückt? Das ist +zuviel! (Er durchschreitet das Zimmer bis zum Kamin, protestiert +während des Gehens und klopft dort seine Pfeifenasche aus. Morell +setzt sich verzweifelt nieder, lehnt sich nach vorne, um sein Gesicht +zu verbergen, und verschlingt seine Finger krampfhaft, damit sie ruhig +bleiben.) + +(Candida zu Morell, erleichtert und lachend:) Oh, du bist nur +verletzt--ist das alles? Wie konventionell ihr unkonventionellen +Leute doch alle seid! + +(Burgess.) Benimm dich anständig, Candy. Was wird Herr Marchbanks von +dir denken? + +(Candida.) Das kommt davon, weil Jakob mir immer predigt, nur mir +selbst Rechenschaft abzulegen und nie darauf zu achten, was andere +Leute über mich denken könnten. Das ist außerordentlich schön und gut, +solange ich derselben Meinung bin wie er. Aber jetzt--weil ich +gerade etwas anderer Meinung war jetzt schau ihn dir an, schau nur! +(Sie weist auf Morell, höchst belustigt. Eugen beobachtet ihn und +preßt seine Hand heftig ans Herz, als wenn ihn irgendein Schmerz +getroffen hätte; er setzt sich auf das Sofa wie ein Mensch, der einer +Tragödie beiwohnt. Burgess auf dem Kaminteppich:) Sie hat recht, +Jakob, Sie sehen wirklich nicht so würdig aus wie gewöhnlich. + +(Morell mit einem Lachen, das ein halbes Schluchzen ist:) Das kann +schon sein, verzeiht mir alle,--ich wußte nicht, daß ich eine Störung +verursache. (Sich zusammenraffend:) Es ist schon gut, schon gut, +schon gut. (Er geht zurück nach seinem Platz am Tisch und setzt sich, +um an seinen Papieren wieder mit entschlossener Heiterkeit +weiterzuarbeiten.) + +(Candida geht nach dem Sofa und setzt sich neben Marchbanks, noch in +heiterster Stimmung:) Nun, Eugen, warum sind Sie traurig? Haben Sie +vom Zwiebelschälen geweint? (Morell kann sich nicht enthalten, sie zu +beobachten.) + +(Marchbanks beiseite zu ihr:) Ihre Grausamkeit ist es, die mich +traurig macht.--Ich hasse Grausamkeit. Es ist entsetzlich, +mitanzusehen, wie ein Mensch einem andern weh tut. + +(Candida ihn streichelnd, ironisch:) Armer Junge, war ich grausam? +Habe ich ihn kleine, rote, häßliche Zwiebel schälen lassen? + +(Marchbanks ernst:) Oh, halten Sie ein, halten Sie ein: ich meine +nicht mich! Er hat Ihretwegen furchtbar gelitten. Ich fühle seinen +Schmerz in meinem eigenen Herzen. Ich weiß, daß Sie nicht schuld +daran sind,--es ist etwas geschehen, was geschehen mußte; aber nehmen +Sie es nicht so leicht. Mich schaudert, wenn Sie ihn quälen und dabei +lachen. + +(Candida ungläubig:) Ich Jakob quälen?! Unsinn, Eugen; wie Sie +übertreiben! Torheit! (Sie blickt hinüber zu Jakob, der seine +Schreiberei hastig fortsetzt; sie gebt zu ihm und steht hinter seinem +Stuhl, sich über ihn beugend.) Arbeite nicht länger, mein Lieber, komm +und plaudere mit uns. + +(Morell liebevoll, aber bitter:) Ach nein: ich kann nicht plaudern, +ich kann nur predigen. + +(Candida ihn streichelnd:) Nun, dann komm und predige! + +(Burgess heftig widersprechend:) Ach nein, Candy! zum Henker mit dem +Predigen! (Alexander Mill kommt herein und sieht ängstlich und +wichtig aus.) + +(Mill beeilt sich, Candida zu begrüßen:) Wie geht es Ihnen, Frau +Morell? Wie freue ich mich, daß Sie wieder zurück sind. + +(Candida.) Ich danke Ihnen, Herr Mill. Sie kennen Eugen, nicht wahr? + +(Mill.) O ja! Wie geht es Ihnen, Marchbanks? + +(Marchbanks.) Danke, gut! + +(Mill zu Morell:) Ich komme eben aus der Gilde von Sankt Matthäus. +Die Leute sind furchtbar bestürzt über Ihr Telegramm. Es ist doch +hoffentlich nichts geschehen? + +(Candida.) Was hast du denn telegraphiert, Jakob? + +(Mill zu Candida:) Es war vereinbart, daß er heute abend dort sprechen +sollte, sie haben den großen Saal in der Marestraße gemietet und eine +Menge Geld für Plakate ausgegeben. Der Herr Pastor telegraphierte nun, +daß er nicht kommen könnte! Es traf sie wie ein Blitz aus heiterem +Himmel. + +(Candida überrascht, beginnt zu wittern, daß etwas nicht in Ordnung +ist:) Eine Gelegenheit, öffentlich zu sprechen, hast du ausgeschlagen? + +(Burgess.) Zum erstenmal in seinem Leben, das möchte ich wetten; +--nicht wahr, Candy? + +(Mill zu Morell:) Man hat beschlossen, Ihnen ein dringendes Telegramm +zu schicken, mit der Bitte, Ihren Entschluß zu ändern. Haben Sie es +erhalten? + +(Morell mit mühsam verhaltener Ungeduld:) Ja, ja, ich bekam es. + +(Mill.) Es war mit bezahlter Rückantwort. + +(Morell.) Ja, ich weiß. Ich habe es beantwortet. Ich kann nicht +kommen. + +(Candida.) Aber warum nicht, Jakob? + +(Morell beinahe heftig:) Weil ich nicht mag! Diese Leute vergessen, +daß ich auch ein Mensch bin; sie halten mich für eine Redemaschine, +die man jeden Abend zu seinem Vergnügen aufziehen kann. Darf ich +nicht auch einmal einen Abend zu Hause haben, mit meiner Frau und +meinen Freunden? (Sie sind alle über diesen Ausbruch erstaunt mit +Ausnahme von Eugen,--sein Ausdruck bleibt unverändert.) + +(Candida.) Oh, Jakob, du weißt es selbst: morgen wirst du dann +Gewissensbisse haben, und ich werde darunter leiden müssen. + +(Mill eingeschüchtert, aber dringend:) Ich weiß natürlich, daß diese +Menschen die unvernünftigsten Anforderungen an Sie stellen; aber sie +haben überallhin um einen anderen Redner telegraphiert und können +niemanden mehr bekommen als den Präsidenten des Agnostikerbundes. + +(Morell rasch:) Nun, das ist ein ausgezeichneter Mann,--was wollen sie +denn noch mehr? + +(Mill.) Aber er besteht immer so fest auf der Scheidung des +Sozialismus vom Christentum. Er wird all das Gute, das wir gestiftet +haben, zunichte machen,--natürlich, Sie müssen ja am besten wissen, +aber... + +(Er zögert.) + +(Candida schmeichelnd:) O bitte, geh' doch hin, Jakob. Wir kommen +alle mit. + +(Burgess brummend:) Schau, Candy, laß uns lieber gemütlich zu Hause am +Kamin sitzen. Er braucht ja nicht länger als zwei Stunden +wegzubleiben. + +(Candida.) Du wirst dich in der Versammlung genau so behaglich fühlen. +Wir werden alle auf dem Podium sitzen und wichtige Leute sein. + +(Marchbanks entsetzt:) Oh, bitte, nicht auf dem Podium; nein! Jeder +wird uns anstarren,--das hielte ich nicht aus. Ich werde im +Hintergrund des Saales bleiben. + +(Candida.) Fürchten Sie sich nicht. Man wird viel zu sehr damit +beschäftigt sein, Jakob anzustarren als daß man Sie bemerkte. + +(Morell wendet den Kopf und sieht Candida vielsagend über die Schulter +an:) Prossis Leiden, Candida,--nicht? + +(Candida lustig:) Jawohl. + +(Burgess neugierig:) Prossis Leiden? Was reden Sie da, Jakob? + +(Morell beachtet ihn nicht, erhebt sich, geht nach der Tür, öffnet und +ruft in befehlendem Ton hinaus:) Fräulein Garnett! + +(Proserpina aus der Entfernung:) Ja, Herr Pastor, ich komme schon. +(Sie warten alle mit Ausnahme von Burgess, der verstohlen zu Mill geht +und ihn beiseite zieht.) + +(Burgess.) Hören Sie, Herr Mill: worin besteht Prossis Leiden? Was +fehlt ihr? + +(Mill vertraulich:) Ja, ich weiß es nicht genau; aber sie sprach recht +seltsame Dinge heute früh;--ich fürchte, es ist manchmal nicht ganz +richtig mit ihr. + +(Burgess überwältigt:) Nein,--vier in demselben Haus! Es muß +ansteckend sein. (Er geht zurück an den Kamin, ganz in Gedanken +versunken über die Veränderlichkeit des menschlichen Verstandes in der +Umgebung eines Geistlichen.) + +(Proserpina erscheint auf der Schwelle:) Was wünschen Sie, Herr Pastor? + +(Morell.) Telegraphieren Sie nach der Gilde von Sankt Matthäus, daß +ich kommen werde. + +(Proserpina überrascht:) Werden Sie denn nicht erwartet? + +(Morell gebieterisch:) Tun Sie, wie ich Ihnen gesagt habe. +(Proserpina setzt sich erschrocken an die Schreibmaschine und gehorcht.) + +(Morell geht hinüber zu Burgess. Candida beobachtet seine Bewegungen +die ganze Zeit über mit wachsender Verwunderung und Besorgnis.) +Burgess, Sie möchten lieber nicht mitkommen? + +(Burgess sich entschuldigend:) Oh, so dürfen Sie das nicht +auffassen--ich meine nur, wissen Sie--weil heute nicht Sonntag ist. + +(Morell.) Das ist schade, ich dachte, Sie würden gerne mit dem +Vorsitzenden bekannt werden. Er ist im Provinzialarbeitsausschuß und +hat einigen Einfluß bei Abschlüssen von Lieferungen. (Burgess wird +mit einem Male lebendig; Morell, der das erwartet hat, hält einen +Augenblick inne und sagt:) Sie wollen also doch mitkommen? + +(Burgess mit Enthusiasmus:) Das will ich meinen,--ob ich mitkomme, +Jakob! Es ist ja stets ein Genuß, Sie predigen zu hören! + +(Morell wendet sich zu Proserpina:) Ich werde Sie nötig haben, damit +Sie in der Versammlung einige Notizen machen können, Fräulein Garnett, +falls Sie nicht schon vergeben sind. (Sie nickt, aus Angst, sprechen +zu müssen.) Sie kommen doch auch mit, Lexi? + +(Mill.) Selbstverständlich. + +(Candida.) Wir kommen alle mit, Jakob. + +(Morell.) Nein! Du kommst nicht mit, und Eugen kommt nicht mit. Du +wirst zu Hause bleiben und dich mit ihm unterhalten, zur Feier deiner +Rückkehr. (Eugen erhebt sich atemlos.) + +(Candida.) Aber Jakob-- + +(Morell gebieterisch:) Ich bestehe darauf; Ihr habt beide keine Lust +zu kommen, weder er, noch du! (Candida will sich dagegen verwahren.) +Oh, denkt nicht an mich, ich werde auch ohne euch eine Menge Menschen +um mich versammelt sehen. Eure Stühle werden von unbekehrten Leuten +besetzt sein, die mich noch nie gehört haben. + +(Candida beunruhigt:) Eugen, möchten Sie nicht hingehen? + +(Morell.) Ich würde mich fürchten, mich vor Eugen hören zu lassen; er +ist Predigten gegenüber sehr kritisch. (Sieht ihn an.) Er weiß, daß +ich mich vor ihm fürchte, er hat mir's heute früh selbst gesagt. Nun +will ich ihm zeigen, wie sehr ich mich fürchte, indem ich ihn hier +allein in deiner Hut lasse, Candida. + +(Marchbanks zu sich selbst, mit lebhaftem Gefühl:) Das ist tapfer; das +ist schön. (Er setzt sich wieder und hört mit geöffneten Lippen zu.) + +(Candida mit ängstlicher Beunruhigung:) Aber, aber--Ist irgend etwas +geschehen, Jakob? (Sehr verwirrt:) Ich kann dich nicht begreifen. + +(Morell.) Ah, ich dachte, ich sei es, der nichts begreifen kann, meine +Liebe. (Er schließt sie zärtlich in die Arme und küßt sie auf die +Stirn, dann blickt er ruhig auf Marchbanks.) + +(Vorhang) + + + + +DRITTER AKT + +(Es ist nach zehn Uhr abends; die Vorhänge sind zugezogen und die +Lampe brennt. Die Schreibmaschine steht in ihrem Kasten. Der breite +Tisch ist geordnet worden; alles zeugt davon, daß das Tagewerk +vollbracht ist. Candida und Marchbanks sitzen am Feuer; die Leselampe +steht auf dem Kaminsims über Marchbanks, der in dem kleinen Stuhl +sitzt und laut liest. Auf dem Teppich neben ihm liegt ein kleiner +Haufen von Manuskripten und ein paar Bände Gedichte. Candida sitzt im +großen Stuhl und hält einen leichten Schürhaken aus Messing aufrecht +in der Hand; sie sitzt zurückgelehnt und sieht versonnen auf die +funkelnde Messingspitze. Sie hat die Füße gegen das Feuer hin +ausgestreckt und läßt ihre Fersen auf dem Kamingitter ruhen, sich +ihrer Erscheinung und ihrer Umgebung tief unbewußt.) + +(Marchbanks seine Vorlesung unterbrechend:) Jeder Dichter, der je +gelebt hat, hat aus diesem Gedanken ein Sonett gemacht. Er muß es, ob +er will oder nicht. (Er sieht Candida an, ob sie ihm zustimmt, und +bemerkt, daß sie auf den Schürhaken starrt.) Haben Sie nicht zugehört? +(Keine Antwort:) Frau Morell! + +(Candida auffahrend.) Wie!? + +(Marchbanks.) Haben Sie nicht zugehört? + +(Candida schuldbewußt, mit übertriebener Höflichkeit:) O ja. Es ist +sehr hübsch. Fahren Sie fort, Eugen. Ich bin begierig, zu hören, was +dem Engel passiert ist. + +(Marchbanks läßt das Manuskript aus der Hand auf den Boden fallen:) +Verzeihen Sie, daß ich Sie langweile! + +(Candida.) Aber Sie langweilen mich durchaus nicht, wirklich nicht. +Bitte, fahren Sie fort--bitte, Eugen. + +(Marchbanks.) Ich habe das Gedicht über den Engel vor einer +Viertelstunde beendet. Ich habe Ihnen seitdem schon verschiedenes +vorgelesen. + +(Candida reuevoll:) Das tut mir wirklich leid, Eugen. Mir scheint, +der Schürhaken hat mich behext. (Sie legt ihn nieder.) + +(Marchbanks.) Er hat mich fürchterlich gestört. + +(Candida.) Warum haben Sie mir das nicht gesagt? Ich hätte ihn sofort +weggelegt. + +(Marchbanks.) Ich fürchtete, Sie auch zu stören; er glich einer Waffe. +Wenn ich ein Held aus alten Tagen wäre, würde ich mein gezogenes +Schwert zwischen uns gelegt haben. Wenn Morell gekommen wäre, hätte +er geglaubt, daß Sie den Schürhaken ergriffen haben, weil kein Schwert +zwischen uns liegt. + +(Candida verwundert:) Was? (Sie sieht ihn mit verwirrten Blicken an:) +Das kann ich nicht recht verstehen. Ihre Sonette haben mich so sehr +verwirrt! Warum sollte ein Schwert zwischen uns sein? + +(Marchbanks ausweichend:) Oh, lassen wir das. (Er bückt sich, das +Manuskript aufzuheben.) + +(Candida.) Legen Sie das wieder hin, Eugen. Mein Hunger nach Poesie +hat Grenzen, selbst nach Ihrer Poesie. Sie haben mir länger als zwei +Stunden vorgelesen--seit mein Mann fort ist--, ich möchte lieber +plaudern. + +(Marchbanks erhebt sich, furchtsam:) Nein, ich darf nicht reden. (Er +sieht in seiner verlorenen Weise um sich und fügt plötzlich hinzu:) +Ich glaube, ich mache einen Spaziergang im Park. (Er will nach der +Tür.) + +(Candida.) Unsinn! er ist längst geschlossen. Setzen Sie sich auf den +Kaminteppich und plaudern wir, wie Sie es gewöhnlich tun! Ich will +unterhalten werden,--wollen Sie nicht? + +(Marchbanks halb entsetzt, halb hingerissen:) Ja. + +(Candida.) Dann kommen Sie her. (Sie rückt ihren Stuhl etwas zurück, +um Platz zu machen; er zögert, dann kauert er sich schüchtern hin vor +den Kamin, das Gesicht nach oben gekehrt, wirft seinen Kopf zurück auf +ihre Knie und sieht zu ihr empor.) + +(Marchbanks.) Oh, ich habe mich den ganzen Tag so unglücklich gefühlt, +weil ich getan habe, was recht war; und nun, wo ich unrecht tue, bin +ich so glücklich. + +(Candida zart, belustigt über ihn:) Ja; ich bin überzeugt, nun fühlen +Sie sich wie ein großer, erwachsener, böser Verführer--ganz stolz auf +sich, nicht wahr? + +(Marchbanks erhebt seinen Kopf rasch und wendet sich ein wenig, um sie +anzublicken:) Nehmen Sie sich in acht. Ich bin sogar um vieles +älter als Sie, Sie wissen es nur nicht. (Er wendet sich auf seinen +Knien ganz herum; mit gefalteten Händen und die Arme in ihrem Schoß, +spricht er mit wachsender Erregung--sein Blut fängt an zu wallen:) +Darf ich Ihnen ein paar schlimme Dinge sagen? + +(Candida ohne die leiseste Angst oder Kälte und mit vollkommener +Achtung vor seiner Leidenschaft, aber mit einem Schimmer ihres +klugkerzigen mütterlichen Humors:) Nein. Aber Sie dürfen alles +sagen, was Sie wirklich und wahrhaftig fühlen, was es auch sei, alles! +Ich fürchte mich nicht, solange Ihr wirkliches "Selbst" zu mir +spricht und nicht eine bloße Pose--eine galante oder eine gottlose, +oder selbst eine dichterische Pose. Das verlange ich von Ihnen, bei +Ihrer Ehre und Wahrhaftigkeit!--Nun sagen Sie, was Sie wollen. + +(Marchbanks der heiße Ausdruck verschwindet vollkommen von seinen +Lippen und Nasenflügeln, seine Augen flammen auf in begeistertem Feuer.) +Oh, jetzt kann ich nicht mehr alles sagen; denn alle Worte, die ich +weiß, gehören mehr oder weniger irgendeiner Pose an, alle--bis auf +eines. + +(Candida.) Welches Wort ist das? + +(Marchbanks sanft, sich dem melodischen Klang des Namens hingebend:) +"Candida, Candida, Candida, Candida, Candida"--das muß ich jetzt sagen, +da Sie mich bei meiner Ehre und Wahrhaftigkeit fragen, denn ich denke +und fühle niemals "Frau Morell", immer nur "Candida". + +(Candida.) Selbstverständlich! Und was haben Sie Candida zu sagen? + +(Marchbanks.) Nichts als Ihren Namen tausendmal zu wiederholen. +Fühlen Sie nicht, daß es jedesmal ein Gebet zu Ihnen ist? + +(Candida.) Macht es Sie nicht glücklich, daß Sie beten können? + +(Marchbanks.) Ja, sehr glücklich. + +(Candida.) Nun, dieses Glück ist die Antwort auf Ihr Gebet.--Wünschen +Sie sich etwas Besseres? + +(Marchbanks selig:) Nein, ich bin im Himmel, wo man wunschlos ist. +(Morell tritt ein; er bleibt an der Schwelle stehen und überschaut mit +einem Blick die ganze Szene.) + +(Morell ernst und mit Selbstbeherrschung:) Hoffentlich störe ich nicht. +(Candida fährt heftig auf, aber ohne die leiseste Verlegenheit. Sie +lacht über sich selbst. Eugen, noch auf den Knien, schützt sieh vor +dem Fallen dadurch, daß er seine Hände auf den Stuhlsitz legt; Morell +mit offenem Munde anstarrend, bleibt er in dieser Stellung.) + +(Candida im Aufstehen:) Oh, Jakob, wie du mich erschreckt hast; ich +war so mit Eugen beschäftigt, daß ich deinen Schlüssel nicht gehört +habe. Wie ist die Versammlung verlaufen? Hast du gut gesprochen? + +(Morell.) Ich habe in meinem ganzen Leben nicht besser gesprochen. + +(Candida.) Das ist ausgezeichnet! Wieviel ist eingegangen? + +(Morell.) Ich vergaß zu fragen. + +(Candida zu Eugen:) Er muß wundervoll gesprochen haben oder er hätte +das nicht vergessen. (Zu Morell:) Wo sind die andern? + +(Morell.) Sie verließen den Saal lange ehe ich fortkommen konnte; ich +glaube, sie essen irgendwo zur Nacht. + +(Candida in ihrer hausmütterlichen Art:) Oh, dann kann Marie zu Bette +gehn; ich will es ihr sagen. (Sie geht hinaus in die Küche.) + +(Morell blickt strenge auf Marchbanks nieder:) Nun? + +(Marchbanks läßt sich mit gekreuzten Beinen auf den Kaminteppich +nieder und fühlt sich Morell gegenüber ganz sicher, sogar voll +verschmitzten Humors:) Nun? + +(Morell.) Haben Sie mir etwas zu sagen? + +(Marchbanks.) Nur, daß ich mich hier heimlich zum Narren gemacht habe, +während Sie öffentlich dasselbe getan haben. + +(Morell.) Ich glaube, kaum auf dieselbe Art. + +(Marchbanks springt auf, eifrig:) Ganz genau auf dieselbe Art. Ich +habe eben ganz so wie Sie den braven Mann gespielt! ganz so wie Sie. +Als Sie Ihr Heldentum, mich hier mit Candida allein zu lassen, +begannen-- + +(Morell unwillkürlich:) Candida? + +(Marchbanks.) Ja, so weit bin ich schon. Heldentum ist ansteckend, +ich bekam die Krankheit von Ihnen und habe mir geschworen, Candida in +Ihrer Abwesenheit nichts zu sagen, was ich nicht schon vor einem Monat +in Ihrer Gegenwart gesagt hätte. + +(Morell.) Und haben Sie dieses Gelübde gehalten? + +(Marchbanks setzt sich plötzlich in grotesker Weise in den Lehnstuhl:) +Ich bin bis vor etwa zehn Minuten dumm genug gewesen, es zu halten. +Bis dahin habe ich ihr verzweifelt vorgelesen, meine eigenen +Gedichte--und andere--um einer Unterhaltung auszuweichen. Ich sah +das Himmelstor offen und weigerte mich, einzutreten.... Sie können +sich nicht vorstellen, wie heldenhaft das war und wie ungemütlich.... +Dann-- + +(Morell seine Ungeduld bezähmend:) Dann? + +(Marchbanks geht prosaisch in eine ganz gewöhnliche Stellung im +Lehnstuhl über:) Dann konnte sie das Vorlesen nicht mehr vertragen. + +(Morell.) Und da haben Sie sich dem Himmelstor schließlich genähert? + +(Marchbanks.) Ja. + +(Morell.) Und dann? (Wild:) Sprechen Sie, Mensch! Haben Sie denn +kein Gefühl für mich! + +(Marchbanks sanft und melodisch:) Dann wurde sie ein Engel, und ein +Flammenschwert erschien, das mir jeden Zugang versperrte, so daß ich +nicht eintreten konnte und nun begriff, daß dieses Tor in Wahrheit das +Tor der Hölle war. + +(Morell triumphierend:) Sie hat Sie zurückgestoßen! + +(Marchbanks erhebt sich mit grimmigem Hohn:) Nein, Sie Narr! Wenn sie +das getan hätte, würde ich gar nicht gefühlt haben, daß ich schon im +Himmel war. Mich zurückgestoßen... glauben Sie, daß mich das gerettet +hätte?--Tugendhafte Entrüstung! Oh, Sie sind nicht wert, in einer +Welt mit ihr zu leben. (Er wendet sich verachtungsvoll von ihm ab +nach der anderen Seite des Zimmers.) + +(Morell der ihn ruhig beobachtet hat, ohne seinen Platz zu wechseln:) +Glauben Sie, daß Sie dadurch an Wert gewinnen, wenn Sie mich +beschimpfen, Eugen? + +(Marchbanks.) Hier endet der tausendunderste Text. Morell: ich halte +doch nicht viel von Ihrem Predigen. Ich glaube sogar, ich selbst +könnte das besser. Der Mann, den ich jetzt vor mir haben möchte, ist +der Mann, den Candida geheiratet hat. + +(Morell.) Der Mann, den... meinen Sie mich? + +(Marchbanks.) Ich meine nicht Hochwürden Jakob Mavor Morell, Moralist +und Schwätzer. Ich meine den wirklichen Menschen, den Hochwürden +Jakob irgendwo in seiner schwarzen Kutte versteckt haben muß, den Mann, +den Candida geliebt hat. Sie können die Liebe einer Frau wie Candida +nicht dadurch erreicht haben, daß Sie bloß Ihren Kragen hinten statt +vorne knöpfen. + +(Morell kühn und standhaft:) Als Candida einwilligte, mich zu heiraten, +da war ich derselbe Moralist und Schwätzer, den Sie jetzt vor sich +sehen. Ich trug meinen schwarzen Rock, und meinen Kragen knöpfte ich +hinten statt vorne. Glauben Sie, daß sie mich mehr geliebt hätte, +wenn ich unaufrichtig in meinem Beruf gewesen wäre? + +(Marchbanks auf dem Sofa, seine Knöchel umfassend:) Oh, sie hat Ihnen +vergeben, so wie sie mir vergibt, daß ich ein Feigling bin und ein +Schwächling, und was Sie einen kleinen winselnden Hund--und so +weiter--nennen. (Verträumt:) Eine Frau wie diese hat göttlichen +Einblick: sie liebt unsere Seele und nicht unsere Narrheiten und +Eitelkeiten und Illusionen, oder unsere Kragen und Röcke, oder die +andern Fetzen und Lappen, in die wir gehüllt sind. (Er denkt darüber +einen Augenblick nach, dann wendet er sich mit gespannter Erwartung um, +Morell zu befragen:) Was ich wissen möchte, ist, wie Sie an dem +Flammenschwerte, das mich zurückgeschreckt hat, vorbeigekommen sind! + +(Morell bedeutungsvoll:) Vielleicht weil ich nicht nach zehn Minuten +unterbrochen wurde. + +(Marchbanks verblüfft:) Was? + +(Morell.) Der Mensch kann auf die höchsten Gipfel steigen; aber er +kann nicht lange dort verweilen. + +(Marchbanks.) Das ist falsch. Dort kann er ewig verweilen! nur dort! +Anderswo findet er keine Ruhe und hat keinen Sinn für die stille +Schönheit des Lebens. Wo sollte ich meine seligsten Minuten verleben, +wenn nicht auf den Höhen? + +(Morell.) In der Küche, Zwiebeln schneidend und Lampen füllend. + +(Marchbanks.) Oder auf der Kanzel, Seelen scheuernd die aus billigem +Ton sind. + +(Morell.) Ja, das auch! Dort habe ich meinen goldenen Augenblick +geerntet und mit ihm das Recht, um Candidas Liebe zu werben. Ich habe +mir diese Stunde nicht erborgt, noch habe ich sie benützt, um das +Glück eines andern zu stehlen. + +(Marchbanks schreitet ziemlich angewidert dem Kamin zu:) Ich zweifle +nicht daran, daß Sie Ihre Verrichtungen so ehrenhaft erfüllt haben, +als ob Sie ein Pfund Käse abgewogen hätten. (Er hält vor dem Kamin +inne und fügt nachdenklich zu sich selbst, Morell den Rücken kehrend, +hinzu:) Ich konnte zu ihr nur als Bettler kommen. + +(Morell auffabrend:) Als ein frierender Bettler, der sie um ihren +Schal bat, nicht wahr? + +(Marchbanks wendet sich überrascht um:) Ich danke Ihnen, daß Sie sich +auf mein Gedicht beziehen. Ja, wenn Sie wollen: als ein frierender +Bettler, der sie um ihren Schal bat. + +(Morell erregt:) Und sie verweigerte ihn. Soll ich Ihnen sagen, warum +sie ihn verweigert hat? Ich kann es Ihnen sagen, mit ihrer eigenen +Erlaubnis: weil... + +(Marchbanks.) Sie hat ihn nicht verweigert! + +(Morell.) Nicht? + +(Marchbanks.) Sie bot mir alles, worum ich bat: ihren Schal, ihre +Flügel, den Sternenkranz aus ihrem Haar, die Lilien in ihrer Hand, den +aufgehenden Mond zu ihren Füßen. + +(Morell ihn anpackend:) Heraus mit der Wahrheit, Mensch! Meine Frau +ist meine Frau: ich habe genug von Ihrem poetischen Flitterkram,--ich +weiß ganz gut, daß kein Gesetz Candida an mich binden würde, wenn ich +ihre Liebe an Sie verloren hätte! + +(Marchbanks bizarr, ohne Furcht oder Widerstand:) Packen Sie mich nur +beim Kragen: sie wird ihn dann wieder in Ordnung bringen wie heute +morgen. (Mit stiller Begeisterung:) Ich werde wieder die Berührung +ihrer Hände fühlen. + +(Morell:) Sie junger Fant, fühlen Sie nicht, wie gefährlich es ist, +mir das zu sagen! Oder (mit plötzilicher Befürchtung:) hat Sie irgend +etwas kühn gemacht? + +(Marchbanks.) Ich fürchte mich jetzt nicht mehr! Ich habe Sie bisher +nie leiden mögen, deshalb bin ich bei Ihren Berührung zusammengezuckt. +Aber heute erkannte ich--als Candida Sie quälites--daß Sie sie lieben. +Seitdem bin ich Ihr Freund! Jetzt können sie mich erwürgen, wenn +Sie wollen! + +(Morell ihn loslassend:) Eugen, wenn das keine herzlose Lüge ist--wenn +Sie noch einen Funken menschlichen Fühlens haben--so werden Sie mir +sagen, was im meiner Abwesenheit vergefallen ist! + +(Marchbanks:) Was vorgefallen ist? Nun, das Flamenmenschwere... +(Morell stampft ungeduldig mit dem Fuße;),--also im ganz einfacher +Prosa: ich liebte sie so unendlich, daß ich nichts weiter wünschte als +das Glück, so lieben zu für ich und bevor ich--Zote fang vom höchsten +Grafen der Gefür herunterzutaumente--traten Sie ein. + +(Morell (scowen leidend:)) Leidenschaftlichem immer nicht erduldig-- +immer bleibt ihr noch die ehblines Zweifzig. + +(Marchbanks.) Quall und wünsche jetzt nichts mehr als Candidas +Glück. (Mit leidenschaftlichem Gefühl:) Oh, Morell, geben wir sie +beide auf! Warum soll sie wählen müssen zwischen einem elenden, +nervösen kleinen Kranken, wie ich es bin, und einem starrköpfigen +Pfarrer wie Sie? Gehen wir auf Pilgerschaft, Sie nach Osten und ich +nach Westen, auf der Suche nach einem würdigeren Liebhaber, einem +schönen Erzengel mit purpurnen Flügeln. + +(Morell.) Papperlapapp, dummes Zeug! Oh, wenn sie verrückt genug wäre, +mich Ihretwegen zu verlassen, wer sollte sie beschützen, wer sollte +ihr helfen, wer sollte für sie arbeiten, wer ihren Kindern ein Vater +sein! (Er setzt sich verstört auf das Sofa, seine Ellbogen auf die +Knie gestützt und den Kopf zwischen den geballten Fäusten.) + +(Marchbanks schnappt wild mit den Fingern:) Sie stellt nicht solche +törichte Fragen: sie braucht jemanden, den sie schützen und behüten, +für den sie arbeiten kann, jemanden, der ihr Kinder anvertraut, um sie +zu beschützen, ihnen zu helfen und für sie zu arbeiten, einen +erwachsenen Menschen, der wieder wie ein kleines Kind geworden ist. +Oh, Sie Narr, Sie Narr, Sie dreifacher Narr! Ich bin der Mann, Morell, +ich bin der Mann! (Er tanzt aufgeregt herum und schreit:) Sie +verstehen nicht, was eine Frau ist,--schicken Sie nach ihr, Morell, +schicken Sie nach ihr und lassen Sie sie wählen zwischen--(Die Tür +öffnet sich und Candida tritt ein; er hält wie versteinert inne.) + +(Candida erstaunt an der Schwelle:) Was um alles in der Welt machen +Sie da, Eugen? + +(Marchbanks drollig:) Ihr Mann und ich haben ein Wettpredigen +veranstaltet, und er verliert dabei. (Candida sieht rasch nach Morell, +und als sie bemerkt, daß er traurig ist, eilt sie hin zu ihm und +spricht sehr ärgerlich mit heftigem Vorwurf zu Marchbanks.) + +(Candida.) Sie haben ihn geärgert. Nein, das dulde ich nicht, Eugen, +hören Sie! (Sie legt ihre Hand auf Morells Schulter und vergißt in +ihrem Ärger ganz ihren weiblichen Takt:) Mein Liebling soll nicht +geärgert werden, ich werde ihn beschützen. + +(Morell sich stolz erhebend:) Beschützen? + +(Candida nicht auf ihn achtend, zu Eugen:) Was haben Sie ihm gesagt? + +(Marchbanks erschreckt:) Nichts. Ich-- + +(Candida.) Eugen, nichts? + +(Marchbanks jämmerlich:) Ich meine--ich--es tut mir sehr leid, ich +werde es nicht wieder tun, gewiß nicht, ich werde ihn in Ruhe lassen. + +(Morell empört mit einer angreifenden Bewegung gegen Eugen:) Mich in +Ruhe lassen! Sie junger-- + +(Candida ihm ins Wort fallend:) Sch, nicht doch! laß mich mit ihm +reden, Jakob. + +(Marchbanks.) Oh, Sie sind mir doch nicht böse? + +(Candida strenge:) O ja, ich bin--sehr böse. Ich hätte nicht übel +Lust, Sie aus dem Hause zu jagen. + +(Morell von Candidas Heftigkeit überrascht und durchaus nicht willens, +sich vor einem andern Mann durch sie retten zu lassen:) Sachte, +Candida, sachte. Ich kann mich schon selbst beschützen. + +(Candida ihn streichelnd:) Ja, Lieber, natürlich kannst du das. Aber +man darf dich nicht ärgern und quälen. + +(Marchbanks beinahe in Tränen, sich nach der Türe wendend:) Ich will +gehen. + +(Candida.) Oh, Sie brauchen nicht zu gehen, so spät kann ich Sie nicht +fortschicken. (Heftig:) Aber schämen Sie sich, schämen Sie sich! + +(Marchbanks verzweifelt:) Was habe ich denn getan? + +(Candida.) Ich weiß, was Sie getan haben, so genau, als ob ich die +ganze Zeit hier gewesen wäre.--Oh, es war unwürdig. Sie sind wie ein +kleines Kind, Sie können Ihren Mund nicht halten. + +(Marchbanks.) Ich würde lieber zehnfachen Tod erleiden, als Ihnen +einen Augenblick Kummer bereiten. + +(Candida mit größter Geringschätzung gegen diese Kinderei:) Ihr Tod +würde mir viel nützen! + +(Morell.) Liebste Candida, dieser Wortwechsel ist kaum am Platz. Es +handelt sich um eine Angelegenheit zwischen zwei Männern, und ich bin +dazu da, sie beizulegen. + +(Candida.) Zwei Männer? Nennst du das einen Mann? (Zu Eugen:) Sie +schlimmer junge, Sie! + +(Marchbanks wird wunderlich liebevoll und mutig, da er ausgezankt +wird:) Wenn ich mich auszanken lassen soll wie ein kleiner Junge, muß +ich mich auch wie ein kleiner Junge verteidigen dürfen. Er hat +angefangen und er ist größer als ich. + +(Candida verliert ein wenig ihre Sicherheit, da sie Morells Würde +bedroht sieht:) Das kann nicht wahr sein. (Zu Morell:) Du hast doch +nicht angefangen, Jakob, nicht wahr, nein? + +(Morell verachtungsvoll:) Nein. + +(Marchbanks entrüstet:) Oh! + +(Morell zu Eugen:) Sie haben angefangen,--heute früh. (Candida bringt +dies sofort in Zusammenhang mit der geheimnisvollen Bemerkung, die +Jakob nachmittag machte, als er ihr sagte, daß ihm Eugen am Morgen +etwas mitgeteilt habe. Sie sieht ihn mit raschem Verdachte forschend +an. Morell fährt fort mit dem Pathos der beleidigten Überlegenheit:) +Aber Ihre andere Bemerkung ist richtig. Ich bin gewiß der Größere von +uns beiden und, wie ich hoffe, Candida, auch der Stärkere! Es wäre +daher besser, du überließest die Sache mir. + +(Candida ihn wieder besänftigend:) Ja, Lieber--aber (verwirrt:) ich +verstehe das nicht wegen heute morgen. + +(Morell ein wenig auffahrend:) Das brauchst du auch nicht zu verstehen, +meine Liebe. + +(Candida.) Aber, Jakob, ich--(Die Hausglocke läutet:) Oh, wie dumm. +Da kommen sie alle! (Sie geht hinaus, sie einzulassen.) + +(Marchbanks läuft zu Morell:) Oh, Morell, ist das nicht schrecklich? +Sie ist böse auf uns, sie haßt mich,--was soll ich tun? + +(Morell in seltsamer Verzweiflung, sich in die Haare fahrend:) Eugen, +es dreht sich mir alles im Kopf, ich werde gleich zu lachen anfangen. +(Er geht in der Mitte des Zimmers auf und ab.) + +(Marchbanks folgt ihm ängstlich:) Nein, nein! Dann wird sie glauben, +ich hätte Sie hysterisch gemacht. Lachen Sie nicht! (Man hört +heftiges Stimmengewirr und Gelächter, das immer näher kommt. +Alexander Mill, dessen glänzende Augen und dessen ganzes Benehmen eine +ungewohnte angeregte Stimmung verraten, tritt mit Burgess ein, der +einen schmierigen und selbstgefälligen Eindruck macht, aber +vollständig Herr seiner Sinne ist. Fräulein Garnett folgt ihm mit +ihrem schönsten Hut und ihrer besten Jacke, aber obwohl ihre Augen +glänzender sind als früher, ist sie sichtlich in besorgter Stimmung. +Sie stellt sich mit dem Rücken gegen ihren Schreibmaschinentisch, mit +einer Hand sich darauf stützend, mit der anderen sich über die Stirne +fahrend, als ob sie etwas müde und schwindlig wäre. Marchbanks +verfällt wieder in Schüchternheit und schleicht weg in die Nähe des +Fensters, wo Morells Bücher sind.) + +(Mill begeistert:) Herr Pastor, ich *muß* Ihnen gratulieren, (seine +Hand fassend:)--was für eine edle, herrliche, von Gott eingehauchte +Ansprache Sie gehalten haben! Sie haben sich selbst übertroffen. + +(Burgess.) Ja, das haben Sie, Jakob. Ich bin bis zum letzten Worte +wach geblieben,--nicht wahr, Fräulein Garnett? + +(Proserpina ungeduldig:) Oh, ich habe Sie nicht beachtet, ich habe +mich bemüht, Notizen zu machen. (Sie nimmt ihre Notizen heraus, +blickt auf ihr Stenogramm und fängt beinahe zu weinen an.) + +(Morell.) Habe ich zu schnell gesprochen, Prossi? + +(Proserpina.) Viel zu schnell.--Sie wissen, ich kann nicht mehr als +neunzig Worte in der Minute schreiben. (Sie macht ihren Gefühlen Luft, +indem sie ihr Notizbuch ärgerlich neben die Maschine wirft, wo sie es +am nächsten Morgen bereit haben will.) + +(Morell besänftigend:) Nun, nun, das macht ja nichts. Habt ihr alle +schon zur Nacht gegessen? + +(Mill.) Herr Burgess war so liebenswürdig, uns in's Belgrave +Restaurant zu einem geradezu glänzenden Abendessen einzuladen. + +(Burgess mit überschwenglicher Großmut:) O bitte, bitte, Herr Mill. +(Bescheiden:) Sie waren mir bei meinem bescheidenen Feste herzlich +willkommen. + +(Proserpina.) Wir haben Champagner getrunken! Ich hatte noch niemals +welchen gekostet. Ich bin ganz schwindlig. + +(Morell überrascht:) Ein Champagnersouper! Das war sehr hübsch von +Ihnen. Ist meine Beredsamkeit schuld an dieser Verschwendung? + +(Mill mit Pathos:) Ihre Beredsamkeit und Herrn Burgess' Herzensgüte. +(Mit erneutem Gefühlsausbruch:) Was für ein herrlicher Mensch der +Vorsitzende war, Herr Morell; er hat auch mit uns gespeist. + +(Morell bedeutungsvoll Burgess anblickend:) So, so, der Vorsitzende! +--*jetzt* verstehe ich! (Burgess verbirgt hinter einem Hüsteln ein +Lächeln der Zufriedenheit über seine diplomatische Geschicklichkeit +und setzt sich an den Kamin. Mill verschränkt die Arme und lehnt sich +neben das Büchergestell in einer Stellung, die seine Begeisterung zum +Ausdruck bringt. Candida kommt mit Gläsern, Zitronen und heißem +Wasser auf einem Tablett herein.) + +(Candida.) Wer wünscht etwas Limonade? Sie kennen unsere Hausregel: +vollkommene Abstinenz! (Sie stellt das Tablett auf den Tisch, nimmt +den Zitronenpresser zur Hand und blickt fragend umher.) + +(Morell.) Du bemühst dich umsonst, meine Liebe, sie haben alle +Champagner getrunken, Prossi hat ihr Gelübde gebrochen. + +(Candida zu Proserpina:) Sie wollen doch nicht behaupten, daß Sie auch +Champagner getrunken haben? + +(Proserpina verstockt:) Ja, das hab' ich; ich bin nur eine Bier-, +keine Champagnerabstinenzlerin. Ich mag kein Bier.--Sind Briefe für +mich zur Beantwortung da, Herr Pastor? + +(Morell.) Nichts mehr für heute. + +(Proserpina.) Dann gute Nacht allerseits. + +(Mill galant:) Wäre es nicht geraten, daß ich Sie nach Hause begleite, +Fräulein Garnett? + +(Proserpina.) Nein, ich danke. Ich würde mich heute nacht niemandem +anvertrauen wollen! Hätte ich nur nichts von diesem Zeug getrunken! +Sie geht rasch hinaus. + +(Burgess empört:) Zeug! Dieses Mädel weiß nicht, was Champagner ist. +Pommery und Greno, zwölf Schilling sechs Pence die Flasche. Zwei +Gläser nacheinander hat sie geleert. + +(Morell etwas besorgt:) Gehen Sie, Lexi, und sehen Sie nach ihr! + +(Mill beunruhigt:) Aber wenn sie wirklich... bedenken Sie, wenn sie in +den Straßen zu singen anfängt oder dergleichen! + +(Morell.) Eben darum wäre es besser, Sie brächten sie sicher nach +Hause. + +(Candida.) Tun Sie es, Lexi, als guter Kamerad! (Sie reicht ihm die +Hand und schiebt ihn sanft nach der Tür.) + +(Mill.) Es ist selbstverständlich meine Pflicht, mit ihr zu gehen. +Ich hoffe aber, es wird nicht nötig gewesen sein. Gute Nacht, Frau +Morell. (Zu den übrigen:) Gute Nacht. (Er geht, Candida schließt die +Tür hinter ihm.) + +(Burgess.) Er war selbst ganz aus dem Häuschen in lauter Frömmigkeit +nach dem zweiten Glas. Heutzutage können die Leute nicht mehr trinken +wie früher. (Den Gegenstand fallen lassend, geht er vom Kamin fort.) +Nun, Jakob, es ist Zeit, das Haus zu schließen. Herr Marchbanks, +werden Sie mir auf dem Heimwege ein Stückchen das Vergnügen Ihrer +Gesellschaft schenken? + +(Marchbanks erschrocken:) Ja, es ist besser, ich gehe. (Er eilt nach +der Tür, aber Candida stellt sich ihm in den Weg.) + +(Candida mit ruhiger Würde:) Sie setzen sich noch, Sie werden noch +nicht gehen! + +(Marchbanks eingeschüchtert:) Nein,--ich--ich wollte ja auch nicht. +(Er kommt zurück in das Zimmer und setzt sich gehorsam auf das Sofa.) + +(Candida.) Herr Marchbanks bleibt heute nacht bei uns, Papa. + +(Burgess.) Na, dann sage ich gute Nacht. Auf Wiedersehn, Jakob. (Er +schüttelt Morell die Hand und geht hinüber zu Eugen.) Lassen Sie sich +ein Nachtlicht an Ihr Bett stellen, Herr Marchbanks, es wird Sie +beruhigen, falls Sie in der Nacht einen Anfall Ihres Leidens bekommen +sollten! Gute Nacht. + +(Marchbanks.) Ich danke Ihnen, es soll geschehn. Gute Nacht, Herr +Burgess. (Sie geben einander die Hände, Burgess geht zur Tür.) + +(Candida hält Morell zurück, der Burgess begleiten will:) Bleib' hier, +mein Lieber, ich werde Papa seinen Rock anziehen helfen. (Sie geht +mit Burgess hinaus.) + + +(Marchbanks.) Herr Pastor, es wird eine schreckliche Szene geben. +Haben Sie keine Angst? + +(Morell.) Nicht die geringste. + +(Marchbanks.) Ich habe Sie bisher nie um Ihren Mut beneidet. (Er +erhebt sich schüchtern und berührt mit seiner Hand flehend Morells +Unterarm:) Stehen Sie mir bei,--wollen Sie? + +(Morell schüttelt ihn sanft, aber entschieden ab:) Jeder für sich, +Eugen! Sie--muß nun zwischen uns wählen. (Er gebt beim Eintritt +Candidas auf die andere Seite des Zimmers, Eugen setzt sich mit seinem +besten Benehmen wie ein schuldbewußter Schulknabe auf das Sofa.) + +(Candida zwischen den beiden, sich zu Eugen wendend:) Tut es Ihnen +leid? + +(Marchbanks ernst:) Ja, unendlich. + +(Candida.) Gut, dann ist Ihnen verziehen. Nun gehen Sie wie ein +braver kleiner Junge zu Bett, ich möchte mit Jakob über Sie sprechen. + +(Marchbanks erhebt sich mit größter Bestürzung:) Oh, das kann ich +nicht.--Herr Pastor, ich muß hierbleiben. Ich will nicht fortgehen. +Sagen Sie es ihr! + +(Candida die ihren Verdacht bestätigt sieht:) Was soll er mir sagen? +(Seine Augen vermeiden die ihrigen, sie wendet sich um und überträgt +ihre Frage stumm auf Morell.) + +(Morell wappnet sich für die Katastrophe:) Ich habe ihr nichts zu +sagen, ausgenommen--(dabei sinkt seine Stimme zu maßvoller, trauriger +Zärtlichkeit herab:) daß sie mein größter Schatz auf Erden ist--wenn +sie mir wirklich gehört. + +(Candida kalt, verletzt, daß er seinem Rednerinstinkt nachgibt und sie +behandelt, als ob sie sich unter den Zuhörern der Gilde von St. +Matthäus befände:) Ich bin überzeugt, daß Eugen nicht weniger sagen +kann, wenn das alles ist. + +(Marchbanks entmutigt:) Morell, sie lacht uns aus. + +(Morell auffahrend:) Es gibt da nichts zu lachen. Lachst du uns aus, +Candida? + +(Candida mit stillem Ärger:) Eugen ist sehr witzig, ich hoffe, daß ich +lachen werde--aber vorläufig fürchte ich, mich ärgern zu müssen. (Sie +geht an den Kamin und bleibt dort stehen, ihren Arm auf dem Gesims und +ihren Fuß auf dem Gitter, während Eugen sich zu Morell hinstiehlt und +ihn beim Arm faßt.) + +(Marchbanks flüsternd:) Halten Sie ein, Herr Pastor; sagen wir nichts +mehr. + +(Morell stößt Eugen fort, ohne ihn eines Blickes zu würdigen:) Ich +hoffe, daß du mir nicht drohen willst, Candida. + +(Candida mit feierlicher Warnung:) Nimm dich in acht, Jakob!--Eugen, +ich habe gewünscht, daß Sie gehen sollen,--gehen Sie oder nicht? + +(Morell mit dem Fuße stampfend:) Er wird nicht gehen; ich wünsche, daß +er bleibt. + +(Marchbanks.) Ich will gehen. Ich tue, was Sie wollen. (Er wendet +sich zur Tür.) + +(Candida.) Bleiben Sie. (Er gehorcht.) Haben Sie nicht gehört, daß +Jakob wünscht, daß Sie bleiben sollen? Jakob ist hier der Herr, +wissen Sie das nicht? + +(Marchbanks errötend, mit der Wut eines jungen Dichters gegen Tyrannei:) +Was gibt ihm das Recht dazu? + +(Candida ruhig:) Sag es ihm, Jakob. + +(Morell bestürzt:) Meine Liebe, ich bin mir keines Rechtes bewußt, das +mich zum Herrn macht; ich bestehe auf keinem solchen Rechte. + +(Candida mit schwerem Vorwurf:) Du weißt es nicht? O Jakob, Jakob! +(Zu Eugen nachdenklich:) Ich wüßte gern, ob Sie das verstehen, Eugen... +Nein, Sie sind zu jung. Nun, ich erlaube Ihnen, zu bleiben und zu +lernen. (Sie geht von Kamin fort und stellt sich zwischen die beiden.) +Also, Jakob, was ist's? Komm und sag' es mir. + +(Marchbanks flüstert ihm ängstlich zu:) Sagen Sie ihr lieber nichts. + +(Candida.) Bitte!--Heraus damit! + +(Morell langsam:) Ich wollte dich sorgfältig vorbereiten, Candida, um +jedes Mißverständnis zu vermeiden. + +(Candida.) Ja, Lieber, das wolltest du gewiß; aber sei unbesorgt, ich +werde nichts mißverstehen. + +(Morell.) Nun denn, es--(Er zögert, unfähig, die lange Erklärung zu +finden, die er für nötig hält.) + +(Candida.) Nun? + +(Morell klipp und klar:) Eugen behauptet, daß du ihn liebst. + +(Marchbanks außer sich:) Nein, nein, nein, nein, niemals, das habe ich +nicht behauptet, Frau Morell, es ist nicht wahr! Ich sagte, daß ich +Sie liebe und er nicht. Ich sagte, daß ich Sie verstehe und daß er es +nicht kann. Und nicht infolgedessen, was sich hier am Kamin +zugetragen hat, habe ich das gesagt,--ganz gewiß nicht, auf mein Wort! +schon heute morgen hab' ich es ihm gesagt! + +(Candida erleuchtet:) Heute morgen?! + +(Marchbanks.) Ja! (Er siebt sie um Glauben bittend an und fügt dann +einfach hinzu:) Das war auch der Grund, warum mein Kragen in Unordnung +geriet. + +(Candida nach einer Pause, weil sie nicht gleich begreift, was er +meint:) Ihr Kragen! (Sie wendet sich erschrocken zu Morell, verletzt:) +O Jakob, hast du ihn--? (Sie hält inne.) + +(Morell beschämt:) Du weißt, Candida, daß ich mit meinem Temperament +zu kämpfen habe, und er sagte, (schauernd:) daß du mich verachtest in +deinem Herzen. + +(Candida wendet sich rasch zu Eugen:) Haben Sie das gesagt? + +(Marchbanks geängstigt:) Nein! + +(Candida strenge:) Dann hat mich also Jakob eben angelogen. Wollen +Sie das behaupten? + +(Marchbanks.) Nein, nein: ich--ich... (herausplatzend mit der +verzweifelten Erklärung:)--es war die Rede von Davids Frau, nicht bei +ihm zu Hause, sondern als sie ihn tanzen sah vor allen Leuten. + +(Morell nimmt diesen Fingerzeig mit der Geschicklichkeit eines +Wortkämpfers auf:) Ja, als er vor dem ganzen Volke tanzte, Candida, in +der Meinung, daß er ihre Herzen dadurch rührte, während sie nur an +Prossis Leiden litten. (Sie ist im Begriff zu protestieren, er winkt +ihr mit der Hand, um sie zum Schweigen zu bringen, und fährt fort:) +Tue nicht als ob du entrüstet wärest, Candida. + +(Candida.) Tun als ob?! + +(Morell fortfahrend:) Eugen hatte recht! Wie du mir einige Stunden +später klarmachtest, hat er immer recht. Er sagte nichts, was du +nicht viel besser selbst gesagt hättest. Er ist der Dichter, der +alles sieht; und ich bin der arme Pastor, der nichts versteht. + +(Candida reuevoll:) Ärgert dich, was ein närrischer junge gesagt hat, +weil ich im Scherz etwas Ähnliches sagte? + +(Morell.) Der närrische Junge kann mit der Begeisterung eines Kindes +und mit der Verschlagenheit einer Schlange sprechen. Er hat behauptet, +daß du ihm gehörst und nicht mir, und, ob mit Recht oder Unrecht, ich +beginne zu fürchten, daß es wahr sein könnte. Ich will nicht +umhergehen von Zweifeln und Verdächtigungen gequält. Ich will nicht +mit dir leben und ein Geheimnis vor dir haben. Ich will nicht die +entwürdigende Qual der Eifersucht erdulden. Deshalb haben wir +beschlossen--er und ich--daß du jetzt zwischen uns wählen sollst! Ich +erwarte deine Entscheidung. + +(Candida weicht langsam einen Schritt zurück, verletzt über sein +Pathos, trotz des aufrichtigen Gefühls, das sie heraushört:) Oh, ich +muß also wählen? Ich nehme an, daß eines vollkommen feststeht: daß +ich einem o d e r dem andern gehören muß. + +(Morell entschlossen:) Vollkommen; du mußt endgültig wählen. + +(Marchbanks ängstlich:) Herr Pastor,--Sie verstehen nicht: sie meint, +daß sie sich selbst gehört. + +(Candida sich zu ihm wendend:) ja, das meine ich, Junker Eugen, und +noch sehr viel mehr, wie Ihr beide sofort herausfinden werdet. Und +ich frage, meine Herren und Gebieter, was habt Ihr für meine Wahl zu +geben? Es scheint, daß ich versteigert werden soll. Wieviel bietest +du, Jakob? + +(Modell vorwurfsvoll:) Cand.... (Er bricht zusammen, seine Augen +füllen sich mit Tränen, und seine Kehle schnürt sich zu, der Redner +wird zu einem verwundeten Tier.) Ich kann nicht sprechen. + +(Candida geht impulsiv zu ihm hin:) O Liebster! + +(Marchbanks in wildem Aufruhr:) Halten Sie ein, das ist nicht gerecht. +Sie dürfen ihr nicht zeigen, daß Sie leiden, Morell.--Ich bin auch +auf der Folter, aber ich weine nicht. + +(Morell nimmt seine ganze Kraft zusammen:) Ja, Sie haben recht. Es +ist nicht Mitleid, worum ich bitte. (Er befreit sich von Candida.) + +(Candida zieht sich frostig zurück:) Entschuldige, Jakob, ich hatte +nicht die Absicht, dich zu berühren. Ich warte auf dein Angebot. + +(Morell mit stolzer Demut:) Ich habe dir nichts zu bieten als meine +Kraft zu deinem Schutze, mein ehrliches Wollen für deine Ruhe, meine +Tüchtigkeit und Arbeit für deinen Unterhalt und mein Ansehen und meine +Stellung für deine Würde. Das ist alles, was einem Manne ansteht, +einer Frau zu bieten. + +(Candida ganz ruhig:) Und Sie, Eugen, was bieten Sie? + +(Marchbanks.) Meine Schwäche! meine Trostlosigkeit! meine Herzensnot! + +(Candida gerührt:) Das ist ein gutes Angebot, Eugen; nun weiß ich, wie +ich meine Wahl zu treffen habe. (Sie hält inne und blickt seltsam von +einem zum andern, als ob sie beide abschätzte. Morell, dessen +hochtmütiges Zutrauen sich in herzzerreißende Angst bei Eugens Gebot +verwandelt hat, verliert alle Beherrschung, und kann seine Angst nicht +verbergen. Eugen dagegen, mit äußerst angespannter Kraft, zuckt mit +keiner Wimper.) + +(Morell mit halb erstickter Stimme--ein Hilferuf entringt sich den +Tiefen seiner Verzweiflung:) Candida! + +(Marchbanks beiseite mit einem Aufwallen der Verachtung:) Feigling! + +(Candida bedeutsam:) Ich gebe mich dem Schwächeren von beiden. (Eugen +errät ihre Meinung sofort; sein Gesicht wird weiß wie scbmelzender +Stahl.) + +(Morell neigt seinen Kopf mit der Ruhe der Gebrochenheit:) Ich nehme +deine Entscheidung an, Candida. + +(Candida.) Verstehen Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Oh, ich fühle, ich bin verloren. Er könnte die Last +nicht ertragen! + +(Morell ungläubig, hebt seinen Kopf empor, mit prosaischer Stumpfheit:) +Meinst du mich, Candida? + +(Candida lächelt ein wenig:) Setzen wir uns und plaudern wir gemütlich +darüber wie drei Freunde. (Zu Morell:) Setze dich, mein Lieber. +(Morell nimmt den Stuhl vom Kamin--den Kindersessel.) Bringen Sie mir +diesen Stuhl, Eugen. (Sie weist auf den Lehnstuhl, er holt ihn +schweigend, sogar mit etwas wie kühler Beherrschung und setzt ihn +neben Morell, etwas hinter ihn. Sie setzt sich, er geht an das Sofa +und läßt sich dort nieder, noch immer schweigsam und unergründlich. +Als sie alle sitzen, beginnt Candida,--einen Hauch von Ruhe um sich +breitend, mit ihrer sanften, gesunden, zärtlichen Stimme:) Sie +erinnern sich doch, was Sie mir über sich selbst erzählten, Eugen: wie +sich niemand um Sie gekümmert hat, seit Ihre alte Amme starb. Wie +Ihre gescheiten, vornehmen Schwestern und erfolgreichen Brüder die +Lieblinge Ihrer Eltern waren, wie elend es Ihnen in Eton erging, wie +Ihr Vater Sie durch Entbehrungen zwingen will, nach Oxford +zurückzukehren, wie Sie leben mußten ohne Behaglichkeit oder +Willkommen, ohne Zufluchtsstätte, immer einsam und fast immer ungern +gesehen und mißverstanden! Sie armer Junge! + +(Marchbanks der Größe seines Schicksals würdig:) Ich hatte meine +Bücher. Ich hatte die Natur. Und endlich bin ich Ihnen begegnet. + +(Candida.) Lassen wir das im Augenblick beiseite. Nun möchte ich, daß +Sie sich diesen andern Jungen hier betrachten,--meinen verwöhnten +Jungen,--verwöhnt von seiner Wiege an. Einmal alle vierzehn Tage +besuchen wir seine Eltern. Da sollten Sie mit uns kommen, Eugen, und +die Bilder des Helden dieser Familie sehen. Jakob als Baby, das +wundervollste aller Babys! Jakob, als er seinen ersten Schulpreis +erhielt, gewonnen im reifen Alter von acht Jahren! Jakob als der +Führer seiner Mitschüler beim Cricketspiel! Jakob in seinem ersten +schwarzen Anzug! Jakob in allen möglichen ruhmvollen Posen. Sie +wissen, wie stark er ist--ich hoffe, er hat Ihnen nicht weh getan--wie +gescheit er ist--wie glücklich! (Mit wachsendem Ernst:) Fragen Sie +Jakobs Mutter und seine drei Schwestern, was es sie gekostet hat, +Jakob die Mühe zu ersparen, irgend etwas zu tun, als stark, gescheit +und glücklich zu sein. Fragen Sie mich, was es mich kostet, Jakobs +Mutter und seine drei Schwestern und seine Frau und Mutter seiner +Kinder--alles in einer Person--zu sein! Fragen Sie Prossi und Marie, +wieviel Arbeit das Haus gibt, selbst wenn wir keine Besucher haben, +die uns helfen Zwiebeln schneiden. Fragen Sie die Geschäftsleute, die +Jakob stören und seine prachtvollen Predigten gefährden wollen, wer es +ist, der sie abschüttelt! Wenn Geld zu geben ist, so gibt er es; wenn +Geld zu verweigern ist, so verweigere ich es. Ich habe ihm ein Schloß +von Behaglichkeit, Nachsicht und Liebe erbaut und stehe immer +Schildwache davor, um all den täglichen kleinen Lebenssorgen den +Eintritt zu verwehren. Ich mache ihn hier zum Herrn, obwohl er es +nicht weiß und Ihnen vor einem Augenblicke nicht sagen konnte, wie er +dazu gekommen ist, es zu sein. (Mit süßer Ironie:) Und als er dachte, +ich könnte mit Ihnen fortgehen, da war seine einzige Sorge, was aus +mir werden würde; und um mich zum Bleiben zu bewegen, bot er mir-- +(sie neigt sich vor und streicht ihm bei jedem Satze über das Haar) +seine Kraft zu meinem Schutze, seine Arbeit für meinen Unterhalt, +seine Stellung für meine Würde, seine (zögernd:) ah, ich +verwechsle deine wunderschönen Sätze und verderbe sie, nicht +wahr, Liebling? + +(Morell kniet ganz überwältigt neben ihren Stuhl und umschlingt sie +mit knabenhafter Leidenschaft:) Alles ist wahr, jedes Wort. Was ich +bin, hast du aus mir gemacht, durch die Arbeit deiner Hände und die +Liebe deines Herzens. Du bist mein Weib, meine Mutter, meine +Schwester,--du bist die Summe aller Liebessorgen für mich. + +(Candida in seinen Armen, lächelnd zu Marchbanks:) Bin ich Ihnen auch +Mutter und Schwester, Eugen? + +(Marchbanks erhebt sich mit einer heftigen Bewegung des Ekels:) Oh, +niemals! Hinaus denn in die Nacht mit mir! + +(Candida erhebt sich rasch und unterbricht ihn:) sie werden nicht so +von uns gehn, Eugen! + +(Marchbanks mit dem Tonfall eines entschlossenen Mannes, nicht mit der +Stimme eines Knaben:) Ich weiß, wann die Stunde geschlagen hat. Ich +bin ungeduldig zu tun, was getan werden muß. + +(Morell erhebt sich von seinen Knien, beunruhigt:) Candida, laß ihn +nichts Übereiltes begehen! + +(Candida lächelt Eugen vertrauensvoll an:) Oh, sei unbesorgt, er hat +gelernt, ohne Glück zu leben. + +(Marchbanks.) Ich ersehne nicht mehr Glück; das Leben kann Höheres +bieten. Pastor Jakob, ich gebe Ihnen mein Glück mit beiden Händen hin; +ich liebe Sie, weil Sie das Herz der Frau, ganz ausgefüllt haben, die +ich liebte. Leben Sie wohl! (Er geht zur Tür.) + +(Candida.) Ein letztes Wort. (Er hält inne, aber ohne sich nach ihr +umzuwenden.) Wie alt sind Sie, Eugen? + +(Marchbanks.) Jetzt bin ich so alt wie die Welt. Heute morgen war ich +achtzehn Jahre! + +(Candida geht zu ihm hin und steht hinter ihm, eine Hand liebkosend +auf seiner Schulter:) Achtzehn... Wollen Sie mir zuliebe ein kleines +Gedicht aus zwei Zeilen machen, die ich Ihnen sagen will? Und wollen +Sie mir versprechen, sich's immer vorzusagen, so oft Sie an mich +denken. + +(Marchbanks ohne sich zu rühren:) Sagen Sie die beiden Zeilen. + +(Candida.) Wenn ich dreißig sein werde, dann wird sie fünfundvierzig +sein; wenn ich sechzig sein werde, dann wird sie fünfundsiebzig sein. + +(Marchbanks wendet sich nach ihr um:) In hundert Jahren werden wir +gleich alt sein! Aber ich trage ein besseres Geheimnis als das in +meinem Herzen! Lassen Sie mich jetzt gehen, die Nacht wächst draußen +ungeduldig. + +(Candida.) Leben Sie wohl! (Sie nimmt sein Gesicht in die Hände, und +da er ihre Absicht errät und sein Knie beugt, küßt sie ihn auf die +Stirne, dann flieht er hinaus in die Nacht.--Sie wendet sich zu Morell, +mit ausgebreiteten Armen:) O Jakob! (Sie umarmen einander. Aber das +Geheimnis in des Dichters Herzen, das kennen sie nicht.) + +(Vorhang) + + +Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes CANDIDA, von George Bernard Shaw. + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK, CANDIDA *** + +This file should be named 8cndg10.txt or 8cndg10.zip +Corrected EDITIONS of our eBooks get a new NUMBER, 8cndg11.txt +VERSIONS based on separate sources get new LETTER, 8cndg10a.txt + +Project Gutenberg eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US +unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + +We are now trying to release all our eBooks one year in advance +of the official release dates, leaving time for better editing. +Please be encouraged to tell us about any error or corrections, +even years after the official publication date. + +Please note neither this listing nor its contents are final til +midnight of the last day of the month of any such announcement. +The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at +Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. 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This is +also a good way to get them instantly upon announcement, as the +indexes our cataloguers produce obviously take a while after an +announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter. + +http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext05 or +ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext05 + +Or /etext04, 03, 02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, +91 or 90 + +Just search by the first five letters of the filename you want, +as it appears in our Newsletters. + + +Information about Project Gutenberg (one page) + +We produce about two million dollars for each hour we work. The +time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours +to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright +searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our +projected audience is one hundred million readers. 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